Ein Sommer in Wales - Constanze Wilken - E-Book

Ein Sommer in Wales E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Die sechzehnjährige Ally Carter verbringt die Sommerferien mit ihren Eltern und ihrem zehnjährigen Bruder Simon im walisischen Küstenort Cardigan Bay. Als sie sich eines Tages heimlich mit dem Studenten David verabredet, anstatt sich um ihren Bruder zu kümmern, macht sich Simon auf, um das geheimnisvolle Morlan House zu erkunden. Doch Simon kehrt nie zurück; am Abend wird seine Leiche in der Bucht gefunden. Zehn Jahre später: Als Ally den Auftrag erhält, einen Reisebericht über Cardigan Bay und Morlan House zu schreiben, muss sie sich ihren Schuldgefühlen und Ängsten stellen. Doch bei ihren Recherchen macht sie eine schreckliche Entdeckung ...

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Seitenzahl: 548

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Buch

Wie jedes Jahr verbringt die sechzehnjährige Ally Carter die Sommerferien mit ihren Eltern und ihrem zehnjährigen Bruder Simon in Cardigan Bay. Aber diesmal ist alles anders: Während einer Führung durch ein altes Herrenhaus lernt Ally den Architekturstudenten David kennen und verliebt sich in ihn. Die beiden verabreden sich für einen Nachmittag, und statt auf Simon aufzupassen, macht sich Ally zum Treffpunkt am Strand auf. Der allein gelassene Simon fährt daraufhin in das nahegelegene, geheimnisvolle Morlan House, wo er einer Geschichte über den Heiligen Gral, der dort aufbewahrt worden sein soll, auf den Grund gehen will. Simon kommt jedoch nie von seinem Ausflug zurück, am Abend wird die Leiche des Zehnjährigen in der Bucht von Cardigan Bay gefunden.

Zehn Jahre später: Allys Familie ist an der Tragödie zerbrochen. Ally stürzt sich in ihre Arbeit als Mitarbeiterin eines Reisemagazins. Eines Tages soll sie einen Artikel über Cardigan Bay und Morlan House schreiben. Der Auftrag konfrontiert Ally mit ihren Schuldgefühlen und Ängsten, doch sie weiß, dass sie sich ihnen irgendwann stellen muss. Mit dem Fotografen Nick fährt sie nach Cardigan Bay. Während sie für ihren Artikel recherchiert, macht sie jedoch eine schreckliche Entdeckung – und die Ereignisse drohen schnell zu eskalieren …

Informationen zu Constanze Wilken

und weiteren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

CONSTANZE WILKEN

Ein Sommer in Wales

Roman

1. Auflage

Originalausgabe August 2015

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Masterfile/Robert Harding Images;

FinePic®, München

Karte: Peter Palm, Berlin

Redaktion: Regine Weisbrod

BH · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-16159-0

www.goldmann-verlag.de

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Dem Andenken eines lieben Freundes

und großartigen Architekten

David Shelley

Dann kam ein junges schönes Fräulein herein

und trug ein goldenes Gefäß in Händen,

und der König kniete demütig davor nieder

und sprach ein Gebet, und mit ihm alle anderen.

O Jesus, sagte Sir Lanzelot, was bedeutet das?

Dies ist die größte Kostbarkeit, antwortete der König,

die je ein Mensch auf Erden besessen hat.

Wenn diese Kostbarkeit zerstört wird,

dann wird auch die Runde Tafel zerbrechen,

denn wisset, was ihr hier gesehen habt,

das ist der Heilige Gral.

Sir Thomas Malory (1405–1471):König Artus

Morlan House, August 2002

Etwas außer Atem kam Simon am Ende der unbefestigten Straße an, die an einem Gatter vor dem Herrenhaus endete. Die Säulen vor dem Eingangsportal waren deutlich zu erkennen, genau wie die mit rotem Efeu überwucherten Mauern. Morlan House! Die Nähe zum Meer hatte dem prächtigen Haus seinen Namen gegeben. Simon wusste alles über die Geschichte des Hauses, hatte sich jedes Buch aus der Bibliothek ausgeliehen, jeden Zeitungsartikel gelesen, der auch nur entfernt die Legenden berührte, die sich um Morlan House rankten. Sollten sie ruhig über ihn lachen. Er wusste es besser, auch wenn er erst zehn Jahre alt war.

Simon Carter trank den Rest aus seiner Wasserflasche und stopfte sie zurück in seinen Rucksack. Er war weder groß noch besonders kräftig, aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn niemand davon abbringen. Nicht einmal Ally. Er grinste, während er über das Gatter kletterte, das die Zufahrt versperrte. Seine Schwester war sechs Jahre älter und hübsch, jedenfalls sagten das die anderen Jungs. Eigentlich konnte er sie gut leiden. Sie half ihm beim Nähen der Kostüme, die er für seine Mittelalterfestivals brauchte. Oft fuhr sie mit ihm in Museen und alte Herrenhäuser und nannte ihn ihren kleinen Professor. Ally war in Ordnung.

Seit fünf Jahren war das Anwesen unbewohnt, das über vierhundert Jahre im Besitz der Jones of Paith gewesen war. Irgendwann war der letzte Nachfahre der walisischen Familie verstorben, und in den Achtzigerjahren war das Haus in fremden Besitz übergegangen. Man brauchte viel Geld, um so ein Anwesen zu unterhalten. Das war Simon bewusst. Ehrfurchtsvoll sah er an den Säulen hoch, die den Baldachin vor dem Eingang trugen. Umgeben war das dreistöckige georgianische Haus von einer ausgedehnten Parkanlage.

Dieser August hatte mit einer Hitzewelle überrascht. Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die flachsblonden Haare klebten an seinen Schläfen. Hellblaue wache Augen zierten sein schmales, meist ernstes Jungengesicht. Wenn Ally gut gelaunt war, sagte sie oft, dass er einmal eine Gefahr für die Damenwelt werden würde. Fragte er sie, was das bedeutete, lachte sie und küsste ihn auf die Wangen.

Er konnte das Meer hinter den Klippen hören. Sobald er hier fertig war, würde er zum Strand hinuntergehen und sich im Wasser abkühlen. Er liebte das Meer und war ein hervorragender Schwimmer. Neben seinen Büchern war das Schwimmen seine Leidenschaft und bewahrte ihn vor dem Los des Klassenstrebers. Ein glänzender Anstecker an seinem Rucksack war Simons ganzer Stolz. Er wies ihn als Rekordhalter in einhundert Meter Brustschwimmen der Greenwood Highschool aus.

Er sah auf seine Uhr. Vor einer Stunde hatte er den Bus aus Aberaeron hierher genommen. Ally war mit diesem älteren Typen verabredet und würde erst am Nachmittag zurück sein. Wobei David eigentlich ziemlich nett war. Sie waren zusammen segeln gewesen, und David hatte ihm nicht das Gefühl gegeben, dass er störte. Aber Simon hatte begriffen, dass Ally gern etwas Zeit allein mit David verbringen würde. Und die Gelegenheit war einfach perfekt.

Zufällig hatte er den freundlichen Mann am Strand wiedergetroffen, der ihm schon einmal einiges über Morlan House erzählt hatte, was in keinem Buch zu finden war. Sie hatten sich lose hier verabredet. Simon sah sich um. Noch war er allein. Vielleicht hatte der Mann auch keine Zeit und kam überhaupt nicht, aber wenn er schon einmal hier war, wollte er sich zumindest umsehen.

