Das Geheimnis des Schmetterlings - Constanze Wilken - E-Book
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Das Geheimnis des Schmetterlings E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Wenn die Vergangenheit deine Zukunft überschattet: „Das Geheimnis des Schmetterlings“ von Constanze Wilken jetzt als eBook bei dotbooks. Können Schicksale über Jahrhunderte verbunden sein? Schon immer hat das alte Thailand eine besondere Faszination auf Lena ausgeübt. Als ihr dann ein antikes thailändisches Manuskript in die Hände fällt, macht sie sich voller Neugierde an die Übersetzung. Die alte Schrift berichtet vom Leben einer jungen Frau, die im 17. Jahrhundert am Königshof lebte. Auf unerklärliche Weise fühlt sich Lena mit Paolin und deren Schicksal verbunden. Doch je tiefer Lena in die Geschichte eintaucht, desto näher rücken die Geister ihrer eigenen Vergangenheit – einer Vergangenheit, die sie viel zu lange verdrängt hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Geheimnis des Schmetterlings“ von Constanze Wilken. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Können Schicksale über Jahrhunderte verbunden sein?

Schon immer hat das alte Thailand eine besondere Faszination auf Lena ausgeübt. Als ihr dann ein antikes thailändisches Manuskript in die Hände fällt, macht sie sich voller Neugierde an die Übersetzung. Die alte Schrift berichtet vom Leben einer jungen Frau, die im 17. Jahrhundert am Königshof lebte. Auf unerklärliche Weise fühlt sich Lena mit Paolin und deren Schicksal verbunden. Doch je tiefer Lena in die Geschichte eintaucht, desto näher rücken die Geister ihrer eigenen Vergangenheit – einer Vergangenheit, die sie viel zu lange verdrängt hat …

Über die Autorin:

Geboren an der norddeutschen Küste zog es Constanze Wilken nach einem Studium der Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaft für einige Jahre nach England. Im wildromantischen Wales entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben, aber auch für Antiquitäten. Die Forschungen zur Herkunft seltener Stücke und ausgedehnte Reisen der Autorin sind Inspiration und Grundlage für ihre Romane.

Constanze Wilken veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Die Frau aus Martinique«, »Was von einem Sommer blieb« und »Die vergessene Sonate«.

Die Autorin im Internet: constanze-wilken.de

***

Originalausgabe April 2017

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Jutta Schneider

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock/Ewais, Madlen

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-850-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Constanze Wilken

Das Geheimnis des Schmetterlings

Roman

dotbooks.

»Große Wolken ziehen langsam, langsam über die Landschaft seiner Seele. Seine Seele trinkt den Mond und träumt von fernen Ebenen.«

(aus einem alten laotischen Volkslied)

Verzeichnis der wichtigsten Personen

(historische Personen*)

Hamburg der Gegenwart

Dr. Lena Bremer – Lehrbeauftragte für Thaiistik

Dr. Daniel Penzkofer – Dozent, Kollege von Lena

Dee – eigentlich Yuwadee Samabuddhi – Lektorin, lehrt Thailändisch

Professor Christoph Dahl – Leiter des Asien-Afrika-Institutes

Dr. Andreas Mende – Dozent, Fachgebiet Korea

Lin Yatsen – chinesischer Antiquitätenhändler

Rickmer Varenhorst –Antiquitätensammler

Piet Leuw – Regierungsbeamter

Siam im 17. Jahrhundert – am Hofe von Lopburi und Ayutthaya

Narai der Große (Somdet Phra Narai Maharat)* – König von Siam (1656–1688)

Yothathep* – Prinzessin und seine einzige Tochter (1656–1735)

Tasanee – Yothatheps Dienerin

Achara – eine der königlichen Frauen

Somdet Phra Phetracha* – Pflegebruder Narais (1632–1703)

Chao Fa Noi* – Halbbruder von Phetracha

Sorasak – Phetrachas Sohn

Constantin Phaulkon* – Halbgrieche, Berater von König Narai (1647–1688)

Ok-khumPhiphit Racha* – siamesischer Botschafter

Paolin – seine Tochter

Sangha – buddhistische Mönche

Kamon – einflussreicher Mönch

Farang – die Ausländer in Siam

Frère Etienne de Sancy – Arzt und Missionar

Kama – siamesischer Diener des Arztes

Jean Vollant des Verquains* – französischer Ingenieur

André Viennet – französischer Ingenieur und Brunnenbauer

Chevalier Alexandre de Chaumont* – französischer Botschafter (1640–1710)

Chevalier Claude de Petain – Adjutant des Botschafters

Johannes Keijts – Direktor der holländischen Handelskompanie

Jann Brouchebourde – Angestellter von Keijts

Samuel White* – Hafenmeister von Tenasserim

Richard Burnaby* – Gouverneur von Mergui

Kapitel 1

Lena erwachte mit einem stummen Schrei auf den Lippen. Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper, und ihre Hand war ausgestreckt, als wollte sie etwas abwehren. Durch die dünnen Vorhänge ihres Schlafzimmers fiel das Licht der Straßenlaterne. Sie warf die feuchte Bettdecke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. Es war lange her, dass dieser Traum sie mit solcher Intensität heimgesucht hatte. Er verfolgte sie seit ihrer Kindheit, doch heute war alles so plastisch und realistisch gewesen, dass sie sich davor fürchtete, wieder einzuschlafen.

Die Szenerie war immer dieselbe. Sie befand sich in einem endlos langen, dunklen Flur, dessen Wände von Kerzenleuchtern gesäumt wurden, deren flackerndes Licht gespenstische Schatten warf. Um sie herum gingen Türen auf und zu und ließen Menschen heraus oder verschluckten sie. Lena hörte Gelächter, Musik und Stimmen, doch niemand nahm von ihr Notiz. Alle trugen Masken, wie sie die Tänzer des thailändischen Tanztheaters benutzten. Die bunten Masken zeigten fratzenhafte dämonische Gesichter, und Lena zuckte jedes Mal zusammen, wenn sich ihr einer der seltsamen Gäste dieser Feier näherte. Bisher war es ihr nie gelungen, aktiv in das Geschehen des Traumes einzugreifen. Sie hatte immer nur stumm und wie gelähmt dem unheimlichen Treiben zuschauen können.

Heute jedoch war sie auf die Feiernden zugegangen, und die Menschenmenge vor ihr hatte sich geteilt, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Lena den ersten Schritt tat. Sie hatte sich der Tür neben ihr zugewandt, um sie zu öffnen, doch die maskierten Gestalten verstellten ihr den Weg. Es war fast so, als erwarteten sie, dass Lena dem Flur bis zum Ende folgte. Dort stand sie allein vor einer grauen Tür. Sie streckte die Hand nach der Klinke aus, doch eine unbeschreibliche Furcht beschlich sie und schnürte ihr die Kehle zu. Hinter ihr drängten sich die Maskierten und schienen zu flehen, dass sie die Tür öffnete, doch sie brachte es nicht über sich.

Lena Bremer schloss die Tür zu ihrem Büro auf. Der Flur des Institutes war noch leer, denn Dozenten und Studenten bevölkerten die Gänge selten vor neun Uhr morgens. Sie selbst jedoch liebte die morgendliche Stille. Von ihrem Fenster im ersten Stock konnte sie direkt auf den gepflasterten Platz vor dem Afrika-Asien-Institut der Hamburger Universität schauen. Schwungvoll warf sie ihre Aktentasche auf den Schreibtisch und drehte den Thermostat der Heizung auf. In den letzten Tagen waren die Temperaturen ständig gefallen, und auf ihrem Weg zur Universität hatte die kalte Luft ihren Atem gefrieren lassen.

Lena zog ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Schal und Handschuhe ließ sie auf einen Stuhl fallen und setzte sich an ihren Schreibtisch, wo sie den Computer einschaltete, um die eingegangenen eMails zu lesen. Der schale Nachgeschmack des Albtraumes verflüchtigte sich langsam.

Sie überflog das Posteingangsfach und stellte zufrieden fest, dass keiner ihrer Studenten um eine Verschiebung des Abgabetermins für die Hausarbeiten gebeten hatte. Die übrigen Nachrichten waren eine belanglose Mischung aus Grüßen und bürokratischen Mitteilungen der Verwaltung, mit denen sie sich bei Gelegenheit beschäftigen wollte. Was sie weitaus mehr interessierte, war das Buch, das sie aus ihrer Tasche nahm. Mit einem zufriedenen Seufzer vertiefte sie sich für die nächste Stunde in die Welt des thailändischen Hofes des 17. Jahrhunderts.

Dr. Lena Bremer lehrte die thailändische Sprache sowie Kultur und Geschichte des Landes, das sie seit ihrer Kindheit faszinierte und dessen Zauber sie nie losgelassen hatte. Daran hatten weder negative Bemerkungen von Verwandten und Freunden in Bezug auf die Nützlichkeit ihres Studienfachs noch die ernüchternden Berichte über die sozialen Missstände im heutigen Thailand etwas ändern können. Während ihrer Reisen durch Thailand hatte sie begriffen, dass dieses Land viele Gesichter hatte, von denen sie zwar einige missbilligte, die meisten aber liebte.

Sie strich über die Seiten der englischen Taschenbuchausgabe, die vor ihr lag: History of Siam in 1688. Ein französischer Jesuitenpater hatte die Erlebnisse seiner Siamreise niedergeschrieben und damit den Europäern einen der frühesten Einblicke in die exotische Welt des asiatischen Landes gegeben.

