Die Klippen von Tregaron - Constanze Wilken - E-Book
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Die Klippen von Tregaron E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Die junge Künstlerin Caron leidet unter einem traumatischen Kindheitserlebnis. Sie kann sich jedoch nicht erinnern, was damals in Tregaron House geschah. Als sie unverhofft das alte Cottage auf der walisischen Halbinsel Llyn und ein verschollen geglaubtes Gemälde erbt, kommt sie an den Ort des tragischen Geschehens zurück und muss sich der Vergangenheit stellen. In dem sensiblen Gärtner Ioan findet sie einen Mann, der ihre zerrissene Seele versteht, und schon bald verlieben sich die beiden ineinander. Zusammen mit Ioan kommt Caron schließlich einem grausamen Geheimnis auf die Spur, das ins 19. Jahrhundert zurückreicht – das aber auch der Schlüssel zu ihrer eigenen Vergangenheit ist ...

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Buch

Die junge Künstlerin Caron leidet unter einem traumatischen Kindheitserlebnis. Sie kann sich jedoch nicht erinnern, was damals in Tregaron House geschah. Als sie unverhofft das alte Cottage auf der walisischen Halbinsel Llyn und ein verschollen geglaubtes Gemälde erbt, kommt sie an den Ort des tragischen Geschehens zurück und muss sich der Vergangenheit stellen. In dem sensiblen Gärtner Ioan findet sie einen Mann, der ihre zerrissene Seele versteht, und schon bald verlieben sich die beiden ineinander. Zusammen mit Ioan kommt Caron schließlich einem grausamen Geheimnis auf die Spur, das ins 19. Jahrhundert zurückreicht – das aber auch der Schlüssel zu ihrer eigenen Vergangenheit ist …

Weitere Informationen zu Constanze Wilken

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches

Constanze Wilken

Die Klippen

von Tregaron

Roman

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Copyright © 2018 by Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München Umschlagfoto: FinePic®, München Redaktion: Regine Weisbrod Karte: © Peter Palm, Berlin BH · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-18557-2V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Erhard Schiel,

weil Kunst grenzenlos ist

Hauptpersonen

Gegenwart

Llanbedrog

Caron Bevans – Glaskünstlerin

Elain Bevans – Carons Mutter

Stephen Bevans – Elains zweiter Ehemann

Adele † & Joseph Meller † – Elains Eltern

Ioan Gravenor – Landschaftsgärtner

Geoffrey Gravenor – Ioans Onkel

Briony Bowen – Galeristin in Plas-Gelli-Wen, Llanbedrog

Logan Bowen – ihr Zwillingsbruder

Blake Paxton – Hausmeister in der Galerie Plas-Gelli-Wen

Sylvia und Cedric Bowen † – Eltern der Zwillinge

Brynmore Bowen † – Cedrics Bruder

Stanley Edwards – Brynmores Anwalt und Nachlassverwalter

Aberdaron

Lilian Gray – führt Carreg Cottage

Marcus Tegg – Tischler und Lilians Freund

Collen Thomas – Historiker

USA

Dr. Douglas Peterson – Dozent und Glaskünstler an der Pilchuck Glass School, Seattle

Felix † und Tilly Ramsay – Chicago

Jeff Rosenberg und Walter Nicholson † – Antiquitätenhändler – Newburg CA

Vergangenheit

Llanbedrog

Lloyd Pierce – ein junger Maler

Lawrence Bowen – Geschäftsmann und Besitzer des Herrenhauses Plas-Gelli-Wen

Elisabeth Bowen – seine Gattin, eine Kunstmäzenin

Sion Parry – sein Butler

Selma Gustafsson – ihre Zofe

Fioled – ein Hausmädchen

Glyn Emont – Arbeiter in Bowens Steinbruch

Sigge Gustafsson – Selmas Bruder, Fischer

Vilgot – Fischer

Alun – Fischer

Dafydd Tanat – Wildhüter auf Plas-Gelli-Wen

Gäste des Herrenhauses

Ranald & Davina McFarlane – ein schottischer Geschäftsmann mit Gattin

Manning Fuller – Geschäftsmann aus Boston

Antoine & Claudine Legrand – französischer Geschäftsmann mit Gattin

Alice (verwitwete Hugh Pierce) & William Ramsay – Farmer in Midwales

If thou must love me, let it be for nought

Except for love’s sake only.

Elizabeth Barrett Browning (1806–1861)

[Wenn du mich lieben musst, dann lass es für nichts sein

außer um der Liebe willen.]

Plas-Gelli-Wen, Wales 1983

Elle fait chanter les hommes et s’agrandir le monde.

Elle fait parfois souffrir tout le long d’une vie.

Elle fait pleurer les femmes, elle fait crier dans l’ombre

Mais le plus douloureux, c’est quand on en guérit.

Michel Sardou »La maladie d’amour«

[Sie lässt Männer singen, die Welt sich erweitern.

Manchmal schmerzt sie auf Lebenszeit.

Sie lässt die Frauen weinen und lässt dich in der Dunkelheit schreien.

Aber am schmerzhaftesten ist es, wenn man von ihr geheilt ist.]

Aus den geöffneten Fenstern im ersten Stock tönte Musik, die sich mit dem Heulen des Windes und der tosenden See unten am Strand vermengte. Die riesigen, alten Fichten neigten sich knarrend hin und her. Ihre Nadeln boten keinen Schutz gegen den Regen, der in dicken Tropfen herniederging. Einem grellen Blitz folgte ein ohrenbetäubender Donner. Es war eine jener Nächte, in denen die Elemente tobten und den Menschen auf seinen Platz verwiesen.

Das kleine Mädchen presste ihren gelben Stoffhund fest an sich. Sie wusste, dass sie nicht hier unten sein durfte, aber sie hatte Angst, wenn es donnerte und blitzte. Sie war in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers aufgewacht, und niemand war da gewesen.

»Mummie …«, schluchzte das Mädchen, das in seinem Pyjama, der Regenjacke und den Gummistiefeln sehr verloren wirkte.

In dieser Nacht hatte es keinen Frost gegeben, doch es war kalt, und der Regen hatte die Pyjamahose der Kleinen bereits durchnässt. Der Sturm jagte die Regenwolken über den Himmel und riss sie auseinander, so dass der Mond deutlich sichtbar durch die Fichten schien. Eine helle, weiße Scheibe sah auf die Erde hinunter. Ein silberner Teller, dachte das Mädchen und duckte sich an die Hausmauer, als es erneut blitzte. Zitternd sah sie zu, wie die Lichtbögen in zickzackförmigen Bewegungen den Erdboden attackierten. Sie schrie auf, schloss die Augen und drückte das Gesicht in das weiche Fell des Stofftiers. Mit größerem Abstand folgte der Donnerschlag.

Sie konnte nicht wissen, dass sich das Gewitter langsam verzog, dazu war sie zu jung, doch sie spürte instinktiv, dass es am Haus sicherer war als im Wald. Dieses Haus war so schrecklich groß. Es war nicht so klein und gemütlich wie das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter lebte. Dort gab es einen Bach und Blumen und einen Hund aus Stein.

Alles war nass, die Steine, die Erde, ihre Hose – plötzlich war ihr schrecklich kalt. Weinend sah sie durch das Fenster. Drinnen war es dunkel. Sie presste das Gesicht gegen die Scheibe, und dann sah sie, wie die Tür aufging und das Licht aus der Halle in den Salon fiel.

Sie erkannte das Klavier, das große, schwarze Monstrum, auf dem der Mann, den ihre Mummie gern hatte, oft spielte. Und dann sah sie ein rotes Kleid mit weißen Blumen. Ihre Mutter hatte es heute Abend angezogen und ihre schönen langen Haare gebürstet. Niemand hatte so weiches, glänzendes Haar wie ihre Mutter. Es roch nach frischen Äpfeln, und die Haut ihrer Mutter duftete nach Vanille. Das Mädchen presste die Hände gegen die Scheibe und wollte rufen, als sie erschrocken zurückglitt.

Ein großer, dunkler Schatten folgte ihrer Mutter und drängte sie gegen das Klavier. Ihre Mutter wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Schatten, der sich über sie beugte und sie festhielt. Ein weiterer Blitz erhellte den Nachthimmel, ein gleißendes Zucken in der Dunkelheit.

Die Haut ihrer Mutter leuchtete weiß, als der Schattenmann sie schlug.

Schwach hörte man den Donner grollen.

»Mummie!«, schrie das Mädchen, doch drinnen war plötzlich alles dunkel, und sie stand zitternd und allein vor der Fensterscheibe.

»Kleines, was machst du denn hier?« Eine freundliche Stimme erklang hinter ihr, und jemand nahm sie in die Arme.

»Ach du meine Güte, du bist ganz kalt und verfroren.«

Das Mädchen weinte und schrie und zeigte auf das Fenster. »Mummie!«

»Aber da ist niemand, Kleines. Da drinnen ist alles dunkel. Na komm, wir bringen dich nach Hause, sonst macht deine Mutter sich große Sorgen.«

Die Stimme war warm und fürsorglich, und das kleine Mädchen ließ sich erschöpft auf den Arm nehmen und davontragen.