Seine Eltern waren mit Freunden verabredet, um sich Häuser anzuschauen. Das gab ihm mindestens drei Stunden, in denen ihn niemand vermissen würde. Seit Jahren fuhren sie in den Ferien ans Meer, und seine Eltern sprachen manchmal davon, sich hier ein Ferienhaus zu kaufen. Solange sie nicht für immer herziehen wollten, war es Simon gleichgültig. Es war schön hier, aber in London gab es die große Bibliothek und die Museen, die er so liebte. Nein, er wollte nicht weg aus der Stadt.

Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel. Simon suchte den Schatten des Eingangsbereichs auf und sah erneut auf die Uhr. Er war zwanzig Minuten zu früh. Vor Gespenstern hatte er keine Angst. Und es gab mehrere in Morlan House. Im blauen Zimmer spukte ein weiblicher Geist, der um 1800 angeblich eine Zofe aufgeweckt hatte, deren Herrin bei einer Geburt in Lebensgefahr schwebte. Dieser Geist war später von verschiedenen Gästen im blauen Zimmer gesehen worden. Simon rüttelte erfolglos an der Klinke der Eingangstür. Es half nichts, er musste auf den Mann warten, der ihm das Haus zeigen wollte.

Die massive Tür sah nicht so aus, als wäre sie kürzlich geöffnet worden. Auch die Fenster im Erdgeschoss waren verschmutzt, stellenweise rankte der Efeu über die Scheiben. Furchtlos stromerte Simon an der Hausmauer entlang und kontrollierte die Fenster. Der letzte Besitzer hatte sich große Mühe gegeben, das Haus vor Einbrechern zu schützen. Simon rieb an einer der kleinen Scheiben, die von Sprossengittern eingefasst waren, und lugte hindurch. Das musste die Küche sein. Er pfiff durch die Zähne. Der Raum war riesig!

Hier waren sicher üppige Mahlzeiten für fünfzig oder mehr Personen vorbereitet worden. Und in der Broschüre hatte etwas von einem Mord in den Zwanzigerjahren gestanden. Dieses Detail hatte er nirgends sonst gelesen. Die Geliebte des damaligen Hausbesitzers, eine junge Amerikanerin, soll während einer ausschweifenden Party auf tragische Weise ums Leben gekommen sein. Ihr Mörder war nie gefunden worden, und in hellen Mondnächten wandelte ihr Geist angeblich an den Klippen. Simon schauderte und schrak zurück, als er im Haus eine Bewegung wahrzunehmen meinte. Es gab keine Gespenster! So ein Unsinn!

Vom Schmutz, den er von der Scheibe gewischt hatte, musste Simon mehrfach niesen. Er schnäuzte sich und ging an einer steinernen Kugel vorbei, die den Treppenabsatz zum Garten schmückte. Von der einstmals gepflegten Parkanlage waren nur der verwilderte Baumbestand, riesige Oleanderbüsche und in allen Farben blühende Rosen geblieben. Was musste es einmal schön hier gewesen sein, dachte er. Wenn Ally und er in einer anderen Zeit hier groß geworden wären, hätte er ein Pferd besessen, wäre auf die Jagd geritten, und Ally hätte in Kleidern mit bauschigen Röcken auf Teepartys den Gentlemen die Köpfe verdreht.

Er grinste und ließ den Blick über den verwilderten Rasen bis zu den Bäumen schweifen. An alten Herrenhäusern fand er vor allem die Eishäuser faszinierend, die meist abseits im Wald lagen, damit kein Sonnenstrahl das kostbare Gefriergut schmelzen konnte. Eigentlich doch schade, dass er Ally nicht mit hierhergenommen hatte. Sie interessierte sich zumindest für solche Sachen. Ihre Freundinnen sprachen über nichts anderes als Jungs und Klamotten. Aber Ally fand sein Hobby spannend. Und Wales war voller Legenden und Mythen. Was für ein Glück, dass ausgerechnet Morlan House in der Nähe ihres Urlaubsorts lag!

Simons Steckenpferd war die Gralslegende. Am meisten mochte er das Buch von Sir Thomas Malory, das er zum Geburtstag als illustrierte Ausgabe bekommen hatte. Die steckte nun in seinem Rucksack, dessen Gewicht er langsam auf den Schultern spürte. Ally zog ihn schon auf, weil er das dicke Buch immer mit sich herumschleppte. Simon wischte sich die verschwitzte Stirn und nahm den Rucksack ab.

Aus einem Seitenfach zog er ein zerfleddertes Notizheft, in das er sich die wichtigsten Eckdaten der walisischen Gralslegende notiert hatte. Durch Zufall war Simon in einem Führer über Mid Wales auf Morlan House und seinen Schatz gestoßen. Zufrieden blätterte er in dem Heftchen und frischte sein Gedächtnis auf, damit er vorbereitet war. Aber der Mann, der den Schlüssel zum Haus hatte, war auch so schon beeindruckt von seinem Wissen gewesen.

Der Heilige Gral war von Josef von Arimathäa nach Großbritannien gebracht worden. Der Legende nach hatte Josef in einem Kelch das Blut aufgefangen, welches dem gekreuzigten Christus aus der Lanzenwunde tropfte. Die geläufige Version der Geschichte war, dass der Gral von Josef von Arimathäa nach Glastonbury gebracht worden war.

Es hieß, dass die Mönche aus Glastonbury geflohen waren, nachdem ihr Kloster niedergebrannt worden war, und den Gral mit sich in die walisische Abtei von Strata Florida genommen hatten. Dort war der Kelch in den Besitz der Jones of Paith gelangt und in Morlan House versteckt worden. Zu gern hätte Simon den Keller untersucht, der aus einem verzweigten Gewölbesystem bestehen sollte. Er wollte sehen, wo der heilige Kelch angeblich versteckt worden war, und vielleicht fand er etwas, mit dem er seine Freunde beeindrucken konnte.

Als es ihm zu warm auf der Terrasse wurde, ging er auf die Bäume zu. Hinter dem schmalen Waldstück konnte er das Rauschen des Meeres hören. Es knackte im Unterholz, und ein Vogel flatterte auf. Er blickte der Krähe nach, die sich mühelos durch die Baumkronen in den Himmel schwang. Sicher gab es einen privaten Zugang zum Strand. Ein Anwesen wie dieses hatte bestimmt eine Treppe, die zum Meer hinunterführte. Und vielleicht gab es Höhlen in den Felsen, in denen die Kinder gespielt hatten. Schmugglerbanden konnten hier ihr Unwesen getrieben haben!

Zwischen den Bäumen zeichnete sich ein Pfad ab, und weil die Mücken in Schwärmen aus den hohen Gräsern aufstiegen, verschob er die Suche nach dem Eishaus und rannte durch das dichte Gestrüpp. Er musste über umgestürzte, vermoderte Baumstämme springen, Zweige zerkratzten ihm Arme und Beine, und einmal stolperte er und fiel hin. Simon war schnell wieder auf den Beinen und klopfte sich Blätter und Gras ab. Ganz deutlich war das Meer zu hören, der Geruch von Algen und Schlick hing in der Luft. Mit einem Satz war er endlich aus dem Wald heraus und stand so dicht an der steil abfallenden Klippe, dass nicht viel gefehlt hätte, und er wäre hinuntergestürzt.