Als es auf einmal an die Tür klopfte, schreckte Lena aus ihrer Lektüre auf. »Ja, bitte!«

»Guten Morgen, Lena. Wie kann man nur freiwillig so früh hier erscheinen?« Daniel Penzkofer kam lächelnd mit zwei Bechern Kaffee in den Händen zu ihr.

Seine Cordhose war zu lang und der Saum ausgetreten, doch solche Dinge störten Daniel nicht. Lena kannte ihn seit Beginn ihres Studiums und schätzte seine ruhige, immer freundliche Art. Nichts schien ihn aus der Fassung bringen zu können, nicht einmal die Launen von Professor Christoph Dahl, dem profilierungssüchtigen Leiter des Institutes, und das war eine Kunst. Dankbar nahm sie den heißen Becher entgegen und sog den Kaffeeduft ein. »Ob ich nun zu Hause lese oder hier …« Sie zuckte die Schultern und nippte an ihrem Becher.

Daniel bedachte sie mit einem sorgenvollen Blick. »Wirklich, Lena, es gibt auch noch ein Leben außerhalb des Institutes …«

Augenblicklich straffte Lena den Rücken und nahm eine abwehrende Haltung ein. »Wenn du mir wieder einen deiner Vorträge halten willst …«, begann sie, wurde jedoch von Daniel unterbrochen.

»Jetzt nimm nicht alles so persönlich. Ich finde nur, du könntest ein bisschen mehr Spaß haben, das ist alles.« Trotz seines dicken Norwegerpullovers schien er zu frieren, denn er kontrollierte mit einem kurzen Blick den Thermostat der Heizung. »Die Verwaltung spart mal wieder Energiekosten.« Er grinste.

»Einige Dinge ändern sich nie.« Lena lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre dunklen Augen nicht, die den Betrachter immer auf einer gewissen Distanz hielten. Sie schaute auf die Uhr an der Wand. »Deine Studenten warten, oder fällt der Lektürekurs heute aus?«

Widerstrebend erhob Daniel sich. »Wenn sie doch nur etwas mehr Begeisterung zeigen würden …« In gespielter Verzweiflung fuhr er sich durch die Haare. »Du warst eine echte Ausnahme, Lena.« Seine braunen Haare wehrten sich trotz des Kurzhaarschnittes in Wirbeln gegen eine einheitliche Richtung.

Lena hatte gerade mit ihrer Doktorarbeit begonnen, als Daniel als Dozent an das Institut gekommen war. Zusammen mit Professor Dahl hatte er die Doktoranden betreut und Lena als arbeitswütige Studentin kennengelernt. »Auch wenn du es mir nicht glauben willst, mir macht die Arbeit Spaß, mehr als alles andere.«

Zweifelnd ging Daniel an ihr vorbei. »Irgendwann finde ich heraus, ob das wirklich stimmt, Lena.«

»Na los, deine Studenten warten, und eine ganz besonders. Wie heißt sie doch gleich? Jessica, genau, sie fragt jedes Mal nach dir, wenn ich sie sehe.« Lena drehte ihren Kaffeebecher in den Händen und nickte Daniel aufmunternd zu.

»Erzähl mir so was nicht, das macht mich ganz nervös.« Kopfschüttelnd verließ Daniel ihr Büro, und Lena wusste, dass er es ernst meinte, auch wenn er einem gelegentlichen Flirt nicht abgeneigt war.

Daniel war neben Yuwadee Samabuddhi, die alle nur Dee nannten, Lenas liebster Kollege. Dee war eine Thailänderin, die seit über 20 Jahren in Deutschland lebte und vor fünf Jahren nach Hamburg gekommen war.

Lena stellte ihren Kaffee ab und starrte auf ihren Kalender. Sie hatte Dee versprochen, heute deren Grundkurs zu übernehmen. Rasch griff sie nach ihrer Tasche und eilte aus dem Büro in den kleinen Seminarraum am Ende des Flures, in dem acht Studenten schon geduldig auf sie warteten.

In ein Gespräch mit einem der Studienanfänger vertieft, ging sie eineinhalb Stunden später den Flur entlang, als ihr Professor Dahl begegnete.

»Frau Dr. Bremer, wären Sie so gut, eben in mein Büro zu kommen?« Dahl war zwei Köpfe größer als sie und hielt sein Kinn stets nach oben gereckt, was seine Gesprächspartner einschüchtern sollte, wie Lena vermutete. Dee war jedoch der Meinung, dass er lediglich versuchte, sein Doppelkinn zu kaschieren, und wenn Lena den untersetzten Dahl von der Seite betrachtete, musste sie ihrer Freundin recht geben.

Lena nickte als Antwort zustimmend.

»Kommt Dr. Samabuddhi nächste Woche wieder?« Einer der Studenten sah sie fragend an.

»Ich denke schon. Bis dahin hat sie die Grippe sicher überstanden.« Lena nickte dem Studenten zum Abschied zu und ging zu Dahls Büro. Die Tür stand offen, und Lena klopfte kurz an, um sich anzukündigen.

Dahl saß in einem graublauen Anzug hinter seinem eindrucksvollen Schreibtisch, der jedem Konzernchef zur Ehre gereicht hätte. Sein Büro war doppelt so groß wie das seiner Kollegen und ließ, genau wie Dahl selbst, keinen Zweifel darüber aufkommen, wer der Leiter des Institutes war. Lediglich eine repräsentative Sammlung ornamentaler Holzschnitzereien, ein antiker Wandbehang aus dem Norden Thailands und einige erlesene Lackschalen mit Perlmuttmuster deuteten an, dass Dahl einer der führenden Wissenschaftler für Thailand, Birma und deren politische Beziehungen war.

Jedes Mal wenn Lena in Dahls Büro war, fragte sie sich, wie man in dieser Atmosphäre akkurater Ordnung, die weder von Notizzetteln noch von anderen Arbeitsmaterialien gestört wurde, entspannt arbeiten konnte. Heute jedoch erregte ein Haufen loser Papiere und Dokumentenrollen, die auf Dahls Schreibtisch lagen, ihre Aufmerksamkeit.

Selbstgefällig legte Dahl eine sorgfältig manikürte Hand auf den Papierstapel. »Wissen Sie, was das ist?«

Lena trat an den Tisch und warf einen prüfenden Blick auf die vergilbten Papiere. Einer der Gründe, warum Dahl es schon mit Mitte 40 zum Institutsleiter gebracht hatte, waren seine guten gesellschaftlichen Kontakte. Zum größten Teil hatte er diese seiner Ehe mit Ivonne von Helfenberg und deren einflussreicher Familie zu verdanken. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm ein befreundeter Sammler eine Rarität zur Prüfung überlassen hätte. »Ich nehme an, es handelt sich um religiöse Texte?« Sie warf einen kurzen Blick auf die Schriftzeichen und fügte hinzu: »16. oder 17. Jahrhundert?«

Dahl sagte anerkennend: »Ich weiß schon, warum ich Sie zuerst frage.« Die Papiere sortierend, nahm er ein lose mit einem Band zusammengehaltenes Bündel unterschiedlich großer Blätter in die Hand. »Aber um die religiösen Texte geht es nicht. Ich habe etwas anderes für Sie.« Vorsichtig, um die brüchigen und eingerissenen Kanten der Blätter nicht noch mehr zu beschädigen, reichte er ihr das Bündel. »Sehen Sie selbst. Ich hatte noch nicht sehr viel Zeit, mich näher damit zu beschäftigen, aber was ich auf die Schnelle entziffern konnte, finde ich bemerkenswert.«

Lena zog sich einen Stuhl heran und entknotete das Band, das die Blätter zusammenhielt. Das Papier des ersten Blattes war von guter Qualität und so eng mit einer feinen Handschrift beschrieben, dass Lena Mühe hatte, einzelne Worte zu erkennen. Feuchtigkeit und Schmutz hatten darüber hinaus dazu beigetragen, die Lesbarkeit der Handschrift zu erschweren. Elemente der schwungvollen indischen Dewanagari-Schrift schienen auf den ersten Blick zu überwiegen, doch es handelte sich eindeutig um das alte Thai-Alphabet, und Lena begann zu lesen. Nur wenige Sätze genügten, um sie in den Bann des unbekannten Erzählers zu ziehen, oder vielmehr, der Erzählerin. Erstaunt hob sie den Kopf. »Das sind die Erlebnisse einer Frau!«

»Genau. Ist das nicht ganz erstaunlich? Die Verfasserin schreibt von Ereignissen in Lopburi, die sich zur Regierungszeit König Narais abgespielt haben müssen. Das ist doch Ihr Gebiet, Dr. Bremer. Arbeiten Sie nicht gerade an einem Essay über die Literaturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts?« Dahl drehte sich auf seinem Stuhl zu einem Schrank hinter ihm um und entnahm einer Schublade ein schmales Holzkästchen, das er Lena reichte. »Darin haben sich die Blätter befunden. Wenn Sie möchten, können Sie es mitnehmen.«

Es handelte sich nicht um eine der typischen prachtvoll verzierten Manuskriptschatullen, in denen thailändische Gelehrte und Mönche ihre Aufzeichnungen aufzubewahren pflegten, sondern um ein schlichtes Holzkästchen im Format einer Zigarrenschachtel, das gerade groß genug war, um die Papiere aufzunehmen. Zaghaft öffnete Lena den Deckel des aus dunklem Holz gefertigten Kistchens. Ein schwacher Hauch von Zedernholz und altem Papier stieg ihr in die Nase, doch die Kiste war leer.