Llanbedrog, Wales 1885

Als er die Lichter sah, war es bereits zu spät. Er wendete das Boot und ruderte, so schnell er konnte. Die See war kabbelig heute Nacht, der Sturm würde bald hier sein. Aber sein Netz war voller Fische. Das würde einen guten Gewinn einbringen. Vielleicht hatten sie ihn auch nicht gesehen. Außer Atem erreichte er nach zehrenden, kraftvollen Ruderschlägen endlich das Ufer. Eine Welle ließ das Holzboot auf den Sand gleiten, wo es sich festfraß und liegen blieb.

Behände sprang er von Bord und sah sich um. Der Strand lag still und menschenleer in der Dunkelheit. Das Meer rauschte und brach sich weiter draußen an den Felsen.

Er hätte es besser wissen müssen. Sie hatten ihn gewarnt, aber die Verlockung, noch einen guten Fang zu machen, war größer gewesen. Und zum Teufel, niemand konnte ihm verbieten, für seine Familie zu sorgen. Von denen tat es sicher niemand. Wenn es hart auf hart kam, kümmerte sich jeder zuerst um seine Leute.

Wie lange brauchten sie, wenn sie den Landweg nahmen? Lange genug. Seine Kleidung war feucht, die Wolle schwer und die Haut salzig und kalt. Er rannte nach vorn zum Schuppen, in dem er seine Kisten lagerte, holte zwei und warf die Heringe hinein. Sie zappelten noch. Frischer Fisch war ein Segen, der von Gott für die Menschen kam. Keiner hatte das Recht, ihm das zu verwehren, was ihm zustand. Nirgendwo.

Die Nacht auf dem Wasser hatte ihn ermüdet. Erst am Nachmittag war er vom Markt aus Pwllheli zurückgekommen, hatte das kaputte Dach repariert, sich um die Tiere gekümmert und war nach dem Abendessen zum Strand hinuntergegangen. Sie benötigten das Geld dringend, denn die Kleinen waren an Keuchhusten erkrankt, und die Medizin war teuer.

Das Netz hatte sich verhakt, und er löste es vorsichtig aus dem Bootsinnern. Ein kaputtes Netz wäre sein Ruin. Denn wie sollte er so schnell ein neues bekommen?

Die anderen Fischer waren zwar hilfsbereit, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Letztlich ging es ums eigene Überleben. Niemandem wurde etwas geschenkt. Das verstand jeder, und sie hielten sich an die Regeln. Er warf immer wieder ängstliche Blicke zu den Klippen hinauf. Vom Herrenhaus war nichts zu hören. Heute fand keins der ausschweifenden Feste statt, und die Fenster lagen dunkel und blind hinter den Bäumen. Er arbeitete wie besessen, warf einen Fisch nach dem anderen in die Kisten und schleppte sie zum Schuppen.

Der Schweiß rann ihm trotz der nächtlichen Kälte in Bächen den Rücken hinunter. Endlich war es geschafft. Er stand schwer atmend neben dem Schuppen, der kaum mannshoch war, und hängte das Netz über das Gestell vor der Tür. Das hatte bis morgen Zeit, nur der Fisch musste heute noch bearbeitet und transportfertig gemacht werden. Dann könnte er noch eine Stunde schlafen und mit dem Fang zum Markt fahren.

Ein Geräusch hinter den Büschen, die den Strand vom Park der Familie Bowen trennten, ließ ihn zusammenzucken. Er packte sein Messer und schlich um einen Treibholzstapel herum. Doch es war nur eine Katze, die nach Fischabfällen suchte.

»Hast du mich erschreckt …«, entfuhr es ihm erleichtert.

Er richtete sich auf, ging zu einer der Kisten, nahm einen der kleinsten Fische, schnitt ihm den Kopf ab und warf ihn der Katze hin, die sich gierig darüber hermachte. Ich habe nichts gesehen, sagte er sich immer wieder. Was sollen sie also von mir wollen? Doch er wusste, dass sie keine Zeugen duldeten. Selbst Del, der arme Teufel, war von ihnen zum Schweigen gebracht worden.

Er streckte sich, rieb die harten, verspannten Muskeln und ging um den Schuppen herum, wo sein Handkarren stand. Das Gefährt ließ sich nur schwer durch den nassen Sand schieben, doch anders konnte er die Kisten nicht ins Dorf bringen. Gerade wuchtete er die letzte Kiste auf den Karren, da hörte er ein Geräusch vom Meer her. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und kalter Schweiß rann ihm über die Schläfen. Er drehte sich um. Der Mond warf nur spärliches Licht auf die Bucht, tauchte die Wellen in silbriges Licht und ließ die Umrisse der Klippen erahnen. Da schälten sich aus dem Dunkel die Umrisse eines schlanken Bootes, und das schwache Licht einer verdeckten Positionslampe blitzte kurz auf.

Sie mussten ihm sofort gefolgt sein, und sie hatten darin Erfahrung, denn er hatte die Schläge ihrer Ruder nicht gehört. Wahrscheinlich hatten sie die Dollen mit Stoff umwickelt und ihn beobachtet. Drei Männer sprangen nahezu lautlos an Land und liefen sofort über den Strand. Einer hielt eine Laterne, die anderen beiden bewegten sich wieselflink um sein Boot herum. Er duckte sich hinter den Karren und kroch um den Schuppen herum, robbte durch den Sand, bis er die Wurzeln der Fichten fühlte, richtete sich vorsichtig auf und lief zwischen den Bäumen hindurch.

Doch er konnte nichts sehen und trat auf einen Zweig. Das Geräusch schien ihm lauter als ein Peitschenknall, und er wusste, dass er nur noch eine Chance hatte – schneller zu sein als sie. Er rannte blind zwischen den Bäumen hindurch, doch er hörte sie näher kommen. Plötzlich warf ihn ein dumpfer Stoß zu Boden, und im nächsten Moment realisierte er den Schmerz in seinem Rücken. Das Messer war durch seine Muskeln gedrungen, direkt unterhalb der Schulter. Der Schmerz verteilte sich in Wellen und umklammerte seine Glieder, die sich kalt und taub anzufühlen begannen. Seine Sinne begannen zu schwinden, während er auf dem Boden nach Halt suchte, um sich aufzustützen, doch seine Hände gehorchten ihm nicht.

»Du hättest ihn nicht gleich umbringen müssen!«

»Keine Zeugen. Kein Risiko. Oder willst du deinen Hals in die Schlinge stecken?« Der Mann sprach mit französischem Akzent.

Ein anderer beugte sich über ihn und riss seinen Kopf an den Haaren hoch. »Er lebt noch.«

Das Messer wurde aus seinem Rücken gezogen, sie packten ihn unter den Armen und schleiften ihn mit sich fort.

Aus weiter Ferne drang irgendwann eine bekannte, vertraute Stimme zu ihm, doch die Kälte erfasste bereits sein Herz. Und während es verzweifelt pumpte und seine Lunge krampfhaft nach Luft rang, roch er den Duft schwedischer Fichten.

1

Pilchuck Glass School, Stanwood, Washington, Gegenwart

Leise raschelten die großen Blätter des Ahorns. Die blonde Frau schloss die Augen und genoss die Strahlen der noch warmen Herbstsonne. Im Hintergrund hörte sie die Stimmen der Studenten und das Klirren von Glas. Die letzten Vorbereitungen für die große Ausstellung vor den Ferien liefen auf Hochtouren. Langsam hob sie die Lider und blinzelte in das flirrende Licht, das durch die Baumkronen auf den Rasen vor der Lodge fiel.

Sie liebte diesen Ort. In Pilchuck hatte sie ihren künstlerischen Durchbruch geschafft und einen Ruhepol in ihrem rastlosen Leben gefunden. Doch nichts war vollkommen. Ihre Hand glitt in die Hosentasche und zuckte zurück, als sie den Brief berührte, der am Morgen eingetroffen war. Ein Blatt Papier nur, doch es schien so heiß wie geschmolzenes Glas, und es hatte die Macht, ihre Welt zerbrechen zu lassen – wie eine zarte Glaskugel, die in tausend winzig kleine Stücke zersplitterte.

»Caron! Hier steckst du.« Ein schlaksiger Mann mit weichen, braunen Locken kam lächelnd auf sie zu. Dr. Douglas Peterson war einer der wenigen Dozenten, die das ganze Jahr über an der Glass School unterrichteten. Die Studenten mochten den freundlichen und für neue Ideen offenen Künstler, denn in Pilchuck war jeder zuerst Künstler. Akademische Lehren und Regelwerk ordneten sich dem stets spürbaren freien Geist des Ortes unter.

Als sie sich umdrehte, erlosch das Lächeln auf seinem Gesicht. »Was ist geschehen? Caron, bitte, lass mich dir helfen, auch wenn wir nur noch Freunde sind, aber …«

Man muss ihn einfach gernhaben, dachte Caron und lehnte sich an den vertrauten Körper, den sie so gut kannte. Sie hatten einige Monate lang eine Beziehung geführt, an deren Scheitern sie letztlich beide schuld gewesen waren. Caron drückte das Gesicht in Dougs Hemd und ließ sich von dem vertrauten Duft trösten. Fürsorglich legte er die Arme um sie, wie er es immer getan hatte, wenn sie von einer ihrer Angstattacken überfallen wurde, und drückte ihr einen Kuss aufs Haar.

Caron räusperte sich und trat von ihm zurück. »Tut mir leid. Ich bin schrecklich.«

In ihren blauen Augen spiegelte sich das Licht, und die Sonne zauberte goldene Reflexe in ihr helles, kinnlanges Haar.

