Ein Cottage in Wales - oder: Die Frau aus Martinique - Constanze Wilken - E-Book
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Ein Cottage in Wales - oder: Die Frau aus Martinique E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Welche Geschichte verbirgt das Haus an der Küste? Der Familiengeheimnisroman »Ein Cottage in Wales« von Constanze Wilken als eBook bei dotbooks. Wie kannst du glücklich sein, wenn das Leben an dir vorbeirast? Um endlich eine Auszeit zu bekommen, zieht die junge Künstlerin Alexandra in ein kleines Cottage an der walisischen Küste. Durch Zufall findet sie dort eine antike Korallenperlenkette – und einen Abschiedsbrief aus dem Jahr 1841 … Aber wer war die Frau, die hier vor so langer Zeit lebte? Vollkommen fasziniert kann Alexandra nicht anders, als Nachforschungen anzustellen und stößt schon bald auf eine mysteriöse Verbindung zum benachbarten Adelssitz – doch dort erwartet sie eine Mauer aus Schweigen. Einzig der mysteriöse Schotte Ewan bietet ihr seine Hilfe an, und gemeinsam kommen sie schließlich einem alten Geheimnis auf die Spur, das Alexandra dazu zwingt, sich auch den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der berührende Liebesroman »Ein Cottage in Wales – oder: Die Frau aus Martinique« von Constanze Wilken. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 460

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Über dieses Buch:

Wie kannst du glücklich sein, wenn das Leben an dir vorbeirast? Um endlich eine Auszeit zu bekommen, zieht die junge Künstlerin Alexandra in ein kleines Cottage an der walisischen Küste. Durch Zufall findet sie dort eine antike Korallenperlenkette – und einen Abschiedsbrief aus dem Jahr 1841 … Aber wer war die Frau, die hier vor so langer Zeit lebte? Vollkommen fasziniert kann Alexandra nicht anders, als Nachforschungen anzustellen und stößt schon bald auf eine mysteriöse Verbindung zum benachbarten Adelssitz – doch dort erwartet sie eine Mauer aus Schweigen. Einzig der mysteriöse Schotte Ewan bietet ihr seine Hilfe an, und gemeinsam kommen sie schließlich einem alten Geheimnis auf die Spur, das Alexandra dazu zwingt, sich auch den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen …

Über die Autorin:

Geboren an der norddeutschen Küste zog es Constanze Wilken nach einem Studium der Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaft für einige Jahre nach England. Im wildromantischen Wales entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben, aber auch für Antiquitäten. Die Forschungen zur Herkunft seltener Stücke und ausgedehnte Reisen der Autorin sind Inspiration und Grundlage für ihre Romane.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin die folgenden Romane:»Ein Cottage in Wales«»Das Geheimnis des Schmetterlings«»Die vergessene Sonate«»Was von einem Sommer blieb«»Das Licht von Shenmóray«»Die Frauen von Casole d'Elsa«»Die Malerin in von Fontainebleau«»Die Tochter des Tuchhändlers«

Die Autorin im Internet: constanze-wilken.deDie Autorin bei Facebook: www.facebook.com/Constanze.WilkenDie Autorin bei Instagram: www.instagram.com/constanzewilken/?hl=en

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eBook-Neuausgabe Juli 2016, August 2022

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2016, 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Helen Hotson, MaggieGracePhoto

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-98690-526-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Constanze Wilken

Ein Cottage in Wales

Roman

dotbooks.

Für meine Eltern

Prolog

Mit nahezu ungebrochener Kraft schlugen die Wellen gegen die Felsen und ließen anschließend die weiße Gischt auf den grobkörnigen Sand rollen. Die Sonne stand knapp über dem Horizont, der sich im aufziehenden Nebel verlor. Feuchte Schwaden zogen zu den Klippen herauf. Die Frau, die bewegungslos an der Steilküste stand, erschauerte. Es war erst Oktober. Wie sollte sie die dunklen Monate überstehen, wenn die Sonne noch mehr von ihrer wärmenden Kraft verlor? Ihre schlanken gebräunten Hände strichen über das dunkelrote Kleid, dessen seidiger Stoff ihr tröstlich vertraut vorkam. Die Feuchtigkeit kroch überall hinein. Sogar die Unterröcke waren klamm von der Nässe. Sie zog den wollenen Schal enger um die Schultern.

Vom Strand drangen Geräusche herauf. Frauen und Kinder aus dem Dorf stellten die Tücher und Körbe mit mühselig aufgesammeltem Treibholz auf den Boden und winkten den heimkehrenden Fischerbooten zu. Die Frau auf der Klippe nestelte an der Kette um ihren Hals. Die Armen taten ihr Leid. Dieses Land war so hart zu allen, den Menschen wie den Tieren. Sie bewunderte die zähen Schafe, die in den umhegenden Hügeln an steilen Hängen nach grünen Halmen suchten. Die Tiere schienen niemals müde zu werden, einen noch steileren Fels zu erklettern, nur für ein paar saftige Blätter. Die Ziege in ihrem Garten war ebenso anspruchslos. Sie hielt sie wegen der Milch, die sie gab. Die Milch war würzig und schmeckte ihr nicht, aber darauf kam es nicht an. Es stand ihr nicht zu, Ansprüche zu stellen, denn sie wurde nur geduldet.

Aus den aufgesteckten dunkelbraunen Haaren der Frau fiel eine Locke, die sie mit geübtem Griff zurücksteckte. Koketterie war nicht angebracht. Weder den Bauerntölpeln noch den Aufsehern des Lords wollte sie Anlass zu einer rüden Bemerkung geben. Sie konnte die abschätzigen Blicke förmlich spüren, wenn sie durch das Dorf ging. Am schlimmsten war es, wenn sie hinüber auf das Gut gehen musste. Selbst die Mägde schienen zu denken, sie ständen über ihr, und behandelten sie wie ein Dienstmädchen und nicht so, wie es ihrem Rang entsprochen hätte. Sie verstand die bissigen Kommentare, die man ihr hinterherrief, nur zu gut. Sollten diese Kretins doch denken, sie wäre ihrer Sprache nicht mächtig. Trotzig hob sie ihr Kinn dem Meer entgegen.