»Wie gesagt, nur die Blätter lagen darin. Das alles hier kam als Schenkung von einem Sammler, der für Skripte jedoch nichts übrighat.« Professor Dahl sah auf seine Uhr. »Ich habe noch eine Verabredung zum Mittagessen. Nehmen Sie die Blätter mit und studieren Sie sie. Vielleicht ergeben sich neue Einblicke in Narais Regierungszeit. Vor allem die letzten Jahre seiner Herrschaft haben einen großen Klärungsbedarf. Soweit ich das erfasst habe, beginnt der Bericht 1685, also genau drei Jahre vor Narais mysteriösem Tod.«

Verschiedene Legenden rankten sich um das Ende seiner Herrschaft und Narais Tod, doch Lena hatte ihre Zweifel, was den Bericht anging. »Ausgerechnet eine Frau soll in der Position gewesen sein, über die politischen Intrigen und Narais Lebensende Auskunft geben zu können?« Es gab gute Gründe, die dagegen sprachen.

Dahl stand auf und nahm seinen Mantel von der Garderobe. »Nun, eine Untersuchung und Übersetzung lohnen sich allemal, auch wenn es uns vielleicht nur einige soziokulturelle Einblicke in die damalige Hofgesellschaft liefert. Nutzen Sie diese Gelegenheit, Dr. Bremer.« Freundlich, aber seine Ungeduld nur schwer verbergend, stand er an der Tür.

»Danke für Ihr Vertrauen.« Lena war zwar neugierig auf den ungewöhnlichen Fund, doch sie befürchtete, dass Dahl ihr die Aufzeichnungen nur gegeben hatte, weil sie von einer Frau geschrieben worden waren. Wahrscheinlich lagen die wissenschaftlich relevanten Dokumente noch auf seinem Schreibtisch, damit er sie selbst untersuchen konnte. Lena legte die Blätter in das Kästchen zurück und fragte beim Hinausgehen: »Brauchen Sie die Ergebnisse zu einem bestimmten Termin?«

»Nein, das hat keine Eile. Nehmen Sie sich so viel Zeit wie nötig, aber halten Sie mich über Ihre Fortschritte auf dem Laufenden, damit ich unserem edlen Spender bald etwas berichten kann.« Dahl nickte ihr freundlich zu.

Lena verabschiedete sich und ging mit dem Holzkistchen in der einen und ihrer Aktentasche in der anderen Hand zu ihrem Büro. Heute war ein merkwürdiger Tag, und es kam ihr so vor, als wäre der Traum nur ein Vorbote für irgendetwas gewesen. Das Manuskript war faszinierend, und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie sich damit mehr eingehandelt hatte als nur eine Übersetzung.

Kurz bevor sie ihre Tür erreichte, entdeckte sie Andreas Mende und beeilte sich, ihren Schlüssel aus der Tasche zu kramen, doch er hatte sie schon gesehen. Er kam so rasch auf sie zu, dass sie es noch nicht einmal schaffte, das Kästchen in ihre Tasche zu stecken. Vermutlich hatte er gesehen, wie sie zu Dahl ins Büro gegangen war, und nur darauf gewartet, sie jetzt abzupassen, um sie auszufragen. Andreas war zwei Jahre vor Daniel an das Institut gekommen und hatte sich mit seiner schmeichlerischen Art wenig Freunde gemacht. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte sich gezeigt, dass Andreas gern über seine Kollegen lästerte und Informationen zu seinem eigenen Vorteil nutzte, ohne sie mit anderen zu teilen. Da ihm auf fachlichem Gebiet – er war für Korea zuständig – nichts nachzusagen war, hatten Lena und ihre Kollegen beschlossen, ihn höflich zu tolerieren, jedoch genau auf ihre Worte zu achten, wann immer sie sich mit ihm unterhielten.

»Lena! Schön, dass ich dich treffe«, sagte er überschwänglich.

Mit seinen hellblonden, stark gelichteten Haaren und seinem Kinnbärtchen wirkte er älter als Daniel, obwohl die beiden ein Jahrgang waren. Ähnlich wie Dahl, legte er großen Wert auf sein Äußeres. Vielleicht beeindruckte er die Studentinnen mit seiner teuren Uhr, den Seidenschals und Cashmerepullovern, Lena jedoch fand ihn prätentiös und setzte nur ein höfliches Lächeln auf. »Tatsächlich? Was gibt es denn Wichtiges?«

»Ich wollte dich schon lange wegen der …« Wie zufällig fiel Andreas’ Blick auf das Kästchen in Lenas Hand. »Ja, was hast du denn da? Ist das etwa eine von Dahls neuesten Errungenschaften? Ich habe davon reden hören, eine neue Schenkung …« Ohne sie zu fragen, nahm er ihr das Holzkästchen ab und öffnete es. »Ich darf doch, oder?«

Lena ersparte sich eine Antwort und ließ den neugierigen Andreas die Blätter durchsehen.

Da er des Thailändischen wie auch des Koreanischen mächtig war, begriff er schnell, um was es ging. Enttäuschung, aber auch Spott blitzten in seinen Augen auf, als er den Deckel schloss und Lena das Kästchen zurückgab. »Da wartet wohl eine nette kleine Übersetzung auf dich. Viel Spaß! Vielleicht gibt es sogar einige schlüpfrige Geschichten vom Königshof. Das wäre doch mal etwas anderes.«

Die Ironie seiner Worte und die Herablassung, mit der er sie betrachtete, machten Lena wütend, und sie bedauerte, dass er sie damit aus der Fassung brachte. Dennoch ließ sie sich ihre Verstimmung nicht anmerken. »Vielleicht erhalten wir einen ganz neuen Einblick in die letzten Jahre Narais, oder hast du schon Ähnliches gelesen?«

Andreas schüttelte sein Handgelenk, sodass seine Uhr nach vorn rutschte. »Nicht dass ich wüsste, und wenn, war es kaum von Bedeutung. Ich muss eilen. Es wartet jemand von der Yonsei-Universität Seoul auf mich.« Er machte eine bedeutsame Pause und fügte hinzu: »Das Institut für Europäische Kultur und Ideengeschichte hat mich um einen Vortrag gebeten.«

»Das freut mich für dich, Andreas. Dann lass deine Verabredung besser nicht warten.« Lena klemmte sich das Kästchen unter den Arm, schloss endlich auf und verschwand in ihrem Büro, bevor Andreas zu weiteren Erklärungen ausholen konnte.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete sie erleichtert auf. Für heute lagen keine weiteren Seminare an, den Nachmittag hatte sie für ihre eigene Arbeit frei. Es war noch immer nicht viel wärmer in ihrem Büro geworden. Sie legte das Holzkästchen auf den Tisch, stellte ihre Tasche ab und wickelte sich den schwarzen Schal um, den sie heute Morgen getragen hatte. Am nächsten Tag würde sie sich eine Strickjacke mitbringen, aber wahrscheinlich lief die Heizung dann auf Hochtouren, denn Professor Dahl hatte bis dahin sicher Beschwerde eingereicht. Immerhin, für sein Institut setzte er vieles durch – sie hatten erst in diesem Herbst neue Computer für die Mitarbeiter bekommen, und der Etat für Neuanschaffungen in der Bibliothek war aufgestockt worden.

Lena nahm den inzwischen abgekühlten Kaffeebecher auf und ging zum Fenster. Unten auf der Straße eilten Passanten und Studenten geschäftig hin und her. Das Institut lag nicht weit vom Dammtor-Bahnhof entfernt und war damit gut zu erreichen. Der kalte Kaffee schmeckte abgestanden, doch Lena trank den Rest aus. Sie hatte keine Lust, noch einmal auf den Flur zu gehen, um sich einen frischen Becher aus dem Sekretariat zu holen. Wenn es um ihre Arbeit ging, vergrub sie sich stundenlang in ihrem Büro oder zu Hause, ohne dass ihr die verstreichende Zeit bewusst wurde.

Dee fand, dass ihr Verhalten langsam neurotische Züge annahm, doch Lena fühlte sich im Umgang mit Menschen oft unsicher. Diese übertriebene Skepsis anderen gegenüber hatte ihre Wurzeln in ihrer Kindheit. Dort gab es Dinge, über die sie lieber nicht weiter nachdenken wollte. Sie hatte Freunde, auf die sie vertraute. Dee gehörte dazu, auch Daniel schätzte sie sehr. Bei Daniel war sie sich oft nicht sicher, ob sie nicht mehr für ihn empfand, und wenn er sie manchmal ansah, wurde sie das Gefühl nicht los, dass er ebenfalls mehr als nur freundschaftliche Gefühle für sie hegte. Außerdem war da noch Ariane, mit der sie seit einigen Monaten zweimal in der Woche joggen ging.

Ariane war Schauspielerin, arbeitete aber häufig in einer kleinen Szenebar, in der Lena sie auch kennengelernt hatte. Wenn sie zusammen ausgingen – was auf Arianes Temperament und Überredungskunst zurückzuführen war –, wurden sie häufig angesprochen, denn die attraktive blonde Schauspielerin und die aparte dunkelhaarige Lena bildeten ein interessantes Paar. Seit einer Woche hatte Lena Ariane allerdings nicht gesehen, weil diese zum Dreh einer Fernsehserie nach München gefahren war.