»Du weißt, dass ich dich noch immer …« Doug verkniff sich die letzten Worte und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Etwas ist passiert. So aufgewühlt, wie du wirkst, tippe ich auf Familie.«

»Schlauer Doug.« Sie zog den verknitterten Umschlag aus ihrer Tasche und hielt ihm das edel wirkende Papier hin.

Doug wendete den Umschlag kurz hin und her. »Aus England?«

»Wales.«

»Ist das nicht das Gleiche?« Er nahm den Bogen heraus.

»Sag das niemals, wenn du einem Waliser oder einem Schotten begegnest.« Sie grinste.

Er zuckte mit den Schultern. Doug ließ sich nur durch wenige Dinge aus der Ruhe bringen. Es waren seine Ausgeglichenheit und seine Leichtigkeit gewesen, die Caron angezogen hatten, aber es war nicht genug gewesen.

»Du erbst ein Haus und ein Gemälde, aber von wem, erfährst du erst, wenn du nach Wales fliegst und das Erbe annimmst. Dass es einen Haken gibt, ist dir schon klar, oder?« Er sah sie prüfend an.

Hinter ihnen wurde es lauter, und der Motor eines Traktors wurde angeworfen. Caron drehte sich um und sah, wie der Hänger mit den Festzelten und den Tischen rangiert wurde.

Doug gab ihr den Brief zurück. »Stanley Edwards heißt der Anwalt. Vornehmes Firmenzeichen. Und vermutlich ist das sogar ein echtes Familienwappen. Schon mal von ihm gehört?«

Caron schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist es ja. Ich weiß, dass ich die ersten drei Jahre meines Lebens mit meiner Mutter in Wales verbracht habe. Damals ist mein leiblicher Vater gestorben, und sie hatte eine schwere Zeit deswegen, musste sich allein durchschlagen. Zu ihren Eltern hatte sie keinen Kontakt mehr, und Guy, mein Erzeuger, war Musiker und hat ihr keinen Penny hinterlassen. Wir sind dann nach London gegangen, sie hat meinen Vater geheiratet, und das war’s. Nie wieder ein Wort über Wales, ihre Familie, nichts.«

»Hast du deine Großeltern mal gesprochen?« Doug winkte einem Studenten zu, der ihm signalisierte, dass sie Hilfe brauchten.

Caron seufzte. »Da war ich zehn. Ich erinnere mich nur an eine nörgelige alte Frau in einem Seniorenheim. Meine Mutter war sehr schlecht drauf, und wir sind sofort wieder nach Hause gefahren. Es könnte mir egal sein, weißt du. Aber …«

Er nickte und strich ihr über die Schulter. »Aber dir fehlt ein Baustein in deiner Lebensgeschichte, oder zumindest hast du das Gefühl.«

»Nicht nur das. Meine Albträume und diese absurde Angst vor Gewitter. Ich weiß, dass es etwas mit meiner frühen Kindheit zu tun hat. Und vielleicht ist das hier eine Chance.« Sie schwenkte den Brief.

Nachdenklich blickte Doug über den weiten Rasenplatz, der von riesigen Fichten, Zedern und jenem mächtigen Ahorn begrenzt wurde. Der Naturpark mit zahlreichen Wildtieren war ein Ort der Inspiration für die Künstler.

»Eine Chance, vielleicht. Aber wenn deine Mutter dir aus gutem Grund nichts über ihre Familie erzählt hat? Vielleicht will sie dich beschützen. Hast du das bedacht?«

»Das Risiko muss ich eingehen. Ich kann so nicht weitermachen. Das wissen wir beide. Dieser dunkle Knoten in mir, der mir die Luft nimmt und mir die Energie zum Leben raubt. Ich will …« Hilflos rang sie die Hände und sah ebenfalls zu den wogenden Baumkronen, atmete den Duft der Fichten ein. »Ich will das hier nicht aufgeben, jedenfalls nicht für immer, Doug.«

»Du hast dich also schon entschieden. Wann fliegst du?«

»Nach dem Wintersemester.«

2

Tregaron House, Llyn Peninsula, Wales,

Gegenwart

Als sie nach dem langen Flug in Manchester aus dem Flughafengebäude getreten und von Nieselregen und grauen Wolken begrüßt worden war, hätte sie ihre Entscheidung fast bereut. Doch kaum war sie mit ihrem Mietwagen unterwegs – an den Linksverkehr hatte sie sich bald wieder gewöhnt –, stieg ihre Laune. Sie hatte sich für die schnellere Route über die A55 entschieden und im walisischen Hafenstädtchen Conwy eine Pause gemacht. Am Meer war der Himmel aufgerissen, und die Februarsonne tauchte die Bucht mit den hübschen, kleinen Häusern und der Burg in weiches Licht. Ein kalter Wind blies ihr salzige Seeluft ins Gesicht. Caron zog die Kapuze über ihre Haare und den Reißverschluss ihres Parkas bis unters Kinn. Wenn sie etwas nicht vermisst hatte, dann war es das englische Wetter.

Sie holte tief Luft und nahm das Glitzern des Meeres, die bunten Häuser und die Hügel mit ihren braunen und grünen Schattierungen wahr. In ihrem Innern verschmolzen Farben und Formen zu einem abstrakten Gebilde, das sie als Entwurf abspeicherte, um es später zu skizzieren. Schon lange hatte eine Landschaft nicht so viele Emotionen in ihr hervorgerufen und sie künstlerisch so gereizt wie diese walisische Küste. Sie nahm das als gutes Vorzeichen.

In Trefor bog sie nach Süden ab. Die schmale, kurvige Straße durch das Landesinnere der Halbinsel Llyn zeigte das ländliche Wales in seiner ganzen Kargheit. Doch auch das hatte seinen Reiz, dachte Caron und sortierte vor ihrem inneren Auge die Felsformationen, die einsamen, weißen Gehöfte und die Steinwälle zwischen den Feldern als verschiedenfarbige Glasstücke. Der nächstgrößere Küstenort auf ihrer Strecke war Pwllheli. Ein Hafen deutete auf den sommerlichen Segelbetrieb hin, doch Caron ließ die Buchten mit ihren malerischen Klippen und Sandstränden außer Acht und hielt nach einem Hinweisschild für das Herrenhaus Plas-Gelli-Wen Ausschau. Dort im Café wartete der Anwalt auf sie, um ihr Tregaron House zu zeigen.

An der Tankstelle vor Llanbedrog abbiegen, hatte der Anwalt auf seinem letzten Schreiben vermerkt. Für ihre Entscheidung, erst nach Semesterende zu kommen, hatte er Verständnis gezeigt. Überhaupt schien er ein freundlicher Mensch zu sein. Immerhin, dachte Caron, bei Anwälten konnte man nie wissen, was sie im Schilde führten. Ihre Eltern betrieben eine Wäscherei in London und hatten sich mehrfach mit säumigen Zahlern herumärgern müssen. Letzten Endes hatten die Anwälte viel Geld für ihre Briefe genommen und nichts bewirkt.

Das musste die Tankstelle sein. Caron trat auf die Bremse, was den hinter ihr fahrenden Pick-up zu heftigem Hupen veranlasste. Die Bäume streckten ihre Äste weit über die Straße und mochten im Sommer ein grünes Dach bilden. Nach einem halben Kilometer machte die Straße eine scharfe Rechtskurve, und mächtige, alte Fichten säumten die Seiten. Zur Landseite hin stieg der Boden an, und zur Meerseite wurde es abschüssig. Caron konnte das Meer in der Ferne sehen. Und dann tauchten plötzlich zwei steinerne Löwen zu beiden Seiten des Weges auf und markierten die Einfahrt zum Herrenhaus. Plas-Gelli-Wen stand auf einem beleuchteten Aluminiumschild, und darunter: Galerie und Café.

Es war mitten in der Woche, und auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos. Caron stieg aus und fand sich einem beeindruckenden neugotischen Herrenhaus aus grauem Stein gegenüber. Das dreistöckige Gebäude erhob sich vor einem bewaldeten Hügel und wirkte mit den zahlreichen viktorianischen Schornsteinen und den spitzbogigen Fenstern düster und einschüchternd. Das Café befand sich in einem Wintergarten, dessen Terrasse in einem Rosengarten lag. Caron hörte das Rauschen der See und drehte sich um.

Der Ausblick war atemberaubend. Das Parkgelände fiel terrassenförmig zum Strand ab. Rasenflächen, Buchshecken und Baumgruppen wiesen spielerisch den Weg zur Bucht, die auf einer Seite von hohen Klippen gerahmt wurde.

»Caron Bevans?«, rief eine männliche Stimme, und Caron drehte sich wie ertappt um.

Ein elegant gekleideter älterer Herr kam vom Wintergarten auf sie zu. Er trug eine Tweedmütze und einen karierten Schal zu seiner Wachstuchjacke, ein weißer Bart zierte sein Kinn.

»Mr Edwards?« Sie ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, die er freundlich schüttelte.

»Hatten Sie einen guten Flug? Aber kommen Sie erst einmal herein, Bri wird uns einen Kaffee machen.«

Sie tauschten Höflichkeiten aus, und Caron nahm die neue Umgebung in sich auf. Das Café war modern eingerichtet und mit Gemälden, Schwarzweißfotografien und Kunstobjekten dekoriert. Hinter einem Kuchentresen stand eine große, schlanke Frau mit flammend roten Haaren.

