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T. Lobsang Rampa

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Beschreibung

Wir erleben die Aufnahme des Zöglings in das streng geführte Chakpori Lamakloster, der Stätte der tibetischen Medizin in Lhasa. Von Geburt an mit einer hellsichtigen Gabe ausgestattet, wurde ihm durch einen chirurgischen Eingriff an der Stirne das dritte Auge geöffnet, um diese angeborene Hellsichtigkeit noch zu verstärken. Danach konnte er die Aura der Menschen noch klarer sehen; das heißt, ihren Charakter, ihre Absichten, ihre Reinheit und Krankheiten. Er beschreibt seinen Werdegang als Hochbegabter und anerkannte Inkarnation vom gewöhnlichen Akoluthen bis zum Medizinlama und Abt.

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Seitenzahl: 414

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T. Lobsang Rampa

Das dritte Auge

Widmung

E. E. G. Von den wenigen, ein Freund in Zeiten der Not

Klappentext

Wir erleben die Aufnahme des Zöglings in das streng geführte Chakpori Lamakloster, der Stätte der tibetischen Medizin in Lhasa. Von Geburt an mit einer hellsichtigen Gabe ausgestattet, wurde ihm durch einen chirurgischen Eingriff an der Stirne das dritte Auge geöffnet, um diese angeborene Hellsichtigkeit noch zu verstärken. Danach konnte er die Aura der Menschen noch klarer sehen; das heisst, ihren Charakter, ihre Absichten, ihre Reinheit und Krankheiten. Er beschreibt seinen Werdegang als Hochbegabter und anerkannte Inkarnation vom gewöhnlichen Akoluthen bis zum Medizinlama und Abt.

Vorwort des Verlegers zur englischen Ausgabe

Diese Autobiographie eines tibetischen Lamas ist eine einzigartige Aufzeichnung von Erfahrungen, die als solche zwangsläufig schwer zu bestätigen sind. Um die Aussagen des Autors zu überprüfen, legte der Verleger das Manuskript fast zwanzig Lesern vor, allesamt intelligente und erfahrene Menschen, von denen einige besondere Kenntnisse des Themas hatten. Ihre Meinungen gingen jedoch derart weit auseinander, dass kein positives Ergebnis dabei herauskam. Einige bezweifelten die Richtigkeit des einen Kapitels, während andere ein anderes Kapitel in Frage stellten. Was der eine Experte anzweifelte, wurde von einem anderen bedingungslos akzeptiert. Der Verleger fragte sich schließlich, ob es überhaupt einen Experten gab, der das Studium eines tibetischen Lamas in der höchsten Entwicklungsstufe durchlaufen hatte. Gab es unter ihnen überhaupt jemanden, der in einer tibetischen Familie aufgewachsen war?

Lobsang Rampa hat Dokumente vorgelegt, die belegen, dass er das Medizinstudium an der Universität von Chungking abgeschlossen hat. Diese Dokumente weisen ihn als Lama des Potala-Klosters von Lhasa aus. Die vielen persönlichen Gespräche, die wir mit ihm geführt haben, zeigten uns, dass er ein Mann mit ungewöhnlichen Fähigkeiten und Kenntnissen ist. Große Zurückhaltung erbat er sich hinsichtlich seines persönlichen Lebens. Manchmal war das für uns nicht einfach zu verstehen, aber jeder hat das Recht auf seine Privatsphäre. Lobsang Rampa erklärte, dass ihm zum Schutz seiner Familie in dem von den Kommunisten besetzten Tibet ein gewisses Maß an Geheimhaltung auferlegt worden sei. So wurden gewisse Details, wie zum Beispiel die tatsächliche Position seines Vaters in der tibetischen Hierarchie, absichtlich verschleiert.

Aus diesem Grund muss der Autor die alleinige Verantwortung für die in seinem Buch gemachten Aussagen tragen – die er willig auf sich nimmt. Wir mögen vielleicht bei dem einen oder anderen Thema das Gefühl haben, dass er die Grenzen der westlichen Leichtgläubigkeit überschreitet, obwohl westliche Ansichten zu den hier behandelten Themen kaum ausschlaggebend sein können. Nichtsdestotrotz glaubt der Verleger, dass «Das dritte Auge» in seinem Kern ein authentischer Bericht über die Erziehung und Schulung eines tibetischen Jungen in seiner Familie und im Lamakloster ist. In diesem Sinne publizieren wir das Buch. Jeder, der anderer Meinung ist als wir, wird, so glauben wir, zumindest zustimmen, dass der Autor über eine außergewöhnliche Erzählergabe verfügt und die Fähigkeit besitzt, Szenen und Charaktere so zu beschreiben, dass sie fesselnd und interesseweckend sind.

Vorwort des Autors

Ich bin Tibeter. Einer der wenigen, die in diese fremdartige westliche Welt gekommen sind. Satzbildung und Grammatik dieses Buches lassen viel zu wünschen übrig, doch ich hatte nie herkömmlichen Unterricht in der englischen Sprache. Mein «Englischunterricht» erhielt ich in einem japanischen Gefangenenlager, wo ich die Sprache, so gut es ging, von englischen und amerikanischen Patienten lernte, die ebenfalls Gefangene waren. Englisch schreiben lernte ich hauptsächlich durch «Versuch und Irrtum».

Jetzt ist meine geliebte Heimat, wie vorausgesagt wurde, von kommunistischen Horden eingenommen worden. Nur aus diesem Grund habe ich meinen wirklichen Namen und die Namen meiner Freunde verschwiegen. Ich habe so viel gegen den Kommunismus unternommen, und ich weiß, dass meine Freunde in den kommunistischen Ländern sehr zu leiden hätten, wenn meine wahre Identität zurückverfolgt werden könnte. Da ich sowohl in kommunistischer als auch in japanischer Gewalt war, weiß ich aus eigener Erfahrung, was Folter anrichten kann. Aber in diesem Buch geht es nicht um Folter, sondern um ein friedliebendes Land, das so lange missverstanden und falsch dargestellt wurde.

