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Nach dem Ende
Die Erde ist zerstört, doch es gibt noch Hoffnung: Der Asteroid ist noch da, und mit ihm der unendliche Korridor, der durch ganze Universen und Parallelwelten führt – Parallelwelten, in denen auch Parallel-Erden existieren, in allen denkbaren Variationen. Als ein unmöglicher Reisender vom Ende der Zeit durch den Korridor kommt und die Menschen bittet, den Asteroiden zu vernichtet, fällt es den Menschen nicht leicht, ihre Hoffnungen aufzugeben. Doch der Asteroid und sein Tunnel in die Ewigkeit droht, die gesamte Schöpfung missraten zu lassen …
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Seitenzahl: 703
GREG BEAR
EWIGKEIT
Roman
Für David McClintock,
Freund und Verehrer von Olaf Stapledon,
Nur wenn der Raum
wie ein Stück Leder aufgerollt wird,
wird es ein Ende
des Leidens geben – ohne Gotteserkenntnis.
ŚETĀŚVATARA UPANISAD, VI, 20
Karen Anderson hat wieder einmal wertvolle Hilfe bei meinen seltsamen Ausdrücken und der Geschichte geleistet. Ihre Arbeit am letzten Kapitel von Äon
Am Ende herrschen Grausamkeit und Tod über das ganze Land. In keinem einzigen Lichtstrahl oder Sandkorn wirst du Trost finden, denn alles ist dunkel, und der kalte Blick von Gottes gleichgültigen Augen mit ihren schweren Lidern fällt voller Verachtung gleichermaßen auf alle. Nur in deiner inneren Stärke gibt es Rettung. Du musst so leben wie ein Baum oder wie die Kellerasseln und Flöhe, die im Lande und dem Ruin der Erde gedeihen. Und so lebst du und fühlst den Stachel des Wissens, dass du am Leben bist. Du isst alles, was dir zur Hand kommt. Und wenn das, was du issest, einst ein Bruder oder eine Schwester war, möge es so sein. Gott kümmert sich nicht darum. Denn wenn alle Hunger haben, sind alle Huren, sogar diejenigen, welche die Huren benutzen. Und Krankheit gedeiht, wenn alle Huren sind; denn Krankheitskeime müssen leben, sich über das Land ausbreiten und die Erde zerstören.
Manche sagen, dass wir aus eigener Kraft wieder den Himmel erklimmen werden. Manche sagen, wir hätten alle sterben sollen zur Sühne. Aber so sollte es nicht kommen. Denn durch eine Laune der Zeit und der Geschichte kamen die Engel von dem Stein, um über das Land zu ziehen und Trost zu bieten, zu dem das Land nicht fähig ist, Wolken und Rauch wegzustoßen und die Sonne durchdringen zu lassen, unsere Feldfrüchte zu säen und unsere Nahrung zu ernten und uns dann den Pflug zu übergeben. Ihr staunt darüber und verflucht die Engel nicht in dem Wahnsinn eurer Schuld; denn sie sind eine Glorie wie ein Traum, und ihr glaubt nicht wirklich daran.
Sie betreuen euch in eurer Krankheit, und im Laufe der Zeit vereint ihr euch mit ihnen, um andere zu betreuen. Medizin wird zur Religion, Hilfe bei dem einzigen Gebot und Heilung als die größte Gabe an Gott, die man sich vorstellen kann.
Sie bringen Wunder aus dem Stein heraus. Sie bleiben unter uns, gehören aber nicht zu uns; und einige Leute murren, aber die wenigen werden ignoriert wie die Spreu. Worüber die wenigen murren, ist Trennung und Enttäuschung, denn wirsind niemals glücklich. Und niemals zufrieden und befriedigt. Aber die Engel hören nicht zu.
Und dann kommt von den Ländern der Bibel und aus dem Volke des Ostens im Buche Rebellion. Denn deren Länder sind nicht ausgedörrt worden, und sie können noch Kraft im Boden gewinnen, und sie sind klug und kennen das Gesetz von Baum und Floh. Denn sie sind von Gott erwählt, sie kämpfen gegen diese Engel, welche für sie keine Engel sind. Sie kämpfen und werden durch Wunder unterworfen und befriedet. Und die Leute des Buches schlafen den Schlaf des Friedfertigen. Sie bauen und arbeiten, kämpfen aber nicht. So ist es in dem Land, wo die Menschheit erstmals ihre Augen geöffnet hat.
Und dann sank in dem Lande das Böse ein an der Spitze des Herzens der Dunkelheit, wie weißer Unrat in eine schwarze Flasche. Von diesem Land kommen Afrikaans und Englisch sprechende Leute in ihren feinen Uniformen. Sie treiben ihre Sklavenheere vor sich her, um alle unberührten südlichen Gebiete der Erde zu plündern. Sie kämpfen und sie werden durch Wunder bezwungen und auf ihre Art befriedet. Und sie schlafen den Schlaf des Friedfertigen. Sie bauen und arbeiten und kämpfen nicht. So ist es am Boden der Amphora von Afrika.
Licht und Lernen beginnen wieder über dem Boden; denn Kraft kehrt wieder zum Boden und ins Fleisch zurück. All dies verdanken wir den Engeln. Und wenn sie bloß Menschen sind, nur unsere eigenen Kinder, zurückgekehrt in Licht gekleidet – was macht das aus für unsere Freude und Dankbarkeit?
Sie erheben uns über das Gesetz von Baum und Floh und machen uns wieder menschlich.
GERSHOM RAPHAEL
Totenbuch, Sure 4, Buch 1.
Wiedereroberte Erde,Unabhängiges Gebiet von Neuseeland, A.D. 2046
Der Friedhof der Station von New Murchison enthielt nur dreißig Gräber. Flaches Grasland umgab den eingezäunten Fleck, und ringsum und hindurch schlängelte sich schützend ein schmaler Bach, dessen leise flüsterndes Geplätscher den kühlen, trockenen Wind übertönte. Der Wind ließ die Grashalme säuseln und beben. In graue Wolken gehüllte Berge mit Schneestreifen blickten finster auf das Gelände. Die Sonne stand um eine Stunde über der Zwei-Daumen-Kette im Osten. Ihr Licht war hell, aber nicht warm. Trotz des Windes schwitzte Garry Lanier.
Er half dabei, den Sarg auf Schultern durch den schiefen weißen Lattenzaun zu dem neu ausgehobenen Grab zu tragen, das durch einen Hügel dunkler Erde markiert war. Sein Gesicht war eine Maske, um die Anstrengung und die krampfhaften Schmerzen zu verbergen.
Sechs Freunde dienten als Träger. Der Sarg war nur ein sauber bearbeiteter und genau angepasster Holzkasten, aber Lawrence Heineman hatte gute neunzig Kilo gewogen, als er starb. Die Witwe, Lenore Carrolson, folgte zwei Schritte dahinter mit erhobenem Kopf. Ihre verwirrten Augen starrten auf etwas eben über dem Ende des Sarges. Ihr einst aschblondes Haar war jetzt silberweiß.