»Bri, darf ich dir unseren Gast aus Amerika vorstellen? Caron Bevans.«

Die Augen der Rothaarigen leuchteten auf. »Freut mich sehr, Caron. Dieser alte Kasten ist nicht nach jedermanns Geschmack, aber wir haben ihm wieder Leben eingehaucht, nicht wahr, Stan?«

Der Anwalt nickte. »Briony und ihr Bruder Logan leiten die Galerie, den Shop und das Café. Aber das zeige ich Ihnen alles später, Caron. Möchten Sie etwas essen? Die Kuchen sind hausgemacht.«

»Das Angebot ist momentan eher überschaubar, aber das ist auch die Zahl der Gäste.« Briony lachte und zeigte perlweiße Zähne. Sie war attraktiv und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, um das Caron sie beneidete. »Lemoncake oder ein Scone? Der Himbeerkuchen ist vegan.«

»Ein Scone, bitte. Die vermisse ich in Amerika. Und einen doppelten Espresso.« Caron folgte Edwards an einen Tisch am Fenster und schaute auf einen gusseisernen Ofen, in dem ein Feuer brannte. »Es ist sehr schön hier, Mr Edwards, Sie haben nicht zu viel versprochen.«

»Sagen Sie ruhig Stan, bitte.« Er zog eine Ledermappe aus seiner Aktentasche, die unter dem Tisch gestanden hatte, und schlug sie auf. »Es gibt noch einiges, das ich Ihnen erklären muss …«

In diesem Augenblick kam Briony mit dem Kaffeetablett. Als sie es abstellte, klappte der Anwalt die Mappe zu.

Briony seufzte. »Ach, komm schon, Stan, wir wissen doch alle, dass mein Onkel ihr das Haus vermacht hat. Der alte Geheimniskrämer hat immer gern viel Wind um alles gemacht.«

Als Stan sie strafend ansah, zuckte sie mit den Schultern und stellte die Tassen und Teller hin. »Bin schon weg.«

»Ihr Onkel?« Caron gab einen vollen Löffel Zucker in ihren Espresso.

»Ach, was soll’s, Sie werden es ohnehin bald erfahren. Ja, Brynmore Bowen war ihr Onkel. Briony und Logan sind die Kinder seines Bruders Cecil, der ebenfalls schon verstorben ist.« Er schien eine Reaktion von ihr zu erwarten.

»Ich kannte den Mann nicht und bin neugierig, warum er ausgerechnet mir ein Haus vermacht. Ist es wegen der Familie meiner Mutter? Die stammt aus Wales.«

Stanley klappte die Mappe wieder auf. »Nein, es verhält sich etwas anders, aber ich bin froh, dass Sie ohne Vorurteile hergekommen sind. Das erleichtert alles.«

»Hm, ohne Vorurteile, aber mit vielen Fragen.« Caron bestrich ihr Scone mit Butter und biss in den weichen Teig.

Vor dem Haus ging Edwards mit ihr zu einer riesigen Zeder. Der große, weit ausladende Baum stand auf einer Rasenfläche, die terrassenförmig zum Strand hinunterführte. Stanley Edwards schlug mit der flachen Hand gegen die Rinde. »Dieser Baum kommt aus Kalifornien und wurde vor über hundert Jahren von Brynmore Bowens Großvater Lawrence gepflanzt.«

»Ein weiter Weg für einen Baum«, meinte Caron. »Bei uns in Pilchuck stehen auch so alte Bäume. Ich mag das, wenn Dinge eine Geschichte haben.« Und ich möchte meine endlich herausfinden, dachte sie.

»Pilchuck, die Glasschule, ja? Da sind Sie zu Hause?«

Er hörte genau hin, und sie nahm sich vor, ihre Worte zukünftig besser abzuwägen. »Da fühle ich mich wohl. Das ist entscheidend, oder nicht?«

Stanley warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »In gewisser Weise. Wohl fühle ich mich auch in meinem Ferienhaus in Cornwall, aber mein Zuhause ist es nicht.«

»Wie Sie meinen.« Nervös verlagerte sie das Gewicht von einem Bein aufs andere. Sie fühlte sich ein wenig unwohl unter seinem prüfenden Blick. Sie wusste, was er sah – ein gerades Profil, hellblaue Augen und einen breiten Mund, der nicht genug lächelte. Das behauptete zumindest Doug. Ihr Körper war kantig, muskulös, das brachte die Arbeit am Glasofen mit sich. Und ihre Unterarme und Handgelenke waren von Brandwunden übersät, ein Tribut, den jeder Glaskünstler seiner Arbeit zollte.

»Das alles hier, die ganze Bucht, der Wald hier unten, der Park bis hinauf zu den Klippen und das Land bis Pwllheli hat einmal den Bowens gehört.« Stan breitete die Arme aus.

»Ich wette, das hat den Herrschaften damals gefallen. Heute gehört der Strand allen, nehme ich an.« Sie schaute auf die hufeisenförmige Bucht und entdeckte eine Linie bunter Strandhäuschen.

»Natürlich. Auch das Land ist jedem zugänglich. Das war Brynmore wichtig. Kommen Sie, wir müssen dort hinauf.« Ein steiler Pfad verlor sich den Hang hinauf in den Wald.

»Ernsthaft? Es gibt nur diesen Zugang zum Haus?«

»Früher war das tatsächlich so, aber es gibt noch eine Zuwegung. Die könnte befestigt werden, falls Sie Interesse haben.«

Ein einsames Haus auf einer Klippe, zum Arbeiten wäre das genau richtig, dachte Caron. Nach einem zehnminütigen Fußmarsch öffnete sich der Mischwald zu einer Lichtung, und sie traten auf ein Plateau, von dem aus man einen weiten Blick über die Bucht und auf das Herrenhaus hatte.

»Darf ich vorstellen, Tregaron House!«, sagte Stanley nicht ohne Stolz.

Ein kleines, einstöckiges Haus aus dem grauen Stein der Gegend schaute mit weiß gestrichenen Sprossenfenstern und einer ebenfalls weißen Tür auf die See. Es war von einem liebevoll strukturierten Garten umgeben, und hinter dem Haus schien Wasser zu fließen.

»Verläuft da ein Bach?« Caron ging auf das Haus zu, das ihr auf den ersten Blick gefallen hatte, und entdeckte ein Rinnsal, das aus dem Fels in ein steinernes Bassin plätscherte.

»Das ist einer der Vorteile von Tregaron House. Es hat eine eigene Quelle. Es ist relativ gut in Schuss und wurde gelegentlich als Atelier und Unterkunft für die Künstler genutzt, die unten im Herrenhaus ausstellten.«

Caron sah vom Haus zum Meer, hinunter zum Wald und hinauf zu den Felsen. »Ein perfekter Ort zum Arbeiten.«

Der Anwalt nickte zufrieden. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Innere.«

Caron steckte die Hände in die Taschen des Parkas und folgte Edwards drei Stufen hinauf.

»Das Haus steht unter Denkmalschutz. Die Schieferplatten sind aus dem hiesigen Steinbruch, die Holzbalken aus Fichten der Halbinsel. Aber bitte, kommen Sie nur.« Er ließ sie durch einen Windfang treten, dessen Wände rau und weiß gekalkt waren.

Alles in dem Haus strahlte Tradition aus und schien die Geschichte seiner früheren Bewohner erzählen zu wollen. Im Eingangsbereich stand in einer Holzvase ein Strauß getrockneter Lavendel, schwarze Balken und weiße Decken und Wände hatten, genau wie die antiken Holzmöbel, etwas Quäkerhaftes. In der Küche stand ein alter, gusseiserner Herd, den Caron fasziniert berührte.

»Lässt der sich noch befeuern?«

»Aber ja, Sie können mit Kohle oder Holz kochen. Auch die Öfen in den Räumen sind funktionsfähig. Nun, es gibt noch keine Zentralheizung.«

Strahlend sah Caron ihn an. »Als ob mich das stören würde!«

Ihre Begeisterung für das alte Haus wuchs mit jedem Raum, den sie betrat. Im ersten Stock gab es zwei große Schlafräume und ein Bad mit einer freistehenden Wanne. »Und was ist mit dem Wohnzimmer? Das haben Sie mir vorenthalten. Da liegt der Haken, oder?«

Stanley Edwards schüttelte kaum merklich den Kopf und ging mit ihr die Treppe hinunter in das Erdgeschoss, wo er eine Tür aufstieß und zur Seite trat. »Nach Ihnen.«

Caron schluckte und fuhr sich nervös durch die Haare. Eine unbestimmte Furcht bemächtigte sich ihrer Glieder und ließ ihr Herz schneller schlagen. Langsam betrat sie einen rechteckigen Raum, der von einem offenen Kamin dominiert wurde. Durch das Sprossenfenster und grob gewebte Gardinen fiel gedämpftes Licht auf ein graublaues Sofa, einen beigefarbenen Sessel und einen niedrigen Tisch, auf dem ein Glasobjekt stand – eine schwere Schale aus rauchblauem Glas. Da es ihr erstes großes Stück gewesen war, das sie in Pilchuck gefertigt hatte, war sie immer besonders stolz darauf gewesen und hatte sich gefragt, wer es erstanden hatte. Doch der Käufer hatte anonym bleiben wollen.