Man sagte mir, die Leser würden manche meiner Aussagen vielleicht nicht glauben. Das ist ihr gutes Recht, doch Tibet ist für die übrige Welt ein unbekanntes Land. Der Mann, der über ein anderes Land schrieb: «Die Leute reiten dort auf Schildkröten im Meer», wurde verlacht und verspottet. Ebenso erging es den Menschen, die «lebende fossile Fische» gesehen hatten. Diese wurden erst neulich entdeckt, und ein Exemplar davon wurde mit einem gekühlten Flugzeug zum Studium in die Vereinigten Staaten gebracht. Den Aussagen dieser Männer glaubte man nicht. Sie erwiesen sich aber letzten Endes als wahr und korrekt. Und meine Aussagen werden das auch.

T. Lobsang Rampa

Geschrieben im Jahre des Holz-Schafes

Tibet

Tibet: Ein Land aus Gold und Armut. Ein Land aus verblüffenden sowie einfachen Seelen, wo nur ein paar wenige Auserwählte über die Gabe verfügen, mit nur einem kurzen Blick tief in die geheimsten Gedanken anderer Menschen einzudringen, ihren Unwillen oder ihre Freude zu sehen, und selbst ihre Krankheiten zu erkennen. Das entspringt der Kraft des «dritten Auges». Lobsang Rampa selbst hat diese schmerzvolle Operation, bei der das dritte Auge geöffnet wird, erduldet.

In diesem fesselnden Buch erzählt er außerdem, wie er, gerade mal sieben Jahre alt, seine Eltern und sein Zuhause verließ und ins Chakpori-Lamakloster, der Stätte der tibetischen Medizin, eintrat. Er studierte unter den größten Lehrmeistern und erlernte von ihnen die verschiedensten mystischen Künste, wie zum Beispiel, das Hellsehen, die Levitation, die Astralprojektion (eine Versetzung in die Astralebene) und das Drachenfliegen.

Seine Geschichte ist eine der faszinierendsten, die jemals geschrieben wurde.

Skizze von Lhasa

Kapitel 1Die frühen Tage daheim

«Oh nein, oh nein! Vier Jahre alt und kann sich immer noch nicht auf dem Pferd halten! Aus dir wird nie ein richtiger Mann werden! Was wird dein erlauchter Vater wohl dazu sagen?» Mit diesen Worten verpasste der alte Tzu dem Pony – und dem unglücklichen Reiter – einen kräftigen Schlag auf den Hinterteil und spuckte in den Staub.

Die goldenen Dächer und Kuppeln des Potala glänzten im hellen Sonnenschein. Etwas näher im Vordergrund kräuselte sich das blaue Wasser des Schlangentempelsees und markierte den eingeschlagenen Weg eines Wasservogels. Vom steinigen Pfad weiter hinten ertönten die Rufe und Schreie der Männer, die die trägen Yaks, die gerade aus Lhasa auszogen, zur Eile antrieben. In der Nähe erklang das tiefe, brusterschütternde «Bmmn, Bmmn, Bmmn» der Basstuben, mit denen die Musikanten-Mönche etwas abseits von der Menschenmenge auf dem Feld übten.

Doch für solche alltäglichen Dinge hatte ich keine Zeit. Ich musste die schwierige Aufgabe lösen, mich auf meinem widerspenstigen Pony zu halten. Nakkim hatte anderes im Sinn. Er wollte frei von seinem Reiter sein, frei, um zu grasen, sich auf dem Rücken zu wälzen und die Beine in die Luft zu strecken.

Der alte Tzu war ein grimmiger, strenger Zuchtmeister. Sein ganzes Leben lang war er mürrisch und hart gewesen. Nun, als Aufpasser und Reitlehrer eines kleinen Jungen von vier Jahren, verlor er bei seinen Bemühungen oft die Geduld. Als einer der Männer aus Kham war er, wie die anderen, wegen seiner Größe und Körperkraft ausgewählt worden. Er war über zwei Meter groß und dementsprechend breit. Dick ausgepolsterte Schultern verstärkten noch den Eindruck seiner Breite. Im Osten von Tibet gibt es eine Gegend, in der die Männer ungewöhnlich hochgewachsen und stark sind. Viele waren über zwei Meter groß, und diese Männer wurden ausgesucht, um in allen Lamaklöstern als Polizeimönche eingesetzt zu werden. Sie polsterten ihre Schultern aus, um noch mächtiger zu erscheinen, und um noch grimmiger auszusehen, schwärzten sie ihre Gesichter. Sie trugen lange Stäbe bei sich, die sie gegen jeden unglücklichen Missetäter einzusetzen bereit waren.

Tzu war ein Polizeimönch gewesen, jetzt aber versah er als Kinderbetreuer eines Adligen seinen Dienst. Viel zu behindert, um lange zu Fuß gehen zu können, machte er alle seine Wege zu Pferd. Im Jahre 1904 waren die Engländer unter Oberst Younghusband in Tibet eingefallen und hatten viel Schaden angerichtet. Offenbar meinten sie, die einfachste Art, wie man sich unsere Freundschaft sichern könnte, sei, unsere Häuser zu zerstören und unsere Leute zu töten. Tzu war einer der Verteidiger gewesen, und im Gefecht war ihm ein Stück von seiner linken Hüfte weggeschossen worden.

Mein Vater war einer der führenden Männer in der tibetischen Regierung. Seine Familie und die meiner Mutter gehörten zu den oberen zehn Familien, daher hatten meine Eltern einen bedeutenden Einfluss in den Angelegenheiten des Landes. Später werde ich noch etwas eingehender auf unsere Regierungsform eingehen.

Mein Vater war ein großgewachsener, stattlicher Mann und über einen Meter achtzig groß. Er durfte auf seine Stärke stolz sein. In seiner Jugend konnte er ein Pony vom Boden aufheben, und er war einer der wenigen, die es mit den Männern aus Kham im Ringkampf aufnehmen konnten und dabei sehr gut abschnitten.

Die meisten Tibeter haben schwarzes Haar und dunkelbraune Augen. Vater war eine Ausnahme, sein Haar war kastanienbraun und seine Augen grau. Oft brach er plötzlich in Wut aus, ohne dass wir wussten warum.