Larry hatte viel jünger ausgesehen als Lenore, die jetzt in ihrem neunzigsten Jahre gebrechlich und unwirklich schien. Er hatte vor vierunddreißig Jahren nach seinem Herzanfall einen neuen Körper bekommen. Nicht Alter oder Krankheit hatten ihn getötet, sondern ein Steinschlag bei einem zwanzig Kilometer entfernten Campingplatz im Gebirge.
Sie legten ihn in die Erde, und die Sargträger zogen die dicken schwarzen Seile weg. Der Sarg kippte und knarrte im Erdreich. Lanier fand, dass Heineman das Grab als ein unbequemes Bett vorkommen würde. Aber dann ließ er diese naive Phantasie sausen. Es war nicht gut, den Tod umzugestalten.
Ein Priester der Neuen Römischen Kirche sprach über dem Grabe Latein. Lanier warf als erster mit dem Spaten muffigen Dreck in das Loch. Asche zu Asche. Der Boden hier ist feucht. Der Sarg wird vermodern.
Lanier rieb sich die Schulter, als er bei Karen stand, die seit fast vierzig Jahren seine Frau war. Ihre Augen huschten über die Gesichter ihrer entfernten Nachbarn und suchten etwas, womit sie ihre Gefühlsverlagerung mildern könnte. Lanier bemühte sich, die Leidtragenden mit ihren Augen zu sehen, und fand nur Trübsal und eine nervöse Niedergeschlagenheit. Er berührte ihren Ellbogen, aber sie hatte nichts von seiner Zuversicht. Karen war, als gehöre sie nicht dazu. Sie hatte Lenore Carrolson wie eine Mutter geliebt, obwohl sie seit zwei Jahren nicht miteinander geredet hatten.
Oben am Himmel tat das Hexamon zwischen den orbitalen Bezirken seinen gewöhnlichen Dienst, hatte aber von diesen glücklichen Himmelskörpern keinen Vertreter geschickt. Und in der Tat wäre eine solche Geste unpassend gewesen in Anbetracht dessen, welche Gefühle Larry gegenüber dem Hexamon entwickelt hatte.
Wie sehr sich doch die Dinge verändert hatten …
Teilungen, Trennungen, Katastrophen. Nicht alle Arbeit, die sie bei der Wiederherstellung geleistet hatten, konnte diese Differenzen wegwischen. Sie hatten auf die Wiederherstellungen solche Erwartungen gesetzt. Karen hatte immer noch große Hoffnungen und arbeitete noch an ihren verschiedenen Projekten. Ihre Umgebung teilte nicht viele dieser Hoffnungen.
Sie war immer noch im Glauben befangen an die Zukunft und die Bemühungen des Hexamons.
Lanier hatte den Glauben vor zwanzig Jahren verloren.
Jetzt hatten sie einen bedeutsamen Teil ihrer Vergangenheit in die feuchte Erde gelegt, ohne Hoffnung auf eine zweite Wiederauferstehung. Heineman hatte nicht erwartet, dass er durch einen Unfall sterben würde; er hatte sich aber trotzdem seinen Tod ausgesucht. Lanier hatte eine ähnliche Wahl getroffen. Er wusste, dass die Erde auch ihn eines Tages absorbieren würde; und das erschien richtig, wenn auch nicht ohne eigenen Schrecken. Er würde sterben. Keine zweite Chance. Er – und Heineman und Lenore – hatten die vom Hexamon gebotenen Gelegenheiten bis zu einem gewissen Maße angenommen und dann Bedenken geäußert.
Karen hatte sich nicht gesträubt. Wenn sie unter dem Bergsturz gelegen hätte anstatt Larry, wäre sie jetzt nicht tot. In ihrem Implantat gespeichert, würde sie ihrer fälligen Wiederauferstehung entgegensehen in einem für sie in einem der Bezirke gewachsenen Körper und zur Erde gebracht werden. Sie würde bald ebenso jung oder noch jünger sein, als sie jetzt war. Und im Verlauf der Jahre würde sie durchaus nicht älter werden, als sie wünschte, noch würde sich ihr Körper in unerwünschter Weise verändern. Das war, was sie von diesen Leuten trennte. Es unterschied sie auch von ihrem Gatten.
Wie Karen hatte auch ihre Tochter Andia ein Implantat gehabt, und Lanier hatte nicht protestiert, weswegen er sich einige Zeit geschämt hatte. Aber es war eine ganz außerordentliche Erfahrung zu sehen, wie sie wuchs und sich wandelte. Er erkannte, dass er viel eher seinen eigenen Tod akzeptieren würde als den dieses schönen Kindes. Er hatte sich Karens Plänen nicht widersetzt; und das Hexamon war heruntergekommen, um das Kind einer seiner getreuen Dienerinnen zu segnen und seiner Tochter eine Gabe mitzuteilen, die er selbst nicht annahm, weil sie nicht allen Alten Eingeborenen der Erde zuteil wurde und es auch nicht werden konnte.
Dann war die Ironie des Schicksals zum Zuge gekommen und hatte ihrem Leben einen festen Stempel aufgeprägt. Vor zwanzig Jahren war Andias Flugzeug im östlichen Pazifik abgestürzt, und sie wurde nie gefunden. Die Chance, dass ihre Tochter wieder ins Leben zurückkehren würde, lag im Schlick auf dem Boden einer tiefen Senke des Ozeans als winzige Kugel, die selbst für die technischen Möglichkeiten des Hexamons unaufspürbar war.
Die Tränen in seinen Augen galten nicht Larry. Er wischte sie weg und grüßte mit formal steifer Miene den Priester, einen gottesfürchtigen jungen Scheinheiligen, den Lanier nie gemocht hatte. »Gottes Wein kommt in einem seltsamen Gefäß«, hatte Larry einmal gesagt.
Er kam in eine Weisheit, die mich neidisch macht.
Im ersten Rausch des Erstaunens über die Arbeit des Hexamons waren alle verblüfft gewesen. Heineman hatte seinen zweiten Körper schließlich gern genug angenommen, und Lenore hatte Verjüngungskuren akzeptiert, um mit ihrem Gatten gleichzuziehen. Später hatte sie diese Behandlungen aufgegeben, wirkte aber jetzt nicht älter als eine gut erhaltene Siebzigerin …
Die meisten Alten Eingeborenen kamen nicht an Implantate heran. Selbst das Hexamon konnte nicht jedermann auf der Erde entsprechend versorgen; und selbst dann waren die Kulturen der Erde nicht reif auch nur für eine angenäherte Unsterblichkeit.
Lanier hatte Implantate abgelehnt, aber die Hexamon-Medizin akzeptiert. Er wusste bis heute nicht, ob darin eine gewisse Heuchelei steckte. Solche Medizin war den meisten, wenn auch nicht allen Alten Eingeborenen zugänglich gemacht worden, die über eine ruinierte Erde zerstreut waren. Das Hexamon hatte seine Hilfsquellen dafür ausreichend strapaziert.