Der Nebel wurde dichter. Die Menschen hatten den Strand verlassen. Sie waren zum Hafen gelaufen, wo sie den Fischern beim Entladen der Boote halfen. Was sie hier erwartete, hatte sie nicht gewusst. Geahnt hatte sie, dass man sie nicht mit offenen Armen aufnehmen würde, und dennoch hatte sie auf eine respektvollere Behandlung gehofft. So zumindest war sie es gewohnt. In ihrer Familie war man Gästen gegenüber höflich, aber distanziert, wenn sie nicht willkommen waren, doch man ließ es nie an dem nötigen Respekt mangeln. Sie hatte auf ihr Gefühl vertraut. Sie hatte auf ihren Geliebten gebaut, den Mann, dem sie hierher gefolgt war.

»Komm zurück, lass mich nicht allein, mein Herz!« Sie flüsterte die Worte in den Nebel, der sie verschluckte und mit nichts als dem gedämpften Rauschen der Wellen antwortete. Sie streckte die Hände aus, flehentlich, bittend, dass das Meer ihn ihr zurückbringen möge. Wo mochte er jetzt sein? Er war seit mehreren Wochen auf See. Sein Schiff war schnell und sicher. Es hatte ihn schon viele Male über die Ozeane getragen. Vielleicht segelte er die Küsten Afrikas entlang, vielleicht lag er noch in einem spanischen Hafen. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Sie vermisste ihn in einem Maße, dass es schmerzte, ihr die Kehle zuschnürte und den Atem nahm.

Das Geräusch herangaloppierender Hufe schreckte sie aus ihren Gedanken. Hinter den Bäumen des kleinen Hauses, in dem sie jetzt lebte, verlief der Weg zum Gut. Zwischen den Tannen hatte sich der Nebel nicht gesenkt, und sie erkannte einen Boten, der sein Pferd in gestrecktem Galopp die sandige Piste entlangtrieb. Noch war der Boden trocken und für Pferde und Fuhrwerke geeignet. Aber was würde geschehen, wenn der Regen einsetzte? Die Leute im Dorf hatten sie gewarnt. Im Herbst begann die nasse Jahreszeit, die Wege und Straßen weichten auf und wurden teilweise unpassierbar. Dass es ein Bote war, hatte sie an der Ledertasche erkannt, die quer über seinem Rücken und dem zerschlissenen Wams hing. Welche Neuigkeiten brachte er? Es schien wichtig zu sein. Warum sonst quälte der Mann sein Pferd über Gebühr den Hügel hinauf?

Sie würde es erfahren. Früher oder später erfuhr sie, was auf dem Gut geschah, auch wenn man ihre Gegenwart hier ignorierte und sie durch schneidende Missachtung zu quälen suchte. Langsam wanderte sie den schmalen Pfad an der Steilküste entlang. Dämmerung senkte sich über die Bucht. Sie übersah einen Stein auf dem Weg und stolperte, fing sich aber rechtzeitig, ohne zu stürzen.

»Madelaine! Madelaine!«, ertönte eine besorgte Stimme aus dem Haus. »Je viens!« Sie drehte sich um und ging zielstrebig zurück.

Kalt und nass hatte sich auch der November angekündigt. Ein scharfer Westwind fuhr durch die schlecht verfugten Ritzen des Mauerwerks. Im Kamin des kleinen Cottage brannte ein Feuer, an dem Madelaine sich die Hände wärmte. Ihre Finger waren aufgerissen, die Haut spröde und trocken. Den täglich anfallenden Arbeiten war ihre zarte Konstitution nicht gewachsen. Die starken Regenfälle hatten die Getreideernte zum größten Teil zerstört. Die Bauern waren froh, wenn sie etwas von dem Korn als Futter für ihre Tiere verwenden konnten. Wales drohte in diesem Winter eine Hungersnot. Die Lords rationierten Getreide und Zucker. Geschlachtet werden durfte nur nach vorheriger Anmeldung. So sicherten sich die Herren die Kontrolle über die Nahrungsmittel und sorgten für reichlich gefüllte Speisekammern im eigenen Haus. In einem Tal nordöstlich von Aberystwyth herrschten die Pryses of Gogerddan. Sie waren angesehener und mächtiger als die Llangaeroggs, denn sie stellten die Abgeordneten des Wahlbezirkes für das Unterhaus. Im Dorf hatte man ihr erzählt, dass die Gogerddans sogar einen Hofharfner beschäftigten, ein unerhörter Luxus in diesen Zeiten. Das Feuer im Kamin begann zu flackern. Madelaine spürte, wie die Wärme wohltuend ihren ganzen Körper einhüllte. Sie saß auf einer Bank, die Arme vor sich auf den roh gezimmerten Tisch gelegt. Die Augenlider fielen ihr zu, und kurz darauf sank ihr Kopf übermüdet nach vorn.

»Komm zurück, Geliebter. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Wenn doch nur ein Brief von dir käme«, murmelte sie, bevor der Schlaf sie überwältigte.

Kapitel 1

Der Zug von Shrewsbury nach Aberystwyth war kaum besetzt. Kein Wunder, dachte Alexandra, wer fuhr schon freiwillig in die langweilige Abgeschiedenheit der walisischen Bergwelt. So zumindest hatte sie die in einer kleinen Bucht an der irischen See gelegene Kleinstadt Aberystwyth bei ihren früheren Besuchen empfunden.