Ein Zittern durchlief ihre Hände, als sie sich bückte, um über das Glas zu streichen. »Dass wir uns einmal wiedersehen …«

Ein Prickeln in ihrem Nacken ließ sie den Kopf heben. Sie wandte sich zur Seite. Und dann sah sie es. An der Stirnwand des Raumes hing das Porträt einer jungen Mutter mit einem Kleinkind im Arm. Das streng nach hinten frisierte Haar und ihr dunkles Kleid entsprachen der Mode des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Jemand mit einem guten Gespür für die Wirkung von Licht und Schatten hatte das Bild genau so gehängt, dass das Tageslicht das Gesicht der jungen Mutter erhellte. Ihr hellblondes Haar schimmerte beinahe silbrig, aber das Erstaunlichste waren die blauen Augen, die unergründlich wie das Meer schienen.

Für einen Moment vergaß Caron zu atmen und musste tief Luft holen. »Sie sieht aus wie ich …«, flüsterte sie.

3

Der Anwalt hatte die Hände in seine Jackentaschen gesteckt und sah sie unverwandt an. »Deshalb sind Sie hier, Caron.«

»Weil ich aussehe wie die Frau auf dem Bild dort? Wann wurde es gemalt?« Sie trat dichter an das Gemälde, konnte jedoch keine Jahreszahl und nur ein Kürzel entdecken. »LP. Wer ist das? Ein Maler hier aus der Gegend?«

»Das Bild tauchte auf einer Auktion in Los Angeles auf. Brynmore hatte kurz zuvor ein Foto von Ihnen auf einer Ausstellung in Chicago gesehen.«

Skeptisch löste Caron den Blick von dem Gemälde und trat zur Seite. »Dieser Brynmore kauft meine Schale, findet, dass ich aussehe wie diese Dame dort, von der er selbst nicht wusste, wer sie war, und schon vermacht er mir ein Haus. Kommen Sie, Stan …« Sie legte den Kopf schief. »Es muss mit der Familie meiner Mutter zusammenhängen.«

»Brynmore Bowen war ein Exzentriker, und selbst ich, der ich zu den wenigen Menschen gehörte, denen er vertraute, kannte immer nur einen Teil seiner Persönlichkeit. Er ließ mich sehen, was ihm gerade nötig und bedeutsam erschien. Aber viele seiner Geheimnisse hat er mit ins Grab genommen.« Stan legte ihr die Hand auf die Schulter. »Caron, das Leben ist nicht vorhersehbar, niemals, auch wenn wir das denken oder es uns wünschen. Und wenn uns plötzlich eine Chance geboten wird, sollten wir zumindest in Erwägung ziehen, sie zu nutzen. Bitte, hören Sie mir zu. Er hat mir aufgetragen, Ihnen diese Zeilen vorzulesen, wenn wir vor dem Gemälde stehen.«

Der Anwalt zog einen Briefbogen aus der Innentasche seiner Jacke, entfaltete ihn und sah sie mit einem vielsagenden Lächeln an. »Immerhin haben Sie seine Einladung angenommen.«

Als Caron bedächtig nickte, begann er zu lesen: »Meine liebe, verehrte Mrs Bevans. Sie haben das Haus gesehen, den Garten und das Meer. Welcher Ort könnte besser für eine Künstlerin geeignet sein, um sich in Ruhe ihrer Arbeit zu widmen? Mir ist nicht das Talent geschenkt worden, Kunstwerke zu schaffen. Vielleicht wäre ich ein besserer Mensch geworden, hätte ich die Menschen mit meiner Musik oder meinen Bildern erfreuen können. Mir war jedoch nur ein Talent gegeben: ein untrügliches Gespür für ein gutes Geschäft. Für einen saftigen Profit habe ich alles getan und mit Sicherheit mehr Menschen unglücklich gemacht, als ich überhaupt weiß.

So ist es nun einmal. Was geschehen ist, kann ich nicht rückgängig machen. Aber Geld ist Fluch und Segen zugleich, und in den richtigen Händen kann es durchaus Gutes bewirken. Neben meinem Geschäftssinn habe ich auch einen Sinn für das Schöne und zeit meines Lebens Kunst gesammelt. Sie rümpfen die Nase und denken sich, ach ja, die reichen Leute schmücken sich gern mit Kunst, um sich selbst aufzuwerten.«

Ertappt presste Caron die Lippen zusammen und nestelte an ihrem Schal.

»Ich hatte schon immer ein Faible für Glas. Natürlich begann ich mit Glaskunst aus Murano, aber schon bald interessierten mich die jungen, unkonventionellen Künstler mehr, und ich entdeckte Ihre Werke. Stan wird Sie nachher durch die Galerie führen und Ihnen meine kleine Sammlung zeigen. Und als ich Ihr Foto und das Gemälde sah, wurde mir wieder einmal bewusst, dass es keine Zufälle gibt. Ich glaube nicht an Gott, nicht einmal jetzt, da meine Lebenszeit aufgebraucht ist. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Dinge aus einem bestimmten Grund passieren und dass es an uns ist, ihre Bedeutung zu erkennen. Ich hätte weiter Ihre Kunstwerke kaufen und mich daran erfreuen können. Aber die frappierende Ähnlichkeit im Ausdruck der jungen Mutter auf dem Gemälde mit Ihnen hat mich nicht losgelassen.

Zum jetzigen Zeitpunkt muss Ihnen genügen, dass diese Ähnlichkeit nicht zufällig ist. Ich schenke Ihnen die Möglichkeit, sich selbst zu finden, meine liebe Mrs Bevans. Lesen Sie das Tagebuch des Malers. Finden Sie heraus, wer die Frau ist, und Sie werden Ihr Leben mit anderen Augen sehen. Sie haben ein Jahr Zeit. Wenn Sie die Geschichte des Gemäldes zur Zufriedenheit von meinem lieben Freund und Anwalt, Stanley Edwards, aufklären können, gehören Ihnen Tregaron House und eine nicht unbeträchtliche Summe. Bis dahin dürfen Sie hier wohnen und verfügen über ein Budget, das Ihnen die Unabhängigkeit schenkt, die man für eine solche Recherche benötigt. Ach ja, und vergessen Sie nicht, dass in der Galerie eine Einzelausstellung mit Ihnen geplant wird.«

Stanley zog ein in Leder gebundenes Buch, das mit einer Schnur umwickelt war, aus seiner Aktentasche und übergab es ihr feierlich.

Erstaunt wollte Caron etwas sagen, doch Stanley fuhr fort: »Lesen Sie, vielleicht beantworten sich einige Ihrer Fragen von selbst. Was auch immer Sie für Ihre Arbeit benötigen, man wird es für Sie herbeischaffen. Haben Sie Bedenken?«

»Wenn ich nicht herausfinde, wer die Frau ist?«

»Nun, dann hatten Sie zumindest eine Einzelausstellung, zu der Galeristen aus London, Paris und Berlin kommen, und haben das Jahr hier hoffentlich zu Ihrer künstlerischen Weiterentwicklung nutzen können.« Der Anwalt sah auf sein vibrierendes Mobiltelefon. »Meine Tochter. Bitte entschuldigen Sie mich.« Er nahm das Gespräch an und sagte im Hinausgehen: »Katie, was für eine schöne Überraschung.«

Caron stand allein vor dem Gemälde und betrachtete die Frau, die ihr Spiegelbild sein konnte. Ob sie überhaupt wollte, dass man ihr Geheimnis lüftete? Sie hielt das Tagebuch in Händen und strich über das brüchige Leder. Nun, das würde sie in aller Ruhe lesen müssen. Sie berührte den Bilderrahmen und hob das Bild leicht an. Es wirkte alt und authentisch. Wenn es eine Fälschung war, dann eine sehr gute.

»Das Bild ist echt, Caron.« Stanley war wieder hereingekommen. »Sie wissen nicht, was Sie von der Sache halten sollen? Es ist so, wie ich es Ihnen geschildert habe. Die Bedingungen sind einfach, und Brynmore war mein Freund und genoss mein Vertrauen, so wie Sie meinen Worten vertrauen können.«

Sie mochte das Haus und ganz besonders diesen Raum. Er gab ihr das Gefühl, willkommen zu sein, was ungewöhnlich war. Aber was an dieser Situation war gewöhnlich?

»Ja.« Sie wandte sich um und streckte Stanley die Hand entgegen. »Ich werde es versuchen.«

Erleichtert seufzte Stanley auf und schüttelte lächelnd die dargebotene Hand. »Ich bin sehr froh, dass Sie bleiben wollen.«

»Nur eine Sache.« Caron ließ seine Hand los. »Was wäre, wenn ich nein gesagt hätte?«

Er hob die Schultern. »Das Haus bliebe weiter ein Gästehaus und das Gemälde einfach nur das Porträt einer Unbekannten. Ohne Sie bleibt es bedeutungslos.«

»Jemand anderes könnte …«

»Nein, das ist nicht vorgesehen. Noch etwas?«

»Gibt es hier in der Nähe eine Werkstatt mit einem Brennofen? Hier oben würde ich gern vor der Lampe arbeiten, also vor einer Gasflamme. Wir nennen das Lampe«, fügte sie erklärend hinzu.

»Unten im Haupthaus gibt es ein Atelier und eine Werkstatt. In Plas-Gelli-Wen werden regelmäßig Workshops veranstaltet. Briony wird Ihnen gern alles zeigen. Einen Gasbrenner und was Sie sonst benötigen lasse ich Ihnen hier heraufbringen. Machen Sie einfach eine Liste und geben Sie die Briony.«

»Eine Liste, einfach so. Hören Sie, Stan, ich habe gelernt, dass es nichts umsonst gibt. Niemand verschenkt …«, setzte sie an, doch Stan runzelte leicht ungeduldig die Stirn.