Das Telefon klingelte. »Dr. Bremer hier«, sagte sie und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

»Hallo, Lena. Ich störe doch nicht, oder?« Ihre Stiefschwester klang wie immer gestresst. In der Regel rief sie nur dann an, wenn es etwas Familiäres zu besprechen gab.

»Nein, Doreen. Ich sitze allein in meinem Büro und friere.« Sie lehnte sich zurück und sah im Geiste ihre sieben Jahre ältere Stiefschwester vor sich, wie sie die Belegschaft ihrer Steuerkanzlei drangsalierte und dabei freundlich lächelnd mit ihren Klienten verhandelte.

»Schön, pass auf. Du hast sicher vergessen, dass Vater am Samstag Geburtstag hat.«

»Uh«, entfuhr es Lena, die Geburtstage und Feiertage regelmäßig vergaß. Zudem hasste sie Feierlichkeiten, bei denen alle auf Knopfdruck heiter plauderten, so als hätten sie sich etwas zu sagen und sähen sich nicht nur ein- oder höchstens zweimal im Jahr bei eben solchen Gelegenheiten. Warum konnte man nicht einfach auf Lenas Anwesenheit verzichten?

»Das habe ich mir gedacht. Aber komm mir bitte nicht mit fadenscheinigen Ausreden. Es ist immerhin Vaters 75. Geburtstag«, sagte Doreen vorwurfsvoll. Ihr rot geschminkter Mund kräuselte sich jetzt bestimmt in ihrem Gesicht, mit dem geraden Pony und dem ebenso gerade geschnittenen Pagenkopf.

»Hat er nicht schon den 70. groß gefeiert? Sie könnten doch einfach irgendwohin fahren und sich einen netten Tag machen.«

»Du hast eben überhaupt keinen Sinn für die Familie. Den hast du noch nie gehabt – und das habe ich nie begriffen, wo er immer alles für dich getan hat.«

»Für dich doch auch, Doreen, oder leitest du jetzt etwa nicht sein ehemaliges Büro? Die Kundenkartei war doch bestimmt von Vorteil als Berufsanfängerin.« Lena sagte das nüchtern, denn für sie war es eine Feststellung und keine Wertung. Sie hörte, wie Doreen die Hand auf den Hörer legte und hörbar ein- und ausatmete.

»Ich will mich nicht streiten. Mir persönlich ist es egal, ob du kommst, aber ich weiß, er hat gern alle um sich. Kannst du ihm diesen Gefallen nicht einfach tun?« In Doreens Stimme war tatsächlich eine Art Flehen zu hören, und Lena gab nach.

»Na schön. Wo findet die Feier statt?« Vielleicht fiel ihr bis zum Wochenende noch eine überzeugende Ausrede ein. Fürs Erste hatte sie Doreen mit ihrer Zusage zufriedengestellt. Das würde sie davon abhalten, Lena mit Anrufen zu überhäufen und womöglich ihre Mutter als letztes Druckmittel einzusetzen.

Wolfjürgen Bremer hatte in zweiter Ehe Cornelia, Lenas Mutter, geheiratet. Doreen war seine Tochter aus der ersten Ehe mit Stefanie, die trotz großzügiger Abfindung nie über die Trennung hinweggekommen war und jede Möglichkeit nutzte, um Unruhe zu stiften. Warum sie das tat, war Lena im Grunde gleichgültig, solange man sie nicht nötigte, an diesen zwanghaften Familientreffen teilzunehmen.

Doreen erklärte ihr die Einzelheiten der Geburtstagsfeier und bedankte sich schließlich überschwänglich für Lenas Zusage. Jetzt würde Doreen einen Haken hinter Lenas Namen setzen und sich dafür loben, wie perfekt sie wieder einmal alles organisiert hatte.

Lena legte den Telefonhörer ab und hatte plötzlich schlechte Laune. Doreens Anruf war in den friedlichen Nachmittag hereingebrochen und hatte ihr die Lust auf das Arbeiten im Büro verdorben. Sie schloss die Augen und massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. Nur bitte jetzt keine Kopfschmerzen, dachte sie, stand auf, nahm ihren Mantel und verließ fluchtartig ihr Büro, um frische Luft zu tanken.

Auf der Straße schlug ihr die Kälte des frostigen Januartages entgegen. Sie zog den Mantel eng um den Körper und ging mit schnellen Schritten zwischen den Passanten hindurch, die die Fußwege an der Universität bevölkerten. Warum sie ihrer Familie nicht mit mehr Gelassenheit gegenübertreten konnte, wusste Lena selbst nicht. Niemand hatte sie je direkt wegen ihrer Berufswahl kritisiert. Vielleicht bildete sie sich auch nur ein, dass ihre Eltern von ihr enttäuscht waren. Sie zog die Nase hoch, die in der kalten Luft zu laufen begann. Erleichtert stellte sie fest, dass sich der stechende Schmerz aus ihren Schläfen verzog. Mit ihrer Abneigung gegenüber familiären Verpflichtungen war sie kein Einzelfall, und doch war es noch mehr. Sie verdrängte förmlich alles, was mit ihrer Vergangenheit in Braunschweig zusammenhing, wo ihre Eltern noch immer lebten. Dee hatte wahrscheinlich doch recht mit ihrer Diagnose. Lena musste unwillkürlich lächeln und nahm ihr Handy aus der Manteltasche, um ihre Freundin anzurufen.

»Ja?«, kam es krächzend aus der Leitung.

»Wie geht es dir?«, fragte Lena.

»Bis auf meine Stimme eigentlich gar nicht so übel. Jonas ist ein Engel. Ich wusste gar nicht, wie viel von einem Krankenpfleger in ihm steckt.« Dee kicherte und musste gleich darauf husten.

»Dann bist du ja rundum versorgt. Soll ich dir trotzdem irgendetwas vorbeibringen? Arbeit vielleicht?«, frotzelte sie.

»Untersteh dich! Aber komm bloß noch nicht hier vorbei. Ich kann die Viren förmlich durch die Luft schwirren sehen, ekelhafte Dinger mit grünen Beinen und roten Augen …«

Lena hörte, wie Dee sich die Nase putzte. »Dann wünsche ich dir weiterhin gute Besserung. Dein Kurs vermisst dich übrigens schon.«

»Das glaube ich nicht. Bei mir beschweren sie sich immer, ich wäre zu streng, wenn es um die Aussprache geht.«

»Oh, übrigens, Dahl hat wieder einen Sammler aufgetan.« Lena erzählte von den Aufzeichnungen und auch von Andreas Mendes Reaktion.

»Mach dir nichts daraus, Lena, Mende ist und bleibt ein Miesmacher. Wenn für ihn nichts bei einer Sache herausspringt, dann taugt sie nichts. Von mir aus kann er sich für ein Jahr in Korea verpflichten, ich weine ihm keine Träne nach.«

Lena lachte. »Nein, ich auch nicht.«

Ernsthafter sagte Dee: »Mich fasziniert die Regierungszeit von König Narai, besonders sein mysteriöses Ableben. Wenn es dich nicht stört, würde ich mir die Seiten gern ansehen, wenn ich wieder im Institut bin.«

»Natürlich, Dee. Jederzeit.« Ihre Freundin war keine Sprachwissenschaftlerin, doch sie interessierte sich für alles, was mit ihrem Land in Zusammenhang stand, und hatte Lena schon mehr als einmal wertvolle Tipps bei ihren Recherchen geben können.

Die unangenehmen Gedanken an Doreen und die mit ihr verbundenen Verpflichtungen rückten nach diesem Gespräch in den Hintergrund, und Lena setzte ihren Spaziergang fort. Nach einer halben Stunde kehrte sie durchgefroren, aber in besserer Laune ins Institut zurück und nahm sich endlich Zeit für die Aufzeichnungen, die Dahl ihr gegeben hatte. Das Holzkästchen stand auf ihrem Schreibtisch und schien nur darauf zu warten, endlich von ihr in Augenschein genommen zu werden. Erneut entströmte dem fein polierten Zedernholz ein schwacher Duft, in den sich auch Reste von Tabak mischten, wie Lena nach mehrmaligem Schnuppern feststellte. Wenn sie das schlichte Behältnis genauer betrachtete, kam es einer Zigarrenkiste sehr nahe. Die Größe der Blätter war genau auf die Holzkiste abgestimmt, womit anzunehmen war, dass auch das Kästchen seinen Ursprung im 17. Jahrhundert hatte, aber das war nebensächlich. Lena schaltete die Schreibtischleuchte ein und beugte sich über das erste dicht beschriebene Blatt Papier.

Kapitel 2

Lasst mich erzählen, was wirklich am Hofe von Lopburi geschah, bevor die Zeit die Erinnerungen verwischt. Eine Frau, die mir einmal so nahestand, wie einem eine Freundin, eine Schwester oder eine Vertraute nur nahestehen kann, war Teil dieser Ereignisse, von denen ich erzählen will. Weil sonst vergessen wird, was nicht vergessen werden soll, weil es Menschen gab, die in Zeiten lebten, in denen Verrat jeden treffen konnte. Es waren Zeiten, in denen ein geflüstertes Wort von vielen Zungen durch Palastmauern getragen wurde, um diejenigen zu verderben, die in die Intrigen der Ränkeschmiede verstrickt wurden.