Als aber heute der Zug gemächlich durch die kleinen Orte mit den oft unaussprechlichen Namen ruckelte, empfand sie die Landschaft ganz anders. Die schwache Novembersonne ließ die Hügel in den verschiedensten Grün- und Rottönen leuchten, und Nebelschleier dicht über den Feldern verliehen der Szenerie etwas Geheimnisvolles. Schafe grasten auf den steilen Abhängen, und Alexandra bewunderte die Leichtigkeit, mit der die Tiere selbst schroffste Felsen erklommen. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und ließ die wechselnden Farbenspiele auf sich wirken. Alexandra Lorenz war Malerin. Seit Monaten jedoch gelang ihr nichts mehr. Sie fühlte sich ausgebrannt und innerlich leer. Burn-out-Syndrom hatte Sylvia Pachevka, ihre Galeristin, gesagt. Sylvia hatte mit Alexandra in ihrem Atelier am Prenzlauer Berg gestanden und sich die Werke angesehen, die an den Wänden und auf den Staffeleien standen. Alexandra erinnerte sich gut an diesen trüben Nachmittag.

Berlin hatte sich von seiner uncharmantesten Seite gezeigt. Der Himmel schien seine Schleusen geöffnet zu haben, um alles Wasser über der Stadt an der Spree auszugießen. Alexandra hatte am Fenster gestanden und den Regentropfen zugesehen, wie sie die Scheibe herabliefen. Ihr Leben war dem Verlauf eines dieser Tropfen nicht unähnlich. Für kurze Zeit schillerte ein solcher Wassertropfen prachtvoll in allen Farben des Regenbogens. Allerdings nur so lange, bis ein anderer Tropfen auf ihn fiel und mit sich in die Tiefe riss. Sie zögerte, sich als labil zu bezeichnen, aber sobald eine Schwierigkeit auftauchte, etwa in Form einer Beziehungskrise, versank Alexandra in Phasen teilnahmsloser Traurigkeit. Ein Tropfen traf sie an jenem Nachmittag. Sie spürte förmlich die kalte Nässe auf ihrer Stirn, als Sylvia ihr mitteilte, dass sie die geplante Ausstellung ihrer Werke abgesagt habe. Alexandra wusste selbst, dass in ihrer Arbeit ein Stillstand eingekehrt war. Sylvia hatte allen Grund, die Ausstellung abzusagen, und Alexandra war ihr deswegen noch nicht einmal böse. Sie konnte beginnen, was sie wollte, ihr Gefühl sagte ihr schon vor dem ersten Pinselstrich, dass sie sich die Farbe auch sparen konnte, denn was auch immer sie in letzter Zeit auf die Leinwand brachte, war weder originell noch interessant. Ihre jüngsten Werke entsprachen qualitätsmäßig in keinem Fall Arbeiten früherer Jahre.

Preise hatte sie gewonnen. Man hatte ihr ein Stipendium für einen Meisterkurs an der Akademie in Rom geschenkt. Ihre Arbeiten, die sich vorwiegend mit sozialkritischen Themen befassten, waren aggressiv, schockierend und durch ihre ausgefeilte Öltechnik überzeugend gewesen. Was sie heute malte, war banal. Es gab wohl nichts Schlimmeres für einen Künstler, als sich eingestehen zu müssen, dass die eigenen Arbeiten banal, überflüssig, verschwendete Leinwand waren. Möglicherweise übertrieb sie etwas, aber Sylvia hatte ihr eine längere Pause empfohlen, und das hatte sie bisher noch nie getan. Außerdem hatte die Galeristin, die diszipliniert nach einem ausgeklügelten Ernährungs- und Sportprogramm lebte, ihr gesagt, sie sähe furchtbar aus. Alexandra hatte dem nichts entgegenzusetzen. Ihre Haut wirkte grau, und die dunklen Augenringe verliehen ihr nicht gerade einen lebendigen Ausdruck. Sie rauchte zu viel, sie schlief zu wenig, und sie ernährte sich von Fastfood.

Alexandra lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe. Die Klimaanlage verbreitete eine nahezu unerträgliche Hitze im Abteil. Es war Sylvias Idee gewesen, auf unbestimmte Zeit nach Wales zu fahren. Als Alex ihrer Schwester Karen von ihrem Vorhaben berichtet hatte, war diese sofort begeistert gewesen. Sie schien nicht einmal überrascht, dass Alex Berlin für einige Zeit verlassen wollte. Karen lebte seit Jahren mit Mann und Kindern in Aberystwyth. Glücklich. Alexandra seufzte. Sie gönnte ihrer Schwester das familiäre Glück von Herzen, auch wenn sie nicht verstand, wie Karen es tagtäglich in der abgelegenen Kleinstadt aushielt.

Der Zug verlangsamte die Fahrt, ruckelte einige Male und blieb dann stehen. Alexandra schaute aus dem Fenster. Eine Bahnstation war nicht zu sehen. Die Wiesen neben den Gleisen waren von Wasser bedeckt. Wahrscheinlich hatten die Niederschläge den Bahndamm aufgeweicht. Das war nicht ungewöhnlich und würde die Fahrt nur um einiges verzögern. Gestern um diese Zeit hatte sie die letzten Umzugskisten gepackt. Ihre Berliner Atelierwohnung hatte sie Frank, einem Kollegen und Freund, überlassen. Bei ihrer ersten Begegnung mit Frank, auf einer von Sylvias Vernissagen, hätte sie sich beinahe in den attraktiven Mann verliebt. Sylvia hatte bedauernd abgewinkt, denn Frank war homosexuell. Aus der Begegnung war eine tiefe Freundschaft geworden. Frank fing Alexandra auf, wenn sie einer ihrer depressiven Stimmungen erlag. Alexandra mochte seine Arbeiten. Er beherrschte eine virtuose Ölmaltechnik, mit der er kühle Porträts von leeren Großstadtgesichtern schuf. Aber Frank war die Bewunderung egal, wie ihm fast alles egal war, solange er nur Weiterarbeiten konnte. Er ging in dem, was er tat, auf. Warum konnte sie das nicht?

