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Die unmögliche Stadt
Es gibt sie wirklich, die Stadt am Ende der Zeit - zumindest behauptet das eine skurrile Kleinanzeige in einer Seattler Zeitung, die auch nur von skurrilen Menschen gelesen wird. Doch als drei dieser Leser auf die Anzeige antworten, beginnt eines der fantastischsten Abenteuer, das je erzählt wurde. Denn es gibt sie wirklich, die Stadt am Ende der Zeit. Eine Stadt, deren Technologie so weit fortgeschritten ist, dass man sie von Magie kaum mehr unterscheiden kann. Eine Stadt, in die sich die letzten Lebewesen eines sterbenden Universums geflüchtet haben. Eine Stadt, die nun Kontakt mit der Gegenwart aufnimmt – um zu retten, was wir als »Mensch« bezeichnen.
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Seitenzahl: 1025
Seattle, Gegenwart: »Träumen Sie von einer Stadt am Ende der Zeit?« heißt es eines Tages in einer Kleinanzeige in lokalen Magazinen und Zeitungen. Niemand kann mit dieser kryptischen Frage etwas anfangen. Fast niemand. Denn es gibt drei Menschen unter uns, deren Geist auf unerklärliche Weise mit Ereignissen verbunden ist, die in fernster Zukunft stattfinden – in einer Stadt, in die sich die letzten intelligenten Bewohner eines sterbenden Universums geflüchtet haben. Eine Stadt, die nun Kontakt mit unserer Welt aufnimmt, um dieses Universum zu retten …
Mit »Die Stadt am Ende der Zeit« legt Greg Bear, der mehrfach preisgekrönte Autor des Bestsellers »Das Darwin-Virus« ein Zukunftsepos vor, das alle Dimensionen sprengt: Eine atemberaubende Reise bis an die Grenzen von Zeit und Raum – und darüberhinaus.
Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu internationalen Bestsellern. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt erschienen: Blutmusik, Das Darwin-Virus, Die Darwin-Kinder sowie Quantico.
Mehr zu Greg Bear unter: www.gregbear.com
Für Richard Curtis
Zur Feier von dreißig Jahren
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder
»Es ist die Zeit«, hörte Alan sich flüstern. »Die Zeit, die sich wie eine Flut zurückgezogen hat und uns hat stranden lassen.«
C.L. Moore und Henry Kuttner: Der Brunnen der Unsterblichkeit
Alles, was Sie zu wissen glauben, ist falsch.
Firesign Theater
Es war gefährlich, sich dem Zerstörten Turm zu nähern.
Der Hüter Ghentun, der allein am äußeren Rand eines mehrere Hundert Meter weiten, von beängstigend hohen Kristallfenstern eingefassten Raumes stand, hüllte sich wegen der beißenden Kälte fester in seinen Umhang. Zu seinen Füßen sprudelte eine dünne Luftblase; über dem Weg, der ihn von den Aufzügen hierhergeführt hatte, hing feiner Eisnebel. Dieser Teil der Stadt war mit Wesen seiner Art und deren Körpern wenig vertraut und kaum bereit, sich auf die anders gearteten Bedürfnisse einzustellen.
Nur selten kamen Diener des Bibliothekars in die Kammer, um Bittsteller aus den unteren Ebenen zu empfangen. Es war nahezu unmöglich, einen Gesprächstermin zu bekommen. Dennoch hatte Ghentun es gewagt, um eine Audienz zu bitten, und war tatsächlich vorgeladen worden.
Die hohen Fenster boten eine umfassende Aussicht auf das, was jenseits der Stadt lag, von der Zwischenzone bis zur Grenze des Realen, hinter der das Chaos des Typhon lag. In der Kalpa war nur dieser eine Turm mit Fenstern versehen, durch die man in die Außenwelt blicken konnte. Die übrige Stadt hatte sich schon vor langer Zeit von der beängstigenden, entsetzlichen Szenerie dort draußen abgeschottet.
Ghentun ging auf das nächste Fenster zu und wappnete sich gegen das, was er gleich zu sehen bekäme. Unmittelbar unter ihm lagen drei gewundene Gebäudekomplexe, die an Schiffsbuge erinnerten und so wirkten, als wollten sie jeden Augenblick zum Sprung in die Dunkelheit ansetzen: die letzten Bione der Kalpa, die alles umfassten, was von der Menschheit übrig geblieben war. Die riesigen Bauten waren von einem schmalen grauen Gürtel umgeben; jenseits davon lag der breite, dunkle Ring der Zwischenzone, der einem ungleichmäßig gezogenen Kreis ähnelte. Eine nach außen gerichtete Phalanx von langsam rotierenden Spitztürmen schützte den Ring und alles, was er umschloss. Von hier aus wirkten die Türme so schemenhaft, als wären sie in Brackwasser versunken. Das waren die Verteidiger, die Realitätsgeneratoren am äußersten Rand der Stadt.
Jenseits der geschützten Zone beschrieben vier mit Trümmern gefüllte Krater – die verlorenen Bione der Kalpa – ausgedehnte Seitenkurven, die sich Hunderte von Kilometern weiter in der Dunkelheit trafen: Das war der ursprüngliche Ring um die Stadt.
Aus dem Chaos heraus ließ die gewaltige Kugel des Zeugen ihren grauen, messerscharfen Suchscheinwerfer über die verlorenen Bione und die Zwischenzone gleiten. Nachdem er die von Nebel verhüllten Verteidigungsanlagen in sein grelles Licht getaucht hatte, schoss er in hohem Bogen empor, als wolle er als Nächstes gierig nach dem Turm greifen. Das blendende Licht tat in den Augen weh. Als der Strahl durch die Kammer schnitt, wandte Ghentun den Blick ab.
Genau an dieser Stelle hatte früher einmal Sangmer gestanden, um seine Reiseroute festzulegen. Er war der Erste gewesen, der versucht hatte, mit seiner Gefolgschaft das Chaos zu durchqueren. Nach einigen Tag-Nacht-Zyklen war er vom Zerstörten Turm, der auch damals schon Malregard hieß, heruntergestiegen und hatte sich mit fünf tapferen Gefährten – allesamt abenteuerlustige Philosophen – auf die Mission begeben, die zu seiner letzten werden sollte.
Niemand hatte je wieder von der Gruppe gehört.
Malregard – der Name passte vortrefflich. Böser Blick.
Als Ghentun eine Präsenz in seinem Rücken spürte, wandte er sich um und neigte den Kopf. Der Bibliothekar hatte so viele und vielgestaltige Diener, dass er nicht wusste, wen oder was er erwarten sollte. Dieser hier entpuppte sich als winziges Angelin in weiblicher Gestalt, das ihm gerade bis zum Knie reichte.
Als Ghentun seinen Umhang in Infrarotlicht tauchte, sprudelten die Luftblasen in seinem Umfeld zunächst heftig auf, um gleich darauf zu verschwinden. Auch der Diener wechselte sein Farbspektrum und erhöhte danach die Raumtemperatur, bis sich schließlich ein leichter Luftdruck bemerkbar machte.
Ghentun beugte sich hinunter, um dem Angelin einen urzeitlichen Gesteinsklumpen zu überreichen, einen kleinen Brocken Basalt, der von der Erde stammte – das übliche Entgelt für eine Audienz. Dieses überlieferte Protokoll durfte man nie verletzen, denn der Bibliothekar und all seine Diener neigten dazu, sich bei dem kleinsten Anzeichen für unhöfliches Verhalten zehntausend Jahre lang zurückzuziehen und in Schweigen zu hüllen. Und das konnte die Kalpa sich nicht mehr leisten.
»Was führt dich hierher, Hüter?«, fragte das Angelin. »Habt ihr auf dieser Seite der Wirklichkeit Fortschritte verzeichnen können?«
»Das zu beurteilen ist Sache des Bibliothekars. Ehre seinen Dienern.«
Bei diesen Worten hüllte das Angelin sich in Silber und erstarrte – es rührte sich einfach nicht mehr, ohne dass Ghentun einen Grund dafür erkennen konnte. Schließlich hatte er sämtliche Formalitäten beachtet. Um sich in aller Ruhe und Gelassenheit auf das Kommende einzustellen, schaltete er Umhang und Körperplasma auf den langsamen Modus. Sicher würde er einige Zeit warten müssen.
Es vergingen zwei Tag-Nacht-Zyklen, ohne dass sich ringsum irgendetwas verändert hätte – abgesehen davon, dass dreimal der graue, messerscharfe Suchscheinwerfer des Zeugen aus dem Chaos auftauchte und die Kammer durchschnitt.
Schließlich löste sich das Angelin aus seiner silbernen Hülle und ergriff das Wort. »Der Bibliothekar wird dich empfangen. In weniger als tausend Jahren wirst du einen Termin bei ihm bekommen. Leite diese Information gegebenenfalls an deine Nachfolger weiter.«
»Es wird keinen Nachfolger geben«, erwiderte Ghentun.
Darauf reagierte das Angelin verblüffend schnell. »Ist das Experiment denn schon abgeschlossen?«
»Nein, aber die Stadt ist am Ende.«
»Wir haben lange nichts gehört. Das musst du erklären.«
»Wir verfügen nicht mehr über den Luxus von Zeit und brauchen schnelle Entscheidungen«, gab Ghentun scharf zurück.