Vorsichtig ging er am Klippenrand entlang und schnalzte triumphierend mit der Zunge, als er eine rostige Balustrade entdeckte, hinter der schmale Treppenstufen zum Strand hinunterführten. Als er die Bucht mit dem weißen Sand und dem verlockend in der Sonne glitzernden Meer sah, war er versucht, hinunterzulaufen und in die kühlen Fluten zu springen. Seufzend sah er auf die Uhr. Dazu war auch später noch Zeit. Er sollte besser zurück zum Haus, wo er vielleicht schon erwartet wurde.

1

London, Redaktion des Inside-Travel-Magazins, Mai 2012

Ich soll was?«, rief Ally Carter entgeistert und starrte auf den Ausdruck in ihren Händen.

»Fangen Sie am besten gleich mit dem Packen an. Hugo will den Bericht in einem Monat auf dem Tisch haben.« Chloe Parker, die Assistentin des Chefredakteurs, verzog ihre blutrot geschminkten Lippen, die ihr, zusammen mit ihrer Kaltschnäuzigkeit, den Spitznamen Bloody Parker eingetragen hatten.

Ally Carter richtete ihre Augen, die von einem intensiven Grün waren, auf die Überbringerin der Hiobsbotschaft. »Ich kann das nicht, Chloe. Ich meine es ernst. Diesen Auftrag kann ich nicht übernehmen.«

»Warum nicht? Sie haben den Bericht über Guernsey abgeschlossen, und das hier ist der nächste Artikel, den Sie für uns schreiben. Oder sind Sie krank?« Chloe Parker musterte die Redakteurin kritisch. »Dann gehen Sie zum Arzt oder …«

Allys lange braune Locken fielen ihr bis auf den Rücken, als sie aufstand und um den Tisch herum trat. »Ich werde es ihm selbst sagen. Er ist doch in seinem Büro, oder?«

»Ja, aber ich verstehe das nicht, Ally.« Chloe schoss wie eine aufgeregte Hornisse hinter Ally her, die bereits auf dem Flur war. »Da gibt man euch Redakteuren eine interessante Story, und dann wollt ihr sie nicht. Wir kämpfen hier um unsere Existenz, und Sie zicken rum! Gehen Sie ruhig zu ihm, aber ich habe Sie gewarnt!«

Bevor sie an die Tür von Hugo Lakefields Büro klopfte, prüfte die Assistentin den Sitz ihres geometrischen Haarschnitts. Doch Ally war zu aufgewühlt, um noch lange zu warten, und drängte sich an Chloe vorbei ins Allerheiligste. Wer das Büro des Inhabers von einem der renommiertesten britischen Reisemagazine betrat, wurde zuerst vom Anblick Tausender Bücher und enormer Panoramafotografien beeindruckt und musste großes Selbstbewusstsein mitbringen, um sich nicht von Lakefields imposanter Körpergröße einschüchtern zu lassen. Hugo Lakefield war ein Genussmensch. Auf der glänzenden Kirschbaumplatte stand neben einem Humidor eine geöffnete Pralinenschachtel. Aber wer glaubte, dass in diesem behäbigen Körper ein Gemütsmensch steckte, sollte sich täuschen.

Hugo Lakefield war zu Recht stolz auf sein unabhängiges Magazin, das sich seit zwei Jahrzehnten auf dem hart umkämpften Markt behauptete. Kritik prallte an ihm ab wie ein Wassertropfen an einem Pfund Butter, und er bekannte sich zu einsamen, undemokratischen Entscheidungen. Da er überdurchschnittliche Gehälter zahlte und das Magazin ein anerkanntes Karrieresprungbrett war, wurde das hingenommen.

»Was ist denn los?«, raunzte Lakefield, ohne aufzusehen.

»Entschuldigen Sie, Sir.« Ally trat näher und hielt den Bogen mit dem unliebsamen Auftrag unglücklich in den Händen.

Lakefields Schneider war ein Meister seiner Zunft, denn der dunkel gestreifte Anzug verschlankte den Zweizentnermann optisch. Intelligente graue Augen musterten Ally unter buschigen Brauen. »Ally, Sie sind noch nicht weg? Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt.«

»Doch, nein, Sir, es tut mir leid. Ich kann den Job nicht machen.« Sie legte das Papier mit der Überschrift »Cardigan Bay und Morlan House« vor Hugo Lakefield auf den Tisch. »Ich übernehme jeden anderen Job, nur diesen hier nicht. Es gibt doch sicher jemanden dafür. Ich könnte mit Megan tauschen.«

Lakefield runzelte die Stirn und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Warum wollen Sie diese Story nicht schreiben?«

»Persönliche Gründe, Sir«, sagte Ally leise und nestelte an ihrer weißen Bluse.

»Ach ja? Gibt es einen verflossenen Liebhaber in Cardigan Bay? Oder haben Sie Angst vor den Geistern, die durch Morlan House spuken? Stehlen Sie mir nicht meine Zeit und machen Sie sich an die Arbeit!« Seine leicht vorquellenden Augen fixierten sie.

Obwohl Ally aus Erfahrung wusste, dass jetzt der Punkt gekommen war, an dem jeder weitere Widerspruch höchst unklug war, wagte sie einen neuen Versuch. »Es hat mit meiner Familie zu tun, Sir. Es ist …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Es ist schmerzlich, sonst würde ich Sie nicht um diesen Gefallen bitten.«

Lakefield öffnete den Humidor und schnupperte mit geschlossenen Augen an den Zigarren. Der Tabakduft erreichte auch Allys Nase, doch sie konnte dem angenehmen Aroma heute nichts abgewinnen. Langsam nahm Lakefield eine Zigarre heraus und betrachtete sie eingehend. Plötzlich sah er sie direkt an. »Wissen Sie, was diese Zigarre kostet?«

»Nein, Sir.« Sie hatte verloren.

»Vierzig Pfund. Jedes einzelne Blatt wurde handverlesen. Ich kann mir diese Zigarre leisten, weil ich hart dafür gearbeitet habe. Ich war nicht immer so fett, wie ich es jetzt bin. Als drahtiger junger Journalist bin ich wie ein Spürhund jeder Fährte hinterhergejagt, habe mich festgebissen an den unwahrscheinlichsten Hinweisen und nie das große Ganze aus den Augen gelassen. Ich habe in einem vermoderten Loch gehaust, wurde morgens von den Schnellzügen geweckt und nachts von randalierenden Drogensüchtigen.« Er schnitt einen kleinen Teil der Zigarrenspitze ab und entzündete sie. Nachdem er einige Male an der Zigarre gepafft hatte und sein Gesicht hinter Rauchschwaden verschwand, sagte er scharf: »Mir wurde nie eine fertige Geschichte auf dem Silbertablett serviert. Aber ich habe mich nie beschwert, sondern jeden Stein umgedreht, jeden nichtsnutzigen Sekretär eines Politikers, Schuhputzer, Müllmann, ach egal, wen, ich habe alle befragt, wenn es darum ging, eine Story zu bestätigen, zu beweisen, dass mein Instinkt mich nicht getrogen hatte. Und dann hatte ich es irgendwann geschafft. Ich baute mir diesen Verlag auf, und ich bin verdammt stolz darauf! Und jetzt müssen Sie Ihren Hintern nur ins Auto bewegen und in einem Luxushotel übernachten, und da beschweren Sie sich auch noch!«

Lakefield schlug mit einer Hand auf den Schreibtisch.