Fahrig griff sie nach einer zerknitterten Schachtel Zigaretten. Sie versuchte seit langem, sich das Rauchen abzugewöhnen. In ihrer derzeitigen Verfassung war das mehr als aussichtslos. Der bläuliche Rauch stieg nach oben. Mit einem scharfen Ruck zog die Lok wieder an und setzte die unterbrochene Fahrt fort. Außer Frank und Sylvia wusste niemand ihre neue Adresse. Auch Wolfgang nicht. Ihr letzte Affäre. Sie stieß den Rauch aus und biss sich auf die trockenen Lippen. Sie wollte alles hinter sich lassen, dazu gehörte auch diese in ihren Augen schon seit Wochen gescheiterte Beziehung. Unbewusst verzogen sich ihre Lippen zu einem bitteren Lächeln. Mit dreißig Jahren konnte sie auf nichts weiter als eine Anzahl zerbrochener Beziehungen zurückblicken. Ihre Karriere stagnierte. Sie fühlte sich leer. Fantastisch!

Ihr Sitznachbar sah sie erstaunt an. Anscheinend hatte sie das letzte Wort laut ausgesprochen. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder der vorüberziehenden Landschaft zu. Karen hatte sich um ein Haus für sie gekümmert. Ein Cottage direkt am Meer. Die Miete war nicht zu hoch und die Umgebung atemberaubend – mehr konnte man sich nicht wünschen. Den Rest musste sie schon selbst übernehmen, und sie hoffte, dass sie dazu in der Lage sein würde.

Eingeschlossen von einer Hügelkette, erstreckte sich Aberystwyth entlang eines kleinen Flusses bis hinunter zum Meer, das glitzernd in der Sonne lag. Von größeren Bausünden war die Stadt weitestgehend verschont geblieben, viktorianischer Baustil überwog und gab der Küstenstadt eine gemütliche Atmosphäre. Auf einem Hügel am Stadtrand thronte die Universität mit dem imposanten Gebäude der Nationalbibliothek.

Alexandra packte ihre Sachen zusammen, die aus ihrer Handtasche, einer mittelgroßen Reisetasche und einem schweren Koffer bestanden. Mehr konnte sie allein nicht tragen. Eine Spedition würde ihre anderen Sachen liefern. Sie strich sich die kurzen dunklen Locken aus dem Gesicht, zupfte an ihrem Rollkragenpullover und schlüpfte in ihren Wildledermantel. Sollte nicht ein weiteres Hindernis die Fahrt verzögern, müsste sie in wenigen Minuten ihr Ziel erreicht haben.

Das Haus von Charles und Karen befand sich unterhalb von Penglais Hill, dem Universitätsberg, in einer ruhigen Seitenstraße. Es lag etwas erhöht inmitten eines wunderschönen Gartens, den Karen mit Hingabe pflegte. Im Winter war von der Blütenpracht des Gartens zwar nichts zu sehen, doch die sorgfältig getrimmten Büsche und Bäume ließen erahnen, dass sich hier mit den ersten Sonnenstrahlen die Pflanzenwelt verwandeln würde. Ihre Schwester hatte sie zusammen mit den Kindern vom Bahnhof abgeholt. Karen sah wie immer perfekt aus und schien in der Mutterrolle aufzugehen. Alexandra stieg aus dem Wagen und wollte zum Kofferraum gehen.

»Nein, lass nur, den schweren Koffer holt Charles nachher. Komm erst mal rein. Ich weiß, dass eine Reise nach Aberystwyth lang ist.« Karen lachte. »Ich habe selbst oft genug darüber geklagt. Aber man gewöhnt sich an alles. Ich möchte für nichts auf der Welt mit einer Stadtwohnung in London tauschen.«

Karen hatte trotz der Geburten ihre schlanke elegante Gestalt bewahrt und bewegte sich im Garten wie bei Empfängen mit derselben leichten Selbstverständlichkeit. Alexandra fühlte sich bei offiziellen Anlässen immer unwohl und versuchte, sich ständig um die Anwesenheitspflicht bei Vernissagen zu drücken, sehr zum Ärger von Sylvia. Die Kinder stürmten an ihnen vorbei ins Haus, als Karen die Tür aufschloss. Ein warmer Duft von Gebratenem und Gebackenem schlug ihnen entgegen.

Alexandra schnupperte. »Hier duftet es verführerisch!«

Karen nahm ihr den Mantel ab. »Ja, noch. Ich hoffe nur, Charles war da, um auf den Kuchen aufzupassen. Charles?«, rief sie ins Haus.

»Hier, Darling!«, kam es aus der Küche, die sich links der Eingangshalle befand.

Charles Conway kam mit charmantem Lächeln in die Halle und begrüßte Alexandra herzlich. Er war groß, schlank und vom vielen Golfen, seiner Leidenschaft, gebräunt. Dichtes, dunkelblondes Haar umrahmte sein offenes Gesicht. Alexandra konnte verstehen, dass Karen sich so schnell für diesen energiegeladenen, fröhlichen Mann entschieden hatte. Zudem hatte er eine gut gehende Anwaltskanzlei, die er vor einem Jahr durch einen Kompagnon erweitert hatte. Automatisch sprachen jetzt alle Englisch. Karen pflegte ihre Muttersprache mit den Kindern, doch schon wegen der Schule wurde sonst Englisch gesprochen.

Das Esszimmer war festlich gedeckt, und da es auf sieben Uhr zuging, schlug Karen vor, nach einem Aperitif mit dem Essen zu beginnen. Alexandra hatte den Kindern ihre Willkommensgeschenke gegeben, die sie jetzt mit Begeisterung auspackten. Für Karen und Charles hatte sie auf dem Flughafen noch rasch einen edlen Whiskey und ein Parfüm mitgenommen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein Bild mitzubringen, aber nach Sylvias abfälligen Äußerungen hatte sie diese Idee verworfen.

Karen sagte beiläufig: »Vater hat angerufen. Ich habe ihm gesagt, dass du kommst, und er lässt dich herzlich grüßen.«

»Danke. Das hat ihn sicher viel Überwindung gekostet. Wo ist er jetzt überhaupt?« Alexandra drehte ihr Glas zwischen den Händen.