In solchen Zeiten lebte die Frau, von der ich erzählen will. Sie gehörte nicht zu den Schmeichlern, sie verführte nicht, um an ihr Ziel zu gelangen, denn sie glaubte an die Wahrheit, die jeder Handlung und jedem gesprochenen Wort innewohnt. Sie hörte das Raunen, das sie bei jedem ihrer Schritte umgab, und erahnte den kommenden Sturm der Intrigen, der alles, was ihr je etwas bedeutet hatte, hinwegzuspülen drohte. Ihr Name war Paolin.

Ayutthaya, September 1685

Es war September und die Luft noch immer so schwer und feucht, dass es einem die Lungen zuschnürte. Paolin atmete langsam und tief ein und wieder aus und fächelte sich mit einem zierlichen hölzernen Fächer frische Luft zu. Den Fächer hatte ihr Vater ihr von seiner letzten Reise aus China mitgebracht. Sorgenvoll schaute sie von der Veranda ihres Hauses auf das bräunlich trübe Wasser des Menam Chao Phraya, der die Flussinsel der Königsstadt umgab und dessen Wasser die Schiffe von Bangkok herauf- und wieder hinaus auf die Ozeane der Weltmeere brachte. Wie fast alle Häuser der Hofbeamten König Narais, war auch das Haus ihres Vaters gänzlich aus Holz und im alten Stil erbaut. Paolin mochte die geschwungenen Giebel und die mit gebündeltem Schilfrohr gedeckten Dächer, deren Abschlüsse reich mit kunstvoll geschnitzten Drachenornamenten und anderen Figuren verziert waren. Wenn es das Hofprotokoll erlaubte, verbrachte sie ihre Zeit hier, in der Geborgenheit der hölzernen Wände, die ihre Mutter liebevoll mit seidenen Teppichen und Bildnissen Buddhas, des Erleuchteten, geschmückt hatte.

Aus dem Küchenhaus erklangen die vertrauten Geräusche der Mägde und Sklaven, die sich um das Essen kümmerten, was eine nie endende Aufgabe war, denn jedes Gericht musste frisch zubereitet und auf Nachfrage jederzeit serviert werden können. Paolin stützte die Ellenbogen auf die Balustrade und beobachtete ein Langboot, auf dem siamesische Händler Berge von Früchten und Gemüse zum Palast brachten. Während sie sich weiter frische Luft zufächelte, versuchte sie sich vorzustellen, wo ihr Vater sich wohl gerade befand.

Am 25. Januar des vergangenen Jahres war ihr Vater, der Ok-khumPhiphit Racha, als erster Botschafter des Königs von Siam mit einer Delegation französischer Gesandter nach Frankreich gesegelt. Außer fünf weiteren Hofbeamten, die ihrem Vater auf dieser Reise unterstellt waren, befanden sich die Jesuitenbrüder Vachet und Pascot an Bord des Schiffes.

Mit einer Hand warf Paolin ihr dichtes, glänzendes schwarzes Haar über die Schultern. Zur Hälfte hatte sie die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt und auf dem Oberkopf zu einem runden Knoten gebunden. Einige feuchte Strähnen klebten an ihrem Nacken, und sie würde gleich ihr zweites kaltes Bad an diesem Tag nehmen, um Abkühlung von der unerträglichen Schwüle des Monsuns zu finden. Diese langen Monate, die sich von April bis Oktober endlos hinzuziehen schienen, waren ihr die verhassteste Jahreszeit, und das lag nicht nur am Klima, sondern auch an der Tatsache, dass sie während dieser Monate nicht in Lopburi, sondern in Ayutthaya leben musste.

»Luuk saao, kleine Träumerin, hilf mir lieber beim Aussuchen der besten Mangos«, erklang die Stimme ihrer Mutter vom Ende der Veranda zu ihr herüber.

»Mää, du weißt, ich bin nutzlos in der Küche. Lass mich noch eine Weile auf den Fluss hinausschauen. Ich werde dir die schönsten Lotosblüten für den Tisch pflücken«, rief Paolin ihrer Mutter zu, die gerade einen großen Korb gelber Mangos inspizierte und kopfschüttelnd die Treppen hinunterging, um einer Dienerin weitere Anweisungen zu geben.

Sumalee war die erste Frau von Phiphit Racha und leitete seinen Haushalt, zu dem sieben Nebenfrauen und insgesamt 18 Kinder gehörten, von denen Paolin die älteste Tochter war. Weil Phiphit Racha ein ruhiger und gerechter Mann war, darauf bedacht, dass Frieden in seinem Heim herrschte, vertrugen sich auch die Frauen untereinander.

Paolin löste sich vom Anblick des Flusses – von dem sie hoffte, er brächte bald das Schiff ihres Vaters zurück – und ging über die warmen Holzdielen der Veranda am großen Wohnhaus vorbei, einige Stufen hinunter in einen kleinen, aber liebevoll angelegten Garten, dem Sumalee in jahrelanger Arbeit die Schönheit eines Gemäldes verliehen hatte. In einem flachen Teich, an dessen Rand Frösche verschiedener Größe auf dicken Blättern saßen und ihren kleinen Körpern Töne von erstaunlicher Intensität entlockten, wuchsen milchweiße und gelbliche Lotosblüten. Paolin ignorierte die erschrocken zur Seite hüpfenden Frösche und watete in das warme Wasser, wobei sie ihren eng anliegenden Rock, den Phasin, raffte, um die kostbare Seide nicht zu beschmutzen. Heute Morgen hatte sie den dunkelblauen, mit Goldfäden durchwirkten Stoff gewählt, weil sie in ihrem Traum ein Schiff gesehen hatte. Das konnte nur bedeuten, dass ihr Vater heute zurückkommen würde.

»Ja, quakt ihr nur, ich nehme euch ja nichts weg.« Lächelnd schob sie eines der wachsüberzogenen Lotosblätter mit den Beinen vor sich her, auf dem zwei winzige Frösche wie erstarrt saßen. Dann pflückte sie mit der freien Hand sechs der schönsten Blüten und ging zurück durch den Garten über die Veranda in das Wohnhaus, wo alle Schiebetüren des Esszimmers geöffnet waren, um auch den geringsten Luftzug einzufangen. Zwei Dienerinnen zogen an großen Fächern, die über dem flachen Tisch hingen, und verteilten den Duft frischer Jasminblüten, die in irdenen, mit Wasser gefüllten Schalen im Raum verteilt standen. Plötzlich hörte Paolin lautes Rufen und das Getrampel unzähliger Füße auf den Holzdielen. Dafür konnte es nur einen Grund geben!

Paolin ließ die Blüten auf den Tisch fallen, der schon für das Abendessen gedeckt war, stolperte beim Hinauslaufen fast über eines der Sitzkissen und rief sich innerlich zur Ruhe, als sie durch das Geländer der Veranda das große Boot entdeckte, dessen königlicher Schmuck es als eines der höfischen Schiffe auswies, mit denen die Hofbeamten vom Palast zu ihren Wohnhäusern gebracht wurden. Seiner Freude laut Ausdruck zu verleihen, geziemte sich nicht, als sie die ruhige Stimme ihres Vaters vernahm, der seine erste Frau begrüßte.

Phiphit Racha war aus Frankreich zurück! Im Januar des letzten Jahres hatte er Siam verlassen, um nach 21 endlosen Monaten wieder in seine Heimat zurückzukehren. Paolin legte ihre Hand auf den Bauch, während sich in ihrem Kopf alles zu drehen schien. Was hätte ihrem Vater alles geschehen können? Das Schiff hätte in einen Sturm geraten können, wie die erste Gesandtschaft nach Frankreich, die König Narai ein Jahr zuvor auf den Weg geschickt hatte. Die gesamte Besatzung, alle Passagiere waren damals ertrunken, die wertvolle Fracht verloren gegangen. Paolin kontrollierte den Sitz ihrer Haare, zupfte an dem dünnen Schal, der über ihre Schultern vorn bis zu ihren Knien fiel, biss sich kurz auf die Lippen, zog den Fächer aus dem Stoffgürtel ihres Rockes und fächelte sich Luft zu, während sie langsam auf den Bootsanleger zuschritt.

Aufgeregt rannten die Diener mit schweren Lasten, die sie aus dem Boot schleppten, zum Haus. Ihre Mutter stand mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen an Land und wartete, bis Phiphit Racha seine Anweisungen für das Entladen des Bootes beendet hatte. Als alles zu seiner Zufriedenheit schien, trat er vom Steg hinunter, nickte Sumalee freundlich zu, tätschelte seinen jüngsten Kindern die Wangen, wechselte einige Worte mit seinem Begleiter, einem jungen Hofbeamten, den Paolin von ihren Aufenthalten im Palast her kannte, und hob schließlich suchend seinen Blick. Über sein von tiefen Sorgenfalten zerfurchtes Gesicht glitt ein Lächeln, und für einen kurzen Moment vergaß er die landestypische Beherrschtheit, die jeden Siamesen von den rohen Sitten der Fremden unterschied, und schritt die Stufen hinauf zu seiner ältesten Tochter.