»Ich habe Ihnen die Bedingungen von Brynmores Nachlass vorgelesen. Es war sein Wunsch, dass Sie hier leben und arbeiten. Ich habe noch eine Verabredung. Warum gehen wir nicht hinunter, Sie überlegen sich, was Sie hier oben brauchen, sprechen mit Briony und richten sich ein wenig ein. Oder gehen Sie spazieren. Die Gegend hier ist sehr schön.« Er ging zur Tür, und Caron folgte ihm, nachdem sie das Tagebuch auf den Tisch gelegt hatte.

»Haben Sie Verpflichtungen in der nächsten Zeit?« Sie traten nach draußen, wo sie von frischer Seeluft empfangen wurden.

Der Wind rauschte über die Klippe und vermischte sich mit dem Plätschern der Quelle. Caron erschauerte. Es erschien ihr alles so unwirklich, beinahe bizarr. Ihr bisheriges Leben hatte stets aus Kämpfen bestanden. Seit ihrer Kindheit war ihr nichts in den Schoß gefallen. Alles, was sie erreicht hatte, verdankte sie ihrer Willens- und Schaffenskraft. Und darauf war sie stolz.

»Nur mir selbst gegenüber«, murmelte Caron und strich sich eine hellblonde Strähne hinter das Ohr.

Stan zog seine Mütze in die Stirn und schritt beschwingt durch den Garten. »Das scheint mir kein Grund, dieses großzügige Angebot auszuschlagen.«

Caron lachte. »Schon gut. Sie haben mich an der Angel.«

Trotz seines Alters war Stan überraschend schnell auf dem unebenen, feuchten Pfad unterwegs, und Caron verlor ihn nach einer Biegung aus den Augen. Von oben wand sich ein Pfad durch den Wald und kreuzte ihren Weg an einer Lichtung mit mehreren Oleanderbüschen. Wenn diese in Blüte stehen, muss das ein Farben- und Duftrausch ohnegleichen sein, dachte Caron und wäre beinahe mit einem Mann zusammengestoßen, der im Eilschritt den Berg heruntergelaufen kam.

»Wow, Vorsicht!« Caron konnte gerade noch ausweichen. »Trainieren Sie für den Ironman, oder wie?«

Der Fremde schien genauso überrascht wie sie, musterte sie jedoch amüsiert und nicht verärgert. Er hatte dunkle Augen, einen breiten Mund und dichte, dunkle Locken, die er sich aus dem Gesicht strich. »Dasselbe könnte ich Sie fragen.«

»Würden Sie im Parka für einen Marathon trainieren?« Sie hob eine Augenbraue und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Der Mann mochte Mitte dreißig sein, sein Rucksack und die schmutzigen Stiefel deuteten auf einen Wanderer hin.

»Caron? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?« Stan kam langsam den steilen Pfad hinauf und hielt inne, als er sie in Gesellschaft des Unbekannten entdeckte. »Ach, Sie haben schon den wichtigsten Mann hier oben kennengelernt. Hêlo, Ioan!«

Der Angesprochene grinste breit. »Hêlo, Stan. Danke für die Blumen.«

»Ich darf Ihnen Ioan Gravenor vorstellen, Caron«, sagte Stan. »Er kümmert sich um den Park und die Gärten des National Trust auf der Llyn. Und Caron wird einige Zeit in Tregaron House verbringen.«

Ioan reichte ihr die Hand und musterte sie mit wachsendem Interesse. »Sie sind das also. Tregaron House ist etwas Besonderes. Sie haben Glück.«

Sein Griff war fest und warm. »Vielleicht hat das Haus auch mit mir Glück.«

»Tja, das werden Sie beweisen müssen, Caron. Ich kenne das Potenzial des Hauses, Ihres nicht.«

Stan lachte. »Das ist ihr erster Tag, Ioan. Verschreck sie nicht gleich. Ich bin froh, dass ich sie zum Bleiben bewegen konnte.«

»Freut mich, ehrlich. Wir werden uns sicher noch öfter über den Weg laufen, Caron.« Er betonte ihren Namen auf eine seltsame Weise, nickte Stan zu und lief weiter den Hügel hinunter.

Fragend sah sie Stan an. »Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«

»Ihr Name, Caron. Wissen Sie nicht, was Tregaron House im Walisischen bedeutet?«

»Nein, woher denn?«

»Nun, es heißt das Haus von Caron.«

»Tatsächlich. Was für ein merkwürdiger Zufall.« Eine Gänsehaut rieselte ihre Arme entlang, und sie hielt energisch mit dem Anwalt Schritt.

»Tja, das kann man so und so sehen. Ich würde es Schicksal nennen. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, als Brynmore mir seine Wünsche mitteilte. Wir saßen in Plas-Gelli-Wen in seinem Wohnzimmer vor dem Kamin und hatten schon das eine oder andere Glas Rotwein zu viel getrunken. Erst dachte ich, dass er einen Scherz mache, aber es war ihm sehr ernst mit seiner Entscheidung. Nein, sagte er, dieses Haus ist für Caron Bevans bestimmt, und wenn sie es nicht will, bekommt es niemand.«

Stan blieb kurz stehen und berührte ihren Arm. »Er hatte Sie gern, Caron. Das mag seltsam klingen, weil Sie ihm nie begegnet sind, aber er war auf Ihren Ausstellungen, und er schätzte Ihre Arbeiten.«

Caron suchte in ihren Erinnerungen nach Gästen, die ihre Vernissagen besucht hatten. »Haben Sie ein Foto von ihm? Vielleicht habe ich ihn gesehen? Für Gesichter habe ich ein gutes Gedächtnis. Für Namen weniger.« Sie setzten ihren Weg fort.

»Bryn hasste Fotos von sich. Er hielt sich lieber im Hintergrund. Belassen Sie es dabei. Haben Sie schon eine Idee für eine neue Arbeit?«

Die hatte sie tatsächlich, und als sie vor dem Herrenhaus ankamen, kreisten ihre Gedanken bereits um die Werkstatt und die Möglichkeiten, die sich ihr nun boten.

Stan reichte ihr den Schlüssel zu Tregaron House. »Man kann vieles über Brynmore sagen, aber er verfügte über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Sie haben meine Telefonnummer. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie etwas benötigen oder Probleme auftauchen. Ah, da kommt Briony.«

Caron drehte verlegen den Schlüssel in den Händen. »Hallo, Briony. Wie es aussieht, haben Sie eine neue Nachbarin …«

Die junge Frau strahlte sie an und breitete die Arme aus. »Herzlich willkommen, meine Liebe!«

Nachdem sie die überraschte Caron auf beide Wangen geküsst hatte, sagte sie: »Bitte, nenn mich Bri. Ich freue mich sehr, dass du bleibst! Es kann manchmal recht einsam hier draußen sein, und außerdem liebe ich es, den Künstlern bei der Arbeit zuzuschauen. Es gibt kaum etwas Faszinierenderes, als der Entstehung eines Kunstwerks beizuwohnen. Jedenfalls nicht für mich. Oh, da kommt mein Bruder.« Sie winkte einem großen Mann, der ihr sehr ähnlich sah.

Langsam und mit federnden Schritten schlenderte der Rothaarige auf sie zu.

Briony lächelte etwas genervt und sagte leise in verschwörerischem Ton: »Er war mal Balletttänzer, bis ihm eine Verletzung dazwischenkam. Hey, Logan, wir haben einen neuen Gast. Caron ist ins Gästehaus gezogen.«

Die Neuigkeit schien den verhinderten Tänzer weder zu freuen noch zu interessieren. Mit gleichmütiger Miene und in den Hosentaschen vergrabenen Händen stellte er sich neben seine Schwester und nickte erst Stan zu, bevor er Caron einer kritischen Musterung unterzog.

»Hêlo, Stan. Immer hübsch artig Befehle ausführen. Aber als Anwalt fällt ja auch eine dicke Scheibe für dich ab. Na, was hat der alte Teufel sich für Sie ausgedacht?«, wandte sich Logan an Caron.

»Äh, ich verstehe nicht …«, erwiderte Caron unangenehm berührt.

»Ach, Logan, hör auf damit. Sonst verschreckst du Caron noch. Sie ist gerade erst angekommen«, sagte Briony diplomatisch und hakte sich bei ihrem Bruder unter.

Logans Züge entspannten sich ein wenig. Er drückte Bri kurz an sich und reichte Caron die Hand. »Willkommen im Haus der Wahnsinnigen.«

Sein Händedruck war fest, und er schien sich über Carons Verunsicherung zu amüsieren: »Nun, man muss schon ein wenig verrückt sein, das ganze Jahr über hier in dieser Einsamkeit zu leben, nicht wahr?«

»Oh, ach so, aber zum Arbeiten scheint es mir genau richtig.«

»Gut, wie gesagt, rufen Sie mich bei Bedarf an, und ihr kümmert euch um unseren Gast, ja?« Der Anwalt rückte seine Mütze gerade und klemmte seine Tasche unter den Arm. »Im Übrigen wohne ich gleich dort unten.«

Die Geschwister nickten. »Ja ja, mach dir keine Sorgen, bei uns ist sie gut aufgehoben.« Briony deutete zum Haus. »Na komm, Caron. Wir zeigen dir den alten Kasten.«

4

»Wie flüssiges Silber sieht das Meer aus, finden Sie nicht auch, Mrs Tegg?« Ioan stand neben der alten Dame und schaute über die Bucht. Hell’s Mouth zeigte sich im Licht der untergehenden Sonne von seiner malerischen Seite und ließ die eisigen Winde und die stürmische See der vergangenen Tage vergessen.