»Barbados. Sie haben sich dort ein Haus gekauft. Alex, er sorgt sich wirklich um dich. Mach es ihm doch nicht so schwer. Er ist auch nicht mehr der Jüngste.«

»Mir bricht das Herz. Er hätte früher mehr Zeit für uns haben sollen.«

Sie wollte hinzufügen, dass er sein geheucheltes Interesse anderen widmen solle, beließ es aber bei der einen bissigen Bemerkung. Karen konnte nichts dafür, denn sie war immer auf Harmonie innerhalb der Familie bedacht. Sie konnte verzeihen, Alexandra nicht. Wenn jemand ihren Vater erwähnte, war das etwa so, als hielte man ihr ein rotes Tuch vor Augen. Die Wut auf ihren Vater war ein Teil von ihr geworden. Sie war gerade sechs Jahre alt gewesen, als er sie und ihre Schwester auf ein Schweizer Internat geschickt hatte. Ihr Vater war Björn Lorenz, der Hotel-Lorenz, Besitzer einer Kette von Nobelhotels auf der ganzen Welt. Seine Hotels standen nur in den Teilen der Welt, die sich durch besondere landschaftliche Schönheit oder die Faszination einer städtischen Metropole auszeichneten. Er opferte seine gesamte Zeit dem Ausbau seines Imperiums. Zu seiner perfekten Welt gehörten auch eine attraktive Frau und zwei hübsche Töchter.

Dass sie das Ebenbild ihrer Mutter Irene war, hatte sie oft genug gehört. Vielleicht hatte ihr Vater den Anblick der kleinen Tochter nach dem Tod seiner Frau einfach nicht mehr ertragen? Aber nein, es war die einfachste Lösung gewesen, die Kinder fortzugeben. Hilflos hatten sie und Karen mit ansehen müssen, wie die Sanitäter die Bahre mit ihrer Mutter aus dem Hoteleingang trugen. Die schwarzen Locken umrahmten die ebenmäßigen bleichen Züge Irenes, die zu schlafen schien. Ihre Hand fühlte sich kalt an, als Alexandra sie im Vorbeigehen berührte. Björn Lorenz hatte die Mädchen zur Seite geschoben und alles geregelt. Darin war er gut. Er organisierte und delegierte seine Angestellten auf die gleiche Weise wie seine Familie.

Was sollte er auch mit zwei trauernden kleinen Mädchen anfangen? In seiner geschäftigen Welt war für schwierige Gefühle kein Platz. Für jedes Problem fand sich eine Lösung. Das war einer seiner Lieblingssprüche. In diesem Fall waren sie und Karen das Problem, die Lösung war ein Internat. Karen fand sich mit der Situation ab. Sie schlüpfte in eine neue Rolle und wurde Schwester, Freundin und Mutter in einem für Alexandra. Ohne Karen hätte Alexandra die Schulzeit nicht durchgestanden. Sie wurde zu einem rebellischen Kind, das jeden Lehrer an die Grenzen seiner Geduld trieb. Mit vierzehn begann sie zu rauchen, nicht, weil es ihr schmeckte, sondern weil sie dadurch auffiel, sich ständiger Rügen seitens der Lehrer sicher sein konnte.

Eines Vormittags, man hatte sie wieder einmal rauchend auf dem Schulgelände ertappt, zitierte ihre Klassenlehrerin sie ins Direktorenzimmer. Alexandra sah sich dem Schulleiter und drei Lehrern gegenüber. Sie betrachtete das Tribunal, das ihre Strafe festsetzen würde, und stellte fest, dass sie keine Angst hatte. Es war ihr egal, was man entschied, sie brauchte die Schule mit all ihren lächerlichen Regeln nicht. Autoritäten waren dazu da, ihr das Leben zu erschweren. Immer meinte man zu wissen, was das Beste für sie sei. Alexandra brach alle Regeln, die es zu brechen gab. Warum sie trotzdem nie des Institutes verwiesen wurde, erfuhr sie durch eine Mitschülerin.

Jessica stand während des Kunstunterrichtes, dem einzigen Fach, das Alexandra mit Leidenschaft betrieb, neben ihr an der Staffelei.

»Alex, mal mir doch bitte das Pferd hier. Meins sieht aus wie ein Hund.« Mit geübten Strichen skizzierte Alexandra ein Pferd in die Ruinenlandschaft ihrer Freundin.

»Weißt du, Jessi, eigentlich hätte ich beurlaubt werden müssen. Ich habe die Ochsenaugen aus der Sezierstunde mitgenommen und sie Frau Mehret in einem Glas auf das Pult gestellt. Die ist weiß geworden vor Wut!«

Jessica setzte den Pinsel ab. »Du kannst machen, was du willst, die werfen dich nicht raus. Weißt du das denn immer noch nicht? Dein Vater hat den Neubau der Aula finanziert.«

Alexandra schluckte. Das war es also. Er hatte wieder einmal gewonnen.

Ihre Schwester weigerte sich, dazu etwas zu sagen. Was es für Karen bedeutet haben musste, mit dem Verlust der Mutter, einer aufsässigen Schwester und den Anforderungen der Schule fertigzuwerden, begriff Alexandra erst sehr viel später. Sie hatte es Karen wirklich nicht leicht gemacht. Doch trotz der Schwierigkeiten wusste Karen, dass Alexandra sie bedingungslos liebte. Das war bis heute so geblieben. Es gab keinen Menschen, dem sie so vertraute wie ihrer Schwester. Niemand sonst wusste um ihre Verlustängste, die sie nicht losließen, sie umklammerten wie eine schwarze Spinne. Selbst Frank hatte sie nicht alles erzählt.