Das Angelin dehnte sich aus und wurde durchsichtig. Für jedes Eidolon konnte der Ausdruck schnell einen Affront bedeuten, erst recht für einen Diener des Bibliothekars. Kaum zu glauben, dass diese Wesen für sich immer noch die Ehre in Anspruch nahmen, zur Menschheit zu zählen. Aber so war es nun mal.
»Erkläre mir, so viel du kannst, ohne das Privileg des Bibliothekars anzutasten«, erwiderte das Angelin.
»Es sind beunruhigende Ergebnisse aufgetreten, die Vorboten von Schlimmerem sein könnten. Die Kalpa ist die letzte Zuflucht der alten Realität, doch unser Einfluss ist allzu gering. Wie der Bibliothekar vorhergesehen hat, könnte unsere ganze Geschichte auseinanderfallen.«
»Der Bibliothekar sieht nichts vorher. Alles ist eine Frage der Permutation.«
»Selbstverständlich. Dennoch beobachten wir derzeit, dass Weltlinien sich abtrennen und auf unnatürliche Weise wieder miteinander verbinden. Andere haben sich vielleicht schon vollständig aufgelöst. Womöglich sind bereits ganze Abschnitte der Geschichte verloren gegangen.«
»Also hat das Chaos sich in die Vergangenheit eingeschlichen und verfolgt einen Rückwärtskurs in der Zeit?«
»Einige der alten Gattung spüren etwas in dieser Art. Sie sind diejenigen, die uns stets die ersten Hinweise geben; schließlich haben wir sie genau zu diesem Zweck geschaffen.«
Ganz Aufmerksamkeit, zog sich das Angelin wieder zusammen und nahm feste Gestalt an. »Wie Kanarienvögel in einer Kohlengrube«, bemerkte es.
Ghentun kannte keine Kanarienvögel und hatte auch nur eine recht ungefähre Vorstellung von einer Kohlengrube.
»Hat jemand von der alten Art hin und wieder ungewöhnliche Träume?«, fragte das Angelin.
Ghentun zog den Umhang fester um sich zusammen. »Ich habe alles offenbart, was ich offenbaren durfte. Ehre sei dem Bibliothekar. Den Rest meines Berichts muss ich ihm persönlich anvertrauen, auf direktem Wege. So lautet das Protokoll.«
»Von Malregard aus haben wir beobachtet, wie euer Nachwuchs die Grenze des Realen überquert hat. Das verstößt gegen das Gesetz der Stadt. Offenbar sind manche fest dazu entschlossen, im Chaos zu versinken. Wir haben keinen von ihnen wiederkehren sehen. Enthält dein Bericht das Eingeständnis, dass ihr versagt habt?«
Ghentun wägte die Antwort darauf sorgfältig ab. »Diese Geschöpfe sind von Natur aus empfindsam und willensstark. Als demütiger Diener der Eidola überlasse ich es Euch, darüber zu urteilen, und nehme die Kritik des Bibliothekars gegebenenfalls an. Von ihm persönlich.«
Während eine weitere lange Pause eintrat, erfasste der graue Suchscheinwerfer des Zeugen erneut die Kammer. Als er das Angelin abtastete, bemerkte Ghentun bei ihm ein inneres Linienraster, die höchst komplexe, diamantartige Struktur noetischer Materie. Das Angelin oszillierte vor seinen Augen. Die Lippen bewegten sich nicht, doch seine Kälteblase schimmerte auf.
»Trage einer Person, die solche Träume hat, auf, dich zum Zerstörten Turm zu begleiten.«
»Wann?«
»Man wird es dich wissen lassen.«
Plötzlich spürte Ghentun einen Anflug von Frust. »Wisst Ihr, was Dringlichkeit bedeutet?«
»Nein. Du kannst entweder noch bleiben und mir erklären, was du damit meinst, oder diese Anweisungen befolgen. In fünfundsiebzig Jahren wird der Bibliothekar dich zu einem Gespräch empfangen. Ist das schnell genug?«
»Ich werde mich wohl damit begnügen müssen.«
»Friede und Permutation seien mit dir, Hüter.«
Das Angelin schoss davon und ließ eine Spur silberner Vektoren hinter sich zurück, die sich bald miteinander verbanden und danach verschwanden. Früher einmal hätte der Anblick einer solchen Vektorenspur Ghentun entzückt; jetzt kam sie ihm nur blass und mickrig vor.
Schicksale, die an ihre Grenzen stoßen. Wege, die sich verengen.
Ghentun zog den Umhang zusammen und verließ Malregard. Als das Angelin ihn nach Träumen gefragt hatte, war er ihm die Antwort schuldig geblieben, denn er musste so viel wie möglich zurückhalten, durfte es erst später offenbaren – dem wichtigsten Geist des Bibliothekars persönlich, wie er verzweifelt hoffte. Sowieso hatte er bei dieser ganzen Mission keine sonderlich optimistischen Gefühle gehegt. Was ihnen jetzt drohte, war das Ende aller Geschichte, das Ende all dessen, was menschlich und bewahrenswert war. All das würde in dem bösartigen Wahnsinn aufgehen, den das Chaos seit ewigen Zeiten barg.
Nach hundert Billionen Jahren der Selbstbehauptung bestand für die Kalpa kaum noch Aussicht, verschont zu werden.
Die Stadt war jung. Unglaublich jung.
Der aufsteigende silberblaue Mond zeichnete sich scharf über einer zartgrauen Wolkendecke ab. Wenn man nach Osten blickte, über die Hügel hinweg, wo bald die Sonne aufgehen würde, sah man eine Helligkeit, die so gelblich und real schimmerte, als wäre sie aus Butter.
Die Stadt empfing den kommenden Tag mit kühlem Tau, der das junge grüne Gras benetzte, an Fenstern herunterrann, von Geländern perlte und Diebesfinger frösteln ließ.
Keiner, der in der Stadt erwachte, ahnte auch nur, wie jung und frisch sie war. Alle mussten Pläne für ihr Leben schmieden, sich um Dinge sorgen, die sie blind für alles andere machten. Was würde sie dazu bringen, endlich diese wohltuende Kühle und Frische zu riechen, wenn nicht der Hauch von etwas Andersartigem?
Jeder kümmerte sich um die eigenen Angelegenheiten.
Der Tag verging, die Dämmerung senkte sich über die Stadt.
Kaum jemand bemerkte die Veränderung.
Den Hinweis darauf, dass etwas verloren gehen würde.
Zu ihrem Entsetzen glaubte Ginny in dem breiten Seitenspiegel des Metro-Busses den alten grauen Mercedes zu erkennen. Fast hätte sie aufgeschrien. Der Wagen hielt auf der benachbarten Fahrspur, zwei Wagenlängen hinter dem Bus, und blockierte den Verkehr. Deutlich waren die getönten Heckscheiben und der Riss in der fleckigen Windschutzscheibe zu sehen.
Sie sind es – der Mann mit dem Silberdollar und die Frau, die zwischen ihren Fingern Flammen auflodern lassen kann.
Als die vordere Bustür aufglitt, trat Ginny zurück auf den Gang. Die Lust, eine Station zu früh auszusteigen und ein paar Schritte zu tun, um sich die Beine zu vertreten und nachzudenken, war ihr vergangen.
Die Busfahrerin sah Ginny scharf an. Sie war eine füllige Schwarze mit elfenbeinfarbenen Augäpfeln, hellbraunen Augen, dunkelrot geschminkten Lippen und Diamanten in den Schneidezähnen. Nach einem harten Arbeitstag roch sie immer noch leicht nach dem Parfüm My Sin. »Verfolgt dich jemand, Süße? Ich kann die Polizei rufen.« Mit einem langen perlmuttfarbenen Fingernagel klopfte sie auf die Notruftaste des Busses.
Ginny schüttelte den Kopf. »Das bringt nichts. Ist nicht der Rede wert.«
Die Fahrerin seufzte, schloss die Tür und fuhr weiter. Ginny setzte sich wieder und nahm ihren Rucksack auf den Schoß. Sie vermisste das Gewicht des Kästchens, aber wenigstens befand es sich an einem Ort, wo es vorläufig sicher war. Über die Schulter warf sie einen Blick durch die Heckscheibe des Busses.
Der Mercedes fiel zurück und bog in eine Nebenstraße ein.
Mit ihrer unversehrten Hand tastete sie in der durch einen Reißverschluss gesicherten Seitentasche des Rucksacks nach dem Zettel. Nach der Entfernung des schmutzigen Verbandes um ihre Hand hatte die Ärztin in der Klinik eine halbe Stunde lang vorsichtig Ginnys Brandwunden versorgt, ihr eine hohe Dosis Antibiotika gespritzt – und allzu viele Fragen gestellt.
Ginny drehte sich wieder nach vorn und schloss die Augen. Spürte, wie die Fahrgäste an ihr vorbeigingen und sie dabei leicht streiften, hörte, wie die pneumatischen Vorder- und Mitteltüren sich öffneten und zischend wieder schlossen, die Druckluftbremsen schnauften und ächzten.
Die Ärztin hatte ihr von einem exzentrischen, aber netten alten Mann erzählt, der allein in einem Lagerhaus voller Bücher lebte. Der alte Mann brauche eine Gehilfin, möglicherweise für längere Zeit. Freie Unterkunft und Verpflegung. Es sei ein sicherer Ort und alles völlig legal. Die Ärztin hatte Ginny nicht gebeten, ihr zu vertrauen, das wäre auch zu viel verlangt gewesen. Später hatte sie eine Wegbeschreibung ausgedruckt.