Wir sahen unseren Vater selten. Tibet hatte unruhige Zeiten durchgemacht. Als die Engländer bei uns eindrangen, flüchtete der Dalai Lama in die Mongolei und ließ meinen Vater und andere Mitglieder des Kabinetts zurück, um in seiner Abwesenheit die Regierungsgeschäfte zu führen. 1909 kehrte der Dalai Lama nach Lhasa zurück, nachdem er Peking besucht hatte. Durch den Erfolg des englischen Einmarsches ermutigt, erstürmten 1910 die Chinesen Lhasa. Wieder zog sich der Dalai Lama zurück, diesmal nach Indien. Die Chinesen wurden 1911, in der Zeit der chinesischen Revolution, aus Lhasa vertrieben, doch zwischenzeitlich hatten sie furchtbare Frevel gegen unser Volk begangen.

1912 kehrte der Dalai Lama wieder nach Lhasa zurück. Während seiner ganzen Abwesenheit, in jenen äußerst schwierigen Tagen, mussten mein Vater und die anderen Kabinettsmitglieder die volle Verantwortung für Tibet übernehmen. Unsere Mutter pflegte zu sagen, Vater sei danach nie mehr derselbe gewesen. Jedenfalls hatte er keine Zeit für uns Kinder, und wir kamen nie in den Genuss von väterlicher Zuneigung. Vor allem ich schien seinen Unwillen zu erregen und wurde den harten Händen Tzus überlassen, «auf Biegen und Brechen», wie mein Vater sagte.

Tzu empfand meine armselige Leistung auf dem Pony als persönliche Niederlage. In Tibet lernen kleine Jungen der Oberschicht schon reiten, bevor sie richtig gehen können. Die Fertigkeit im Sattel ist in einem Land, in dem es keinen Verkehr auf Rädern gibt und wo man alle Reisen zu Fuß oder zu Pferd bewältigen muss, etwas Wesentliches. Tibetische Adlige üben sich Stunde um Stunde, Tag um Tag in der Reitkunst. Sie können auf dem schmalen, hölzernen Sattel eines galoppierenden Pferdes stehend zuerst mit dem Gewehr auf eine sich bewegende Scheibe schießen und es dann gegen Pfeil und Bogen austauschen. Manchmal galoppieren geschickte Reiter in Formation quer über die Ebenen und wechseln die Pferde, indem sie von Sattel zu Sattel springen. Ich allerdings fand es im Alter von vier Jahren schwer, mich überhaupt auf einem einzigen Sattel zu halten.

Nakkim, mein Pony, war gescheckt. Er hatte einen langen Schwanz und einen kleinen, intelligenten Kopf. Er kannte erstaunlich viele Methoden, um einen unsicheren Reiter abzuwerfen. Einer seiner liebsten Tricks war, eine kurze Strecke vorwärtszulaufen, dann abrupt stehenzubleiben und den Kopf zu senken. Wenn ich dann hilflos über seinen Nacken und weiter bis zu seinem Kopf rutschte, pflegte er ihn mit einem Ruck hochzuheben, sodass ich regelrecht einen Purzelbaum schlug, bevor ich den Boden erreichte. Dann stand er da und betrachtete mich mit einer heuchlerischen Liebenswürdigkeit.

Tibeter reiten nie im Trab, die Ponys sind klein, und ein Reiter auf einem trabenden Pony sieht lächerlich aus. Meistens genügt ein guter Passgang, und der Galopp wird nur zu Übungszwecken geritten.

Tibet war ein theokratisches Land. Wir hatten kein Verlangen nach dem «Fortschritt» der Außenwelt. Wir begehrten nichts anderes, als uns der Meditation widmen zu können und die Beschränkungen des physischen Körpers zu überwinden. Unseren weisen Männern war seit langem klar, dass der Westen die Schätze Tibets begehrte, und sie wussten, dass der Friede das Land verlassen würde, wenn es die Fremden betraten. Das Eindringen der Kommunisten in Tibet hat jetzt bewiesen, dass das richtig erkannt worden war.

Unser Anwesen in Lhasa lag im vornehmen Ortsteil Lingkhor neben der Ringstraße, die rings um Lhasa herum und in den Schatten der Berggipfel führte. Es gibt drei Straßengürtel, von denen die äußere, die Lingkhorstraße, vor allem von Pilgern genutzt wird. Wie alle Häuser in Lhasa war auch das unsere zur Zeit meiner Geburt auf der zur Straße gewandten Seite zwei Stockwerke hoch. Niemand darf auf den Dalai Lama herabschauen, daher beträgt die höchste erlaubte Höhe eines Hauses zwei Etagen. Da sich das Höhenverbot jedoch nur auf eine einzige Prozession im Jahr beschränkte, haben viele Häuser für ungefähr elf Monate einen leicht abnehmbaren Holzaufbau auf ihren flachen Dächern.

Unser Haus war vor vielen Jahren aus Stein gebaut worden. Es hatte die Form eines hohlen Würfels und umschloss einen sehr großen Innenhof. Unsere Tiere waren im Erdgeschoss untergebracht, und wir wohnten oben. Wir waren sehr begünstigt, denn wir besaßen eine Treppe aus Steinstufen, die in die oberen Zimmer führte. Die meisten tibetischen Häuser haben eine Leiter oder, in den Bauernhöfen, eine mit Kerben versehene Pfostenleiter, die man mit großem Risiko für seine Schienbeine benutzte. Denn diese eingekerbten Pfostenleitern wurden durch den Gebrauch sehr glatt und rutschig. Die mit Yakbutter eingefetteten Hände übertrugen das Fett auf den Pfosten, und wenn der Bauer das nicht bedachte, kam er mit ungeheurer Geschwindigkeit unten auf dem Boden an.

Während der Invasion der Chinesen im Jahre 1910 war unser Haus teilweise zerstört worden. Die Innenmauern des Gebäudes waren beschädigt. Mein Vater ließ es vier Stockwerke hoch wieder aufbauen. Da es keinen Ausblick über die Ringstraße bot und wir folglich nicht auf den Kopf des Dalai Lama hinabschauen konnten, wenn er in der Prozession an unserem Haus vorbeizog, wurden keine Einwände erhoben.