»Ich beschwere mich nicht, Sir, wirklich nicht. Ich arbeite sehr gern hier …«, begann Ally.

»Finden Sie, dass Sie zu wenig verdienen?«, fragte er lauernd, denn er wusste genau, dass er übertarifliche Gehälter zahlte.

»Nein, Sir«, murmelte Ally kleinlaut und wünschte sich auf die nördlichste schottische Insel. Sie hätte ihren Chef besser kennen müssen. Man durfte bei ihm nicht mit der Tür ins Haus fallen. Und wer Hugo Lakefield auf dem falschen Fuß erwischte, hatte schlechte Karten. Sie hatte gleich zwei kapitale Fehler begangen.

»Dann gibt es nichts mehr zu sagen. Sie fahren sofort nach Wales und schreiben mir einen Artikel, der den Mythos von Morlan House so lebendig macht, dass die Leser sich von Gespenstern verfolgt fühlen und sich auf die Suche nach dem Heiligen Gral machen oder …«, er paffte genüsslich an seiner Zigarre, »… Sie suchen sich einen neuen Job.«

»Ja, ich meine, ich bin schon unterwegs«, versicherte Ally und verließ fluchtartig das Büro.

Sie zog die Tür leise hinter sich zu und wäre fast mit Chloe zusammengestoßen, die ihr ein scheinheiliges Lächeln schenkte. »Hat er Sie an eine andere Geschichte gesetzt?«

»Sie haben doch gelauscht, was fragen Sie noch!«, fauchte Ally.

»Er sagt mir sowieso alles, aber Ihrer Reaktion nach zu urteilen, fand er Ihre Verweigerung wohl genauso unsinnig wie ich.« Chloe zog ein Foto aus ihrer Mappe und reichte es Ally. »Wales kann so schön sein zu dieser Jahreszeit. Haben Sie schon einmal von Morlan House gehört?«

Mit zitternden Händen griff Ally nach der Fotografie, die ein von Efeu überwuchertes Herrenhaus inmitten eines Parks am Rande der Klippen zeigte. Es war zehn Jahre her, seit sie zum letzten Mal dort gewesen war, und es sah noch genauso aus wie damals.

»Was ist? Haben Sie einen Geist gesehen? Es soll mindestens zwei Geister dort geben, die mehrfach gesichtet worden sind.« Chloe lachte, als hätte sie einen guten Witz gemacht, doch ihr Lachen erstarb, als sie Allys bleiches Gesicht sah. »Meine Güte, jetzt reißen Sie sich mal am Riemen. Nick! Gut, dass Sie kommen.« Sie winkte einem schlanken, blonden Mann in verblichenen Jeans.

»Hi, Chloe, Ally.« Mit einem charmanten Lächeln schlenderte Nick Bellamy auf die beiden zu. Er hielt ein Kameraobjektiv in den Händen. Seiner gebräunten, wettergegerbten Haut sah man an, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. Bellamy war ein gefragter Natur- und Architekturfotograf sowie begeisterter Surfer, der seine Hobbys zum Beruf gemacht hatte.

»Hat Ihnen schon jemand von Ihrem neuen Job erzählt, Nick? Sie fahren mit Ally nach Wales.« Chloes Handy klingelte, doch sie ignorierte es und fuhr fort: »Im Wesentlichen geht es um dieses Herrenhaus, aber drumherum stricken Sie einen Bericht über die Bucht. Sie wohnen in einem neu eröffneten Hotel in Aberaeron, über das Sie auch schreiben werden. Details maile ich Ihnen zu. Und jetzt sagen Sie mir, Nick, was ist an diesem Auftrag schlecht?«

Der Fotograf hob die Schultern. »Von mir aus, nichts. Wann geht’s los?«

»Gestern.« Damit ließ Chloe die beiden stehen und nahm ein neues Telefongespräch an.

»Okay, Ally, was stinkt an diesem Auftrag? Geht’s dir gut?« Besorgt griff er nach ihrer Hand. »Eiskalt!«

Langsam hob Ally den Blick von der Fotografie. »Alles in Ordnung. Zeit, erwachsen zu werden.«

»Was auch immer das heißen mag. Wir haben eine lange Fahrt vor uns und genug Zeit zum Reden. Ich muss mein Equipment zusammensuchen und noch ein paar Dinge regeln. Morgen früh um sieben Uhr bei dir.« Er küsste sie flüchtig auf die Wange und eilte davon.

Ally ging zurück in ihr Büro, das sie sich mit ihrer Kollegin Megan Watkins teilte, die jetzt an ihrem Platz saß.

»Süße, was ist denn mit dir los? Ich hab schon gehört, dass du vollkommen aus dem Häuschen warst wegen einer neuen Story.« Megans Eltern waren vor ihrer Geburt von Ghana nach England ausgewandert. Ihr Akzent war britischer als der von manchem Eliteinternatsschüler, nur ihre Hautfarbe verriet ihre Herkunft.

Megan war drei Jahre älter als Ally und hatte bereits zwei Jahre für Lakefield gearbeitet, als Ally dort anfing. Die beiden jungen Frauen waren einander sofort sympathisch gewesen und mittlerweile Freundinnen geworden. Die temperamentvolle Megan holte Ally oft aus deren Schneckenhaus, in das sie sich nur zu gern verkroch.

Ally schüttelte den Kopf und warf die Fotografie auf ihren Schreibtisch. »Ich habe überreagiert. Was soll’s. Wenn ich den Job nicht mache, feuert er mich.«

»Ich fürchte, da hast du recht. Im Grunde ist Lakefield ein netter Kerl, und ich arbeite gern hier. Nur widersprechen darf man ihm nicht.« Megan grinste. »Zeig her. Was ist daran so schlimm?«

Ihre Schreibtische standen sich gegenüber, und Megan fischte mit einer eleganten Bewegung das Foto auf ihre Seite. »Ein altes Haus in …«, sie wendete das Bild, »… Cardigan Bay in Wales.«

Plötzlich verstand Megan und ließ das Bild sinken. Ihre dunklen Augen musterten Ally voller Mitgefühl. »Da wolltest du doch nie wieder hinfahren! Verdammt, warum ausgerechnet dieses, wie heißt das … Morlan House?«

»Lakefield hat sich in die Geistergeschichten und die Legende vom Gralskelch verbissen. Ein Stück altes Holz liegt da irgendwo im Museum. Kein Mensch weiß, woher das stammt!« Ally lehnte sich an den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Hey, wenn du das nicht kannst, red ich noch mal mit ihm. Er ist kein Unmensch. Du könntest ihm einfach die Wahrheit sagen.« Megan schob ihren Stuhl zur Seite, doch Ally rieb sich die feuchten Augen und hob abwehrend eine Hand.

»Nein. Bloß nicht! Dann wittert er gleich eine persönliche Story und will erst recht, dass ich hinfahre. Meg, das ist lieb von dir, aber ich kann nicht ewig davor weglaufen. Vielleicht ist das Schicksal. Allein hätte ich nie die Kraft aufgebracht, dorthin zu fahren.« Gedankenverloren wickelte sich Ally eine Haarsträhne um den Finger.