Da Ginny nicht wusste, wo sie sonst hätte unterkommen können, hatte sie beschlossen, sich an die Wegbeschreibung der Ärztin zu halten. Sie entfaltete den Zettel. Nur noch ein paar Stationen bis zur First Avenue South, die südlich der beiden großen Sportstadien lag. Es wurde bereits dunkel, war fast acht Uhr abends.
Ehe sie in den Bus gestiegen war – ehe sie den grauen Mercedes gesehen hatte, falls das keine Einbildung gewesen war –, hatte Ginny einen Straßenblock von der Klinik entfernt ein Pfandhaus gefunden, das geöffnet hatte. Dort hatte sie den Bibliotheksstein mitsamt seinem Kästchen versetzt und sich dabei daran erinnert, wie Melvilles Queequeg den Schrumpfkopf veräußert hatte.
Es war Ginnys Mutter gewesen, die dem Stein diesen Namen verliehen hatte. Ginnys Vater hatte ihn nicht Bibliotheksstein, sondern einen »Integralläufer« genannt. Keiner von beiden hatte diese Bezeichnungen jemals richtig erklärt. Der Stein, ein hakenförmiges Gebilde, das verbrannt aussah und sich zeitweise unsichtbar machen konnte, war in einem mit Blei ausgekleideten quadratischen Kästchen verstaut, dessen Seiten rund fünf Zentimeter maßen. In Ginnys Nomadenfamilie galt er als einziger Besitz von Wert. Die Eltern hatten ihr nie erzählt, wo oder wann sie ihn erworben hatten. Wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht oder konnten sich nicht mehr daran erinnern.
Das Gewicht des Kästchens schien sich niemals zu verändern, aber wenn sie den gerillten Deckel gemeinsam aufschoben – man konnte ihn nur öffnen, wenn man das Kästchen in eine bestimmte Richtung und danach wieder zurück drehte –, lächelte Ginnys Mutter meistens und sagte: »Der Läufer ist gegen den Uhrzeigersinn davongerannt!« Und dann machten die Eltern eine große Schau daraus, ihrer skeptischen Tochter das leere Kästchen vorzuführen.
Hingegen konnte es beim nächsten Mal passieren, dass der Stein wieder in seiner ausgepolsterten Vertiefung lag: so fest gefügt, real und zugleich mysteriös wie alles andere im Leben dieser Familie.
Als Kind hatte Ginny angenommen, im Leben ihrer Familie, die genau wie der Stein mal hier, mal dort war, sei auch irgendein Zaubertrick am Werk.
Als der Pfandleiher das Kästchen mit ihrer Hilfe geöffnet hatte, war der Stein tatsächlich sichtbar gewesen – zum ersten Mal seit Wochen hatte Ginny Glück gehabt. Der Pfandleiher hatte ihn herausgenommen, um ihn von allen Seiten zu betrachten. Doch wie stets hatte der Stein sich nicht drehen lassen, so heftig der Pfandleiher auch an ihm gezogen und gezerrt hatte. »Sehr eigenwillig, das Ding. Was ist es, ein Gyroskop?«, hatte er gefragt. »Irgendwie hässlich, aber schlau.« Er hatte ihr einen Pfandschein ausgestellt und zehn Dollar ausbezahlt.
Das war alles, was sie dabeihatte: den Zettel mit der Wegbeschreibung, einen Busfahrplan und zehn Dollar, die sie Angst hatte auszugeben, denn dann würde sie ihren Integralläufer vielleicht nie wieder auslösen können. Und der Stein war ihr einziges Erinnerungsstück an die Familie. Es war eine besondere Familie gewesen, die dem Glück auf besondere Weise hinterhergerannt und niemals lange am selben Ort geblieben war, niemals länger als ein paar Monate. So als wären ihr Verfolger auf den Fersen.
Der Bus hielt am Randstein; ächzend öffneten sich die Türen. Als Ginny ausstieg, warf die Fahrerin ihr einen traurigen Blick zu. Gleich darauf schloss sich die Tür hinter ihr, und der Bus fuhr brummend weiter.
In wenigen Minuten würde die Fahrerin das schlanke braunhaarige Mädchen vergessen haben – das scheue, verängstigte Mädchen, das ständig über die Schulter geblickt hatte.
Während sich die Dämmerung über die Stadt senkte, blieb Ginny auf dem Fußweg stehen. Weit im Süden schnitten Flugzeuge goldene Kondensstreifen in den tiefblauen Himmel. Sie lauschte auf die Geräusche der Stadt, das Atmen der Gebäude, das Gemurmel der Straßen. Im Osten und Westen war Verkehrslärm zu hören, gefiltert und gedämpft durch die lang gestreckten Bauten der Lagerhäuser. Irgendwo ging in einem Wagen eine Alarmsirene los, um gleich darauf mit einem enttäuschten letzten Aufheulen zu verstummen.
Weiter unten an der Straße drang aus den Fenstern und der offenen Tür eines Thai-Restaurants warmes Licht. Tief einatmend, musterte Ginny die breite Straße, die bis auf die schwindenden Rücklichter des Busses völlig verlassen dalag. Dann schulterte sie den Rücksack, überquerte die Straße, blieb im fahlen, orangefarbenen Lichtkegel einer Straßenlampe stehen und starrte auf die grüne Plattenmauer des Lagerhauses vor ihr. Ein sicheres Versteck. Niemand würde sie hier finden, niemand von ihr erfahren.
Ein gutes Gefühl.
Sie wusste, wie man Spuren verwischen und Erinnerungen löschen konnte. Falls der alte Mann sich als schmieriger Perverser entpuppte, würde sie schon wissen, was zu tun war. Sie war schon mit Schlimmerem, viel Schlimmerem fertig geworden.
Auf der Nordseite des Lagerhauses fasste ein Maschendrahtzaun eine Betonrampe und einen leeren kleinen Parkplatz ein. Am Fuß der Rampe versperrte ein verschlossenes Tor den Zugang vom Fußgängerweg her. Ginny hielt nach Überwachungskameras Ausschau, konnte aber keine entdecken. Ein alter elfenbeinfarbiger Plastikknopf, der in eine grün angelaufene Messingplatte eingelassen war, bot die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Nochmals überprüfte sie die Adresse auf der Wegbeschreibung. Sah zum Erker des Lagerhauses hinauf. Schob den Zeigefinger durch den Maschendraht. Drückte auf den Klingelknopf.
Kurz darauf, sie wollte schon gehen, ging das Tor mit einem Summen auf. Niemand meldete sich, niemand begrüßte sie.
Trotzdem war sie erleichtert und ließ die Schultern sinken. Sie war furchtbar müde.
Doch nach allem, was sie durchgemacht hatte, wagte sie nicht, ihrem Glück zu trauen. Deshalb setzte sie all ihre Stärken und Gaben dazu ein, nochmals hastig nach einem besseren Ausweg aus diesem Wirrwarr von Gegebenheiten und möglichen Folgen zu suchen, doch es fiel ihr keiner ein. Das hier war der einzig gute, gangbare Weg. Jeder andere würde sie in den bläulich weißen Wirbelsturm zurückführen, dem sie in den Wäldern ausgeliefert gewesen war.
Schon seit Monaten hatte sie gespürt, wie ihre Wahlmöglichkeiten zusammenschrumpften. Doch nie hätte sie gedacht, einmal in diesem Lagerhaus oder in Seattle zu landen, nie hätte sie vorhersehen können, dass sie hier eine Freie Klinik aufsuchen und auf eine hilfsbereite Ärztin stoßen würde.
Ginny öffnete das Tor und ging die Rampe hinauf. Gleich darauf schwang das Tor ächzend und quietschend zurück und schloss sich hinter ihr.
Heute war ihr achtzehnter Geburtstag.
Jack Rohmers Körper war durstig. Jack Rohmers Körper war müde.
Die eine Straße hinauf, die andere Straße hinunter: Das Fahrrad trug den schlanken, dunkelhaarigen jungen Mann fast von allein vorwärts. Ein gelegentlicher Druck auf die Lenkstange, ein beiläufiges Beugen der Schultern, eine Zunge, die zwischen schlaffen Lippen hervorlugte, braune Augen, die wie blind nach vorn starrten – all das und das stete, gleichmäßige Treten der Pedalen sagten der Welt und dem Rad, dass Jack Rohmer geistig völlig abwesend war.
Über den hinteren Gepäckträger war eine Satteltasche voller Hämmer geschlungen, die aneinanderschepperten, wenn das Rad durch Kuhlen im Straßenpflaster fuhr.
Sich selbst überlassen, ist auch ein junger Körper nicht unbedingt an Abenteuern oder Neuem interessiert, sondern will Beständigkeit. Er zieht es vor, keine wichtigen Entscheidungen treffen zu müssen. Hin und wieder dreht er sich, legt sich in eine Kurve, meidet leicht beunruhigt Autos und andere Hindernisse – mehr vermag der Körper nicht zu leisten, wenn sein Besitzer geistig weggetreten ist. Dennoch bleibt das Gehirn wachsam und findet keine Ruhe.
Binnen einer Stunde hatte Jacks Körper sich viele Kilometer vom vorgesehenen Fahrtziel entfernt. Wäre die Strecke hügelig gewesen, hätte der Körper inzwischen zweifellos gebremst und eine Verschnaufpause eingelegt. Doch auf den gleichförmig flachen Straßen dieses Hafenbezirks voller Lagerhäuser und Fabriken, auf denen das Rad über rauen Asphalt und Steinpflaster rollte, machte es mehr Mühe anzuhalten, als weiterzufahren.