Das Tor, durch das man unseren zentralen Innenhof betrat, war schwer und vor Alter schwarz. Die chinesischen Angreifer hatten die massiven Holzbalken nicht bezwingen können, also rissen sie stattdessen eine Mauer nieder. Direkt über diesem Eingangstor lag der Raum des Verwalters. Er konnte alle sehen, die ein- und ausgingen. Er stellte Personal ein und entließ es und sorgte dafür, dass der Haushalt gut geführt wurde. Hier, an seinem Fenster, kamen bei Sonnenuntergang, wenn die Trompeten aus den Lamaklöstern ertönten, die Bettler von Lhasa vorbei und erhielten eine Mahlzeit zur Stärkung für die Nacht. Alle Adligen von Rang sorgten für die Armen ihres Bezirks. Auch die in Ketten gelegten Missetäter kamen vorbei, denn in Tibet gibt es nur wenige Gefängnisse; so wanderten sie durch die Straßen und erbettelten sich ihr Essen.

In Tibet verachtet man Missetäter nicht. Sie werden auch nicht als Ausgestoßene betrachtet. Wir waren uns dessen bewusst, dass die meisten von uns Straftäter wären, wenn man uns durchschaute, deshalb wurden die Unglücklichen vernünftig behandelt.

In den Zimmern zur Rechten des Verwalters wohnten zwei Mönche; sie waren unsere Hauspriester, die täglich um die göttliche Billigung unseres Tuns beteten. Die, die dem niederen Adel angehörten, hatten nur einen Priester, doch unser gesellschaftlicher Rang erforderte zwei. Vor jedem wichtigen Ereignis wurden diese Priester befragt und ersucht, um im Gebet die Gunst der Götter zu erbitten. Alle drei Jahre kehrten die Priester in die Lamaklöster zurück und wurden durch andere ersetzt.

In jedem Flügel unseres Hauses befand sich eine Kapelle. Es wurde stets darauf geachtet, dass die Butterlampen vor den geschnitzten Holzaltären brannten. Die sieben Schalen des heiligen Wassers wurden mehrere Male am Tage gereinigt und neu aufgefüllt. Sie mussten rein sein für den Fall, dass die Götter kämen und aus ihnen trinken wollten. Die Priester wurden gut verpflegt, sie aßen die gleiche Kost wie die Familie, sodass sie besser beten und den Göttern bestätigen konnten, wie gut unser Essen war.

Links vom Verwalter wohnte der Gesetzeskundige, dessen Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass der Haushalt rechtmäßig und geordnet geführt wurde. Tibeter halten sich streng an die Gesetze, und mein Vater musste in der Befolgung der Gesetze ein besonders gutes Beispiel geben.

Wir Kinder, Bruder Paljör, Schwester Yasodhara und ich, wohnten im neuen Teil des Hauses, auf der Seite, die weiter von der Straße entfernt lag. Zu unserer Linken befand sich die Kapelle, zur Rechten der Schulraum, den auch die Kinder unserer Bediensteten besuchen durften. Unsere Unterrichtsstunden waren lang und abwechslungsreich. Paljör lebte und bewohnte seinen Körper nicht sehr lange. Er war schwächlich und ungeeignet für das harte Leben, das wir beide führen mussten. Er verließ uns kurz vor seinem siebten Geburtstag und kehrte in das Land der vielen Tempel zurück. Yaso war knapp sechs, als er hinüberging, und ich war vier. Ich erinnere mich noch, wie er, eine leere Hülle, dalag, als sie ihn holen kamen, und wie die Männer des Todes ihn forttrugen, um ihn nach althergebrachter Sitte zu zerlegen und den Geiern als Nahrung vorzusetzen.

Nun, als nachfolgender Erbe der Familie, wurde meine Ausbildung vorangetrieben. Ich war vier Jahre alt und ein sehr mittelmäßiger Reiter. Mein Vater war ein wirklich strenger Mann, und als Kirchenfürst war er sehr darauf bedacht, dass sein Sohn eine strenge Disziplin und Erziehung erhielt, um ein Beispiel dafür zu sein, wie andere Kinder erzogen werden sollten.

In meiner Heimat wird ein Junge umso strenger erzogen, je höher sein Rang ist. Einige Adlige begannen zu glauben, dass Jungen es in ihrer Jugend etwas leichter haben sollten, nicht aber mein Vater. Seine Einstellung war die: Ein Junge aus armen Verhältnissen hätte keine Hoffnung auf spätere Annehmlichkeiten, also sollte man ihm Güte und Rücksicht angedeihen lassen, solange er jung war. Ein Junge aus der Oberschicht dagegen erwartete in späteren Jahren alle Reichtümer und Annehmlichkeiten; daher sollte man mit ihm in seiner Kindheit und Jugend sehr unnachgiebig sein, damit er Ungemach kennenlerne und Rücksicht gegenüber anderen übe. Dies war im ganzen Land auch die allgemein vorherrschende Meinung. Bei einem solchen Erziehungssystem blieben Schwächlinge nicht am Leben, doch diejenigen, die es überlebten, konnten beinahe alles überstehen.

Tzu bewohnte ein Zimmer im Erdgeschoss, ganz in der Nähe des Haupteingangstores. Jahrelang hatte er es als Polizeimönch mit Menschen aller Art zu tun gehabt, und jetzt tat er sich schwer damit, zurückgezogen zu leben und von all dem fern zu sein. Er wohnte neben den Ställen, in denen mein Vater seine zwanzig Pferde, alle Ponys und die Arbeitstiere hielt.

Die Stallknechte mochten Tzu nicht, weil er übereifrig war und sich immer in ihre Verrichtungen einmischte. Wenn mein Vater ausritt, mussten ihm sechs bewaffnete Männer das Geleit geben. Diese Männer trugen Uniformen, und Tzu fand ständig etwas an ihnen auszusetzen, denn er vergewisserte sich stets, dass ihre Ausrüstung in Ordnung war.