Ihre Mutter war eine strahlende Schönheit gewesen, der Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Wenige prägende Momente waren ihr aus der Zeit vor Irenes Tod geblieben. Während Karen schon nach unten ging, um die Kinder befreundeter Gäste zu begrüßen, blieb Alexandra meist im Zimmer ihrer Mutter und sah ihr beim Ankleiden zu. Irene besaß eine so große Auswahl an Abendgarderoben, dass sie an jedem Tag eines Monats etwas anderes hätte tragen können.

»Liebes, welches Kleid soll ich anziehen? Dieses? Nein, zu pink. Dieses? Oh ja, das passt zum Motto des heutigen Abends. Schatz, sei so lieb und gib mir das helle Tuch, das auf dem Sessel liegt.«

Irene redete zwar mehr mit sich selbst, doch das störte Alexandra nicht. Diese Minuten, bevor ihre Mutter hinunterging und den Rest des Abends lachend und plaudernd mit den Gästen verbrachte, gehörten ihr. Nie würde sie den Geruch von Irenes Parfüm vergessen, und wenn sie heute irgendwo den Duft von Shalimar wahrnahm, zuckte sie unbewusst zusammen. Irene hatte alles besessen – Schönheit, Reichtum, zwei Kinder und einen Mann, der sie anbetete. Und dennoch hatte sie sich gegen das Leben entschieden. Sie war einfach so gegangen. Sie hatte keine Zeile hinterlassen, und dafür hasste Alexandra sie.

Karen und ihr Väter waren nicht der Ansicht, dass Irene Selbstmord begangen hatte, aber Alexandra war anderer Meinung. Man schluckte nicht aus Versehen zu viele Tabletten. Irene hatte sich von ihrem Mann vernachlässigt gefühlt. Er hatte ihr kaum mehr Zeit gewidmet als seinen Kindern. Alexandra war davon überzeugt, dass Irene einsam gewesen war. Tief in ihr musste sich diese kalte Dunkelheit ausgebreitet haben, die sie selbst nur zu genau kannte.

Ihr Vater hatte sich über den Verlust seiner Frau rasch hinweggetröstet. Innerhalb weniger Monate heiratete er ein junges Model, von dem er sich nach einem Jahr wieder scheiden ließ. Es folgten unzählige Affären und zwei weitere Ehen. Vor drei Jahren hatte er Frederike von Soest, eine zehn Jahre jüngere Geschäftsfrau, geheiratet. Alexandra war nicht zur Hochzeit erschienen. Karen hielt den Kontakt zu ihrem Vater aufrecht, doch ihre Versuche, bei Alexandra Verständnis für sein Verhalten zu wecken, blieben erfolglos.

Charles fragte seine Schwägerin: »Zeigst du uns bald deine neuen Arbeiten?«

»Die sind nicht so gut, ich will versuchen, hier neue Inspiration zu finden.« Alexandra krauste die Stirn.

»Das Cottage liegt malerisch schön auf einem Hügel, mit Blick auf die See. Das könnte bestimmt helfen. Magst du das Meer?«

»Ja, sehr, besonders wenn es stürmt und sich die Wellen auftürmen.«

Charles lächelte. »Na, dann bist du genau zur richtigen Jahreszeit hier eingetroffen. Von Stürmen wirst du noch genug sehen. Sollen wir essen? Ich sterbe vor Hunger.«

Die Düfte hatten nicht zu viel versprochen – Karens Lammbraten war köstlich, das Gemüse frisch und der Schokoladenkuchen der Kinder ein würdiger Abschluss des Mahles.

Mary-Anne, ihre Nichte, stand auf und nahm Alexandras Hand. »Komm, ich zeig dir dein Zimmer. Da wohnt sonst Großvater, wenn er hier ist.«

Alexandra hoffte nur, dass das nicht oft der Fall war, denn ein Streit mit ihrem Vater – und darin endeten alle ihre Begegnungen – war das Letzte, was sie jetzt ertragen konnte. Das helle Zimmer im ersten Stock war mit blumigen Stoffen dekoriert, die Möbel aus warmem Kirschholz. Nichts deutete auf die gelegentliche Anwesenheit ihres Vaters hin. Danke, Karen, dachte Alexandra.

Sie schlief tief und traumlos, was sie auf die Erschöpfung nach der langen Reise zurückführte. Am nächsten Morgen erwartete Karen sie unten in der Küche mit einem reichhaltigen Frühstück. Charles war schon in der Kanzlei, Mary-Anne in der Schule und der kleine Dennis im Kindergarten.

Nach gebratenen Eiern, Toast, Orangensaft und Tee hob Alexandra abwehrend die Hände. »Karen, ich kann nicht mehr! Du willst mich mästen!«

»Na ja, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Du bist mager, nicht dünn, sondern mager, und das steht dir nicht. Rauchst du noch?«

»Ich will aufhören, einer meiner guten Vorsätze. Außerdem habe ich es Frank versprochen.«

»Frank?«, fragte Karen, während sie den Tisch abräumte.

Alexandra half ihr. »Ein guter Freund, schwul und ein begabter Künstler. Ich habe ihm meine Wohnung überlassen.«

»Oh, und was ist mit Jean?«

»Herrje, schon lange vergessen. Wolfgang war der Letzte und furchtbar anstrengend. Er wollte immer wissen, was ich vorhabe, wie ich mir die Zukunft vorstelle, da musste ich Schluss machen, denn ich habe Platzangst mit ihm bekommen.«

»Hast du denn Pläne?« Karen steckte sich eine blonde Strähne hinter das Ohr und sah ihre Schwester an.