Das Rad wich einer Furche aus.
Als aus dem Nirgendwo ein Lastwagen auftauchte und laut hupte, zuckte Jacks rechtes Auge. Der Fahrer reckte drohend eine riesige fleischige Faust aus dem Fenster, doch Jack fuhr selbstvergessen weiter. Dröhnend überquerte der Lastwagen die Kreuzung und verfehlte Jack nur um wenige Zentimeter.
Am Himmel ballten sich Wolken zusammen. Mit leisem Summen verbreiteten die Straßenlampen inzwischen ihr rötliches Licht. Jacks Füße beschrieben kleine Kreise, als er mit vermindertem Tempo in die Pedalen trat und durch die Dunkelheit radelte. Fünf Kilometer pro Stunde, dann drei, danach nur noch anderthalb, bis das Rad schließlich ins Schwanken geriet. Mechanisch ließ der Körper ein Bein auf den Boden hinunter. Doch es kam zu früh auf, so dass der Körper einen Satz tat, die Zehen sich verdrehten und zurückbogen.
»Autsch!«
Dem Körper reichte es.
Hals über Kopf und mit panischer Miene kehrte Jack in die Wirklichkeit zurück. Als er vom schmalen Ledersattel glitt, stieß er sich die Leiste an der Fahrradstange, was Körper und Seele in einem einzigen schmerzhaften Moment wieder miteinander vereinte. Jack stürzte und landete taumelnd auf beiden Beinen, ehe das Rad umkippte. Dabei verfing sich ein Fuß in den Speichen des Vorderrads.
»Au, verdammt!«
Seine Stimme hallte von Wellblechtüren und hohen grauen Betonmauern zurück. Verdutzt holte er Luft und sah sich um: Er war allein, niemand hatte seinen peinlichen Sturz beobachtet. Vorsichtig rieb er sich den schmerzenden Schritt und blickte verwirrt auf die Armbanduhr: Er war eine Stunde und fünf Minuten lang weggetreten gewesen und erinnerte sich fast an nichts.
Irgendwo war ein hohes Fenster und Dunkelheit gewesen; eine höchst ungewöhnliche Dunkelheit, durch die ein grelles, messerscharfes graues Licht geschnitten hatte. Irgendetwas hatte dort gelauert.
Über das Dach eines Lagerhauses hinweg sah er hoch aufgestapelte, leere Stahlcontainer, blaue, braune und weiße, die mit den Namen der Reedereien gekennzeichnet waren. Irgendwie hatte er es geschafft, mitten in Sodo, der Südstadt, zu landen; die Docks und ihre riesigen roten Kräne waren fast in Sichtweite.
Irgendetwas huschte unter einer Reihe großer Müllcontainer hervor.
Jack zog seinen Fuß aus den Radspeichen und inspizierte den alten Laufschuh und die zerfetzte Socke. Das Vorderrad war kaputt, doch sein Bein hatte kaum einen Kratzer abbekommen. Er hob das Rad auf und drehte es herum. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als es auf dem Rückweg zu schieben.
Im Dunkeln war erneut ein leises Rascheln und Kratzen zu hören: Etwas Langes, Flaches huschte durch Reihen verschnürter Kartons. Jack riss die Augen auf. Einen Moment lang dachte er, er habe eine Schlange gesehen – eine Schlange mit Zangen am Schwanz. Neugierig ging er auf die Kartons zu, beugte sich hinunter und hob eine durchnässte Schutzplane an, die bis auf den Betonboden reichte. Ein abgehacktes Klopfen ließ den breiten, niedrigen Kartonstapel zu seiner Linken erzittern. Mit verzerrtem Gesicht stieß Jack ihn zur Seite, so dass er umkippte, und konnte gerade noch sehen, wie etwas Langes, glänzend Schwarzes mit vielen Beinen und hinteren Zangen, die so groß wie Hummerscheren wirkten, sich hastig im Hohlraum irgendeiner Metallverkleidung verkroch.
Mit einem Aufschrei machte Jack einen Satz zurück. Das, was er soeben gesehen hatte, erinnerte ihn an einen Ohrenkneifer. Einen Ohrenkneifer vom Umfang seines Unterarms.
Die folgende Stunde verbrachte Jack damit, das eiernde Rad auf dem Weg unterhalb der Hochstraße nach Hause zu schieben. Während der Himmel sich verdunkelte und der Nieselregen ihn bis auf die Haut durchnässte, versuchte er sich einzureden, das Ding in der Nähe der Docks sei kein riesiger Käfer, sondern lediglich der Schatten einer Ratte gewesen. Nach Hause zurückgekehrt – seine Wohnung lag im dritten Stock eines Mietshauses –, tauschte er das Vorderrad aus, verstaute sein Gefährt im Abstellraum, zog sich trockene Kleidung an und machte sich ein schnelles Abendessen: Chili aus der Dose. Burke, sein Mitbewohner, hatte, ehe er zur Arbeit ging, einen Stapel Post mit nach oben gebracht. Burke war stellvertretender Küchenchef in einem schicken Steakhaus und arbeitete sechs Tage in der Woche bis Mitternacht. Wenn er nach Hause kam, roch er nach Steaks, Wein und Kognak. Burke war der ideale Mitbewohner, denn er war nur selten da und ließ ihn in Ruhe.
Um Burkes Erinnerung aufzufrischen, dass er die Wohnung mit ihm teilte, verstreute Jack verschiedene persönliche Dinge auf den Möbeln. Wenn er sich so bemerkbar machte und hier und da ein paar Sachen veränderte, würde Burke nicht auf die Idee kommen, Jacks Zimmer anderweitig zu vermieten. Danach ging er den Poststapel durch: nichts als Rechnungen, alle auf Burke ausgestellt.
Mit wiederkehrendem Selbstvertrauen baute Jack sich mitten in seinem kleinen Zimmer auf und übte sich darin, mit drei seiner vier Ratten und zwei Hämmern zu jonglieren. Die Ratten ließen es mit gewohnter Geduld über sich ergehen. Als er sie wieder in ihren Käfig sperrte, quietschten sie munter. Mit wachem Blick und zitternden Barthaaren warteten sie auf das Futter, mit dem Jack sie belohnte.
Zufrieden, dass seine Reflexe nach wie vor ausgezeichnet funktionierten, verstaute Jack die Hämmer in einer der unteren Kommodenschubladen. Während sich seine Augen ans Halblicht gewöhnten, konnte er in der Schublade nach und nach Kegel, Boccia- und Billardkugeln, Bauklötze und Gummihühnchen ausmachen. Mit einiger Mühe schaffte er es, die Schublade wieder zuzudrücken.
Vor knapp zwei Wochen hatte eine attraktive ältere Frau namens Ellen Crowe ihn in ihr Haus auf Capitol Hill eingeladen. Essen – Gespräche – wechselseitige Sympathie. Für Jack war es nichts Neues, dass ältere Frauen auf ihn flogen.
Er spürte die Karte in der Hemdtasche, zog sie heraus und ließ den Zeigefinger über das silberne Schnörkelmuster auf dem eleganten, cremefarbenen Kartonpapier gleiten. Die Karte enthielt die Einladung zu einem zweiten Abendessen, ohne Terminangabe. Wann immer es Ihnen passt, hatte Ellen geschrieben. Auf der Rückseite hatte sie sorgfältig die Telefonnummer einer Freien Klinik notiert.
Vielleicht hatte er ihr beim Garnelenrisotto zu viel erzählt. Erneut strich er über die Karte und fragte sich dabei, ob sie Unglück bedeutete. Doch er spürte nichts dergleichen – weder von der Karte noch von Ellen ging eine Bedrohung aus.
Während er auf der hinteren Veranda saß, fiel ihm auf, dass die gleichförmigen graubraunen Veranden der Nachbarn ein V bildeten, das unter niedrigen, schnell dahingleitenden dunklen Wolken in der Ferne verschwand. Er trank eine Tasse Kamillentee, aufgebrüht mit einem Teebeutel, den er schon dreimal benutzt hatte, und lauschte dem steten Tropfen des Regens. Jack war zu der Auffassung gelangt, dass er endlich einmal ein glückliches Leben führte. Es spielte keine Rolle, dass er arm war. Ihm lag nichts wirklich Bedrückendes auf der Seele. Nur war er allzu oft geistesabwesend. Das hatte er auch Ellen Crowe gegenüber erwähnt.
Manchmal sah er auch seltsame Dinge – zum Beispiel riesige Ohrenkneifer.
Er balancierte den zweiten Hammer auf einem Finger, warf ihn in die Luft und fing den Stiel mit der Spitze seines Daumens auf, wo er fast ohne zu wackeln landete. Dann legte er den Hammer in den Schoß und seufzte auf. »Morgen gehe ich zum Arzt«, verkündete er laut und hüllte sich in eine Wolldecke. Wenn kein Wind ging, schlief er gern auf der überdachten Veranda. Einen Augenblick lang starrte er auf das verfilzte Wollgewebe, vergrößerte es mit dem inneren Auge, sah, wie die Fasern sich auf jede mögliche Art miteinander verknüpften und in alle möglichen Richtungen strebten. Das Leben hatte seiner Meinung nach wenig mit diesem Filzgewebe gemein. Eher ähnelte es einem Kabelgewirr inmitten eines Wusts anderer Kabel. Manche Kabel waren kurz, andere endlos lang. Alle verbanden sich so mit anderen, dass nur wenige Menschen es im Voraus durchschauen konnten. Doch Jack konnte diese Verbindungen, diese Überschneidungen spüren, lange bevor sie überhaupt in Erscheinung traten.