Aus irgendeinem Grund pflegten diese sechs Männer, sich mit ihren Pferden an einer Wand aufzustellen, um dann, sobald mein Vater angeritten kam, vorzupreschen und sich ihm anzuschließen. Ich entdeckte, dass ich einen der Reiter auf seinem Pferd erreichen konnte, wenn ich mich aus dem Fenster eines Vorratsraums hinauslehnte. Eines Tages zog ich in einer müßigen Minute, während er an seiner Ausrüstung herumhantierte, vorsichtig einen Strick durch seinen Ledergürtel. Die beiden Enden verknüpfte ich und hängte den Strick an einen Haken an der Innenseite des Fensters. In dem Getue und dem Gerede beachtete man mich nicht. Mein Vater erschien, und die Reiter preschten vor. Fünf von ihnen. Der Sechste wurde von seinem Pferd herunter und nach hinten gerissen. Gellend schrie er auf, die Dämonen hätten ihn gepackt. Sein Gürtel zerriss, und in der ganzen Aufregung gelang es mir, den Strick wegzuziehen und mich unentdeckt davonzustehlen. Später bereitete es mir immer viel Vergnügen, zu sagen: «Siehst du, Netuk, auch du kannst dich nicht auf dem Pferd halten!»

Unsere Tage waren hart und streng; von den vierundzwanzig Stunden waren wir achtzehn wach. Die Tibeter glauben, es sei nicht das Klügste, zu schlafen, solange es noch hell ist, denn die Dämonen des Tages könnten kommen und einen ergreifen. Sogar ganz kleine Kinder werden wachgehalten, damit die Dämonen sich ihrer nicht bemächtigen. Auch Kranke müssen wachgehalten werden, was ein Mönch ausführt, den man eigens für diese Aufgabe herbeiholt. Niemand ist davon ausgenommen, sogar Sterbende müssen so lange wie möglich bei Bewusstsein gehalten werden, damit sie den rechten Weg durch die Zwischenreiche in die nächste Welt finden.

In der Schule lernten wir Sprachen, Tibetisch und Chinesisch. Es gibt zwei verschiedene tibetische Sprachen, die gewöhnliche und die gehobene Sprache. Die gewöhnliche Sprache benutzten wir, wenn wir mit Bediensteten und Personen von niederem Rang sprachen, und die Gehobene mit denen von gleichem oder höherem Rang. Das Pferd eines Höhergestellten musste in der gehobenen Sprache angesprochen werden. Unsere selbstherrliche Katze musste, wenn sie durch den Hof schlenderte und irgendwelchen geheimnisvollen Geschäften nachging, von einem Bediensteten in folgendem Wortlaut angesprochen werden: «Würde es Ihnen, edle Miezekatze, etwas ausmachen, zu kommen, um diese unwerte Milch zu trinken?» Doch egal, wie die «edle Miezekatze» auch immer angesprochen wurde, sie kam nie früher, als sie wollte.

Unser Schulzimmer war sehr groß. Eine Zeit lang hatte man den Raum als Speisesaal für durchreisende Mönche benutzt, doch seit die neuen Gebäudeteile des Hauses fertig waren, war dieser besonders große Raum in eine Schule für unser Anwesen umgewandelt worden. Ständig besuchten sie ungefähr sechzig Kinder. Wir saßen im Schneidersitz auf dem Boden vor einem Tisch, beziehungsweise vor einer langen Bank von ungefähr fünfundvierzig Zentimetern Höhe. Wir saßen mit dem Rücken zum Lehrer, sodass wir nie wussten, wann er uns beobachtete. Das veranlasste uns, immer konzentriert zu arbeiten.

Papier wird in Tibet von Hand hergestellt und ist sehr teuer, viel zu teuer, um es an Kinder zu verschwenden. Wir benutzten Schiefertafeln, große, dünne Platten von ungefähr dreißig auf fünfunddreißig Zentimeter. Unsere «Bleistifte» waren eine Art Kreide, die in den Tsu-La-Bergen gefunden wurde, ungefähr dreitausendsechshundert Meter höher gelegen als Lhasa, das selbst schon auf dreitausendsechshundert Metern über dem Meeresspiegel liegt. Ich versuchte immer, rötlich getönte Kreide zu bekommen, doch meine Schwester Yaso liebte besonders die zarten purpurfarbenen. Es gab eine ganze Reihe von Farben: rot, gelb, blau und grün. Manche Farben, wenn ich mich nicht irre, waren auf das Vorhandensein von metallischen Erzen im weichen Kalkboden zurückzuführen. Was immer auch der Grund gewesen sein mag, wir waren froh, sie zu haben.

Das Rechnen bereitete mir wirklich Schwierigkeiten. Wenn siebenhundertdreiundachtzig Mönche je zweiundfünfzig Tassen Tsampa am Tag tranken und jede Tasse fünf Achtel von einem halben Liter enthielt, wie groß muss dann ein Behälter für eine Wochenration sein? Schwester Yaso konnte solche Aufgaben lösen, ohne dabei nachzudenken. Nun, ich war nicht so klug.

Ich kam auf meine Kosten, wenn wir schnitzten. Das war ein Fach, das ich liebte und in dem ich recht geschickt war. In Tibet werden jegliche Schriften mit geschnitzten Holzplatten gedruckt, daher betrachtete man das Schnitzen als eine besondere Fertigkeit. Wir Kinder bekamen für unsere Schnitzübungen kein Holz. Holz war teuer, da es den weiten Weg von Indien hierher transportiert werden musste. Tibetisches Holz war zu hart und hatte nicht die richtigen Fasern. Wir bedienten uns einer weichen Sorte des Seifensteins, den man mit einem scharfen Messer leicht bearbeiten konnte. Manchmal verwendeten wir auch alten Yakkäse!