»Überleg dir gut, ob du dem gewachsen bist, Ally. Kein Job der Welt ist es wert, sich deswegen kaputtzumachen.« Megan stand auf, trat mit fließenden Bewegungen um den Tisch und legte die Arme um Ally. »Du kannst nicht einmal darüber sprechen. Deine Familie ist daran zerbrochen.«

Ally drückte ihre Freundin kurz und befreite sich vorsichtig aus der Umarmung. »So weiterleben kann ich auch nicht, Meg. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen habe. Die Albträume werden nicht weniger, sondern mehr! Nick begleitet mich. Mach dir keine Sorgen.«

»Die mache ich mir aber. Ruf mich an, jeden Tag. Ich will wissen, wie es dir geht. Wenn ich nichts von dir höre, komme ich nach Wales, obwohl mir mein letzter Besuch in diesem verregneten, trostlosen, von Schafen bevölkerten Landstrich noch in den Knochen steckt.« Megan zwinkerte ihr zu, und Ally lachte.

»Als ob das Wetter in London besser wäre. Drüben hast du wenigstens frische Seeluft aus erster Hand!« Sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass Megan eine Stadtpflanze war, die verdorrte, wenn man sie länger mit allzu viel Natur umgab. Dafür fühlte sich Meg in allen Großstädten der Welt zu Hause und lief erst im Menschengewimmel einer Millionenmetropole zu journalistischer Hochform auf.

Meg schob die Ärmel ihrer Bluse auf. Goldene Armreifen schimmerten auf der dunklen Haut und klimperten melodisch im Rhythmus der Bewegung. »Ich meine es ernst, Ally. Regen und Schafe werden mich nicht abschrecken.«

»Das ist lieb gemeint. Ich verspreche dir, mich zu melden. Es ist zehn Jahre her, und ich habe gelernt, damit zu leben.« Sie wich Megs zweifelndem Blick aus, denn tief in ihrem Innern wusste sie nur zu gut, dass sie die Erlebnisse von damals nicht verarbeitet, sondern nur verdrängt hatte. Was würde passieren, wenn sie nach Cardigan Bay kam?

2

Cardigan Bay, Mai 2012

Nick war die ersten zwei Stunden durchgefahren und hatte sie einem dösenden Halbschlaf überlassen. Als Ally sich ans Steuer setzte und eine Cara-Dillon-CD einlegte, protestierte Nick.

»Bei der Musik kommen mir die Tränen. Erzählst du mir jetzt, warum du nicht nach Wales wolltest?« Er stellte einen Radiosender ein, der die aktuellen Charts spielte.

Ally umfasste das Lenkrad fester und starrte auf die blinkenden Rücklichter vor ihr. Sie waren bereits auf der Autobahn nach Bristol, wo sie über die Severn Bridge nach Wales fahren würden. Allein der Gedanke an die Brücke mit dem atemberaubenden Blick über die Bucht brachte alles zurück. Sie räusperte sich. »Es ist nicht leicht für mich, Nick.«

»Wir haben Zeit.« Er streckte die langen Beine aus und warf ihr einen aufmunternden Blick zu.

Sie hatten schon bei verschiedensten Aufträgen zusammengearbeitet, und Ally schätzte seine unkomplizierte Art. Dabei war er ein hervorragender Fotograf und erfahrener Reisebegleiter, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte. Mehr als einmal hatte sie sich bei dem Gedanken ertappt, ob aus Freundschaft mehr werden könnte, doch irgendetwas hatte sie immer zurückgehalten. Sie schätzte ihn zu sehr, entschuldigte sie ihr Zögern, und wollte nicht riskieren, den Freund zu verlieren, wenn die Liebesbeziehung scheiterte. Doch im Grunde hatte sie Angst. Sie fürchtete sich davor, sich ihren Gefühlen und Ängsten zu stellen, und das würde passieren, wenn sie sich auf jemanden wie Nick einließ.

»Wie lange kennen wir uns schon, Ally?«

Sie konnte ihn aus den Augenwinkeln lächeln sehen. Dabei bildeten sich kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln. »Lange genug.«

»Habe ich dein Vertrauen jemals missbraucht?«

»Nein.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum du oft so verloren und traurig wirkst, was an dir nagt, dich so verletzlich macht, dass du dich mit einem undurchdringlichen Schutzpanzer umgibst. Anfangs dachte ich, dass es ein Mann gewesen ist, aber das ist nicht der Grund, oder?«

In der Redaktion des Inside-Travel-Magazins wusste nur Meg von ihrer Vergangenheit, aber sie schuldete Nick zumindest eine kurze Erklärung.

»Als Kind bin ich mit meinen Eltern in den Ferien nach Wales gefahren. Jeden Sommer haben wir in Cardigan Bay verbracht. Es war Tradition, dass wir nach dem Überqueren der Severn Bridge Rast gemacht haben. Mein Bruder liebte diesen kleinen Rastplatz mit den Holz…«

»Du hast einen Bruder?«, unterbrach Nick sie überrascht.

»Simon. Sechs Jahre jünger als ich. Ich habe ihn meinen kleinen Professor genannt, weil er unglaublich klug war. Er kannte jeden englischen König und jeden Kreuzzug. Sein Steckenpferd war die Gralslegende.«

Sie fühlte Nicks Blick auf sich ruhen und redete weiter. Wenn sie jetzt eine Pause machte, würde sie nicht mehr sprechen können, sondern nur noch weinen. »Er hatte ein Ritterkostüm und sogar ein richtiges Schwert und einen Schild. Ich habe ihn gerne auf die Mittelalterfeste begleitet, weil ich die Musik mochte.«

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe, und Ally schaltete die Scheibenwischer ein. Sie fuhren mit Nicks Range Rover, dem man ansah, dass er schon einige abenteuerliche Touren überstanden hatte, doch der Motor lief tadellos. Nick hatte das Radio leiser gedreht.

Nach einem tiefen Seufzer fuhr Ally fort: »In jenem Sommer war ich sechzehn und zum ersten Mal verliebt. Wir hatten, wie meist, ein kleines Ferienhaus in Aberaeron gemietet. Meine Eltern waren mit Freunden unterwegs, und Simon und ich sind mit dem Bus in die Bucht zum Strand gefahren. Er tat sehr geheimnisvoll und wollte unbedingt alleine los. Es hatte etwas mit einer seiner Gralsgeschichten zu tun. Mehr wollte er nicht sagen.«

Sie schluckte und blinzelte mehrmals. »Ich hätte ihn niemals allein gehen lassen dürfen! Aber ich war so verliebt, wollte David unbedingt sehen, und er ist nicht einmal gekommen. Ich war so dumm, so egoistisch! Simon war schlau und ging öfter allein in Museen oder Bibliotheken, aber das ist keine Entschuldigung! Ich hätte ihn nicht allein gehen lassen dürfen.« Ally schluchzte.

Nick strich ihr über die Schulter. »Er hatte einen Unfall?«

Plötzlich sah sie ihn an, die Augen tränennass und geweitet. »Das sagte die Polizei. Er wurde in der Bucht unterhalb der Klippen von Morlan House gefunden. Sie haben behauptet, er wäre ertrunken …« Sie schluchzte. »Aber er war ein so guter Schwimmer! Er wäre niemals ertrunken, niemals! Wir sind oft in unbekannten Gewässern schwimmen gegangen. Er wusste, worauf man achten muss.«

»Okay. Fahr dort vorn ran. Wir machen eine Pause.«

In der Parkbucht stiegen sie aus, und Ally weinte in Nicks Armen, bis ihre Augen brannten und ihr Magen schmerzte. Ein Therapeut hatte ihr empfohlen, den Schmerz herauszulassen, aber das Weinen machte es nicht leichter, im Gegenteil. Sie musste sich dazu zwingen, aufzuhören und nicht zu schreien. Es tat so weh, auch nach zehn Jahren war der Schmerz so frisch wie damals, als der Polizist zu ihnen gekommen war. Den Blick ihrer Eltern würde sie nie vergessen – ein einziger Vorwurf. Damals war sie gestorben. Sie war mit Simon gestorben, nur durfte sie nicht mit ihm gehen, sondern musste weiterleben, ihren Körper bewegen und wie ein Roboter funktionieren.