Seine Lider wurden schwer. Während der Himmel dunkler und dunkler wurde, nickte er auf der Veranda ein und behielt den Hammer dabei im Schoß, unter der Decke. Sein Schlaf war tief und normal. Er schnarchte. Endlich einmal tauchte er ins Vergessen ab. Seine Beine sackten herunter, doch der Hammer fiel nicht zu Boden.
Jack ließ niemals etwas fallen.
Irgendetwas Riesiges schleuderte den Bettler ins nasse, graue Gestrüpp. Er wälzte sich auf die Seite und starrte zu der glatten Stahlverkleidung eines großen grünen Müllwagens hinauf. Während der Dieselmotor aufheulte und schwarzen Rauch ausstieß, streckte der Fahrer den Glatzkopf aus der Kabine. »He, du Schnorrer! Such dir Arbeit!«
Der Stoß hatte im Bauch des Bettlers einen dumpfen Schmerz ausgelöst. Auch der Kopf tat ihm weh. Er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, nur daran, dass er vor etwas Schmerzhaftem und Hässlichem davongerannt war. Das schwang wie eine Stimmgabel in seinen verwirrten Gedanken mit …
Er hatte sich zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Versucht zu entkommen.
Sicher hätte der Fahrer des Müllwagens sich nicht derart unverschämt aufgeführt, wenn er tatsächlich einen Fußgänger erwischt hätte, mochte es auch nur ein Schnorrer sein, dachte der Bettler. Doch er hatte ja gar nichts abbekommen. Er war lediglich gänzlich unerwartet am Straßenrand gelandet, lag in seinen Stiefeln so da, dass ein Fuß sich bis zum Gehweg streckte, während der andere fast bis zum Hintern angewinkelt war, und sah mit großen Augen zu, wie sich an der Kreuzung eine Autoschlange bildete.
Seine Gedanken fügten sich wie ein Puzzle zusammen, doch irgendetwas tauchte plötzlich auf und versuchte, sie wieder durcheinanderzuwirbeln. Etwas, das den engen Raum hinter seinen Augen mit ihm teilte … Ein anderer Verstand, der Angst hatte und voller Groll steckte.
Fachmännisch zerquetschte der Bettler diesen ungebetenen Gast, so wie er ein Insekt zerdrückt hätte, und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Wo befand er sich überhaupt? Als ein dicker Ast knackte, kauerte er sich tiefer ins Gestrüpp. In seinem Rücken spürte er ein schweres Bündel: Rucksack, Mantel, Sweatshirt, eine Plastikflasche. Ein Teil von ihm – der Teil, den er zu unterdrücken versuchte –, erinnerte sich noch daran, wie er dort alles verstaut hatte. Er kam sich wie ein halber Pullover vor, der sich auf seltsame Weise mit einer anderen Pulloverhälfte verbunden hatte, so dass das Garn zwei verschiedene Farben aufwies. Und zwischen beiden Teilen, in der Mitte, ribbelten sich alle Fäden auf. Konnte er wirklich in einer besseren Welt gelandet sein, wenn er Kleidung und Wasser im Gebüsch versteckte?
Sein Blick fiel auf seinen linken Arm. Der schmutzige grüne Jackenärmel war mit etwas verkrustet, das wie Schnodder aussah.
Jetzt bog der Müllwagen links ab und rumpelte weiter. Der Bettler kannte das Gebiet. In diese Straße mündete eine Abfahrt von der Fernstraße 5, sie lag nahe bei der Fünfundvierzigsten. Früher einmal hatte er sie jeden Tag genommen, um nach Hause zu fahren, und war genau an dieser Ecke abgebogen.
Doch diese Wagen passten nicht ins Bild.
Mit steifem, wundem Körper rappelte er sich hoch. In seinem Magen hämmerte ein hinterhältiger, unterschwelliger Schmerz – irgendein Schmerz, an den dieser Körper gewöhnt war. Das erschütterte ihn: Dieser Körper empfindet chronische Schmerzen.
Zwei Namen umkreisten einander wie Preisboxer, bis einer den anderen schließlich zu Boden schlug. Die bloße Erfahrung und Sturheit trugen den Sieg über die Bestürzung und Empörung davon. Auf ein innerliches Aufheulen folgte – Stille. Nichts schien ins Bild zu passen, irgendetwas war schiefgelaufen.
Ich bin Daniel.
Ich bin Daniel Patrick Iremonk.
Die Schlange in seinem Bauch vollführte solche Saltos, dass er herumwirbelte und sich ins Gebüsch erbrach. Er sah lieber nicht nach, was ihm da hochgekommen war.
Weitere Wagen huschten vorbei, schnittige, blasenförmige oder hinten abgehackte Automobile, die wie seltsame Karikaturen der Wagen wirkten, die er kannte. Die Fahrer musterten ihn entweder voller Abscheu oder beachteten ihn gar nicht, da sie die Augen auf die kommende Abzweigung gerichtet hatten.
Das hier war wirklich unheimlich, Daniel bekam Angst. Der andere Kerl in seinem Kopf interessierte ihn nicht mehr. Von Anfang an war er nicht gerade stark gewesen. Daniel hatte ihn so schnell zusammenschlagen können, dass von ihm nur noch ein Satz schlammfarbener Erinnerungen übrig geblieben war. Nie zuvor war es so wie jetzt gewesen. Natürlich hatte Daniel auch nie zuvor versucht, so weit zu springen. Sieh dich um. Vielleicht hast du den schlimmen Ort überhaupt nicht verlassen.
Daniel – Daniel Patrick Iremonk – war stets geflohen. Hatte stets den Abflug gemacht, wie er es nannte, ehe die Situation völlig kippte. Lange vorher. Das war seine besondere Gabe. Er hatte nie so lange gewartet, bis die Situation unerträglich wurde.
Vergewissere dich stets, dass dich all das nicht mehr verfolgt – der Staub, der Schleim, die verschlüsselten Bücher, die vielen Hundert mythologischen Tierarten und all die anderen unvorstellbaren Dinge, die plötzlich und gleichzeitig auftauchen, wobei dich jeder so anstarrt, als wärst du in eine widerliche Überraschungsparty hineinspaziert, bei der kein Wort fällt.
Sie zerren dich hinein, verschließen die Tür, und dann beginnen sie mit ihren scheußlichen Späßchen und Spielchen …
Ich muss mich daran erinnern, um jeden Preis – aber ich will es nicht.
Daniel wischte sich den Mund ab und drehte sich langsam um, um sich zu orientieren. Sonnenschein, Wolken, Matsch vom jüngsten Regen. Auf der anderen Straßenseite stand ein breites, unförmiges Gebäude, beige angestrichen und drei Stockwerke hoch. Oben waren Eigentumswohnungen, unten Geschäfte. Er kannte es gut. Noch vor wenigen Minuten war es ein schäbiges Hotel gewesen.
Wagen wurden abgewürgt, machten einen Satz nach vorn und blieben stehen, als die Ampel auf Rot wechselte.
Wenn er den Abflug machte – sich von einem Ufer der Zeit zum anderen katapultierte –, waren meistens nur ein, zwei kleine Dinge verändert: genau die Bedingungen, die er hatte verändern wollen. Noch nie war Daniel in eine andere Version seines Ichs geschlüpft, die derart heruntergekommen war.
Als sich das nächste Auto näherte, wurde das Fahrerfenster heruntergekurbelt. Eine ältere Frau hielt ihm lächelnd einen Eindollarschein hin. Mit der warmen Luft drangen Gardenienduft und schaler Zigarettengestank nach draußen. Er kniff die Augen zusammen, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
Ärgerlich zog die Frau den Arm zurück. Die Ampel wechselte auf Grün.
Der Bettler steckte die Hände in die Hosentaschen und überließ es diesem Körper, ihm das Wichtige zu zeigen: die Bewegungen, die seine Muskeln Tag für Tag vollzogen. Die dreckigen Finger umklammerten ein kleines Geldbündel. Er zog einen Plastikbeutel heraus, der eine feste Rolle von Eindollarscheinen, einen Fünfdollarschein und etwas Kleingeld enthielt.
An der Ecke gegenüber stand eine Frau, die mehrere Schichten von Pullovern und Westen und einen langen Rock über ausgeblichenen Jeans trug. Aus dem schmuddeligen Kragen ragte ein Puppenkopf mit rosigen Wangen und struppigem Haar. Ihre Arme und Beine sahen aus wie in Filz gehüllte Stöcke. Sie hielt ein Schild hoch, auf dem sie um Geld bat, doch sie achtete gar nicht auf den einzigen Autofahrer, der anhielt und einen Dollarschein aus dem Fenster streckte. Als der Fahrer hupte, schien sie aufzuwachen und schnappte sich das Geld, während der Wagen nach rechts ausscherte, um sich in den Verkehr der Fernstraße einzugliedern.
Knauserige Drecksäcke. Speisen uns mit Eindollarscheinen ab, so dass wir uns nur von Hamburgern und Hot Dogs ernähren können und mit der Zeit merken, wie unsere Gedärme verrotten.