Etwas, das nie vergessen werden durfte, waren die Wiederholungen der Gesetze. Wir mussten sie aufsagen, sobald wir das Schulzimmer betraten, und bevor wir es verlassen durften, noch ein zweites Mal. Diese Gesetze lauteten:

Vergelte Gutes mit Gutem

Kämpfe nicht gegen freundliche Menschen

Lies die Heiligen Schriften und verstehe sie

Hilf deinen Nächsten

Das Gesetz ist hart gegen die Reichen, um sie Verständnis und Gerechtigkeit zu lehren

Das Gesetz ist milde gegen die Armen, um ihnen Mitleid zu zeigen

Zahle deine Schulden pünktlich

Damit wir sie nicht vergaßen, hatte man diese Gesetze auf Spruchtafeln geschnitzt und an den vier Wänden unseres Schulzimmers aufgehängt. Dennoch war unser Leben nicht nur von Lernen und Trübsinn ausgefüllt, wir spielten genauso eifrig, wie wir lernten. Alle unsere Spiele hatten den Zweck, uns abzuhärten und uns für das Leben in dem rauen Tibet mit seinen extremen Temperaturen zu stählen. Im Sommer konnte die Temperatur zur Mittagszeit bis zu dreißig Grad betragen, doch in derselben Sommernacht konnte sie bis zu vierzig Grad unter Null fallen. Im Winter war es oft noch viel, viel kälter.

Das Bogenschießen machte uns viel Spaß und es stärkte die Muskeln. Wir fertigten Bögen aus Eibenholz an, das aus Indien eingeführt wurde, und manchmal machten wir auch Armbrüste aus tibetischem Holz. Als Buddhisten schossen wir nie auf etwas Lebendes. Verborgene Bedienstete zogen eine Zielscheibe an einer langen Schnur auf und ab, sodass sie unerwartet auftauchte oder wieder verschwand – wir wussten nie, wann sie zu erwarten war. Die meisten Jungen konnten die Zielscheibe stehend auf dem Sattel eines galoppierenden Ponys treffen. Ich konnte mich nie so lange oben halten! Weitspringen war etwas anderes. Da musste man sich nicht mit einem Pferd herumschlagen. Wir hielten eine gegen vier Meter lange Stange und liefen so schnell wir konnten, wenn unsere Geschwindigkeit ausreichend war, sprangen wir mit Hilfe dieser Stange ab. Ich pflegte zu sagen, die anderen säßen schon so lange auf ihren Pferden, dass sie keine Kraft in den Beinen hatten, doch ich, der die Beine gebrauchen musste, konnte tatsächlich weit springen. Sogar Flüsse konnte man auf diese Weise überqueren, und es war sehr befriedigend für mich, zu sehen, wie die Jungen, die mir zu folgen versuchten, einer nach dem anderen ins Wasser fielen.

Ein weiterer Zeitvertreib von uns war es, auf Stelzen zu gehen. Wir kostümierten uns und wurden zu Riesen. Oft fochten wir auf Stelzen Kämpfe aus – und wer herunterfiel, hatte verloren. Unsere Stelzen waren selbstgemacht; wir konnten nicht einfach in den nächstbesten Laden gehen und uns welche kaufen. Wir boten immer unsere ganze Überredungskunst auf, bis uns die Aufsichtsperson über die Vorräte – meist der Verwalter – ein paar geeignete Holzstangen gab. Die Fasern mussten genau richtig liegen und es durften keine Astlöcher darin sein. Dann brauchten wir noch die entsprechenden keilförmigen Holzstücke als Fußstützen. Weil Holz zu rar war, um es zu verschwenden, mussten wir immer eine gute Gelegenheit abwarten und im richtigen Augenblick darum bitten.

Die Mädchen und junge Frauen spielten eine Art Federball. An einer der oberen Kanten eines kleinen Holzstückes wurden Löcher gebohrt, in die Federn gesteckt wurden. Man hielt den Federball mit Hilfe der Füße in der Luft. Das Mädchen hob den Rock auf eine angemessene Höhe an, um ungehindert mit dem Fuß abstoßen zu können. Von da an gebrauchte sie nur noch die Füße. Den Federball mit der Hand zu berühren, hätte zur Disqualifikation geführt. Ein geschicktes Mädchen konnte den Federball zehn Minuten lang ununterbrochen in der Luft halten, bevor sie einen Stoß verfehlte.

Etwas vom Interessantesten in Tibet, oder zumindest im Bezirk Ü, zu dem Lhasa gehört, war das Drachensteigenlassen. Man könnte es als einen Nationalsport ansehen. Es durfte aber nur zu bestimmten Zeiten des Jahres betrieben werden. Man hatte vor Jahren herausgefunden, dass es immer in Strömen regnete, wenn in den Bergen Drachen aufstiegen. Damals hatte man geglaubt, die Regengötter seien böse darüber. Daher war das Drachensteigenlassen in Tibet nur in der trockenen Jahreszeit, im Herbst, erlaubt. Zu gewissen Jahreszeiten schreien die Menschen in den Bergen auch nie laut, da der Widerhall ihrer Stimmen die schweren, von Indien herkommenden Wolken erschüttert und bewirkt, dass sie ihre Last viel zu schnell und an den falschen Stellen abladen und heftige Niederschläge verursachen. Am ersten Herbsttag wurde vom Dach des Potala ein einsamer Drache emporgeschickt, und innerhalb von wenigen Minuten tummelten sich über ganz Lhasa unzählige Drachen in allen Formen, Größen und Farben in der Luft. Sie wanden sich hin und her und drehten sich im heftigen Wind.

Ich liebte es, Drachen steigen zu lassen, und achtete darauf, dass sich mein Drache immer als einer der ersten in die Luft erhob. Wir alle fertigten unsere Drachen selbst an, meist mit einem Bambusrahmen und fast immer mit feiner Seide bezogen. Wir erhielten dieses gute Material ohne Schwierigkeiten, denn es war für den Haushalt eine Ehrensache, wenn der Drache erstklassig war. Diese rechteckige Kastenform statteten wir häufig mit einem wild aussehenden Drachenkopf sowie mit Schwingen und einem Schweif aus.

Wir lieferten uns auch Schlachten, in denen wir versuchten, die Drachen unserer Rivalen herunterzuholen. Wir steckten Glasscherben in die Drachenschnur, überzogen sie teilweise mit Leim und bestreuten sie mit Glassplittern in der Hoffnung, damit die Schnüre der anderen durchzuschneiden und so den abstürzenden Drachen erbeuten zu können.