Er hatte gedacht, dass er, um seine aktuelle Arbeit zu tun, gesund und fit sein müsste; und für diese Arbeit – den Besuch der Todländer und das Leben inmitten von Tod, Krankheit und Strahlung – brauchte er das Privileg der Hexamon-Medizin.
Lanier konnte Karens Reaktion erkennen. So eine Vergeudung. Alle diese Leute fielen aus und gaben auf. Sie dachte, dass sie sich verantwortungslos verhielten. Vielleicht waren sie das wirklich; aber wie er selbst und Karen hatten sie einen großen Teil ihres Lebens der Wiederherstellung und dem Glauben gewidmet. Sie hatten ihre Zuversicht verdient, wenn sie auch in Karens Augen unverantwortlich sein mochten.
Die Schuld, die sie alle vor den orbitalen Bezirken trugen, war unermesslich. Aber Liebe und Loyalität konnte man nicht durch Schuldverpflichtung verdienen.
Lanier folgte den Leidtragenden in die kleine, einige hundert Meter entfernte Kirche. Karen blieb bei den Gräbern zurück. Sie weinte, aber er konnte nicht hingehen, um sie zu trösten.
Er schüttelte einmal heftig den Kopf und blickte zum Himmel empor.
Niemand hatte gedacht, dass es jemals so geschehen würde.
Er konnte es selbst kaum glauben.
In dem einstöckigen Versammlungsraum der Kirche wartete Lanier, während drei jüngere Frauen Sandwiches und Punsch bereitstellten, darauf, dass seine Frau sich dem Rest des Volkes anschließen würde. Gruppen von zwei oder drei Personen bildeten sich missmutig im Raum, um vorzutreten und der Witwe ihre Aufwartung zu machen, die alles mit distanziertem Lächeln aufnahm.
Er entsann sich: Sie hat ihre erste Familie im Tod verloren. Sie und Larry hatten sich, nachdem sie sich vor zehn Jahren von der Rekonstruktion zurückgezogen hatten, wie junge Leute verhalten. Sie wanderten um die Süd-Insel, nahmen mancherlei Hobbies auf, gingen gelegentlich zu ausgedehnten Märschen nach Australien und segelten einmal sogar nach Borneo. Sie waren ohne Sorgen gewesen, oder hatten zumindest so gewirkt, und Lanier beneidete sie darum.
»Ihre Frau trifft dies hart«, sagte ein junger Mann mit rotem Gesicht namens Fremont und ging allein auf Lanier zu. Fremont betrieb die wiedereröffnete Irishman Creek Station. Seine halbwilden Merinos verteilten sich bis hin zu Twizel, und er galt nicht als ein Musterbürger. Sein Stationszeichen war ein Kea in einem Kreis – merkwürdig für jemand, der seinen Lebensunterhalt durch Schafe verdiente. Aber er sollte einmal gesagt haben: »Ich bin nicht weniger unabhängig als meine Schafe. Ich gehe, wohin ich will, und das tun sie auch.«
Lanier sagte: »Wir alle haben ihn geliebt.« Er wusste nicht, warum er sich plötzlich diesem rotgesichtigen Halbfremden anvertrauen sollte; aber mit einem Auge zur Tür gewandt und auf Karen wartend sagte sein Mund: »Er war ein tüchtiger Mann, wenn auch schlicht. Er kannte seine Grenzen. Ich …«
Fremont zog eine buschige Augenbraue hoch.
Lanier sagte: »Wir waren zusammen auf dem Stein.«
»So habe ich gehört. Sie waren ganz konfus mit den Engeln.«
Lanier schüttelte den Kopf: »Er hat das gehasst.«
Fremont sagte: »Er hat hier und überall Gutes getan.«
Bei einem Begräbnis sind alle Leute nett. Karen kam zur Tür herein. Fremont, der höchstens fünfunddreißig Jahre alt sein mochte, blickte in ihre Richtung und wandte sich dann mit einem abschätzenden Blick wieder Lanier zu. Dieser verglich sich mit diesem jungen, kräftigen Mann. Er selbst hatte voll ergrautes Haar, große braune und schwielige Hände. Sein Körper war leicht gebeugt.
Karen schien nicht älter zu sein als Fremont.
Terrestrisches Hexamon, Erdorbit, Achse Euklid
»Wir wollen sprechen«, schlug Suli Ram Kikura vor, nahm ihren Pictor vom Hals und machte es sich in einem Sessel hinter Olmy bequem. Er stand am Fenster ihres Apartments – einem richtigen Fenster – und schaute durch die Achse. Die innere Wand des zylindrischen Raumes von Euklid hatte einst die zentrale Singularität des Wegs umgeben. Jetzt zeigte sie schwimmende Astronauten mit gazeartigen Flügeln wie von Fledermäusen, die durch Vergnügungsparks schwebten, ferner Bürger auf Fußwegen in matt purpurnen Feldern, sowie einen kleinen Bogen von Dunkelheit zur Linken. Das war der erdnahe Weltraum, wie er jenseits der inneren Wand sichtbar war.
Farben und Aktivitäten erinnerten ihn an ein französisches Gemälde aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, eine Parkszene, der plötzlich die Schwerkraft genommen war, mit spazierenden Paaren und Kindern orthodoxer Naderiten überall verteilt. Die Aussicht änderte sich ständig, während der Körper der Achse um den Hohlraum in seinem Zentrum rotierte und ein lebendiges Bild von Leben und Gesellschaft des Hexamons bot, von dem Olmy kein Teil mehr zu sein schien.
»Ich höre«, sagte er, ohne sie anzuschauen.
»Du hast Tapi seit Monaten nicht besucht.« Tapi war ihr Sohn, gezeugt aus ihren vermischten Erinnerungen im Gedächtnis der Euklid-Stadt. Eine solche Methode war erst in den letzten zehn Jahren wieder aufgekommen. Davor, als orthodoxe Naderiten die Bezirksregierung von Euklid beherrscht hatten und natürliche uterine Geburten an der Tagesordnung gewesen waren, hatte man die Jahrhunderte von Tradition des Hexamons zur Hölle gewünscht. So kam es nun, dass in dem Flaw-Park hinter Ram Kikuras Fenster die Kinder spielten.
Olmy blinzelte und fühlte sich der Vernachlässigung seines Sohnes schuldig. Mit Suli Ram Kikura kam man immer schnell zur Sache. »Es geht ihm gut.«
»Er braucht uns beide. Ein Partial auf Verlangen ist kein Ersatz für einen Vater. Er wird in wenigen Monaten seine Inkorporationstests ablegen und braucht …«
»Ja, ja.« Olmy wünschte, sie hätten Tapi nie bekommen. Das Gewicht der Verantwortung war jetzt zu viel, wo seine Forschungen ihn auch schwer belasteten. Er hatte einfach keine Zeit.