Alexandra wich dem Blick aus. »Schwer zu sagen. Auf jeden Fall will ich wieder gute Bilder malen. Das ist das Einzige, von dem ich weiß, dass ich es kann. Aber es geht nicht, wenn ich mich so leer fühle wie in der letzten Zeit. Egal, es wird schon. Zeigst du mir das Haus? Ich bin schon richtig neugierig.«

Karen verbarg ihren besorgten Blick und stellte den letzten Teller in einen der kleinen Schränke. »Okay, gehen wir!«

Durch serpentinenartige Straßen erklommen sie die Hügel, die Aberystwyth einschlossen. Nach fünfzehn Minuten verlangsamte Karen die Fahrt des Range-Rovers – hinter der nächsten Kurve erstreckte sich eine Wiese bis hin zu einer kleinen Baumgruppe, hinter der ein roter Giebel hervorlugte. Sie fuhren rechts um die Tannen herum und blieben vor einem weiß verputzten Cottage stehen, dessen hellrote Dachziegel sie von weitem gesehen hatten.

Karen stellte den Motor ab. »Na, wie findest du es?«

»Noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe.« Alexandra sprang begeistert aus dem Wagen. »Sieh nur, und da ist das Meer, man kann es richtig rauschen hören.« Sie zeigte auf den Klippenrand, hinter dem die irische See melodisch an den Strand schlug.

»Ob dir das auch nicht zu viel wird, zu viel Natur und Einsamkeit, meine ich? Du hast bisher nur in Städten gelebt.« Karen trat hinter Alex und legte den Arm um ihre Schultern, »Falls du dich hier nicht wohl fühlst, finden wir auch etwas anderes.«

»Nein, nein, Karen, das ist genau das, was ich wollte, ehrlich. Schau nur, der kleine Garten, und da vorn gibt es sicher eine Terrasse, und kann man vielleicht zum Strand runterklettern?« Sie ging auf den Klippenrand zu.

»Ja, das kannst du.« Karen führte Alexandra zur Rückseite des Hauses, an der sie ein großes bodentiefes Terrassenfenster entdeckte. Der Rasen, der wahrscheinlich einiger Pflege bedurfte, erstreckte sich etwa zwanzig Meter bis direkt an die Klippen, wo eine hölzernes, wenig Vertrauen erweckendes Geländer den Abstieg andeutete.

Alexandra sah hinunter. »Das ist ja toll, ich habe einen eigenen Strand. Sind hier im Sommer viele Touristen?«

»Mehr in der Bucht direkt vor der Stadt. Aber ein paar Wanderer wirst du schon mal sehen. Da hinter der Straße führt ein Wanderpfad in die Hügel hinauf, und die Straße wird natürlich von den Llangaeroggs genutzt.«

»Den wer?« Alexandra konnte den Namen kaum aussprechen.

»Der alte Earl von Llangaerogg lebt dort mit seinem Sohn Roger, der Tochter Cynthia und deren Mann Rupert Sikes. Ein unsympathischer Kerl. Charles hatte geschäftlich mit ihm zu tun. Wirst sie schon kennen lernen, das geht hier oben schnell. Roger ist nett, ein echter Charmeur – nimm dich in Acht!«

»Also die haben da oben ein Schloss, oder was?« Alexandra sah zu den Hügeln hinauf.

»Mehr ein Herrenhaus. Früher war das sicher eindrucksvoll, heute fehlt es an Geld, um den alten Kasten in Stand zu halten. Das Cottage hier gehörte einmal zum Besitz des Gutes, wie überhaupt das gesamte Land hier oben.« Karen machte eine weite Geste, die die Felder und Wiesen mit den Schafen und den Wald jenseits der Straße einschloss. »Komm, ich zeige dir jetzt das Innere des Hauses.«

Alexandra war ehrlich überrascht, denn das einfach wirkende Äußere täuschte über den modernen Komfort des Hausinneren hinweg. Ein geräumiges Kaminzimmer lag zur Terrasse hinaus. Vorn befanden sich eine kleine Küche und ein Duschbad. Im ersten Stock gab es zwei Schlafräume und ein Badezimmer mit Badewanne.

»Und jetzt kommt es!« Karen deutete auf eine hölzerne Wendeltreppe, die in das Dachgeschoss führte. Sie stieß eine Bodenluke auf und beide kletterten hindurch. Sie standen in einem großen Dachboden, dessen Wände isoliert waren, ansonsten war der Raum leer und wurde nur von den dicken Holzbalken, die das Dach trugen, unterteilt. Ein Fenster ließ Tageslicht durch die Giebelfront Richtung Wasser. Kleinere Luken brachten Licht durch das Dach herein.

Karen sah Alexandra erwartungsvoll an. »Natürlich musst du hier noch was dran tun. Aber wenn du ein großes Fenster einbauen lässt, und das darfst du, wir haben den Vermieter gefragt, dann könnte ich mir das gut als Atelier vorstellen.«

Alexandra sah ihre Schwester sprachlos an. »Karen, das ist so perfekt, wie kann ich dir nur danken?« Sie umarmten sich.

»Indem du fantastische Bilder erschaffst und dich hier wohl fühlst, Alex.« Karen strich ihrer Schwester liebevoll durch die widerspenstigen Locken.

»Aber ich brauche einen Wagen hier oben. Busse fahren sicher nur zweimal die Woche, oder?«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Es gibt einen guten Gebrauchtwagenhändler in der Stadt. Charles kann mit dir hingehen, wenn du willst. Er kennt sich besser aus mit Autos.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile über praktische Notwendigkeiten, die bei einem Umzug anfielen. In einem der Schlafzimmer standen ein Bett und ein Schrank, im Kaminzimmer gab es ein beiges Sofa mit Couchtisch. Karen und Charles hatten ihren Speicher nach überflüssigem Mobiliar durchforstet und die Sachen für Alexandra herausgesucht, damit sie für den Anfang nicht ganz ohne Einrichtung dastand. Das Geschirr und die Töpfe stammten sicherlich auch von Karen, obwohl sie das abstritt. Sie fuhren zurück in die Stadt, wo Karen ihrer Schwester den Zweitwagen, einen handlichen Rover, überließ. Charles Büro war nur fünf Gehminuten vom Haus entfernt, sodass er kein Auto brauchte.