Manchmal schlichen wir uns nachts ins Freie und ließen unsere Drachen mit kleinen Butterlampen im Inneren des Kopfes und Rumpfes aufsteigen. Die Augen leuchteten dann vielleicht rot, und der Rumpf zeigte verschiedene Farben am Nachthimmel. Besonders gerne taten wir das, wenn die mächtigen Yak-Karawanen aus dem Lho-Dzong-Bezirk erwartet wurden. In unserer kindlichen Unschuld dachten wir, die unerfahrenen Bewohner weit entfernter Orte wüssten nichts von solchen «modernen» Erfindungen wie unseren Drachen. Also zogen wir los, um sie in Schrecken zu versetzen.

Einer unserer Einfälle war, drei verschieden große Muscheln auf eine bestimmte Weise im Drachenrumpf anzubringen, sodass sie einen geheimnisvollen, klagenden Ton hervorbrachten, wenn der Wind durch sie hindurchblies. Wir verglichen ihn mit dem Schrei feuerspeiender Drachen in der Nacht und hofften, er würde den Handelsleuten einen heilsamen Schrecken einjagen. Manchmal lief uns vor Gruseln selbst ein köstlicher Schauer über den Rücken, wenn wir an diese Männer dachten, die jetzt angstvoll unter ihren Decken lagen, während unsere Drachen über ihnen kreisten.

Mein Spielen mit Drachen sollte mir, obwohl ich das damals noch nicht wusste, im späteren Leben sehr zugutekommen, dann nämlich, als ich tatsächlich in ihnen flog. Jetzt war es nur ein Zeitvertreib, wenn auch ein aufregender. Wir hatten ein besonderes Spiel, das recht gefährlich hätte werden können: Wir fertigten riesige Drachen an – große Dinger, ungefähr zwei bis zweieinhalb Meter im Geviert, mit nach zwei Seiten hin ausladenden Flügeln. Wir stellten sie auf eine ebene Stelle unweit von einer Schlucht, wo ein besonders starker Aufwind wehte. Dann stiegen wir auf unsere Ponys, schlangen das Ende der Drachenleine um unsern Leib und galoppierten los, so schnell unsere Ponys laufen konnten. Der Drache stieg in die Luft und immer höher und höher hinauf, bis er in diesen besonderen Aufwind geriet. Da gab es einen Ruck und der Reiter wurde plötzlich von seinem Pony abgehoben, vielleicht drei Meter hoch in die Luft und sank dann langsam und schwingend wieder zu Boden. Einige arme Wichte wurden dabei beinahe entzweigerissen, wenn sie vergaßen, ihre Füße aus den Steigbügeln zu ziehen, doch ich, der nie ein guter Reiter war, konnte immer vom Pferd loskommen, und das Emporgehobenwerden war ein richtiges Vergnügen für mich. Ich war ungemein abenteuerlustig, ich entdeckte, dass es mich noch höher trug, wenn ich im Augenblick des Aufsteigens fest an der Leine zog, und durch ein weiteres geschicktes Ziehen konnte ich meine Flüge um Sekunden verlängern.

Einmal zog ich besonders stark, wobei der Wind das seine dazu beitrug und mich auf das Flachdach eines Bauernhauses verfrachtete, auf dem das ganze Brennmaterial für den Winter gelagert war.

Tibetische Bauernhäuser haben flache Dächer mit einer kleinen Dachbrüstung, wo der getrocknete und als Brennmaterial verwendete Yakdung lagerte. Dieses Haus aber war nicht, wie es sonst üblich ist, aus Stein gebaut, sondern aus getrockneten Lehmziegeln. Es gab auch keinen Kamin; eine Öffnung im Dach diente dazu, den Rauch des Feuers unten abziehen zu lassen. Meine plötzliche Landung am Ende der Drachenleine brachte das Brennmaterial durcheinander, und als ich über das Dach geschleift wurde, fegte ich den größten Teil davon durch das Loch auf die unglücklichen Bewohner darunter.

Ich machte mich dadurch nicht beliebt. Mein Erscheinen, noch dazu durch das Loch, wurde mit Zornesausbrüchen begrüßt, und nachdem ich von dem wütenden Hausherrn die erste Tracht Prügel bekommen hatte, wurde ich zu meinem Vater geschleppt, um einen weiteren Nachschlag der Besserungsmedizin zu erhalten. In jener Nacht lag ich auf dem Bauch!

Am nächsten Tag hatte ich die unangenehme Aufgabe, durch die Ställe zu gehen, um Yakdung einzusammeln, den ich zu dem Bauernhaus tragen und wieder auf dem Dach aufschichten musste. Eine schwere Arbeit, denn ich war damals noch nicht einmal ganz sechs Jahre alt. Doch alle, außer mir, waren zufrieden: Die anderen Jungen hatten etwas zum Lachen, der Bauer hatte nun zweimal so viel Brennmaterial, und mein Vater hatte bewiesen, dass er ein strenger, gerechter Mann war. Und ich! Ich verbrachte auch die nächste Nacht auf dem Bauch, und ich war nicht wund vom Reiten!

Man könnte meinen, das sei eine sehr raue Erziehungsmaßnahme, doch in Tibet ist kein Platz für Schwächlinge. Lhasa liegt dreitausendsechshundert Meter über dem Meeresspiegel und unterliegt extremen Temperaturschwankungen. Andere Bezirke liegen noch höher. Ihre Lebensbedingungen sind noch härter, und Schwächlinge konnten andere sehr leicht gefährden. Aus diesem Grund und nicht aus grausamer Absicht, war die Erziehung so hart.