Tränen standen ihr in den Augen, als er ihr über die Wange strich, ihr Kinn für einen Moment in der Hand hielt und leise sagte: »Luuk saao, meine Tochter, ich habe dir etwas mitgebracht, damit dein hungriger Geist Nahrung hat.« Liebevoll betrachtete er sie. »Komm nach dem Essen zu mir in mein Arbeitszimmer.«

»Phoo, Vater, was hast du erlebt? Wie sieht es in Frankreich aus? Hast du den König gesehen? Ist der Hof so schmutzig, wie man erzählt?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus, denn sie hätte alles dafür gegeben, einmal mit ihrem Vater nach Europa reisen zu dürfen, um die Länder zu sehen, aus denen die Fremdlinge kamen, die seltsame Kleidung trugen und dennoch so viel mehr Dinge wussten als die Gelehrten in Siam.

Phiphit Racha lachte. »Nein, nein, nicht jetzt, Paolin. Nach dem Essen.« Seine Miene wurde ernst, als er sich dem Hofbeamten zuwandte und mit ihm an ihr vorbei in das Wohnhaus ging.

Ergeben ließ Paolin die Schultern sinken. Dann musste sie warten, aber er war gesund zurückgekehrt, ihr Traum hatte sie nicht belogen. Ihre Schwestern stürzten sich auf die Pakete und Truhen, die nun in die Frauengemächer getragen wurden. Sie würden sich um die Stoffe, Schmuckstücke und ausländischen Kleider streiten, die ihr Vater von seiner Reise mitgebracht hatte. Doch Paolin interessierte sich nicht für derlei oberflächlichen Tand. Schon als kleines Mädchen hatte sie die meiste Zeit bei ihrem Vater im Arbeitszimmer verbracht und ihm dabei zugesehen, wie er Schriftrollen las oder bearbeitete. Die schön geschwungenen Buchstaben des Alphabetes, welches der große König Ramkhamhaeng vor 400 Jahren eingeführt hatte, wurden zu begehrenswerten Symbolen für Paolin, zu Schlüsseln, die ihr die Welt der Bücher und des Wissens geöffnet hatten. Anfangs hatte ihr Vater amüsiert gelächelt, wenn er ihre unbeholfenen Schreibversuche beobachtete, doch dann hatte ihre Begeisterung ihn angesteckt, und er hatte sie mit in den Palast genommen.

Yothathep, die Tochter des Königs, war vier Jahre älter als sie und wurde zusammen mit den anderen Kindern der königlichen Familie von verschiedenen Lehrern unterrichtet. Anfangs folgte die kleine Paolin der energischen Yothathep, die es gewohnt war, zu befehlen, überallhin. Bald jedoch erkannte die Prinzessin, dass das kleine Mädchen in ihrem Schlepptau weitaus intelligenter war als ihre Altersgenossen und das von den Lehrern angebotene Wissen aufsaugte wie ein Schwamm. Wann immer Yothathep eine Frage hatte, die sich auf die Geschichte oder ausländische Sprachen bezog, erhielt sie von Paolin eine treffende Antwort. Aus dieser anfangs einseitigen Faszination wurde bald eine gegenseitige Wertschätzung und, soweit die herrische Yothathep es zuließ, sogar eine Freundschaft.

Paolin lehnte am Geländer der Veranda und schaute auf das rege Treiben am Bootssteg hinunter. Wäre sie ein Junge, müsste sie nicht herumsitzen und warten, bis man sie fragte oder, noch schlimmer, bis man einen passenden Ehemann für sie gefunden hatte. Seufzend senkte sie den Kopf. Einzig und allein der Güte und Geduld ihres Vaters hatte sie es zu verdanken, dass sie mit ihren 15 Jahren noch unvermählt war. Sie konnte sich überhaupt glücklich schätzen, einen solchen Vater zu haben, denn alle anderen Hofbeamten seines Ranges hatten 20 oder mehr Frauen und interessierten sich nicht im Geringsten für die Bildung ihrer Kinder, geschweige denn ihrer Töchter. Es musste wohl daran liegen, dass ihr Vater ein Gelehrter war und sich in der Gesellschaft seiner Bücher und Schriftrollen wohler fühlte als in der von Menschen. Sein Amt bei Hofe zwang ihn dazu, einen Großteil seiner kostbaren Zeit mit Staatsgeschäften zu verbringen, doch seit dieser Grieche das Vertrauen des Königs gewonnen hatte, war vieles anders geworden.

Paolin ballte die Fäuste und starrte auf den Fluss, auf dessen ruhigem Wasser sich die Fackeln der Anlegestellen spiegelten. Der elende Grieche, Constantin Phaulkon, ein hinterlistiger, verlogener und gieriger Scheinheiliger war er – nichts anderes! Er hatte sich das Vertrauen von Narai erschlichen, indem er dem wissensdurstigen König, der eine besondere Vorliebe für alles Westliche, alles Europäische hatte, vorgaukelte, ein Vertrauter des französischen Königs zu sein. Yothathep und auch ihr Vater hatten Paolin von den verhängnisvollen Machenschaften des Griechen erzählt, dessen Einfluss auf König Narai sie alle ohnmächtig gegenüberstanden, denn Narai duldete keine Kritik an seinem ausländischen Vertrauten.

Eine Barke segelte durch die Dunkelheit. Nur die Positionslichter kennzeichneten die Ausmaße des Schiffes, das sich auf dem Weg hinunter zu den Siedlungen der Ausländer befand. Das Läuten einer Glocke ertönte. Unwillkürlich zuckte Paolin zusammen, denn es gab nur eine Glocke in Ayutthaya, die so laut durch die Stadt schallte, und die hing in der Kirche der Christen.

Die Portugiesen hatten mit Narais Erlaubnis eine Kapelle bauen dürfen, in der sie sich zu ihren Gottesdiensten versammelten. Aber es gab auch eine kleine Moschee, in der die Muslime täglich ihren Gebeten nachgingen. König Narai war ein toleranter Herrscher und duldete die Ausübung fremder Religionen, solange sie die Sitten und Gebräuche der Siamesen nicht verletzten. Genau darin bestand die Gefahr. Die katholischen Priester, Missionare, Jesuitenpater, wie immer sie sich nannten, gewannen an Einfluss in Siam.

Paolin seufzte, drehte sich um und schnupperte, denn die Sklaven begannen, die Schüsseln mit den verschiedenen scharf gewürzten Gerichten aufzutragen. Langsam bekam sie Hunger. Sie stieg die Stufen zum Küchenhaus hinunter, wobei sie an einer kleinen Buddhastatue vorbeikam, der sie mit einer Verbeugung ihre Ehrerbietung erwies. Nein, die Siamesen würden ihren Glauben niemals verleugnen, aber der Grieche vergab die wichtigsten Positionen am Hofe und auf den Handelsposten an Ausländer, und das erregte den berechtigten Unmut der einheimischen Bevölkerung.

Paolin ging zu einer alten Frau, die mit gebeugtem Rücken über einem Korb voller reifer Rambutanfrüchte saß, die sie sorgfältig sortierte. Als sie Paolin erblickte, suchte sie eine der behaarten roten Früchte heraus, schnitt sie auf und reichte Paolin das weiße innere Fruchtfleisch, das diese dankend entgegennahm.

Der Saft der weichen Rambutan lief Paolin das Kinn hinunter. »Hmm … ich brauche nichts anderes zu essen.«

Die Alte lachte und entblößte dabei eine Reihe von Zahnlücken. »Phii süüa, schöner Schmetterling, lass das nicht deine Mutter hören. Sie schimpft immer mit mir, weil ich dich verwöhne und du nicht genug von dem Fisch und dem Hühnchen isst. Tsstss, du wirst dich nie ändern, so schön und noch kein Mann …« Sie runzelte ihre faltige Stirn, doch in ihren kleinen Augen sah Paolin es schelmisch blitzen.

»Jaai, Großmutter, ich will keinen Mann, ich will lernen.« Die alte Frau war nicht wirklich ihre Großmutter, doch war sie die Amme ihrer Mutter gewesen und bei deren Heirat mit Phiphit Racha nach Ayutthaya gekommen. Für Paolin war sie immer nur ihre Jaai gewesen, und auch Sumalee behandelte die alte Frau mit liebevollem Respekt. In den letzten Monaten hatte sie, deren eigentlicher Name Solada war, was so viel wie »gute Zuhörerin« bedeutet, körperlich sehr abgebaut. Sumalee und Paolin sorgten sich um sie und hatten ihr die Arbeit in der Küche verbieten wollen, doch die Alte war störrisch wie ein Wasserbüffel und sagte, wenn sie die Hände in den Schoß legen müsste, würde sie sterben.

»Lernen! Oh, was für ein Unsinn! Warum musst du deinen hübschen Kopf mit unnützem Zeug anfüllen? Du musst lernen, wie man einen Haushalt führt und einen Mann glücklich macht, sonst endest du als 20. Nebenfrau im Harem eines fetten alten Ministers. Willst du das?« Solada schnitt eine weitere Frucht auf und reichte sie Paolin.