»Ich weiß nicht, ob ich auf dich wütend sein soll oder nicht«, sagte sie. »Du stehst vor irgendeinem Problem. Ich hätte wohl schon vor einigen Jahren ahnen können, um was es geht…« Ihre Stimme war voll und ausgeglichen, gut beherrscht, aber sie konnte doch nicht Besorgnis verhehlen, vermischt mit Gereiztheit über seine stille Stumpfheit. »Ich schätze dich genug, um zu fragen, was dich bekümmert.«
Wertschätzung. Ihre Liebe ging mehr Dekaden zurück, als er sich traute zu zählen. (Vierundsiebzig Jahre – erinnerten ihn unaufgefordert seine implantierten Gedächtnisspeicher.) Und sie hatten durchlebt – und mitgemacht – manche der turbulentesten und spektakulärsten Zeiten des Hexamons. Er hatte niemals einer Frau den Hof gemacht außer Ram Kikura. Er hatte immer gewusst, dass er, wohin er auch gehen und eine flüchtige Verbindung eingehen mochte, immer zu ihr zurückkehren würde. Sie passte zu ihm – ein Homorph, weder Naderit noch Geshel in ihrer Politik, lebenslänglich Advokatin, einmal Repräsentantin der Erde im Nexus, Kämpferin für die Unglücklichen, Vergessenen und Unwissenden. Mit keiner anderen Person hätte er einen Tapi zeugen mögen.
»Ich habe studiert. Das ist alles.«
»Ja, aber du willst mir nicht sagen, was du studiert hast. Was es auch sein mag, es verändert dich.«
»Ich blicke nur nach vorn.«
»Du weißt nichts, in das ich nicht eingeweiht bin. Ist es so? Aus dem Ruhestand kommend? Die Reise zur Erde …«
Er sagte nichts, und sie gab mit zusammengepressten Lippen nach. »Nun wohl. Etwas Geheimes. Etwas, das mit der Wiedereröffnung zu tun hat.«
»Niemand hat das ernsthaft vor«, sagte Olmy. Sein Ton war für einen über fünf Jahrhunderte alten Mann etwas unpassend gereizt. Nur Ram Kikura konnte seinen Panzer durchdringen und eine solche Antwort provozieren.
»Nicht einmal Korzenowski stimmt dir zu.«
»Mir? Ich habe nie gesagt, dass ich die Wiedereröffnung unterstütze.«
Sie sagte: »Das ist absurd.« Jetzt hatten sie beide den Panzer ausprobiert. »Was auch immer unsere Probleme, unsere Knappheiten sein mögen, die Erde aufgeben …«
»Das ist noch weniger wahrscheinlich«, sagte er ruhig.
»… und den Weg wieder aufmachen … Das richtet sich gegen alles, wofür wir in den letzten vierzig Jahren gearbeitet haben.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich das wünschte«, wiederholte er.
Ihre zornige Miene schockierte ihn. Ihre Distanz war nie so groß gewesen, dass zwischen ihnen intellektuelle Verachtung aufgekommen war. Ihre Beziehung war immer eine Mischung von Leidenschaft und Würde gewesen, sogar in den Jahren ihres schlimmsten Streits – wo es Zeichen von Gleichziehen oder Überlegenheit gegeben hatte, obwohl er keine Meinungsverschiedenheit zugeben mochte.
»Niemand wünscht es, aber es wäre sicher aufregend, nicht wahr? Wieder gewinnbringend beschäftigt zu sein, einen Auftrag zu haben, zu unserer Jugend zurückzukehren und den Jahren höchster Macht. Wieder mit den Talsit Handel zu beginnen. Solche Wunder in Aussicht.«
Olmy hob leicht eine Schulter, womit er andeutete, dass er etwas Wahres in dem sah, was sie sagte.
»Unsere Arbeit hier ist beendet. Wir müssen unsere ganze Geschichte reklamieren. Das ist bestimmt mühsam genug.«
»Ich habe nie gewusst, dass unseresgleichen zaghaft wäre«, sagte Olmy.
»Du fühlst den Ruf der Pflicht, nicht wahr? Du bereitest dich darauf vor, dass das, was du denkst, geschehen wird.« Suli Ram Kikura stand auf und griff ihn am Arm, mehr aus Ärger als aus Zuneigung. »Haben wir niemals die gleichen Gedanken gehabt? Ist unsere Liebe bloß eine Anziehung von Gegensätzen gewesen? Du hast dich mir widersetzt hinsichtlich der Rechte der Alten Eingeborenen auf Individualität …«
»Alles andere hätte der Wiederherstellung geschadet.« Dass sie nach achtunddreißig Jahren das Thema wieder anrührte und seine schnelle Antwort zeigten deutlich, dass die Glut jenes Disputs noch nicht erloschen war.
»Wir sind übereingekommen, unterschiedlicher Meinung zu sein«, sagte sie ihm ins Gesicht.
Als Advokatin der Erde in den Jahren nach der Zerstörung und in den frühen Stufen der Erholung hatte sich Ram Kikura den Bemühungen des Hexamons widersetzt, Talsit und andere mentale Therapien bei Alten Eingeborenen anzuwenden. Sie hatte gültiges terrestrisches Recht zitiert und die Sache vor die Gerichte des Hexamons gebracht mit dem Argument, dass Alte Eingeborene das Recht hatten, Kontrollen der geistigen Gesundheit und korrigierende Therapie abzulehnen.
Schließlich wurde ihre Berufung unter einem speziellen Gesetzeserlass bezüglich der Wiederherstellung verworfen.
Das war vor achtunddreißig Jahren entschieden worden. Jetzt erhielten ungefähr vierzig Prozent der Überlebenden auf der Erde die eine oder andere Art von Therapie. Der Propagandafeldzug zur Anwendung der Behandlung war meisterhaft gewesen. Manchmal hatte er über das Ziel hinausgeschossen, aber er hatte funktioniert. Geistige Krankheit und Fehlfunktion waren praktisch ausgerottet.
Ram Kikura hatte sich anderen Aufgaben und Problemen zugewandt. Sie waren ein Liebespaar geblieben, aber ihre Beziehung war von da an etwas gespannt gewesen.
Die Verbindung zwischen ihnen war sehr fest. Meinungsverschiedenheiten – auch diese jetzt – konnten sie nicht zerreißen. Ram Kikura konnte und wollte auf keinen Fall weinen oder die Schwächen einer Alten Eingeborenen zeigen, und Olmy hatte schon vor Jahrhunderten diese Fähigkeiten aufgegeben. Ihr Gesicht war auch ohne Tränen deutlich genug. Er konnte darin den speziellen Charakter einer Hexamonbürgerin lesen, Emotionen, die zurückgehalten, aber doch irgendwie mitgeteilt wurden, vor allem Betrübnis und Gefühle von Verlust.
Sie sagte: »Du hast dich in den letzten vier Jahren verändert. Ich kann es nicht definieren … Aber was immer du auch tust und wie auch immer du es vorbereitest, es mindert den Teil von dir, den ich liebe.«
Seine Augen zogen sich zusammen.
»Du willst nicht darüber sprechen. Nicht einmal mit mir.«
Er schüttelte langsam den Kopf und empfand nur noch mehr Fremdheit und Verlust.