Daniel trug keine Brille, doch selbst über die Kreuzung hinweg hatte er die Banknote deutlich erkennen können. Als er seinen Nasenrücken betastete, ekelte er sich selbst vor seinen schmierigen Fingern. Keine Linien, keine Spur von einer Stelle, wo sich ein Brillenbügel in die Haut gedrückt hatte. Welche Probleme dieser Körper sonst auch haben mochte, zumindest verfügte er über ein gutes Sehvermögen. An welchen Ufern Daniel bisher auch gestrandet war: Stets hatten er und alle anderen Daniels bei ansonsten ausgezeichneter Gesundheit unter schlechten Augen gelitten. Und die Fingernägel an diesen Händen waren zwar eingerissen und verdreckt, aber nicht bis aufs Fleisch abgekaut. Alle Daniels kauten an den Nägeln.
Bis auf das Geld im Beutel waren seine Taschen leer. Keine Brieftasche, kein Ausweis.
Die schmutzige Frau wandte sich um und starrte ihn an. Doch sie wirkte nicht unheimlich, zählte nicht zu der schrecklichen schweigenden Gesellschaft.
Er musste dringend eine Toilette aufsuchen, doch wo sollte er eine finden? Öffentliche Toilettenhäuschen waren nirgendwo zu sehen. Er glaubte zu wissen, wo er wohnte: etwa zwölf Straßenzüge weiter Richtung Westen, in Wallingford. Doch in Anbetracht der Schlange, die sich in seinen Eingeweiden wand, bezweifelte er, dass er es bis dorthin schaffen würde. Trotzdem musste er es versuchen. Sich während der ersten Stunde in einer seltsamen neuen Welt in die Hose zu machen, war das Letzte, worauf er Lust hatte.
Er griff nach hinten, schnappte sich Rucksack, Mantel und Plastikflasche und begann zu rennen. Dabei schaffte er einen Sprung durch die Realität, der gerade dazu ausreichte, die Ampel auszutricksen: Das Zeichen für Fußgänger wurde grün, obwohl niemand auf den Knopf gedrückt hatte. Mehrere Wagen bremsten scharf und hätten ihn fast erwischt, aber er kam unversehrt davon.
Eines ist gleich geblieben: Ich hab den Bogen immer noch raus. Schöner leben durch Physik.
Die Knie hochreißend, rannte er ruckartig weiter.
Die Wolken ballten sich zusammen; Regen ließ das Straßenpflaster grau schimmern. Max Glaucous mochte diese Stadt, sie erinnerte ihn an London. Dort war er geboren, dort hatte er als kleiner Junge dabei geholfen, Singvögel einzufangen und zu verkaufen. Viele Dompfaffen, zähe Distelfinken, zierliche Flachsfinken, die schöner sangen als Kanarienvögel.
Immer noch sah Glaucous sich als Vogelfänger, als ebenso pummeligen wie pingeligen Vogelfänger. Den Großteil seines Lebens hatte er damit verbracht, nachts quer durch England oder durch die Vereinigten Staaten zu fahren, von der Großstadt bis zu irgendeinem winzigen Ort im Hinterland und später zurück, um seine Netze auszuwerfen. Stets hatte er mit unendlicher Geduld auf den seltensten, perfektesten Fang gewartet; schließlich wollte er für seine Auftraggeber keine x-beliebigen Vögel einfangen, denn damit hätte er seinem Gewerbe Schande gemacht. Abgesehen davon, hätte es für sein langes Leben im Dunkel der Nacht auch ein fatales Ende bedeuten können.
Hin und wieder schickten seine Auftraggeber zwei oder mehr Treiber in dasselbe Gebiet oder in dieselbe Stadt. Rangstufen und Vorrechte gab es bei ihnen nicht. Dann war es an ihm, die Konkurrenz aufzustöbern und auszuschalten, was meistens nicht schwierig war; in jüngster Zeit hatten die Auftraggeber ziemlich viele Menschen angeworben, doch nur selten stieß Glaucous auf jemanden, der irgendwelche Erfahrungen mitbrachte.
Jetzt also war er hier gelandet, reagierte auf eine Zeitungsanzeige, die ein anderer aufgegeben hatte, und stolzierte die Fifth Avenue so hinunter, als hätte er tagsüber wichtige Dinge zu erledigen – ein kleiner, breiter, kompakter Mann von unbestimmtem Alter. Er trug einen grauen Geschäftsanzug und darunter ein schlichtes weißes Hemd. Die schwarze Krawatte zwängte seinen dicken Hals wie eine Schlinge ein, so dass von seinem blassen, pockennarbigen Gesicht Schweiß perlte. Im Schatten eines lang gestreckten Theatervorbaus blieb er stehen und zog ein Taschentuch heraus. Dabei krümmte er die Finger der fleischigen, kräftigen Hand, um die Narben an den Knöcheln zu verbergen. Die Luft war zwar kühl, doch die niedrige Wolkendecke hatte sich einen Spalt geöffnet, und er mochte die Sonne nicht. Ihre Wärme und der Glanz auf den feuchten Straßen riefen ihm Dinge ins Gedächtnis, die er verloren hatte, darunter auch die Fähigkeit zur Reue. Die Helligkeit drang ihm in die kleinen dunklen Augen und leuchtete Räume in seinem Kopf aus, die Lücken in langen Reihen alter Bücher ähnelten.
Die Flügel seiner mehrfach gebrochenen, dicken Nase blähten sich. Während er die Augen halb schloss, das Taschentuch wieder verstaute und die Hände auf einen dünnen schwarzen Spazierstock stützte, sah Glaucous wie auf einer Laterna magica einen alten Eselskarren vor sich. Darauf stapelten sich Netze, Vogelbauer aus Rohr und sternförmige Netzbeschwerer aus schwerem Metall. Er sah, wie der für seine Rufe bekannte Flachsfink benommen in dem engen Drahtgehege kauerte, das gleich neben dem buckligen alten Vogelfänger auf einem Brett stand. Sah, wie die frühmorgendliche Dunkelheit des Frühlingstags so über den Straßen lag, als hätte jemand einen Vogelbauer mit einem Tuch verhängt. Jetzt verzog der Lehrherr des kleinen Max, der ihm die Familie ersetzte, das Gesicht und erklärte ihm, welche Gebiete sie heute abklappern würden. In dieser Jahreszeit fuhren sie meistens nach Hounslow, um Dompfaffen einzufangen.
Während er die Seile festband und wie im Halbschlaf über das aufgerissene Kopfsteinpflaster stolperte, lauschte er auf die leisen Worte seines verkrüppelten Lehrmeisters. Auf der Fahrt saß er hinten im Wagen, wo er heftig durchgerüttelt wurde, und starrte aus Schweinsäuglein in das Purpur der Morgendämmerung.
Später am Tag, auf der Rückfahrt nach London und zu den wartenden Geschäften, zupfte Max graubraune Federn aus den Netzen und versuchte die Körbe, in denen die Vögel aufgeregt mit den Flügeln schlugen, im Gleichgewicht zu halten. Die piepsenden neuen Gefangenen, es waren Hunderte, verstummten nach und nach – darauf war stets Verlass. Wie Küken drängten sie sich zusammen und schlossen die verschreckten Augen. Viele Vögel starben am Schock, ehe sentimentale Hausfrauen mit ihnen turteln konnten. Es war seine Aufgabe, die toten oder sterbenden Vögel auszusondern und in Hecken oder Gossen zu werfen. In der Stadt kam es hin und wieder vor, dass geschmeidige braune Ratten vorbeihuschten, zwischen den Rädern des Karrens herumsprangen und sich an den Kadavern labten.
In einem muffigen Kellerraum brachte der Bucklige dem kleinen Max bei, wie man Dompfaffen abrichtete, indem man die Vogelbauer zunächst mit Tüchern verhängte und die Neuankömmlinge hungern ließ, bis sie klein beigaben. Später pfiff man ihnen bestimmte Tonfolgen vor, die lieblich durch die schale Luft drangen, damit sie die Melodien nachahmten. Zur Belohnung brachte man sie kurz an die Sonne und gab ihnen Futter. Auf diese Weise lehrte der Alte die kleinen Geschöpfe, sich Londons beliebteste Melodien zu merken und später zu trillern.
Nach sechzig qualvollen Jahren war der Vogelfänger an Schwindsucht gestorben. Ehe der Sohn des Vogelfängers, der sich dem Vater entfremdet hatte, Max aus der engen, verwinkelten Bruchbude warf, die sie ihr Zuhause genannt hatten, hatte Max die letzten Vögel aus ihren Beständen freigelassen. Er hatte die Türen der Vogelbauer hochgeschoben und den Fang einer ganzen Woche in den dunstigen Himmel gescheucht. Das war sein letztes gutes Werk gewesen.
Glaucous hatte jüngst, nachdem bei den Hounslow Barracks eine Bahnstation eingerichtet worden war, die Vogelgebiete besucht, die dem buckligen Alten am liebsten gewesen waren. Er war neugierig gewesen, hatte zu seinem Leidwesen jedoch feststellen müssen, dass die einst vertrauten Äcker und Felder inzwischen Straßen, gelben Backsteinhäusern und kleinen Gärten gewichen waren. Nach all den Jahren hatte sich so vieles verändert, dennoch war seine eigene Situation nicht viel anders als früher. Immer noch ging er auf die Jagd, immer noch lieferte er junge Geschöpfe selbstsicheren Herren und deren Gebieterin aus. Allerdings war diese Dame, die Kalkfürstin, alles andere als eine gewöhnliche Frau.
Jedenfalls roch die Morgenluft noch ziemlich so wie früher.