»Es ist meine Schuld, Nick. Verstehst du? Es ist meine Schuld, dass er tot ist! Ich hätte ihn niemals allein lassen dürfen! Ich war doch für ihn verantwortlich!«, schluchzte sie verzweifelt.

Nick hielt sie so weit von sich, dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Nein, Ally. Deine Eltern waren für ihn verantwortlich.«

»Ich war sechzehn und kein Kind! Sie haben mir vertraut, und ich habe sie enttäuscht.« Sie hatten es nie ausgesprochen, doch der Vorwurf drohte stets wie eine Gerölllawine, die jeden Moment auf sie niedergehen konnte. Nein, dachte Ally, sie war schon lange von den Steinen begraben worden.

Sie hatte die Schule mit siebzehn beendet und war danach ins Ausland gegangen, hatte in Neuseeland und Australien gejobbt. Mit jedem Kilometer, den sie zwischen sich und ihre Eltern gebracht hatte, wuchs die Hoffnung, dass es leichter würde. Stattdessen brach der Kontakt bald gänzlich ab, und aus einem Jahr wurden drei. Kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag kehrte sie nach London zurück und fand ihre Mutter allein in einer halbleeren Wohnung. Ihre Eltern hatten sich getrennt. Ihr Vater, Harold, ein Steuerberater, war nach Manchester gezogen. Grace, ihre Mutter, hatte sich eine kleine Wohnung in Greenwich gesucht und opferte sich in einem Kinderhospiz auf.

»Ally, hör mir zu. Wir fahren jetzt dahin und machen unsere Arbeit. Wenn du es nicht mehr aushältst, fährst du zurück, und ich bring das allein zu Ende. Oder willst du jetzt schon …?« Nick kramte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und hielt es ihr hin.

»Danke«, murmelte Ally und wandte sich ab, um sich die Nase zu putzen. Als sie das Gefühl hatte, sich wieder unter Kontrolle zu haben, sagte sie: »Wir fahren hin. Und ich bin froh, dass ich es dir erzählt habe.«

»Gut.« Er hielt das Gesicht in den Regen. »Wir sollten einsteigen, bevor wir klatschnass sind.«

Am späten Nachmittag erreichten sie Cardigan. Die malerisch an der Mündung des Teifi gelegene Hafenstadt hatte der Bucht ihren Namen gegeben. Nick parkte oberhalb der Stadt in einer Kurve.

»Cardigan Bay …«, flüsterte Ally und trat an die kleine Steinmauer, die Touristen daran erinnern sollte, dass die Klippen mancherorts überraschend steil und abrupt abfielen.

Die dunklen Regenwolken waren an der Küste vom Wind vertrieben worden, doch hier schimmerte blauer Himmel nur stellenweise hervor. Der raue Seewind wehte Ally die Haare ums Gesicht, doch sie genoss den salzigen Geschmack auf ihren Lippen und sog die frische Luft tief in ihre Lunge.

»Hier beginnt laut meinem Reiseführer der Pembrokeshire Coast National Park«, sagte Nick neben ihr. »In fünf Tagen kann man von hier zu Fuß bis hinauf nach Borth wandern. Ich kann das Meer hören! Herrlich! Habt ihr das damals gemacht?«

»Was?«

»Seid ihr mal die ganze Küste hochgewandert?«

»Nein.« Während sie ihren Gedanken nachhing, holte Nick seine Kamera hervor und schoss in rascher Folge Fotos von Cardigan, wie es sich verschlafen zwischen dichtem Blattwerk um die Flussmündung schmiegte.

»Im neunzehnten Jahrhundert war das eine der größten Hafenstädte. Kann man sich nicht mehr vorstellen.« Nick verstaute seinen Fotoapparat. »Komm, lass uns weiterfahren. Auf diesen kurvigen Küstenpfaden braucht man für zwanzig Kilometer glatt eine Stunde, und mir knurrt der Magen. Im Talbot soll es ein sehr gutes Restaurant geben.«

»Na dann … Bestimmt ist das so ein seelenloser Designerschuppen, wie sie jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießen«, murrte Ally, setzte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Wagentür zu.

»Ts, du hast dich überhaupt nicht vorbereitet. Das Talbot ist seit drei Generationen im Besitz der Darbys. Sohn Robert Darby hat das ziemlich runtergewirtschaftete Hotel vor einigen Jahren übernommen und mit einem Geschäftspartner komplett umgebaut.«

Ally hörte nur mit halbem Ohr hin, als Nick weiter über das Hotel plauderte, dessen Restaurant in irgendeinem Feinschmeckerblatt gelobt worden war. Er redete, um sie abzulenken, und sie war ihm dankbar dafür, doch die Schönheit der wildromantischen Küstenlandschaft wurde schier unerträglich. Als sie auf einem Hinweisschild »Morlan House, 2 Meilen« las, schloss sie die Augen und atmete konzentriert ein und aus.

»Wir müssen gleich da sein!« Nick klopfte ihr munter auf die Schulter.

»Ich weiß.«

Er ließ sich von ihrer Einsilbigkeit nicht beirren, sondern warf einen Blick auf die Dünen, die sich unterhalb der Steilküste entlangzogen. »Ich hätte mein Surfbrett mitnehmen sollen. Mann, was für eine Brandung!«

»Das Wasser ist doch noch viel zu kalt.« Ally zog sich die Strickjacke enger um den Körper und blinzelte in die untergehende Sonne, welche die Bucht in glühende Rot- und Orangetöne tauchte. Ihre Mutter war oft mit einer kleinen Staffelei und ihren Aquarellfarben an den Strand gegangen und hatte die verschiedenen Stimmungen eingefangen. »Das glaubt mir keiner«, hatte Grace lachend gesagt, »das ist so schön kitschig, das glaubt mir doch niemand!« Später hatte ihre Mutter all ihre Malutensilien fortgeworfen und die Bilder zerrissen. Hatte sie ihre Mutter seit jenem furchtbaren Sommer jemals wieder lachen gesehen?

»Ally, wir sind da!« Nick stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. »Ah!« Er stemmte die Arme in die Hüften und schaute über die Kaimauer des kleinen Hafens von Aberaeron. Der Wasserstand war niedrig, Segelboote und Motoryachten dümpelten nebeneinander her. Auf der anderen Seite des Hafens zog sich wie eine bunte Perlenkette eine Häuserreihe den Hügel hinauf. Die Häuserfassaden leuchteten in kräftigem Kobaltblau, Rot und Grün und wirkten wie frisch gestrichen. Möwen hockten auf Pollern oder stritten sich um heruntergefallene Pommes frites.