»Wo ist mein Olmy?«, fragte Ram Kikura leise. »Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ser Olmy! Ihre Rückkehr ist höchst willkommen. Wie war Ihre Reise?« Der Präsident Kies Farren Siliom stand auf einer breiten, durchsichtigen Plattform. Unter ihm kam der weite Bogen der Erde in Sicht, während die Euklid-Achse rotierte. Fünfhundert Quadratmeter von gespanntem und durch Ionen verankertem Glas sowie zwei Schichten Traktionsfeld lagen zwischen dem Konferenzraum des Präsidenten und dem freien Weltraum. Er schien auf einem Streifen aus offenem Nichts zu stehen.
Die Kleidung von Farren Siliom – weiße afrikanische Baumwollhosen und ein ärmelloses Hemd aus modifiziertem Leinen von Thistledown – betonten seine Verantwortung für zwei Welten: Die wiederhergestellte Erde, deren östliche Hemisphäre unter ihren Füßen in den Morgen rollte, und den Körpern in Umlaufbahnen: die Achsen Euklid und Thoreau und das Asteroiden-Sternschiff Thistledown.
Olmy stand auf einer Seite der scheinbaren Leere in der äußeren Schale des Bezirks. Die Erde kam außer Sicht. Er visualisierte formale Grüße an Farren Siliom und sagte dann laut: »Meine Reise war glatt, Ser Präsident.«
Er hatte geduldig drei Tage lang geschrieben, um zugelassen zu werden, und die Zeit für den unangenehmen Besuch bei Suli Ram Kikura genutzt. Unzählige Male zuvor hatte er Ministerpräsidenten und weniger hochgestellten Beamten aufgewartet und war sich im Verlauf der Jahrhunderte voll bewusst geworden, dass er die alte Haltung von Überlegenheit eines alten Soldaten über seine Herren entwickelt hatte, eine respektvolle Herablassung gegenüber der Hierarchie.
»Und Ihr Sohn?«
»Ich habe ihn einige Zeit nicht gesehen, Ser Präsident. Ich nehme an, dass es ihm gut geht.«
»Ein ganzer Haufen Kinder kommt bald zum Inkorporationsexamen her«, sagte Farren Siliom. »Sie alle werden Körper und Beschäftigungen brauchen, wenn sie so leicht bestehen, wie ich es von Ihrem Sohn als sicher annehme. Mehr Beanspruchung beschränkter Ressourcen.«
»Jawohl, Ser.«
»Ich habe zwei meiner Beigeordneten aufgefordert, an Ihrer Unterweisung dabei zu sein«, sagte der Präsident, die Hände hinter dem Rücken gefaltet.
Zwei zuerteilte Geister – projizierte partielle Persönlichkeiten, die zeitweilig unabhängig von ihren Originalen agierten – erschienen ein paar Meter neben dem Präsidenten. Olmy erkannte einen von ihnen, Tobert Tomson Tikk, den Anführer der Neo-Geshels in der Achse Euklid, einen der dreißig Senatoren von Euklid im Nexus. Olmy hatte Tikk zu Beginn seiner Mission durchforscht, obwohl er den Senator nie persönlich getroffen hatte. Das Bild von Tikks Partial sah etwas hübscher und muskulöser aus als sein Original, eine Repräsentation, die bei den radikaleren Politikern des Nexus immer beliebter wurde.
Die Präsenz projizierter Partiale war alt und neu zugleich. Während dreißig Jahren nach der Zerstörung und der Trennung Thistledowns vom Weg hatten orthodoxe Naderiten das Hexamon beherrscht, und solche technischen Schaustellungen waren auf Situationen äußerster Notwendigkeit eingeschränkt worden. Jetzt war der Gebrauch von Partialen allgemein verbreitet, und ein Neo-Geshel wie Tikk würde nichts dagegen haben, sein Bild und seine Persönlichkeitsmuster gelegentlich über das Hexamon auszudehnen.
»Ser Olmy ist mit Senator Tikk bekannt. Ich glaube nicht, dass Sie Senator Ras Mishiney getroffen haben, den Senator für das Territorium von Groß-Australien und Neuseeland. Er befindet sich derzeit in Melbourne.«
»Entschuldigen Sie die Zeitverzögerung«, sagte Mishiney.
»Keine Sorge«, sagte Olmy. Die Audienz war eine reine Formalität, da das meiste von Olmys Bericht in detaillierten Visualisationen und Graphiken enthalten war. Aber selbst so hatte er nicht erwartet, dass Farren Siliom Zeugen hinzuziehen würde. Ein weiser Führer wusste, wann er seinen Gegner – oder seine Gegner – in hohe Funktionen einsetzen sollte. Olmy wusste wenig über Mishiney.
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung, dass ich Ihren wohlverdienten Ruhestand störe.« Erdlicht überflutete den Präsidenten. Während der Bezirk rotierte, schien die Erde unter ihnen dahinzugleiten. »Sie haben diesem Amt Jahrhunderte lang gedient. Ich hielt es für das beste, mich auf jemanden mit Ihrer Erfahrung und Perspektive zu verlassen. Womit wir es hier zu tun haben, sind natürlich großenteils historische Probleme und Trends …«
»Vielleicht kulturelle Probleme«, fügte Tikk ein. Olmy fand es ruppig für ein Partial, den Präsidenten zu unterbrechen. Aber das war eben der Stil von Neo-Geshels.
»Ich nehme an, diese Würdenträger kennen die Aufgabe, die Sie mir zugedacht haben«, sagte Olmy und nickte den Geistern zu. Aber nicht die gesamte Aufgabe.
Der Präsident signalisierte Zustimmung. Der Mond rutschte unter ihnen durch als feine Platinsichel. Sie standen jetzt alle nahe dem Zentrum der Plattform. Die Bilder der Partiale ließen durch leichtes Flackern ihre Natur erkennen. »Ich hoffe, dieser Auftrag war weniger anstrengend als die anderen, für die Sie berühmt sind.«
»Überhaupt nicht anstrengend, Ser Präsident. Ich fürchtete, Kontakt mit den Details des Hexamons zu verlieren …« – oder der menschlichen Rasse im ganzen, dachte er –, »wenn man so ruhig und friedlich lebt.«
Der Präsident lächelte. Selbst für Olmy war es schwer sich vorzustellen, dass ein altes Schlachtross wie er ein Leben kontemplativer Muße führte.
»Ich habe Ser Olmy auf eine Mission rund um die Wiederhergestellte Erde geschickt, um ein unabhängiges Bild über unsere Beziehungen zu gewinnen. Dies erschien notwendig im Licht der vier kürzlichen Mordversuche an Hexamonbeamten und Terrestrischen Führern. Wir im Hexamon sind solche … extremen Verhaltensweisen nicht gewohnt.
Es könnten die letzten Spuren der politischen Vergangenheit der Erde sein, oder sie könnten Hinweise auf den Bruch von Spannungen geben, die wir nicht bemerken – Reflexe unseres ›Den-Gürtel-fester-Schnallens‹ in den orbitalen Bezirken.