Nachdem er sein Taschentuch wieder verstaut hatte, sog Glaucous eine Flamme in seine kleine Pfeife ein, schnippte das Streichholz weg und trat aus dem Schatten des Vorbaus. Er wandte sich nach Süden, entfernte sich von dem üppigen, blaugrün schimmernden Gras, den roten und grauen Gebäuden aus Backstein, Beton und Stahl, den geschäftigen jungen Büroangestellten und ging auf das Viertel zu, in dem die Menschen mit leerem Blick und ausgestreckten Händen zu finden waren. In dieser Hinsicht glichen sich alle Städte, ob es dort regnete oder die Sonne schien: Die Kehrseite all des Wohlstands und Reichtums war blinde Not.
Schon von Berufs wegen interessierte Glaucous sich für einige der Bewohner, die wie angestaubte Puppen auf den Fußwegen kauerten oder herumstanden – Trickbetrüger, Straßenkünstler, Gauner, der herumziehende Abschaum jeder großen Stadt. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den jüngeren Menschen. Es war durchaus möglich, dass manche von ihnen Glücksjäger oder Schicksalswandler waren, ohne von ihren schwach ausgeprägten Talenten überhaupt zu wissen. Dennoch waren diese Leute interessant, insbesondere, wenn sie zu träumen begannen.
Anders als in London konnte man die Innenstadt Seattles bei forschem Schritt in weniger als einer Stunde von Osten nach Westen durchqueren und dabei die Straßen abgrasen. Allerdings zog er es vor, in seiner Wohnung sitzen zu bleiben und abzuwarten. Schon aufgrund seiner Erfahrungen als Vogelfänger fiel es ihm nicht schwer, die Fassade der Geduld zu wahren, hinter der manche nur Müßiggang vermuteten.
Er fand den grauen Mercedes auf einem schäbigen gebührenpflichtigen Parkplatz. Die Heckscheibe war wegen des Rauchs mit einer goldenen Patina überzogen, das Armaturenbrett mit zwölf Quittungen übersät, eine für jeden Tag. Scharfe Fingernägel hatten Pfade durch den Ruß an den Türverrieglungen geritzt. Also stimmte es: Chandler und seine Gefährtin, die Brandstifterin, waren in der Stadt.
Während er sich nach Osten wandte, blieb Glaucous mehrmals stehen, um sich die Hausnummern anzusehen, bis er schließlich den Eingang zum Gold Rush Residential Hotel vor sich hatte. Hier hielt er an, stieß die Tür mit seinem Stock auf und atmete leise und nachdenklich seufzend aus. Hinter der schweren Glastür, eingeklemmt zwischen einem orientalischen Antiquitätengeschäft und einem leer stehenden Secondhandladen, verströmte die schmale, kaffeebraune Lobby des Hotels angestaubte Gastlichkeit. Die schmucklosen Wände waren mit dicken Farbschichten überzogen, die – verdreckt und voller Risse – auch über den Gipsverkleidungen lagen. Das zerschlissene Mobiliar, zwei eckige braune Sofas und ein alter Sessel, gruppierte sich um einen schwarzen Tisch, auf dem Zigaretten Brandnarben hinterlassen hatten. Auf dem Tisch lagen Stapel von The Stranger und The Seattle Weekly, deren Umschnürungen aufgeschnitten waren und herunterbaumelten.
Ein Angestellter mittleren Alters bequemte sich schließlich aus seiner Klause hinter der Rezeption und musterte Glaucous, der ihm so freundlich zunickte, als wären sie alte Bekannte. »Ist bei Ihnen ein Mann namens Chandler abgestiegen?«, fragte er. »Ich glaube, er erwartet mich.«
»Nehmen Sie das Haustelefon oder gehen Sie einfach hoch«, erwiderte der Angestellte mürrisch.
London – für alle mittellosen Grünschnäbel ein Nest voller Dornen – hatte den kleinen Max schnell geprägt und in einen stämmigen Burschen mit argwöhnischem Blick verwandelt, der ebenso ordinär wie hässlich war. Also wurde auf ihm herumgetreten. Nach dem Tod des Vogelfängers entpuppte sich der Zwölfjährige, der nun erneut auf der Straße saß, als geschickt im Münzwurf und im Kartenspiel. Der Hunger und seine Unerfahrenheit verwickelten ihn in Straßenkämpfe, bei denen er sich Verletzungen an den Fingerknöcheln, Schwellungen am Ohr und drei Nasenbrüche zuzog. Der Krawall in einem Varietétheater, bei dem er unsanft eine Steintreppe hinunterkullerte, gab seinem Bulldoggenkörper den Rest, so dass sein Wachstum bei knapp einem Meter dreiundsechzig zum Stillstand kam. Dass sich nur wenige Menschen mit einem derart finsteren Grobian anlegen wollten, kam ihm bei der Arbeitssuche entgegen. Ein paar Monate später konnte er sich bei gut betuchten Herrschaften als Leibwächter verdingen. Diese Leute litten unter einem Hunger, der niemals zu stillen war: Sie gierten nach Karten, Huren, Kapriolen. Jetzt wurde er Zeuge von Ereignissen, jetzt verlangte man Dinge von ihm, die abstoßender waren als alles, was er als Gehilfe des Vogelfängers je erlebt hatte. Im Laufe der Zeit gaben ihm nicht nur seine Kunden, sondern auch deren Verbündete und Gegner viele Spitznamen: Verhüterli der Reichen, Knochenbrecher, Schlagholz, Fäustling, Rohrschnepfe, Überzieher. Binnen zwei Jahren lernte er, den Mund zu halten und möglichst viel abzusahnen, wenn seine Auftraggeber nach exzessivem Genuss von Alkohol und Drogen besinnungslos herumhingen.
Bei Max’ letztem Einsatz als Leibwächter krächzte und kreischte sein damaliger Auftraggeber eines Tages so seltsam, dass alles auf einen Schlaganfall mit anschließender Gesichtslähmung hinwies. Eine private Krankenpflegerin instruierte Max, wie er das entstellte Gesicht seines Dienstherrn mit Hilfe von Wachs und Metallteilen wieder zusammenflicken konnte. Dabei musste er Risse auffüllen und zerstörte Partien ersetzen, während der Syphilitiker, dessen Gesicht einer Fratze glich, seinen stinkenden Atmen durch die frei liegenden Nasenlöcher herausließ.
Bald fand Glaucous sich erneut auf der Straße wieder. Das Haus seines Dienstherrn wurde mit Brettern vernagelt. Sein letztes Geld hatte er für irgendwelche Wundermittel von Kurpfuschern ausgegeben. Wie gewonnen, so zerronnen. Und doch …
Glaucous wurde klar, dass er möglicherweise eine ungewöhnliche Gabe besaß. Zwar setzte er nur wenig Vertrauen in sein Talent und setzte es kaum ein, doch nach einer Woche auf der Straße, getrieben von Hunger, blieb ihm keine andere Wahl: Er verfeinerte sein Talent und erwarb sich in der eng vernetzten Welt der schrägen Schickimickis schnell einen gewissen Ruf – den Ruf, gefährlich zu sein. Solange er einem Mitglied der »guten Gesellschaft« zu Diensten war, wurde eine Fähigkeit wie seine toleriert. Doch allein auf sich gestellt, nutzte Glaucous höchstens sich selbst, also niemandem, und wurde entsprechend behandelt.
Ein Gentleman edler Herkunft, seine Vorfahren hatten in unmittelbarer Nachbarschaft von Westminster Abbey gelebt, erwischte Glaucous eines Tages beim »Falschspiel« mit Karten. Nachdem die Schläger des feinen Herrn den reumütigen Gnom in die Zange genommen hatten, befahl ihr Dienstherr ihnen, Glaucous wie einen Hund in einen Käfig zu verfrachten und zu seinem Landsitz zu befördern.
Dort wurde er in ein unterirdisches Verlies gesperrt, dessen Räume alle durch schwere Vorhängeschlösser gesichert waren. Jeder neue Raum, den er bezog, war etwas größer und heller als der vorherige. Irgendwann gab die Haushälterin ihn in den Gewahrsam eines fülligen Stutzers namens Shank, dem es überlassen blieb, über das weitere Schicksal von Max Glaucous zu entscheiden. Er sollte ihn zur Unterhaltung des Gentlemans entweder bestrafen oder herausfinden, ob dieser raue Bursche tatsächlich ein echtes Talent besaß, das zu fördern sich lohnte.
Und so geschah es: Irgendwann offenbarte Shank dem jungen Gauner, dass es für sein unausgereiftes Talent eine Bezeichnung gab. Glaucous sei von Natur aus ein Glücksjäger. »Sonst wäre ein solcher Mops wie du auf der Straße längst unter die Räder gekommen und gestorben«, erklärte er. »Manche nennen es Glück, andere Fortune. Wir hier bezeichnen es als eine Jagd nach dem Glück, die eine starke Willenskraft voraussetzt. Diese Willenskraft nutzt man fortwährend und in beliebigen Situationen dazu, dem Glück auf die Sprünge zu helfen – selbstverständlich zum Nutzen des Dienstherrn, und nur für ihn.«
Unter Shanks Anleitung brachte Glaucous Münzen dazu, stets auf der gewünschten Seite zu landen, gruppierte Spielkarten neu, ohne sie auch nur anzutasten, lenkte die Bahn einer silbernen Roulettekugel genauso wie den Fall von Holzkugeln in einem rotierenden Zylinder. Ihr gut aussehender, nobler Dienstherr war zwar selbst keine Spielernatur, doch ihm wurde schnell klar, dass viele Spieler etwas dafür geben würden, auch Bargeld, wenn ein so talentierter Bursche wie Max sie in die einschlägigen Clubs begleitete.