Langsam kletterte Ally aus dem Wagen und sah sich um. In zehn Jahren hatte sich einiges in dem kleinen Hafenstädtchen verändert. Der Charme des neunzehnten Jahrhunderts war noch immer zu spüren, doch es gab zahlreiche Neubauten, vor allem die Verwandlung von winzigen Fischerhäuschen in teils protzige Ferienhäuser fiel ins Auge. Ally rümpfte die Nase und erblickte die dunkelblaue Fassade des zweistöckigen Hotels, das nun den Hafen dominierte. THE TALBOT prangte in schneeweißen Lettern auf der Front.

»Nicht zu übersehen«, meinte Ally und zog ihre Reisetasche vom Rücksitz.

»Ich find’s nicht schlecht. Da hat sich jemand was getraut. War es denn vorher schöner?« Nick packte einen Fotokoffer und eine Tasche und schloss den Wagen ab.

»Ziemlich runtergekommen, aber irgendwie hat es hergepasst, und wir haben oft vorn auf der Terrasse gesessen und Tee getrunken.« Sie seufzte.

»Alles okay mit dir, Ally?«, fragte Nick besorgt.

»Hör auf, mich das dauernd zu fragen!« Sofort bereute sie ihre Heftigkeit und fügte freundlicher hinzu: »Tut mir leid. Lass uns einfach hineingehen.«

Sie überquerten die Straße, die kaum befahren war, da sie in einer Sackgasse vor der Hafenanlage endete. Ein junges Paar schlenderte an ihnen vorbei Richtung Meer. Ally erinnerte sich nur zu gut an die romantische Kulisse der Hafenanlage, wenn man zum Strand hinunterspazierte. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass sie ihr Verhalten von damals ändern könnte, dass sie sich nicht mit dem Studenten verabredet hätte, in den sie verliebt gewesen war. Wenn ihr jemand die Möglichkeit gäbe, eine Zeitreise zu unternehmen, um eine Sache anders zu machen, eine zweite Chance … Aber die gab es nicht.

Zur Rezeption gelangte man durch denselben Eingang, der auch in eine belebte Bar führte. Angeregt plaudernd saßen Gäste in Sesseln und auf Hockern, im Hintergrund war ein riesiger halbkreisförmiger Tresen zu sehen, sanfte Jazzmusik untermalte die entspannte Atmosphäre. Im Vorbeigehen nahm Ally moderne Gemälde und Fotografien wahr und revidierte ihre anfängliche Abneigung gegen das modernisierte Hotel.

»Nett, oder?« Nick ging voraus und wandte sich lächelnd zu ihr um.

»Lass mich erst das Zimmer und das Restaurant sehen.« Zu schnell sollte man sich nie bekehren lassen, dachte Ally.

Lounge und Rezeption waren in Weiß und Naturholztönen gehalten, und durch die großen Sprossenfenster sahen sie direkt auf das Meer. Eine große, blonde Frau kam mit einem professionellen Lächeln energisch auf sie zu.

»Sind wir offiziell vom Magazin angemeldet?«, flüsterte Ally Nick von hinten zu.

Dieser nickte und streckte der attraktiven Blondine die Hand entgegen. »Nick Bellamy, und das ist meine Kollegin Ally Carter.«

»Paige Darby, ich vertrete meinen Mann, der geschäftlich unterwegs ist und sich entschuldigen lässt.« Sie lächelte gewinnend und machte eine einladende Handbewegung zu einer Sitzgruppe. »Was darf ich Ihnen anbieten, oder möchten Sie zuerst Ihre Zimmer sehen?«

Nick warf Ally einen fragenden Blick zu, und als diese die Schultern hob, sagte er: »Einen Drink können wir vertragen.«

»Wir führen exzellenten Malt Whisky. Wäre das etwas für Sie?« Als Nick und Ally nickten, gab die Frau des Inhabers einem Kellner kurze Anweisungen und setzte sich zu ihnen. »Hatten Sie eine problemlose Fahrt? Haben Sie uns gleich gefunden? Manchmal verfahren sich Gäste, weil sie die Abzweigung hinter Swansea verfehlen.«

»Ich war schon oft hier«, sagte Ally und fügte leiser hinzu: »Aber das ist lange her.«

»Sicher haben Sie die Ferien hier verbracht? Es gibt viele Gäste, die als Kinder hier waren und später zurückkehren, wenn sie selbst eine Familie haben oder einfach weil sie ihre Erinnerungen auffrischen wollen.« Paige strahlte, sie schien ganz in ihrem Element.

Allys Miene wurde immer düsterer, und Nick räusperte sich und wechselte das Thema: »Sie haben eine Menge aus dem Hotel gemacht. Die Lage ist ja auch phantastisch! Und Morlan House ist ganz in der Nähe? Das steht ebenfalls auf unserem Plan.«

»Oh ja, der alte Kasten mit seinen Gespenstergeschichten ist eine Attraktion hier, obwohl ich das alles für überzogen halte. Architektonisch ist das Haus interessant, aber sonst – es steht seit Jahren leer, weil kein Investor Geld in ein Fass ohne Boden werfen will.« Sie hob vielsagend die Augenbrauen.

»Man könnte ein Country-Hotel daraus machen. Häuser mit Geschichte sind doch sehr beliebt«, schlug Nick vor.

»Das böte sich an. Mein Mann und sein Geschäftspartner haben sich das sogar selbst angesehen, aber die Auflagen vom Denkmalschutz sind unmöglich«, erwiderte Paige Darby.

Der Kellner servierte den Whisky zusammen mit Mineralwasser und kleinen Sandwiches. Sie erhoben gerade ihre Gläser, als Paige jemandem zuwinkte. »Das passt ja gut, da kommt Roberts Geschäftspartner. Er kann Ihnen alles über den Umbau sagen. Er ist der Architekt.« Paige warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss meine kleine Tochter von einer Geburtstagsparty abholen.« Sie erhob sich.

Höflich standen Ally und Nick ebenfalls auf und drehten sich nach dem angekündigten Herrn um.

»David, dich schickt der Himmel!« Überschwänglich begrüßte Paige einen dunkelhaarigen Mann.

In einem grauen Sweatshirt, Jeans und Segelschuhen schien er gerade von einem der Boote im Hafen zu kommen. Begleitet wurde der Mann von einem triefend nassen Jagdhund, der Anstalten machte, sich zu schütteln.

»Henry, benimm dich. Wir müssen uns von unserer besten Seite zeigen. Sie sind doch vom Inside-Travel-Magazin? David Gowans.«

Der Irish Setter setzte sich gehorsam, und David drückte Allys Hand. Sie war schon beim Klang seiner Stimme zusammengezuckt. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Als ihre Blicke sich trafen, entzog sie ihm ruckartig die Hand.

Nach all den Jahren traf sie ihn ausgerechnet hier wieder. Warum war er hierher zurückgekehrt? Er hatte doch in Edinburgh studiert und immer betont, wie sehr er Schottland liebe. Ally starrte ihn an und brachte keine Silbe über ihre zitternden Lippen. Die schwarzen Haare waren kürzer, an den Schläfen zeigten sich erste graue Strähnen, aber seine faszinierenden braunen Augen weckten genauso beunruhigende Gefühle in ihr wie damals. Er wirkte sportlich, kräftiger, und an seinem Kinn war dieses Grübchen, das ihm etwas unverschämt Jungenhaftes verlieh. Sie hätte ihn überall erkannt. Der traurige Blick seiner dunklen Augen am Strand hatte sie in ihren Träumen verfolgt. Sie hatte ihn nie vergessen, und wie es schien, war er genauso geschockt von dem unerwarteten Wiedersehen wie sie selbst.