Ich habe ihn gebeten, mir einen Überblick zu liefern, wie die Wiederherstellung vorangeht. Manche halten sie für beendet, und so hat unser Hexamon die Erde als ›Wiederhergestellt‹ bezeichnet in der Vergangenheitsform, wonach die Aufgabe erledigt wäre. Ich bin aber nicht überzeugt. Wieviel Zeit und Mühe werden nötig sein, um die Erde wirklich wieder gesund zu machen?«
»Die Wiederherstellung geht so gut voran, wie man erwarten konnte, Ser Präsident.« Olmy veränderte bewusst seine Sprech- und Darstellungsweise. »Wie dem Senator von Australien und Neuseeland bekannt ist, können auch die gewaltigen Technologien des Hexamons keinen Mangel an Ressourcen wettmachen, jedenfalls nicht, wenn man eine solche Umwandlung in wenigen Dekaden durchführen will. Die Heilung der Wunden der Erde erfordert eine gewisse Zeit, und die können wir nicht sehr verkürzen. Ich schätze, dass ungefähr die Hälfte des Vorhabens geschafft ist, wenn wir unter Wiederherstellung die Rückkehr zu ökonomischen Verhältnissen verstehen, die denen vor dem Tod vergleichbar sind.«
»Hängt das nicht davon ab, wie sehr wir uns um die Erde bemühen?«, fragte Ras Mishiney. »Wenn wir die Terrestrier auf ein Niveau heben wollen, das dem der Bezirke von Thistledown vergleichbar ist …« Er beendete den Satz nicht. Das war auch kaum nötig.
Olmy sagte: »Das könnte ein Jahrhundert oder länger dauern. Man ist sich nicht allgemein darin einig, dass die Alten Eingeborenen einen so raschen Fortschritt wünschen. Manche würden sich sogar bestimmt offen widersetzen.«
»Wie stabil sind unsere Beziehungen zur Erde gegenwärtig?«, fragte ihn der Präsident.
»Sie könnten erheblich verbessert werden, Ser. Es gibt noch Gebiete starken, offenen politischen Widerstandes. Darunter sind Südafrika und Malaysia.«
Ras Mishiney lächelte ironisch. Die Erinnerung an die von Südafrika versuchte Invasion Australiens war als eine der größten Krisen in den vier Dekaden der Wiederherstellung noch schmerzhaft lebendig.
»Aber der Widerstand ist rein politisch, und nicht militärisch, und er ist nicht sehr gut organisiert. Südafrika wurde nach den Voortrekker-Niederlagen bezwungen, und die Aktivitäten von Malaysia sind ungeregelt. Sie erscheinen im Moment nicht beunruhigend.«
»Haben unsere ›gesundheitlichen Schikanen‹ gewirkt?«
Olmy war erschüttert. Die Anwendung psychobiologischer Mittel auf der Erde galt als höchst geheim. Nur wenige der vertrauenswürdigsten Alten Eingeborenen wussten davon. Gehörte Ras Mishiney zu ihnen? Vertraute Farren Siliom Tikk so sehr, dass er beiläufig darüber sprechen konnte?
»Ja, Ser.«
»Sie hatten aber immer Bedenken gegen diese Massenbehandlungen?«
»Ich habe deren Notwendigkeit immer anerkannt.«
»Keinerlei Zweifel?«
Olmy hatte das Gefühl, dass mit ihm ein Spiel getrieben würde. Er empfand keine Sensation. »Falls Sie auf die Opposition der früheren Advokatin der Erde, Suli Ram Kikura, anspielen … Wir haben nicht unbedingt die gleichen politischen Ansichten, auch wenn wir das Bett miteinander teilen, Ser Präsident.«
»Das gehört jetzt der Vergangenheit an. Entschuldigen Sie die Unterbrechung und fahren Sie bitte fort, Ser Olmy!«
»Es gibt unterschwellig noch eine erhebliche Spannung zwischen den meisten Alten Eingeborenen und den herrschenden Parteien der orbitalen Körper.«
»Das ist für mich ein schmerzliches Rätsel«, sagte Farren Siliom.
»Ich bin nicht sicher, dass es überwunden werden kann. Sie sind uns in so vielfacher Weise gram. Wir haben ihnen ihre Jugend geraubt …«
»Wir haben sie aus dem Tod herausgezogen!«, sagte der Präsident heftig. Der Geist von Ras Mishiney lächelte leicht.
»Ser, wir haben sie gehindert, aus eigener Kraft zu wachsen und sich zu erholen. Das Terrestrische Hexamon, welches Thistledown erbaut und gestartet hat, ist gerade aus einem solchen Elend entstanden, und zwar unabhängig. Einige Alte Eingeborene haben vielleicht die Empfindung, wir hätten zu sehr geholfen und ihnen unseren Weg aufgezwungen.«
Farren Siliom signalisierte mürrische Zustimmung. Olmy hatte eine härtere Haltung gegenüber den Alten Eingeborenen unter den Hexamon-Administratoren in den orbitalen Körpern während der letzten Dekade bemerkt. Und die Alten Eingeborenen selbst, so, wie sie waren, viele noch roh und ungebildet, noch schockiert von dem großen Tod und ohne die politische und administrative Bildung, die in Jahrhunderten der Erfahrung im Weg gewonnen war, hatten im Laufe der Zeit die feste, aber sanfte Hand ihrer mächtigen Nachkommen missbilligt.
»Der Terrestrische Senat ist ruhig und kooperativ«, sagte Olmy und vermied den Blick von Ras Mishiney. »Die schlimmsten Unzufriedenheiten außer den bereits genannten schienen in China und Südostasien zu herrschen.«
»Wo Wissenschaft und Technik nach dem Tod zuerst in unserer Geschichte wieder aufgestiegen sind … eigenwillige und starke Völker. Wie missmutig sind die Alten Eingeborenen im großen und ganzen?«
»Sicher nicht bis zum Punkte eines weltweiten Aktivismus, Ser Präsident. Betrachten Sie es als ein Vorurteil und als einen Zorn.«
»Was ist mit Gerald Brooks in England?«
»Ich habe mich mit ihm getroffen, Ser. Er ist keine Bedrohung.«
»Er macht mir Sorge. Er hat in Europa eine ansehnliche Schar von Anhängern.«
»Höchstens zweitausend in einer erholten Bevölkerung von zehn Millionen. Er ist lautstark, aber nicht mächtig. Er empfindet tiefe Dankbarkeit für das, was das Hexamon für die Erde getan hat … Er missbilligt nur jene Ihrer Administratoren, die Terrestrier wie Kinder behandeln.« Davon gibt es viel zu viele, dachte er.
»Er missbilligt meine Administratoren.« Der Präsident ging auf der Plattform hin und her. Olmy beobachtete ihn mit tiefem, ironischem Vergnügen. Die Politiker hatten sich gewiss verändert seit den Tagen seiner Jugend, sogar nach der Katastrophe. Formales Benehmen schien eine Kunst der Vergangenheit zu sein. »Und die religiösen Bewegungen?«
»So stark wie eh und je.«
»Hm.« Farren Siliom schüttelte den Kopf. Er schien schlechte Nachrichten als Nahrung für einen schwelenden Zorn zu genießen.