Und so wendete sich das Schicksal von Maxwell Glaucous zum Besseren, während er von Monat zu Monat schlechteren Umgang pflegte, auch wenn das der Kleidung und dem Status dieser Leute nicht unbedingt anzumerken war.
Glaucous griff nach einer Ausgabe von The Stranger und schlug treffsicher die Seite mit den Kleinanzeigen auf. Da war sie, die Anzeige, aber nicht von ihm aufgegeben. Er ließ das Blatt auf den Tisch fallen und stieg lautlos die Hoteltreppe hinauf. Im zweiten Stock schnupperte er und streckte die Hand aus, um rückläufige Strömungen zu erfassen. Noch zwei Treppenfluchten. Im vierten Stock blieb er kurz vor einem Notausgang stehen, prüfte, ob die Scharniere der Tür quietschten, und schob sie leise auf. Dahinter lagen sechs Zimmer, drei auf jeder Seite des Ganges, an dessen Ende sich ein durch Stahldraht verstärktes Milchglasfenster befand. Das Licht, das durch das Fenster auf den Gang drang, waberte, denn es stand mit Glücksjägern auf dem Kriegsfuß, und jetzt waren gleich zwei in unmittelbarer Nähe.
Glaucous strich über den Knopf der ersten Tür zu seiner Linken. Im Zimmer wetteiferte laute Musik mit den grellen Stimmen von zu schnell gewachsenen Kindern – Fernsehen. Lautlos wie eine Katze überquerte er den Gang und tastete an der gegenüberliegenden Tür herum. Das Zimmer war zwar unbewohnt, gab seinen forschenden Fingern aber trotzdem gewisse Informationen: Irgendjemand hatte sich hier überrumpeln und ermorden lassen. Immer noch war das wimmernde Vibrieren des Schicksalsknotens zu spüren, der das Unglück heraufbeschworen hatte.
Glaucous schlich weiter. Hinter der nächsten Tür fand er, was er suchte: das leise, stete Atmen eines verhältnismäßig jungen Mannes (Chandlers Alter betrug nicht einmal ein Fünftel seines eigenen) und dessen Kraft (die Chandler jedoch vergeudete und schlecht beherrschen konnte).
Erneut blähten sich seine Nasenflügel, denn er roch etwas wie Kerzenrauch. Sicher stammte er von Chandlers Gefährtin, einer stets verschleierten, sehr gefährlichen Frau. Als Glaucous sich näher beugte, hörte er eine Münze aufschlagen. Dem gedämpften Geräusch nach zu urteilen, musste es ein Silberdollar Morgan’scher Prägung sein, der vom dünnen Teppich zurückprallte. Chandler übte. Stets landete der Dollar auf der Kopfseite. So ein Kunststück konnte zwar jeder bewerkstelligen, doch Chandler berechnete nicht die Umdrehungen der Münze, sondern zog geistig Falllinien und berücksichtigte dabei auch das Abprallen der Münze von der Zimmerdecke und der Wand. Egal, aus welcher Höhe der Dollar hinunterfiel, stets blieb er auf der Kopfseite liegen.
Glaucous passte seine Atmung der des Mannes an und synchronisierte weitere Körperrhythmen: das Pulsieren des Blutes, das Fließen der Lymph- und Gallenflüssigkeiten. Verwandelte sich in Chandlers Doppelgänger. Kauerte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.
Und wartete.
Kurz nach seinem letzten Besuch in Hounslow, auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Begleiter eines Spielers, begann sein Ruhm seine Perspektiven zu schmälern. Der ehrenwerte Gentleman hatte ihm mitgeteilt, für ihn sei es an der Zeit, weiterzuziehen. Glaucous’ Tage als Spieler waren vorbei, zumindest in London, wahrscheinlich sogar in ganz Europa.
»Du solltest es mal in Macao versuchen, junger Freund«, schlug Shank vor. Doch dann fügte er leise und mit abgewandtem Blick hinzu, er könne, falls erwünscht, eine spezielle Zusammenkunft arrangieren und ihm endlich eine sichere Festanstellung besorgen.
Schon lange hatte Glaucous Vorbehalte gegen das Leben auf der Straße.
Wie im Traum ging er zu dem Ort, den Shank ihm genannt hatte: eine schmale, schmutzige Gasse am Markt in Whitechapel entlang bis zum Ende einer Sackgasse. Dort erwartete ihn ein seltsamer, skurriler Mann. Er war klein, bleich wie der Tod und roch so moderig wie ein nasser Wischlappen. Der stinkende Zwerg kramte eine Karte hervor, auf der in Druckbuchstaben nur ein einziges Wort stand, das auch ein Name sein mochte: WHITLOW. Auf der Rückseite war mit Bleistift ein Termin notiert und die Warnung:
Diesmal ist es für immer. Unsere Bleiche Gebieterin erwartet das, was ihr gebührt.
Auf seinen Reisen hatte Glaucous bereits einige lückenhafte und konfuse Berichte über diese Person gehört. Angeblich leitete sie einen kleinen Stab von Männern, die alle einen außerordentlich schlechten Ruf hatten. Flüsternd erzählte man sich Gerüchte, doch kaum einer, falls überhaupt jemand, hatte sie je mit eigenen Augen gesehen. Sie hatte viele Namen: Bleiche Gebieterin, Kalkfürstin, Königin in Weiß. Niemand wusste, was sie wirklich trieb, doch offenbar stieß allen Geschöpfen, die der Stab dieser Frau ins Visier nahm, zwangsläufig ein einzigartig schlimmes Unglück zu. Ein Unglück und etwas, das die Leute »einen Riss in der Zeit« nannten. Einem solchen Riss, sagten sie, müsse man unbedingt ausweichen.
Glaucous, zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder auf freiem Fuß, packte eine perverse Art von Neugier. Also nahm er den Zug und ging vom Bahnhof aus zu Fuß nach Borehamwood. Dort empfing ihn ein jugendlich wirkender Mann mit einem Klumpfuß, wachsweicher Haut, schmaler Nase, feinem, weißblondem Haar und tiefblauen Augen, der einen eng sitzenden schwarzen Anzug trug. Er stellte sich nur mit Nachnamen vor: Whitlow.
Whitlow hatte einen schwarz lackierten Spazierstock mit Silberspitze und ein kleines graues Kästchen mit seltsamem Deckelmuster dabei. »Das hier ist nicht für Sie«, teilte er Glaucous mit. »Ich treffe mich später noch mit jemand anderem. Lassen Sie uns gehen.«
Das, was Glaucous von diesem ersten Treffen in Erinnerung behielt – die Farbpalette wies nur verschwommene Grau- und Brauntöne auf –, waren die Nervosität und die Verlegenheit, die er wegen seines schlecht sitzenden Wollanzugs empfunden hatte. (Shank hatte darauf bestanden, dass er seinem Dienstherrn die feine Kleidung zurückgab. »Ich bitte dich: Welcher Affe hat schon Anspruch auf die eigene Livree?«)
Whitlow bot ihm einen Schluck Kognak aus einem silbernen Flachmann an und führte ihn danach die von Hecken gesäumte Auffahrt zu dem heruntergekommenen Hauptgebäude hinauf, das sich als wahres Mäuseparadies entpuppte. Ein Flügel war eingestürzt, und Dutzende von Tauben, die auf Stangen thronten, hatten die Zimmer in Beschlag genommen. Mit einem riesigen alten Schlüssel verschaffte Whitlow sich Zutritt und schob Glaucous mit innerer Belustigung in eine Diele, die mit zerbrochenem Mobiliar und spiral- oder kreisförmig angeordneten Katzen- und Mäuseknochen übersät war. Danach zeigte er ihm das »besondere Zimmer«, das, wie Whitlow behauptete, schon seit vielen Hundert Jahren niemand mehr aufgesucht oder bewohnt hatte. Solche Zimmer seien heutzutage kaum noch zu finden und für die engsten Diener der Gebieterin am besten geeignet. Letztendlich sei sie es ja, erklärte er flüsternd und öffnete eine innere Tür, die für die Kosten ihrer Bediensteten aufkomme.
Whitlow sperrte die Tür hinter Glaucous zu.
Nachdem er einige Zeit in dumpfer Stille ausgeharrt hatte, so lange, dass er inzwischen quälenden Hunger empfand, bekam Glaucous Gesellschaft, ohne dass er eine aufgehende Tür bemerkt hätte. Sein Besucher schien keine materielle Substanz zu besitzen – der sanften Stimme und dem Geruch (oder dem fehlenden Geruch) nach zu urteilen, handelte es sich offenbar um einen vornehmen Herrn. Diese nebulöse Gestalt, die in ein Gewand noch tieferer Schatten gehüllt war, nahm keine eindeutige Form oder Größe an. Der Besucher mochte blind sein, zumal er Glaucous’ Gesicht und dessen Schultern abtastete, wobei die suchenden Finger an den Flügelschlag von Fliegen erinnerten.
»Ich gehe niemals an andere Orte«, flüsterte er. »Ich bin stets hier. Das Hier bewegt sich dorthin, wo ich mich aufhalten muss. Man nennt mich den Nachtfalter