»Ally …«, murmelte er.

Das Schweigen dehnte sich aus, bis Nick hüstelte und einfach Davids Hand ergriff. »Alte Bekannte?«

David Gowans fasste sich und lächelte, ohne den Blick von Ally zu wenden. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe.«

»Hätte ich gewusst, dass du hier bist, wäre ich nicht gekommen«, sagte Ally mit heiserer Stimme.

Paige stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Bitte, setzen Sie sich doch, trinken Sie einen Schluck Whisky, der wirklich gut ist und über den Schock hinweghilft. Wir sind doch alle erwachsen. David, mein Guter, kann ich dich jetzt allein lassen? Ich muss Rosie abholen! Robert hat mich im Stich gelassen.«

Sie tätschelte Davids Unterarm und bemühte sich, den nassen Hund nicht zu berühren. Ihr heller Hosenanzug war makellos, genau wie ihre Föhnfrisur. »Henry kann doch auch draußen bleiben, wie oft muss ich das sagen …«

Henry senkte seine Schlappohren und gähnte.

»Das werde ich Rosie erzählen!«, grinste David und ließ sich in Paiges Sessel gleiten.

Schon auf dem Sprung, sagte Paige: »Natürlich sind Sie heute Abend im Restaurant unsere Gäste. Und falls Sie etwas in die Reinigung geben möchten«, ihr anklagender Blick traf Henry, »geht das aufs Haus. David, bitte …«

»Schon gut, es ist alles in Ordnung. Ich mach das schon«, scheuchte er die leicht gereizte Frau seines Partners weg.

Ally fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen und fand, dass überhaupt nichts mehr in Ordnung war. Ihr sorgsam aufgebautes Leben fiel gerade in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

3

Nick hatte sofort begriffen, wer David war, und beendete das Gespräch nach wenigen Minuten. »Seien Sie uns nicht böse, Mr Gowans, aber wir haben eine lange Fahrt hinter uns.«

»David, bitte. Natürlich. Jennifer wird euch alles Weitere erklären. Ab halb neun ist ein Tisch im Restaurant für euch reserviert.« Er verabschiedete sich und ging, gefolgt von Henry, davon.

Als Ally wenig später allein in ihrem Zimmer war, warf sie sich aufs Bett und schluchzte bitterlich. Sie hätte sich besser vorbereiten müssen, dann wäre ihr das hier erspart geblieben. Aber sie hatte nicht einmal seinen Nachnamen gekannt. Herrgott, sie war sechzehn Jahre alt gewesen und hatte sich in einen gutaussehenden Schotten verliebt. Wer fragt mit sechzehn nach dem Nachnamen seines Flirts, und wer kann ahnen, dass er ausgerechnet in Wales Teilhaber eines Hotels wird? Ob er mit Robert Darby befreundet war? Sie konnte sich nicht an einen jungen Mann mit diesem Namen erinnern. Nur David hatte sie nie vergessen. Und ihre dumme Vernarrtheit hatte ihren Bruder das Leben gekostet.

Cardigan Bay, August 2002

Das Wetter war zu schön, um durch staubige alte Häuser zu stromern und sich kaputte Mähdrescher anzusehen! Ally schmollte, seit sie am Morgen losgefahren waren. In der Bucht lockte das glitzernd blaue Meer, und ihre Eltern schleppten sie in ein Museum!

»Seht mal, da vorn kann man es sehen!«, sagte ihre Mutter und zeigte durch das Fenster auf hellgelbe Mauern, die durch dichten Laubwald schimmerten.

»Ganz toll … Aber ich wäre trotzdem lieber zum Strand gegangen. Den haben wir in London nicht, Museen schon. Wäre schön, wenn ich auch mal machen kann, was mir Spaß macht …«, murrte Ally.

Simon dagegen presste glücklich die Nase gegen die Scheibe. »Ach, Ally, das wird gut. Auf Llanerchaeron haben sie Schweine und eine alte Wäschemangel, die wir drehen können, und …«

Ally warf ihrem Bruder einen vernichtenden Blick zu, doch dann mussten sie beide grinsen. »Mein kleiner Professor. Na, dann dreh du mal schön die Wäschemangel, und ich schau mir den Park an.«

Llanerchaeron war ein alter walisischer Landsitz, auf dem die Landwirtschaft wie vor einhundert Jahren betrieben wurde. Ihre Eltern liebten Ausflüge in Herrenhäuser und Schlösser des National Trust, und manchmal fand auch Ally Gefallen daran, aber bei der Hitze wäre ein Tag am Meer einfach tausendmal schöner.

Ihr Vater stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab. Nachdem sie ausgestiegen waren, streckte Ally die Arme über den Kopf und stieß laut die Luft aus. Außer dem Kiesparkplatz, Weiden mit Kühen und Laubwald war nichts zu sehen.

»Ist es nicht wunderschön hier?« Ihre Mutter blickte sich strahlend um und zog ihren Mann in Richtung eines flachen Holzhauses, in dem man die Eintrittskarten kaufen sollte. »Oh, Harold, wir müssen hier wilden Thymian kaufen. Die sind für ihre Gewächshäuser und Pflanzen bekannt.«

Harold Carter lächelte. Er überragte seine zierliche Frau um einen ganzen Kopf. Trotz seiner Freizeithosen und dem Poloshirt sah man ihm den Büromenschen an, fand Ally. Durch die eckige Brille musterte ihr Vater alles und jeden kritisch und runzelte ständig nachdenklich die Stirn. Doch wenn er lächelte, wurde einem warm ums Herz, und Ally verstand, warum ihre Mutter ihn oft verliebt ansah. Es gab so viele Scheidungskinder in der Schule, dass Ally stolz auf die gute Ehe ihrer Eltern war. Wenn sie einmal heiratete, dann nur einen Mann, den sie auch nach Jahren noch verliebt ansehen konnte.

Simon interessierte sich nicht für so alberne Gefühlsduseleien. Er drehte den Lageplan hin und her, den sie mit den Eintrittskarten bekommen hatten, und tippte auf die Farmhäuser. »Komm, Ally, da fangen wir an.«

»Die Gärten und der Teich mit den Seerosen sind auch da?«, fragte sie.

»Ja, dahinter. Na los!«

Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, während sie den sorgfältig geharkten Wegen hinauf zu den Wirtschaftsgebäuden der riesigen Anlage folgten. Das Herrenhaus befand sich etwas abseits hinter einer Reihe prächtig blühender Rhododendren. Simon rannte sofort in eine Scheune zu den alten Landmaschinen. Ally folgte ihm, denn sie hatte Spaß an seiner Begeisterung für Altertümliches. Vielleicht legte sich dann auch ihre schlechte Laune, weil sie nicht zum Strand durfte. Eigentlich liebte sie die abwechslungsreiche Landschaft in Wales – und vor allem das Meer. Vom Klang der auf den Strand rollenden Wellen und dem salzigen Geruch der See konnte sie nicht genug bekommen. Irgendwann, dachte sie, wollte sie in ein winziges Cottage auf einer Klippe über dem Meer ziehen. Was sie dort den lieben langen Tag machen würde, wusste sie noch nicht. Aber allein der Gedanke an einen Rückzugsort ganz für sie allein war verführerisch.

ENDE DER LESEPROBE