Diese lutschte die Schale aus und warf sie zu dem übrigen Abfall in einen der Schilfkörbe. Sie liebte die Geschäftigkeit und die Gerüche der Küche, vor allem, weil es immer eine Köstlichkeit gab, die sie probieren konnte. Doch sie hatte andere Dinge, die sie wirklich beschäftigten, und das Herrichten eines Festmahles oder das Wohlergehen eines möglichen Ehemannes gehörten nicht dazu. »Nein, Jaai, das will ich nicht. Ach, ich wünschte, ich wäre eine von diesen europäischen Frauen. Die können tun und lassen, was sie wollen.«

Solada schüttelte ihren Kopf, der auf einem dürren Hals saß und von einem winzigen Knoten aus dünnen grauen Haaren geziert wurde. »Ich hätte dich für schlauer gehalten, nein wirklich …«

In diesem Moment kam ihre Mutter dazu, sah den Saft an Paolins Kinn und schalt ihre ehemalige Amme: »Wie soll sie genug Kraft bekommen, um eine gesunde, gebärfähige Frau zu werden, wenn sie sich wie ein Vögelchen von Früchten ernährt?«

Paolin lächelte, und Solada murrte: »Verschwendete Zeit, sie will nach Europa und eine Gelehrte werden. Tsstss, hat man so etwas schon gehört …«

Alarmiert nahm Sumalee ihre Tochter am Arm. »Dein Vater ist viel zu nachsichtig mit dir. Ich werde mit ihm sprechen, so geht das nicht weiter.«

»Nein«, kam es wie ein Hilfeschrei aus Paolin. »Mää, tu das nicht! Lass mir noch etwas Zeit, bitte. Ich bin nicht so wie die anderen Mädchen.«

Mitfühlend betrachtete Sumalee ihre älteste Tochter, deren Haare traditionell über den Ohren geschoren waren und oben auf dem Kopf in zwei Zentimeter Länge abstanden. »Ich weiß. Genau deshalb liebt er dich so. Ich habe nur solche Angst um dich. Es gibt nicht viele Männer wie deinen Vater, und wenn du zu alt bist, finden wir nur noch …«

»Einen fetten alten Minister«, ergänzte Paolin lachend, doch innerlich schnürte sich ihr der Magen zusammen, denn sie wusste selbst nicht, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen sollte.

Nach dem Essen, das sie und die übrigen Frauen getrennt von ihrem Vater und seinen Besuchern einnahmen, wartete Paolin, bis sich ihre Brüder und der Beamte verabschiedet hatten, und ging dann hinauf in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie hatte sich gebadet, die Haare neu frisiert und nach siamesischer Art eng anliegend aufgesteckt. In einen leichten, mit zarten Tiermotiven bestickten, seidenen Phasin und ein schmales Oberteil gekleidet, stand sie barfuß in der Tür, neigte den Kopf und faltete zur Begrüßung die Hände vor der Brust, als ihr Vater von einem Stapel Papiere aufsah, die vor ihm ausgebreitet auf einem niedrigen Tisch lagen. Aufmunternd winkte er ihr zu, und Paolin eilte mit schnellen, kurzen Schritten an seine Seite, wo sie sich auf einem der Kissen neben ihn kniete und neugierig auf die Papiere schaute, die in seiner präzisen Handschrift dicht mit Zahlen und Tabellen beschrieben waren.

Sie liebte diesen Raum, der wie alle Räume ihres Hauses gänzlich aus dunklem Holz gefertigt war. Nur lagen hier auf langen Regalen zwischen den einzelnen Paneelen reihenweise Bücher aus China, Indien, Japan und Europa, neben Werken einheimischer Gelehrter und Dichter, von denen es jedoch nur wenige gab. Die meisten Texte siamesischer Herkunft waren religiöser Natur und ruhten als Schriftrollen in den langen, kunstvoll angefertigten Kästen oder den extra dafür hergestellten Schränken, deren Perlmuttverzierungen auf schwarzem Lack an sich schon sehenswert waren. Weitaus wichtiger als die Schönheit der Möbel oder die Kunstgegenstände, die ihr Vater von seinen Reisen mitgebracht hatte, waren Paolin aber die Bücher. Denn sie allein konnten ihr helfen, Antworten auf all die Fragen zu finden, die in ihr brannten, seit sie denken konnte.

Der kühle Seidenstoff vom losen Mantel ihres Vaters raschelte, als er aufstand und in einer Truhe kramte. Die Hände hinter dem Rücken versteckend, drehte er sich zu Paolin um und sah sie ernst an. »Luuk saao, du darfst niemandem sagen, was du hier liest, denn es ziemt sich nicht für eine Frau und schon gar nicht …«

»Phoo, ich kann ein Geheimnis bewahren, das weißt du doch.« Sie neigte den Kopf und lächelte ihren Vater an, der zögernd zwei schmale, in helles Kalbsleder gebundene Bücher hinter seinem Rücken hervorholte und sie ihr reichte.

Phiphit Racha, der erste Beamte am Hofe König Narais, seufzte und setzte sich neben seine Tochter. »Du bist zu intelligent für eine Frau, Paolin, und das ist meine Schuld. Aber da ich weiß, wie sehr dich die Bücher erfreuen, habe ich die Tradition außer Acht gelassen. Das ist nicht richtig, und ich hatte viel Zeit, während der Schiffsreise über deine Zukunft nachzudenken.«

»Iphigénie?«, fragte Paolin, die seine Worte überhört hatte, und streichelte zärtlich über den Deckel des ersten Buches.

»Der Dichter heißt Jean Racine, und man hat mir erzählt, dass die Aufführung dieser Tragödie ein großer Erfolg gewesen ist.«

»Die griechischen Götter! Ich liebe die Mythologie, obwohl Phaulkon ein Grieche ist …« Sie verzog den Mund, doch ihr Vater winkte ab.

»Er wird sein Ziel nicht erreichen. Ich habe mit Seiner Majestät gesprochen. Buddha ist der Erleuchtete, und auch wenn Seine Majestät andere Religionen toleriert, so würde er unseren Glauben doch niemals verraten. Als ich ihm von den vielen Jesuitenpatern berichtete, hat er nur genickt und gefragt, ob König Ludwig XIV. denn die verlangten Geschenke und vor allem die Ingenieure geschickt hat.« Nachdenklich klopfte Phiphit Racha auf die Tischplatte. »Trotzdem sind die Franzosen und die Ambitionen des Griechen nicht zu unterschätzen.«

Paolin beobachtete ihren Vater. »Warum jagt König Narai ihn nicht einfach fort? Ich kann ihn nicht leiden. Er ist ein hochnäsiger Mann, der auf uns herabblickt, und Yothathep sagt, dass er eigene Geschäfte betreibt, deren Gewinn nicht in die Kassen des Staates fließt.«

Mit erhobenen Augenbrauen sah Phiphit Racha seine Tochter an. »Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, Luuk saao! Die Wände haben Ohren. Und noch hört Seine Majestät mehr auf das Wort des Griechen als auf seine Minister.« Mit gesenkter Stimme fuhr er fort. »Sprich mit niemandem darüber, meine Tochter, das musst du mir versprechen. Die Prinzessin ist in einer anderen Position, dich könnte ein unbedachtes Wort den Kopf kosten. Ich selbst bin mir nie sicher, wer mit wem neue Ränke schmiedet.«

Noch leiser, sodass sie sich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen, sagte ihr Vater: »Das neueste Gerücht spricht von einer Verschwörung Prinz Intrachas, aber ich sage, Phetracha steckt dahinter. Hüte dich vor ihm und seinem Sohn, Sorasak, der grausam und machthungrig ist.«

Bei der Erwähnung von Sorasak zuckte Paolin innerlich zusammen, doch ihr Vater bemerkte es nicht. Phetracha war ein Pflegebruder des Königs und hatte sich vom Amt des Direktors der Behörde für die königlichen Elefanten zum wichtigsten Bürokraten am Hofe emporgearbeitet. Ohne seine Zustimmung wurde kein Gesetz verabschiedet und kein Urteil gesprochen. Nur der Grieche Phaulkon war ihm noch im Wege, denn dieser hatte dank der uneingeschränkten Unterstützung des Königs den Außenhandel Siams in seinen Händen. Da der Außenhandel die größte Einnahmequelle Siams war, kam Phaulkons Position der eines Premierministers und Schatzmeisters gleich, obwohl er bisher jede Ernennung zu einem offiziellen Amt abgelehnt hatte.

Phiphit Racha räusperte sich. »Der Grieche ist schlau, aber auch ein Fuchs geht irgendwann in die Falle. Lassen wir die Politik. Das zweite Buch ist von einem Mann mit Namen Jean de La Fontaine. Er schreibt Fabeln. Eigentlich sind es allegorische Geschichten, aber lies selbst. Es gibt mehrere Bände. Wenn dir dieser gefällt, suche ich auch die anderen heraus. Noch sind sie in einer der großen Reisetruhen verpackt.«

Paolin drückte die Bücher an sich, erhob sich und verneigte sich erneut vor ihrem Vater. »Vielen Dank! Du hast mir eine große Freude gemacht. Heute bist du müde, und ich will dich nicht länger mit Fragen quälen, aber morgen musst du mir von Frankreich erzählen.«

Lächelnd nickte Phiphit Racha. »Ich bin tatsächlich müde und von der wochenlangen Schiffsreise noch immer wie zerschlagen. Eigentlich hasse ich Schiffsreisen. Man kann sich nicht richtig waschen und muss auf frisches Gemüse und Obst verzichten. Von Stürmen und Piraten mal ganz abgesehen. Geh nur und schau in deine Bücher. Morgen sehen wir weiter.« Sein Blick fiel auf die Zahlenreihen, die noch auf dem Tisch lagen.