Bethany Tegg zog den dicken Schal enger um die gebeugten Schultern und nickte verträumt. »Mein Lieber, Sie haben eine bezaubernde Art, die Dinge zu beschreiben, die Sie sehen.«

»Aus Ihrem Mund ist das ein großes Kompliment, denn ich weiß, dass Sie die Natur genauso lieben wie ich. Was sagen Sie zu meinem Entwurf für den nördlichen Teil des Gartens? Ein eckiges Wasserbassin. Das Eisen wird mit der Zeit rötlich orange oxidieren, und ringsum lassen wir japanische Iris und Federgras blühen. Etwas Ähnliches habe ich im vergangenen Jahr in Yorkshire gemacht. Es funktioniert überraschend gut!« Er warf einen prüfenden Seitenblick auf die alte Dame neben sich, die sich für robuster hielt, als sie war. Erst vor einem Monat hatte sie sich eine schwere Erkältung zugezogen, weil sie den ganzen Weg hinauf nach Rhiw im Schneeregen gelaufen war.

Beth Tegg lachte heiser. »Sie müssen mich nicht von Ihren Fähigkeiten überzeugen, lieber Ioan. Mir gefallen alle Ihre Entwürfe. Sie haben doch erst dieses blühende Kunstwerk aus meinem schäbigen Garten gemacht. Aber ich habe einfach kein Geld für solche Spielereien. Das Dach muss repariert werden, und die Heizung ist defekt.«

»Die Heizung jetzt auch noch? Haben Sie das Ihrem Enkel gesagt? Marcus kümmert sich sofort darum, das weiß ich. Und für das Bassin finden wir eine Lösung …« Ioan nahm sich vor, Marcus später selbst anzurufen. Er kannte Beth Tegg inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie lieber fror, als ihren Enkel dauernd um Hilfe zu bitten.

»Marcus hat genug um die Ohren. Ich hoffe nur, dass ich noch miterlebe, wenn er endlich heiratet. Diese Lilian ist die Richtige für ihn.« Beth Tegg stieß mit ihrem Gehstock gegen die niedrige Mauer, die auch ausgebessert werden musste.

»Die beiden haben großes Glück, dass sie einander gefunden haben. Und wer hätte gedacht, dass Lilian sich so gut hier einleben würde. Oh, da fällt mir ein, dass wir einen neuen Gast in Plas-Gelli-Wen haben. Stan, der alte Geheimniskrämer, hat mir zumindest so viel erzählt, dass die zweite Erbin, die Brynmore Bowen zur Überraschung seiner Familie aus dem Hut gezaubert hat, eine Glaskünstlerin aus den Staaten ist.«

Es war noch immer sehr kalt, vor allem, wenn die wärmenden Sonnenstrahlen sich im Meer verloren. Heute Nacht würde es wieder Frost geben. Ioan kannte die Anzeichen der Natur, die viel früher auf Klimaveränderungen reagierte, als Messgeräte es anzeigten. Schon als Kind hatte er jede freie Minute im Freien verbracht, Pflanzen gesammelt und in Büchern gepresst, nicht immer zur Freude seiner Eltern. Er stammte aus einer Medizinerfamilie, und Botanik gehörte nicht zu den Fächern, die als wichtig genug angesehen wurden, um sie zu studieren. Anfangs hatte Ioan sich dem Willen der Familie gebeugt und fünf Semester Medizin studiert, doch heimlich besuchte er Vorlesungen über Botanik und Landschaftsarchitektur.

Sein Onkel Geoffrey verstand die Seelenqualen des Neffen und machte ihn mit einem der berühmtesten Landschaftsgärtner Englands bekannt. Lanning Roper hatte einen Teil von Windsor Great Park für die Queen gestaltet, erkannte Ioans Talent und ermunterte ihn, sein Studium aufzugeben, um sich ganz der Gartenkunst zu widmen. Onkel Geoffrey hatte ihm ein kleines Haus samt Garten mietfrei bei Pwllheli zur Verfügung gestellt. Hier verbrachte Ioan viel Zeit und legte seinen Experimentiergarten an.

Beth nahm seinen Arm. »Gehen wir hinein. Ich mache uns eine Tasse Tee. Eine Amerikanerin, sagen Sie? Hatte der alte Schwerenöter doch eine uneheliche Tochter drüben?«

Langsam gingen sie zurück zum Haus der alten Dame, das inmitten von alten Bäumen am Hang nahe Rhiw lag, umgeben von einem Garten, der bald auch ein Bassin haben würde. Das Haus der Keating-Schwestern, Plas-Yn-Rhiw, war in unmittelbarer Nachbarschaft und bescherte ihnen im Sommer eine große Zahl von Besuchern. Nach dem Tod der berühmten Schwestern waren das Haus und das dazugehörige Land dem National Trust übergeben worden. Auch diese riesige Gartenanlage betreute Ioan und hatte durch die Arbeit dort Beth kennen- und schätzen gelernt. Die förmliche Anrede zwischen ihnen war zu einem Spiel geworden, und er wusste, dass sie seine Aufmerksamkeit genoss.

»Ich weiß es nicht. Es scheint etwas anderes dahinterzustecken, wenn Sie mich fragen. Die junge Frau heißt Caron Bevans und ist in Tregaron House eingezogen.«

»Wirklich? Caron. Ob das ein Zufall ist? Aber so wie ich Brynmore in Erinnerung habe, hatte er einen Plan und amüsiert sich wahrscheinlich ganz köstlich da, wo er jetzt ist.« Beth Tegg stützte sich sorgsam auf ihren Stock und Ioans Arm, als sie die Stufen in ihren kleinen Garten hinunterkletterten.

»Als das Haus für ihre Ankunft hergerichtet wurde, habe ich ein Gemälde gesehen, das auf Stans Wunsch dort aufgehängt wurde. Wissen Sie, seit ich Caron gesehen habe, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf.«

Die kleinen Buchsskulpturen wirkten mit ihrer zuckrigen Frostglasur noch unwirklicher als ohnehin. Für Ioan konnte der Frühling nie früh genug zurückkehren, denn mit der neuen Jahreszeit kehrte das Leben in die Natur zurück.

»Warum?«, fragte die alte Dame.

»Es ist ein Porträt. Eine junge Mutter mit ihrem Kind. Vielleicht hundert oder hundertfünfzig Jahre alt. Ich bin kein Experte. Aber die Frau sah genauso aus wie Caron. Wirklich, die Ähnlichkeit ist schockierend!«

Beth Tegg blieb stehen. »Sieh einer an. Der alte Brynmore. Was hat er da nur wieder ausgeheckt? Das interessiert mich, mein Lieber. Sehr sogar.«

Ioan half ihr den schmalen Pfad zu ihrem Haus hinauf und öffnete die Tür. »Kennen Sie das Bild?«

»Ich weiß nicht. Ich müsste es sehen. Aber ich kenne die Bowens und ihre Intrigen … Was sagen denn die Zwillinge und ihre hochnäsige Mutter? Wissen Sie, man soll nicht schlecht über andere reden, aber zu Sylvia Bowen fällt mir leider nichts Freundliches ein.«

Ioan schloss die Tür hinter ihnen und ging voran ins Wohnzimmer, um den Ofen zu befeuern. Wenigstens in diesem Raum war es warm, aber das Schlafzimmer hatte keinen Ofen, und auch die übrigen Räume waren ausgekühlt und klamm. Als er hörte, wie Beth Tegg in der Küche zu hantieren begann, nahm er sein Mobiltelefon und wählte Marcus’ Nummer.

»Hêlo, Ioan! Was gibt es?«, meldete sich Marcus. Er schien im Auto unterwegs zu sein, denn das Radio lief und ein Hund bellte. »Fizz, sei ruhig, ich telefoniere. Lili ist mit meiner Schwester nach Porthmadog gefahren, und ich mache den Hundesitter.«

»Gut für die beiden. Marcus, ich bin gerade bei deiner Großmutter. Die Heizung ist defekt, und es ist schon ziemlich ausgekühlt hier.«

»Danke, dass du mir Bescheid gibst! Nana sagt nie etwas! Dabei weiß sie doch, dass es für mich oder einen der Jungs kein Problem ist, bei ihr vorbeizusehen. Sag ihr, dass ich heute Abend noch vorbeikomme, ja?«

»Okay. Hat Lili eigentlich etwas von der zweiten Erbin erzählt, die Bowen herbestellt hat? Die ist jetzt in Plas-Gelli-Wen eingezogen, vielmehr oben in Tregaron House.«

Marcus pfiff durch die Zähne. »Na, sieh einer an. Lili hat nichts gesagt, und so wie ich den Anwalt kenne, hat er auch nichts erzählt. Was macht sie denn für einen Eindruck?«

»Ich habe sie nur kurz gesehen. Nett, finde ich. Eine Glaskünstlerin. Kommt gerade aus den Staaten.«

»Eine Amerikanerin?« Leichte Missbilligung schwang in Marcus’ Stimme mit. Amerikanische Touristen gehörten nicht zu den beliebtesten Besuchern auf der Llyn, oft waren sie laut und achteten nicht auf die Natur.

»Nein, aus England, glaube ich.«

»Ioan, der Tee ist fertig!«, rief Beth aus der Küche.

»Ich hab’s gehört. Wie gesagt, ich komme später noch vorbei. Bis bald, Ioan!«, sagte Marcus, und die Verbindung wurde unterbrochen.