»Es gibt mindestens zweiunddreißig religiöse Gruppen, die Ihre Administratoren nicht als weltliche oder geistliche Herrscher akzeptieren.«
»Wir erwarten nicht, dass sie uns als geistliche Herren anerkennen«, sagte Farren Siliom.
Olmy erinnerte ihn: »Einige Beamte haben öfters versucht, die Herrschaft des Guten Menschen den Alten Eingeborenen aufzuzwingen. Sogar bei den Zeitgenossen des ehrenwerten Nader …« Wie lange war es her, dass ein fanatischer orthodoxer naderitischer Repräsentant empfohlen hatte, ein illegales psychobiologisches Mittel anzuwenden, um die Ungläubigen zu Stern, Schicksal und Pneuma zu bekehren? Fünfzehn Jahre? Olmy und Ram Kikura hatten geholfen, diese Vorstellung zu unterdrücken, ehe sie auch nur eine Geheimsitzung des Nexus erreicht hatte; aber Olmy war fast über Nacht auf ihre radikalen Ansichten eingeschwenkt.
»Wir haben uns um diese Dissidenten gekümmert«, sagte Farren Siliom.
»Vielleicht nicht energisch genug. Viele befinden sich noch in einflussreichen Stellungen und setzen ihre Kampagnen fort. Aber auf jeden Fall befürwortet keine dieser Bewegungen eine offene Rebellion.«
»Ziviler Ungehorsam?«
»Der ist im Hexamon ein geschütztes Recht«, sagte Olmy.
»In den letzten Dekaden wenig angewandt«, konterte Farren Siliom. »Und was ist mit den Erneuerten Unternehmern?«
»Keine Bedrohung.«
»Wirklich nicht?« Der Präsident schien direkt enttäuscht zu sein.
»Nein. Ihre Verehrung für das Hexamon ist echt, wie auch immer ihre Ansichten sonst sein mögen. Außerdem ist deren Anführerin vor drei Wochen in dem alten Territorium von Nevada gestorben.«
»Eines natürlichen Todes, Ser Präsident«, sagte Tikk. »Das ist ein wichtiger Unterschied. Sie hat Angebote der Lebensverlängerung oder Einsetzung von Implantaten abgelehnt …«
»Sie hat sie verweigert, weil sie ihren Gefolgsleuten verwehrt waren«, sagte Olmy.
»Wir haben nicht die Ressourcen, um jedem Bürger des Terrestrischen Hexamons Unsterblichkeit zu verleihen«, sagte Farren Siliom. »Und sie würden außerdem keinesfalls sozial vorbereitet sein.«
»Gewiss«, gab Olmy zu. »Auf jeden Fall haben sie sich nie Plänen des Hexamons jenseits ihres unmittelbaren Territoriums widersetzt.«
»Haben Sie Senator Kanazawa auf Hawaii getroffen?«, fragte Ras Mishiney mit einer Andeutung von Widerwillen. Olmy begriff mit einem Mal, warum der Senator zugegen war. Ras Mishiney war im Lager der orbitalen Körper Herz und Seele.
»Nein«, antwortete Olmy. »Ich hatte keine Ahnung, dass er sich jemals nicht kooperativ zum Hexamon verhalten hätte.«
»Er hat in den letzten Jahren eine starke persönliche Macht aufgebaut. Besonders im Pazifischen Bogen.«
»Er ist ein kompetenter Politiker und Administrator«, sagte Farren Siliom und mäßigte den Senator mit einem Blick. »Es ist nicht unsere Pflicht, für immer die Macht auszuüben. Wir sind Ärzte und Lehrer, aber keine Tyrannen. Gibt es sonst noch etwas von Bedeutung, Ser Olmy?«
Das gab es, aber Olmy wusste, dass es vor diesen Partialen nicht besprochen werden würde.
»Nein, Ser. Alle Details sind aufgezeichnet.«
»Gentlemen«, sagte der Präsident und streckte ihnen seine Arme mit offenen Händen entgegen, »haben Sie etwa noch abschließende Fragen an Ser Olmy?«
»Nur eine«, sagte Tikks Partial. »Wie stehen Sie zu der Wiederöffnung des Weges?«
Olmy lächelte. »Meine Ansichten zu diesem Thema sind nicht wichtig, Ser Tikk.«
»Mein Original ist höchst interessiert an den Ansichten jener, die sich lebhaft an den Weg erinnern.« Tikk war erst nach der Katastrophe geboren worden. Er gehörte zu den jüngsten Neo-Geshels auf der Achse Euklid.
»Ser Olmy hat ein Recht, seine Meinung für sich zu behalten«, sagte Farren Siliom.
Tikks Partial entschuldigte sich nicht sehr aufrichtig.
»Vielen Dank, Ser Präsident«, sagte Mishineys Partial. »Ich schätze Ihre Kooperation mit dem Parlament der Erde und sehe dem Studium Ihrer vollständigen Aufzeichnungen entgegen, Ser Olmy.«
Die Geister verblassten und ließen sie über der dunklen bodenlosen Leere allein, in der jetzt weder Erde noch Mond zu sehen waren. Olmy blickte nach unten und erhaschte einen Lichtschein zwischen den Sternen: Thistledown, dachte er, und seine Implantate lieferten rasch eine Berechnung, die seine Vermutung bestätigte.
»Eine letzte Frage, Ser Olmy, und dann ist diese Zusammenkunft abgeschlossen. Die Neo-Geshels … Wenn sie es schaffen, das Hexamon dazu zu bringen, den Weg wieder aufzumachen, haben wir die Mittel, um die Unterstützung der Erde auf dem jetzigen Niveau fortzusetzen?«
»Nein, Ser Präsident. Eine erfolgreiche Wiederöffnung würde lange Verzögerungen zumindest bei größeren Rehabilitationsprojekten zur Folge haben.«
»Unsere Mittel sind ohnehin schon knapp, nicht wahr? Mehr, als das Hexamon bereit ist zuzugeben. Und dennoch gibt es Terrestrier – Mishiney gehört dazu –, die glauben, dass die Wiederöffnung uns allen gut tun würde.« Der Präsident schüttelte den Kopf und visualisierte ein Symbol von Urteil und eines von extremer Torheit: einen Mann, der ein lächerlich langes Schwert wetzte. Dieses Symbol hatte per se keinen weiteren Zusammenhang mit Krieg, aber sein Untertext war für Olmy etwas überraschend. Krieg mit wem?
»Wir müssen lernen, uns unter den gegenwärtigen Verhältnissen anzupassen und zu leben. Davon bin ich zutiefst überzeugt«, sagte Farren Siliom. »Aber mein Einfluss ist nicht unbeschränkt. So viele unserer Leute haben so sehr Heimweh bekommen! Können Sie sich das vorstellen? Sogar ich. Ich war einer der Hitzköpfe, die Rosen Gardner unterstützten und eine Rückkehr zur Erde forderten, dahin, was wir als unsere wahre Heimat ansahen – aber niemand, der im Weg am Leben war, war je auf der Erde gewesen! Für wie klug und gebildet wir uns halten, aber wie irrational und primitiv sind unsere stärksten Emotionen und Motivierungen! Vielleicht würde ein höheres Maß an Talsit helfen, oder nicht?«
Olmy lächelte unverbindlich.