Paolin überließ ihren Vater seinen Gedanken und ging mit den Geschenken in ihr Zimmer, das im Frauenhaus neben dem ihrer Schwestern lag. Seit einem Jahr schlief sie allein. Vorher hatte sie sich das Zimmer mit zwei jüngeren Schwestern geteilt, die es jedoch störte, wenn sie bis in die Nacht las, und schließlich hatte ihr Vater ihrem Bitten nachgegeben und ihr den Raum zur alleinigen Nutzung überlassen. Nachdenklich kniete Paolin sich nieder und legte die Bücher vor sich auf die Matte aus Kokosnussfasern, die den Boden bedeckte.

Sorasak. An seinen Namen zu denken genügte, sie in Angst zu versetzen. Ihre Hände zitterten und ihr Atem flog, wenn sie an jene verhängnisvolle Nacht vor zwei Monaten dachte. Nach einem Besuch bei Prinzessin Yothathep war sie durch den Innenhof spaziert, der zwischen den königlichen Gemächern und einer Empfangshalle lag, die selten genutzt wurde. Von dem Bogengang aus sah man in einiger Entfernung den Tempel Wat Phra Si Sanphet. Sie liebte die Innenhöfe mit ihren Gärten, in denen bei einbrechender Dunkelheit Fackeln aufgestellt wurden, die die sorgfältig gepflegten Pflanzen in malerisches Licht tauchten. Kaum hatte sie einen Schritt auf den Teich zu gemacht, der sich hinter einer Gruppe von Hibiskussträuchern befand, da spürte sie, dass etwas anders war als sonst.

Neben dem Zirpen der Grillen und dem Quaken der kleinen Frösche vernahm sie plötzlich unterdrückte Schreie, die aus dem leeren Gebäude zu kommen schienen. Im ersten Moment dachte sie an einen Vogel, doch die spitzen Schreie waren menschlichen Ursprungs gewesen und hatten so verzweifelt geklungen, als ginge es um Leben und Tod. Außer ihr schien niemand in der Nähe zu sein. Langsam näherte Paolin sich dem Hintereingang des Gebäudes, in dem Sitzmatten, Gerätschaften für die Gartenarbeit und verschiedene ausgemusterte Möbelstücke herumstanden. Während sie im Palast die Schulstunden besucht hatte, war sie mit den anderen Kindern manchmal in dieses Gebäude gegangen, das den Ruf eines Geisterhauses hatte. Eine der Mutproben hatte darin bestanden, sich bei beginnender Dämmerung allein möglichst lange in dem Gemäuer aufzuhalten. Alle Siamesen waren abergläubisch, aber für diese Schreie gab es eine andere Erklärung.

Wenn sie jetzt an jene Nacht zurückdachte, wünschte sie sich, sie wäre weniger neugierig gewesen. Doch damals war sie instinktiv so leise wie möglich durch die offene Türöffnung geschlüpft und hatte in die Dunkelheit des Gebäudes hineingehorcht. Plötzlich vernahm sie aus einem der Vorräume Stimmengemurmel. Die Räume besaßen auch nach innen hin durchbrochene Fensteröffnungen, und aus einer drang Licht. Paolin schlich sich unter dem Fenster entlang und schaute schließlich in das Zimmer, in dem die Stimmen deutlich zu vernehmen waren. Fassungslos und wie gelähmt starrte sie auf die Szene, die sich ihr darbot. Ein junges Mädchen, kaum älter als zehn Jahre, stand in einem dünnen Hemd vor Sorasak, dessen sehniger muskulöser Körper schweißnass im Kerzenlicht schimmerte. Er trug eine Maske, die sein Gesicht zur Hälfte verdeckte, doch Paolin erkannte ihn an seinem ausgeprägten Mund.

Weder das Zittern des Mädchens noch dessen Tränen beeindruckten den Ministersohn. Ihn schien die Furcht seines Opfers vielmehr zu erregen, denn er sagte ruhig: »Wovor fürchtest du dich? Das ist ein Spiel, nur ein Spiel. Du bist ein hübsches Mädchen. Spiel einfach mit, dann geschieht dir nichts.«

Das Mädchen starrte ihn ungläubig an. »Aber ich weiß nicht …«

Sorasak lachte. Ein Dämon hinter der Maske. »Alle kennen es, meine Kleine. Früher oder später lernt es jeder. Es macht sogar Spaß. Und jetzt zieh dich aus.«

Unbeholfen nestelte das Mädchen an den Schleifen, die ihr Hemd hielten, bis dieses zu Boden glitt und ihren zarten, noch kindlichen Körper freigab. Sorasak stöhnte bei diesem Anblick auf und ließ seine Hände gierig über die weiße Haut des Mädchens gleiten, das erschreckt zurückwich. »Nein! Ich mag das nicht.«

»Du bekommst zwei Goldstücke. Und jetzt zier dich nicht weiter.« Er packte sie mit eisernem Griff am Handgelenk und zwang sie zu Boden, wo sie sich auf einer Matte vor ihm niederknien musste.

Langsam ließ der Schock nach, der Paolin als stumme Zeugin an ihren Beobachterposten gefesselt hatte. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch während sie noch überlegte, ob sie schreien oder Hilfe holen sollte, verging sich der skrupellose Sorasak schon an dem hilflosen Mädchen. Erschreckt wandte Paolin den Blick von dem verbrecherischen Geschehen ab und sandte ein Stoßgebet zu Buddha.

Als sie sich zaghaft wieder zum Fenster drehte, bot sich ihr ein Bild, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das Mädchen lag nun regungslos auf dem Boden, die helle Haut entstellt von Schwellungen. Nur der sich langsam auf- und absenkende Brustkorb zeigte, dass es noch am Leben war. Sorasak stand schwer atmend vor ihr. Die Beine des Mädchens waren leicht geöffnet, und ihre Mitte war blutverschmiert. Unterhalb seiner Maske leckte Sorasak sich die vollen, geschwungenen Lippen. Seine Erregung wuchs, als er ein Messer mit glänzender, geschwungener Klinge und reich verziertem Griff von dem Stuhl neben ihm nahm. Ohne auf die lauten Schritte zu achten, die plötzlich hinter ihm erklangen, kniete er sich vor dem Mädchen nieder und setzte die Klinge an ihrem Hals an. All seine Bewegungen wirkten kontrolliert und so, als vollzöge er ein vertrautes Ritual.

Paolin hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Hilflos musste sie zusehen, wie Sorasak dem Mädchen, dessen Augen sich in Todesangst geöffnet hatten, die Kehle durchschnitt, bevor sie die Chance hatte zu schreien.

»Oh, großer Buddha, beschütze mich vor diesem Mörder und lass das arme Kind ohne Schmerzen in sein nächstes Leben gehen!« Wieder und wieder betete Paolin stumm vor sich hin, eine Hand weiter auf den Mund gepresst, damit ihr schneller Atem und ihr rasender Herzschlag, von dem sie glaubte, dass Sorasak ihn hören musste, sie nicht verrieten.

Jetzt erschien der Urheber der lauten Schritte, Sorasaks Diener Kasem, ein kräftiger Südthailänder. »Herr, wir sollten verschwinden. Ich habe die Mönche gesehen. Sie versammeln sich zu einem Nachtgebet und könnten uns hier bemerken.« Ohne einen Blick auf die Leiche des Mädchens zu werfen, reichte er seinem Herrn dessen Kleidung, wartete, bis Sorasak sich angezogen hatte, und sagte: »Geht nur, ich kümmere mich darum.«

Sorasak wischte die blutige Klinge an einem Schal ab, der zur Kleidung des armen Mädchens gehört hatte, und nahm die Maske ab. »Du bist sicher, dass niemand sie vermisst?«

Kasem, dessen rasierter Schädel schwitzte und im Licht glänzte, nickte ergeben. »Ganz sicher, Herr. Ich habe sie einem Tuchhändler in Bangkok abgekauft, der sie aus dem Norden mitgebracht hatte. Keine Spuren, Herr, ihr könnt Euch auf mich verlassen.«

»Gut so. Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Was machst du mit der Leiche?« Sorasak zog sich mit ausdrucksloser Miene den Gürtel fest und steckte das Messer wieder ein.

Kasem grinste verschlagen. »Ich habe meine Wege. Besser, Ihr wisst nicht alles.«

»Hier. Nimm das. Ich bin zufrieden, aber nächstes Mal besorge mir eine, die noch jünger ist.« Sorasak warf seinem Diener eine Handvoll Goldstücke zu, die dieser rasch einsteckte.

Paolin hörte es leise rascheln und spürte plötzlich etwas Weiches an ihrem Bein. Ratten! Erschrocken sprang sie zur Seite, sah gerade noch, wie Kasem und Sorasak alarmiert zum Fenster blickten, und rannte, ohne sich umzusehen, aus dem Gebäude. Der Tempel war heilig und lag am nächsten. Sie sprintete über den Hof, sprang über die niedrige Mauer, die sie vom Tempelbezirk trennte, und versteckte sich im Viharn, dem Tag und Nacht geöffneten Haus für die Laien, hinter der großen goldenen Statue des Erleuchteten. Buddha hatte sie beschützt, denn weder Kasem noch Sorasak waren ihr gefolgt, doch sie wusste bis heute nicht, ob einer der beiden sie gesehen oder das Geräusch den Ratten zugeschrieben hatte.

Kapitel 3