Marcus’ Großmutter schnitt Toastscheiben in perfekte kleine Dreiecke, belegte sie mit Gurkenscheiben und strich auf die eine Seite etwas Frischkäse, bevor sie die Minisandwiches zusammenklappte. »Sie müssen etwas essen, Ioan. Ein Mann muss essen. Das habe ich immer zu meinem Patrick gesagt, Gott hab ihn selig.«

Flink stapelte sie die Brotstücke auf einem Teller und reichte ihn Ioan. Er wartete, bis sie den Tee aufgegossen hatte, und nahm ihr den Milchkrug ab. Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, in dem ein Kanarienvogel aufgeregt in seinem Käfig hin und her hüpfte.

»Ja, mein Hübscher, ich lasse dich gleich fliegen.« Sie pfiff eine hübsche Melodie, die der Vogel mit schräg gelegtem Kopf anhörte, um sie dann zu wiederholen.

»Was für ein cleverer kleiner Bursche.« Ioan mochte Vögel, besonders Rabenvögel liebte er. Als Junge hatte er einen verletzten Raben gepflegt und den intelligenten Vogel nur ungern wieder in die Freiheit entlassen. Der Rabe war noch Jahre später immer wieder zu Besuch in seinen Garten geflogen.

Beth setzte sich in einen Sessel und überließ es kommentarlos Ioan, den Tee einzugießen und ihr einen Teller mit Sandwiches zu reichen. »Danke, und der Rest ist für Sie.«

Hungrig vertilgte Ioan das Brot, denn die Arbeit an der frischen Luft zehrte.

»Wie sieht sie denn aus, diese Glaskünstlerin?«, wollte Beth Tegg wissen.

»Sie hat blaue Augen, ihr Haar ist weizenblond. Und so sieht auch die Frau auf dem Gemälde aus. Die Ähnlichkeit war frappierend. Sonst wäre es mir nicht aufgefallen.« Die Fremde wäre ihm auch so aufgefallen. Sie war nicht auf herkömmliche Weise hübsch, sondern ungewöhnlich. Kantig wäre zu stark, aber sie strahlte eine innere Stärke aus, gleichzeitig lag in ihrem Blick eine Verlorenheit, die ihn an eine einsame Seele erinnerte. Er mochte sich irren, aber der erste Eindruck trog meist nicht.

»Sie mögen sie.« Beth hatte ihn beobachtet und schmunzelte.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe sie nur kurz gesehen.«

Beth Tegg war selbst einmal eine schöne Frau gewesen und hätte sicher ein anderes Leben als das einer Farmersfrau im kargen Nordwales führen können. Doch er hatte sie nie klagen hören. Nur wenn sie über ihre Begegnungen mit den Keating-Schwestern, deren mondäne Partys und die illustren Gäste aus aller Welt sprach, schimmerte eine unbekannte, vielleicht unterdrückte Beth durch die Worte. Es gehörte viel Mut dazu, die gewohnten Pfade zu verlassen, sich gegen die eigene Familie zu stellen und eventuell mit der Konsequenz leben zu müssen, alles zu verlieren, was einem einmal lieb und wichtig gewesen war. Bethany war in den Vierziger- und Fünfzigerjahren jung gewesen, und damals hatten Frauen kaum Möglichkeiten, eigene Wege zu gehen. Zumindest selten ohne die Unterstützung der Familie oder eines Ehemanns.

»Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Wann macht das Café in der Galerie wieder auf? Ich glaube, ich unternehme bald einmal einen Ausflug nach Llanbedrog. Wissen Sie, mir fehlt noch eine Glasschale für meine Anrichte …«

5

Die neugotische Fassade von Plas-Gelli-Wen war nicht weniger beeindruckend als das Innere des historischen Herrenhauses. Caron folgte den Geschwistern durch das Café in einen Laden, der regionale Produkte und Kunstgegenstände präsentierte.

»Die Touristen kaufen gern walisische Seifen, Honig und die Schlüsselanhänger aus Glas. Postkarten mit Reproduktionen von einheimischen Künstlern kommen ebenfalls gut an«, erklärte Briony.

Caron schnupperte an einer Rosmarinseife. »Hm, und vegan. Wer stellt die her?«

»Eine Farm ganz in der Nähe. Die machen das gut. Ich verkaufe nur, was ich kenne und guten Gewissens empfehlen kann.« Briony rückte ein Honigglas gerade.

»Du machst dir zu viele Gedanken, Bri. Die Touristen kaufen doch alles, Hauptsache es stammt aus Wales und sieht hübsch aus«, ätzte Logan.

»Nein, das stimmt nicht!«, widersprach seine Schwester. »Die Leute wissen genau, welche Inhaltsstoffe schädlich sind und was biologische Herstellung bedeutet.«

»Aber wenn die Sachen preisgünstiger wären, würdest du mehr verkaufen.«

»Qualität hat nun einmal ihren Preis. Was sagst du dazu, Caron?«

»Hm, schon. Ich verkaufe meine Werke auch nicht unter einem Mindestpreis. Dann behalte ich sie lieber.« Sie lächelte.

Logan machte eine theatralische Geste. »Na, da haben sich ja die Richtigen gefunden … Caron, wir sehen uns noch. Bri wird dir alles zeigen. Ich habe noch einen Haufen Bürokram zu erledigen.« Er verschwand durch eine Tür am Ende des Ladens.

»Habe ich ihn verärgert? Das wollte ich nicht.« Caron wusste nicht so recht, wie sie Logan einordnen sollte.

»Mach dir keine Gedanken. Nimm ihn so, wie er ist, und wenn er schlechte Laune hat, geht man ihm einfach aus dem Weg. Souvenirs sind wohl nicht dein Ding, nehme ich an?« Sie standen vor Schlüsselanhängern aus Glas. »Dachte ich mir, war auch nicht ernst gemeint. Ich habe deine Arbeiten natürlich schon gesehen. Besonders die blaue Serie gefiel mir. Das war so organisch, einige Stücke haben mich richtig aufgewühlt.« Briony öffnete eine Flügeltür zum Herrenhaus. »Bitte, nach dir. Voilà le grand foyer!«

Ein breiter Treppenaufgang, der im ersten Stock in eine umlaufende Galerie mündete, dominierte die Eingangshalle, deren Boden mit alten Steinfliesen in Rot und Schwarz aufwartete. Das geschnitzte Treppengeländer war aus dunklem Holz und die Wände teilweise getäfelt. Ohne das farbige, gläserne Oberlicht wäre die Halle dunkel und bedrückend gewesen, doch so verband sie gediegene Bodenständigkeit mit flirrender Leichtigkeit.

»Ungewöhnlich. Das muss ein unkonventioneller Architekt gewesen sein«, stellte Caron fest.

»Die Entwürfe gehen auf meinen Urgroßvater, Lawrence Bowen, zurück. Er soll ein außergewöhnlicher Mann gewesen sein. Muss er wohl, denn er hat in Übersee das Vermögen erwirtschaftet, mit dem die Ländereien hier gekauft worden sind. Früher hat den Bowens die ganze Bucht bis runter nach Pwllheli gehört. Hinter dem Haus war ein Steinbruch, und Bahngleise gab es auch.«

An den Wänden hingen historische Fotografien, die das Haus und die Umgebung zeigten. Caron erkannte den Hof, der damals größer gewesen sein musste und von einem weitläufigen Park umgeben war, der sich bis zum Strand hinunter erstreckte.

»So ein riesiges Anwesen verschlingt sicher Unsummen«, meinte Caron.

»Da sagst du was. Wir sind froh, dass mein Onkel Brynmore im Alter Heimweh bekam und das Haus finanziell saniert hat. Er und mein Vater waren sich nicht immer grün. Mein Vater war wohl auch eifersüchtig auf Onkel Brynmore, den erfolgreichen Geschäftsmann. Und meine Mutter war nicht gerade erbaut von den Misserfolgen, die sie ihr schönes, bequemes Leben kosteten.« Bri führte sie in einen Nebenraum, der einmal ein Salon gewesen sein durfte, heute jedoch mit hellblauer Tapete, Bilderleisten und Vitrinen für Ausstellungen genutzt wurde.

»Kann man sich kaum mehr vorstellen, aber hier haben einmal große Feste stattgefunden. Irgendwo oben zwischen den alten Fotos findest du Aufnahmen mit dem legendären Springbrunnen mitten im Salon. Wenn es ganz hoch hergegangen ist, soll darin Champagner geflossen sein!«

Caron bewunderte den hellen Raum mit skulpturierten Stuckarbeiten an der Decke und einer Fensterfront, die Richtung Meer blickte. »Das muss traumhaft schön gewesen sein!«

»Für die Herrschaften allemal. Die ehemaligen Wirtschaftsräume wurden teilweise abgerissen und die winzigen Quartiere der Dienerschaft ebenfalls. Morgen zeige ich dir die Umgebung. Also, hier unten stellen wir wechselnd aus. Oben gibt es eine permanente Ausstellung zur Geschichte des Hauses. Wir hatten mal einen Historiker, der Dokumente aus der Zeit um die Jahrhundertwende zusammengetragen hat. Collen Thomas heißt er, lehrt noch manchmal in Nefyn.«

Als Caron sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: »Kannst du nicht wissen, aber in Nefyn gibt es ein Zentrum für walisische Kultur und Sprache. Wie lange willst du eigentlich bleiben?«