In noch höheren Lagen tauchen die Eltern ihre neugeborenen Kinder in eisige Flüsse, um zu prüfen, ob sie stark genug sind, um weiterleben zu dürfen. Sehr oft sah ich in Höhen von mehr als fünftausend Metern über dem Meeresspiegel kleine Prozessionen, sich solch einem Fluss nähern. An seinem Ufer macht die Prozession halt, und die Großmutter übernimmt das Kind. Um sie herum gruppiert sich die Familie: Vater, Mutter und die nächsten Verwandten. Das Kind wird entkleidet, die Großmutter beugt sich vor und taucht den kleinen Körper ins Wasser, sodass nur der Kopf und der Mund der Luft ausgesetzt bleiben. In der schneidenden Kälte wird das Kind zuerst rot, dann blau, und seine Protestschreie hören auf. Es sieht aus wie tot; doch die Großmutter hat viel Erfahrung in solchen Dingen. Das Kleine wird aus dem Wasser gehoben, getrocknet, angezogen und eingewickelt. Wenn das Kind am Leben bleibt, dann ist es Gottes Fügung, wenn es stirbt, dann wurde ihm viel Leid auf der Erde erspart. Das ist eigentlich die humanste Methode in einem so eiskalten Land. Weit besser, wenn einige Kinder sterben, als wenn sie in einem Land, in dem es nur wenig medizinische Versorgung gibt, zu unheilbaren Kranken werden.

Nach dem Tode meines Bruders musste ich noch intensiver lernen, denn sobald ich sieben Jahre alt war, sollte meine Schulung für die Laufbahn beginnen, welche die Astrologen mir vorschlugen. In Tibet hängt jede Entscheidung von der Astrologie ab, vom Kauf eines Yaks angefangen bis zur Entscheidung über die Berufswahl. Nun näherte sich dieser Zeitpunkt. Kurz vor meinem siebten Geburtstag wollte meine Mutter ein wirklich großes Fest veranstalten, zu dem Adelige und Personen von Rang und Namen eingeladen werden sollten, um die Voraussagen der Astrologen mitanzuhören.

Meine Mutter war etwas korpulent, sie hatte ein rundliches Gesicht und schwarzes Haar. In Tibet tragen die Frauen eine Art Holzrahmen auf dem Kopf, über den das Haar so wirkungsvoll wie möglich drapiert wird. Die Rahmen sind sehr kunstvoll bearbeitet und bestehen häufig aus rotlackiertem Holz, das mit Jade, Korallen und Halbedelsteinen verziert ist. Das gut geölte Haar wirkte sehr prächtig darauf.

Die Frauen in Tibet tragen sehr bunte Gewänder mit viel Rot, Grün und Gelb. Meistens tragen sie eine einfarbige Schürze mit einem kontrastreichen Querstreifen, der mit den anderen Farben dennoch harmoniert. Am linken Ohr wird ein Ohrring getragen, dessen Größe vom Rang der Trägerin abhängt. Meine Mutter hatte ein über fünfzehn Zentimeter langes Ohrgehänge.

Nach unserer Meinung sollten Frauen durchaus die gleichen Rechte haben wie die Männer. Doch in der Haushaltsführung ging meine Mutter noch weiter: Sie war die uneingeschränkte Herrscherin, eine Autokratin, die wusste, was sie wollte, und es immer erreichte.

In der Geschäftigkeit und Unruhe der Vorbereitungen im Hause und in den Gärten war sie tatsächlich in ihrem Element. Alles musste organisiert werden, Befehle erteilt und neue Einfälle ausgedacht werden, um die Nachbarn an Glanz zu übertreffen. Darin war sie einmalig. Da sie mit meinem Vater weite Reisen nach Indien, nach Peking und Shanghai unternommen hatte, stand ihr eine Fülle von ausländischen Ideen zur Verfügung.

Sobald der Termin für das Fest bestimmt war, begannen die schriftkundigen Mönche, die Einladungen sorgfältig auf dem dicken, handgemachten Papier zu schreiben, das für sehr wichtige Mitteilungen immer verwendet wurde. Jede Einladung war ungefähr dreißig Zentimeter breit und über einen halben Meter lang. Jede Einladung trug das Familiensiegel meines Vaters, und da meine Mutter ebenfalls aus den oberen zehn Familien stammte, musste auch ihr Siegel darauf sein. Außerdem hatten Vater und Mutter ein gemeinsames Siegel, das machte zusammen drei. Dadurch wurden die Einladungen zu imposanten Dokumenten. Der Gedanke, dass dies alles nur um meinetwillen veranlasst wurde, ängstigte mich sehr. Ich wusste nicht, dass ich dabei nur eine untergeordnete Rolle spielte und das gesellschaftliche Ereignis im Vordergrund stand. Wenn man mir erklärt hätte, dass die Pracht dieses Festes das Ansehen meiner Eltern noch vergrößern würde, dann hätte mir das überhaupt nichts gesagt; so aber hielt meine Angst an.

Wir hatten für die Zustellung dieser Einladungen besondere Boten eingestellt. Jeder Mann saß auf einem Vollblutpferd. Jeder trug einen gespaltenen Botenstab, in dem die Einladung steckte. Den Stab krönte eine Reproduktion des Familienwappens. Die Stäbe waren mit gedruckten Gebetsfahnen geschmückt, die im Winde flatterten.

Im Hof herrschte ein heilloses Durcheinander, da sich alle Boten gleichzeitig zum Aufbruch bereit machten. Die Dienstleute waren heiser vom Schreien, Pferde wieherten, und die riesigen schwarzen tibetischen Doggen bellten wie irrsinnig. Nach einem letzten Schluck tibetischen Biers stellten die Boten ihre Krüge klirrend nieder. Die schweren Tore öffneten sich rasselnd, und der Trupp Männer galoppierte mit wildem Geschrei hinaus.

In Tibet überbringen Boten eine schriftliche Botschaft und fügen eine mündliche Version hinzu, die oft ganz anders lauten kann. In alten Tagen lauerten Banditen den Boten auf und machten sich die geschriebenen Mitteilungen zunutze, um vielleicht ein ungeschütztes Haus oder eine Prozession zu überfallen. So entstand die Gepflogenheit, eine irreführende Botschaft niederzuschreiben, die die Banditen oft an Orte lockte, wo man sich ihrer habhaft werden konnte. Und diese alte Sitte der schriftlichen und mündlichen Mitteilungen ist ein Überbleibsel aus der Vergangenheit. Selbst heute noch können die beiden Botschaften manchmal voneinander abweichen, wobei immer die mündliche Version als die richtige galt.