Der Präsident ließ seine Schultern hängen und straffte sie dann wieder mit Mühe. »Wir sollten lernen, ohne diese Luxusgüter zu leben. Der Gute Mensch hat sich nie mit Talsit bedient.« Er ging zum Rande der Plattform, als ob er den Abgrund unter ihren Füßen vermeiden wollte. Die Erde kam wieder in Sicht. »Haben die Neo-Geshels ihre Aktivitäten zur Erde gebracht? Außer Leuten wie Mishiney?«
»Nein. Sie scheinen damit zufrieden, die Erde zu ignorieren, Ser Präsident.«
»Das mindeste, was man von solchen Visionären erwarten würde. Das ist eine politische Urquelle, die übersehen zu haben, ihnen leid tun wird. Sie können bestimmt nicht glauben, dass die Erde bei einer solchen Entscheidung nicht wird mitreden können! Und auf Thistledown?«
»Da machen sie bloß Propaganda. Ich habe kein Zeichen subversiver Aktivitäten gefunden.«
»Ein Mann in meiner Position hält ein sehr delikates Gleichgewicht aufrecht und sucht so viele Gruppen gegeneinander auszuspielen. Ich weiß, dass meine Stellung in diesem Amt begrenzt ist. Ich kann meine Überzeugungen schlecht verhehlen, und diese Überzeugungen sind in diesen Tagen nicht besonders leicht zu vertreten. Ich kämpfe jetzt seit drei Jahren gegen die Vorstellung der Wiederöffnung. Sie wird nicht sterben. Aber ich kann mich nicht dazu bringen zu glauben, dass etwas Gutes daraus kommen wird. ›Sie können nicht wieder heimkehren.‹ Besonders dann, wenn Sie nie feststellen können, wo die Heimat ist. Mangel, Ermüdung. Ich sehe, dass eines Tages die Wiederöffnung unvermeidbar sein wird … Aber nicht jetzt! Nicht, bis wir unsere Unternehmungen auf der Erde beendet haben.« Farren Siliom sah Olmy mit einer fast flehenden Miene an. »Ich bin ebenso neugierig wie Senator Tikk. Ich habe Angst. Was sind unsere Ansichten über den Weg?«
Olmy schüttelte leicht den Kopf. »Ich habe mich damit abgefunden, ohne ihn zu leben, Ser President.«
»Sie würden aber nicht in der Lage sein, ihre Körperteile bald zu erneuern … oder sind die Knappheiten schon akut?«
»Sie sind es«, gab Olmy zu.
»Sie werden sich freiwillig dem Gedächtnis der Stadt übergeben?«
»Oder dem Tod«, sagte Olmy. »Aber das wird erst in Jahren geschehen.«
»Versäumen Sie nicht die Herausforderungen und Gelegenheiten?«
»Ich bemühe mich, mir um die Vergangenheit keine Sorgen zu machen«, sagte Olmy. Er war keineswegs aufrichtig, hatte aber schon längst gelernt, wann man offen sein musste und wann nicht.
»Sie sind während aller Ihrer Jahre im Dienst ein Rätsel geblieben, Ser Olmy. Das besagen die Aufzeichnungen. Ich will Sie nicht unter Druck setzen. Aber in Ihren kurzen … Erwägungen über das Problem – haben Sie bedacht, was mit uns geschehen könnte, falls wir den Weg wieder öffnen sollten?«
Olmy antwortete nicht sofort. Der Präsident schien mehr über seine kürzlichen Aktivitäten zu wissen, als ihm lieb war. »Der könnte von Jarts wieder besetzt werden, Ser.«
»Tatsächlich. Unsere emsigen Neo-Geshels neigen dazu, dies Problem zu übersehen. Ich kenne Ihre Untersuchungen recht gut. Ich glaube, dass Sie extremen Weitblick zeigen.«
»Ser?«
»Ihre Forschungen im Gedächtnis der Stadt und den Bibliotheken von Thistledown. Ich habe meine eigenen aktiven Schurken, Ser Olmy. Sie scheinen Zugang zu Information mit direktem Bezug auf Wiederöffnung zu haben, und Sie haben seit Jahren mit beträchtlichen persönlichen Kosten Untersuchungen angestellt, wie mir scheint.« Farren Siliom sah ihn pfiffig an und wandte sich dann wieder der Reling zu, auf die er mit den Knöcheln einer Hand leicht klopfte. »Offiziell entbinde ich Sie aller weiteren Pflichten. Inoffiziell lege ich Wert darauf, dass Sie Ihre Untersuchungen fortsetzen.«
Olmy signalisierte Zustimmung.
»Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit. Sollten Sie irgendwelche weiteren Gedanken haben, lassen Sie es mich bitte wissen. Ihre Ansichten werden geschätzt, ob Sie glauben, dass wir sie brauchen oder nicht.«
Olmy verließ die Plattform. Die Erde hatte sich wieder in Sicht gedreht, eine ständige Verantwortung, ein unvertrautes Heim. Ein Zeichen von Schmerz und Triumph, Versagen und neuem Wachstum.
Gaia, Insel RhodosGroßalexandrinische OikoumenēJahr des Alexandros 2331-2342
Rhita Berenikē Vaskayza wuchs wild auf an den Küsten nahe dem alten Hafen Lindos, bis sie sieben Jahre alt wurde. Ihre Eltern hatten es Meer und Sonne überlassen, mit ihr umzugehen und sie nur das zu lehren, was sie gern wissen wollte und das war nicht wenig.
Sie war ein braunes wildes Ding mit nackten Gliedmaßen, hatte große Augen und verlor sich zwischen den braunen, weißen und verblassten goldenen Zinnen, Säulen und Treppen der verlassenen Akropolis. Von der weiten Fläche des Heiligtums der Athenē Lindia blickte sie, die Hände gegen die verfallenen Mauern gepresst, über die Klippen hinab in das azurblaue endlose Meer und zählte den gleichmäßigen, sanften Marsch der Wellen auf die Felsen hin.
Bisweilen kroch sie durch die Holztür in den Schuppen, der die riesige Statue von Athenē beherbergte, die sich mit dicken Gliedmaßen und friedlich in den Schatten verbarg. Sie sah entschieden asiatisch aus mit ihrer strahlenden Krone aus Messing (früher Gold) und dem mannshohen Schild. Nur wenige Lindier kamen hier herauf. Viele glaubten, der Platz sei verwunschen durch die seit Jahrhunderte toten Geister persischer Verteidiger, die massakriert wurden, als die Oikoumenē wieder die Herrschaft über die Insel gewann. Bisweilen kamen Touristen aus Aigyptos oder dem Festland, aber nicht oft. Das Mittelmeer war kein Touristengebiet mehr.
Die Bauern und Schäfer von Lindos sahen sie als Artemis und glaubten, dass sie ihnen Glück gebracht hätte. Im Dorf schien ihre Welt erfüllt zu sein vom begrüßenden Lächeln vertrauter Gesichter.
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