In den folgenden Tagen war Alexandra damit beschäftigt, das Haus einzurichten, obwohl sie nicht viele Möbel brauchte. Notwendig waren nur ein Schreibtisch für den Computer, den sie in das zweite Schlafzimmer stellte, dazu ein Stuhl und Regale für ihre Bücher, die sie im Kaminzimmer aufbaute. Drei Tage nach ihrem Einzug wurden tatsächlich ihre Kisten von einer Spedition angeliefert. Nachdem sie ihre Staffeleien auf dem Dachboden aufgebaut, die Farbtuben auf die Tapeziertische gelegt und die Pinselbehälter aufgestellt hatte, fühlte sie sich schon viel wohler. Mit dem Malen würde es noch eine Weile dauern, aber allein das Wissen, es tun zu können, wenn ihr danach war, gab ihr ein gutes Gefühl.

Natürlich war sie nicht so organisiert wie Karen, und deshalb standen auch nach zwei Wochen noch Kisten im Wohnraum, in denen unausgepackte Bücher und Papiere lagen. Das einzige Möbelstück, das sie nicht in Berlin zurückgelassen hatte, war ein Schreibtisch aus dem 19. Jahrhundert, der ihrer Mutter gehört hatte. Mit seinen kunstvollen Nussholzintarsien und Messingbeschlägen im Stile des kurvenreichen Rokoko passte er sicher nicht unbedingt zu den modernen Möbeln, aber das störte Alexandra nicht. Ihr Kleidungs- wie auch ihr Einrichtungsstil waren unkonventionell – wenn ihr etwas gefiel, benutzte sie es, und mit ihrem ausgeprägten ästhetischen Empfinden mischte sie harmonisch scheinbar Unvereinbares. Sie stellte den Schreibtisch mit den vielen kleinen Schubladen neben eines der Bücherregale im Kaminzimmer.

Inzwischen war sie stolze Besitzerin eines gebrauchten Jeeps. Charles hatte ihr zu einem geländegängigen Fahrzeug geraten, denn wenn es viel regnete, waren die Straßen in den Hügeln oft schlammig und mit einem normalen Wagen kaum zu passieren. Das Haus gefiel ihr von Tag zu Tag mehr, es atmete, wie sie fand, eine gewisse historische Gelassenheit und stand wie ein Zufluchtsort auf der Klippe, wo es dem ständigen Wind und der salzigen Gischt, die oft bis nach oben spritzte, trotzte. Alexandra erkundete auf ausgedehnten Spaziergängen die Umgebung, wobei sie die offenen Hügel dem Wald vorzog. Zwar roch es angenehm nach Tannen, aber auch nach vermoderndem Holz, und im dämmrigen Zwielicht des dichten Waldes fühlte Alexandra sich unwohl. Sie war jedes Mal erleichtert, wenn sie aus den Bäumen heraus ans Tageslicht trat und den Wind spürte, der die frische Luft vom Meer herübertrug. Auf einer ihrer Wanderungen war sie auf die andere Seite des Hügels geraten, der ihr Cottage vom Anwesen der Llangaeroggs trennte.

Aus der Ferne baute sich die aus grauen Steinen erbaute zweiflügelige Anlage imposant auf. Je näher sie kam, desto deutlicher wurden große Risse im Mauerwerk, und die vernachlässigte Parkanlage ließ von der einstigen herrschaftlichen Pracht nur wenig erahnen. Auf einer Koppel hinter einem der beiden Stallgebäude grasten zwei Pferde. Ein Mann in Cordhose und Wachstuchjacke kam um die Ecke eines der Ställe und schaute zu den Hügeln, wo er sie entdeckte. Alexandra zuckte zusammen, sie fühlte sich als Eindringling, obwohl sie geglaubt hatte, auf einem öffentlichen Pfad zu laufen, und wollte sich rasch umdrehen. Der Mann ging jedoch in ihre Richtung und winkte ihr zu. Zögernd folgte Alexandra dem Weg bis zum Haus, wo sie ein lächelnder Roger Llangaerogg erwartete.

»Guten Tag! Sie sahen so verloren aus dort oben und dann bei diesem Wetter!« In der Tat hatte es angefangen zu nieseln. »Außerdem war ich neugierig, und wenn mich nicht alles täuscht, weiß ich auch, wer Sie sind!« Er reichte ihr die Hand und stellte sich vor. »Und Sie sind Alexandra Lorenz, die Schwester der entzückenden Karen, und wohnen im Cottage auf der anderen Seite, habe ich Recht?!«

Alexandra gab sich von so viel Charme geschlagen und schüttelte lachend die dargereichte Hand. »So ist es. Allerdings wundert mich Ihre genaue Kenntnis. Ich dachte, die Tage Cromwells und der Spione wären vorüber?«

Roger grinste, wobei er eine Reihe blendend weißer Zähne entblößte. »Aber doch nicht hier! Auf dem Lande weiß jeder schon heute, was morgen passiert. Naja, in etwa – der Winter ist lang, und was gibt es Interessanteres als im Pub den neuesten Tratsch auszutauschen.«

Sie schätzte Roger auf Mitte vierzig. Rötliches Haar mit einsetzenden Geheimratsecken, grüne Augen und die große Gestalt, die er gekonnt elegant in Positur setzte, vervollständigten das Bild des Landadeligen, wenn sie denn je eines vor Augen gehabt hätte. Er schien auf eine Erwiderung zu warten.

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber ich genieße die Ruhe hier.«

Seine grünen Augen musterten sie neugierig. »Schwer vorstellbar, dass eine so attraktive junge Frau sich freiwillig in dieser Gegend vergräbt.«

»Meine Schwester lebt auch hier«, konterte sie.

»Schon, aber sie ist verheiratet, und ihr Mann hat seine Kanzlei hier, eine gute, wie ich zugeben muss. Sie sind allein, oder irre ich mich?«

»Mein Familienstand dürfte Sie wohl kaum etwas angehen, genauso wenig wie die Gründe für meinen Aufenthalt hier in Wales. Ich habe noch zu tun und möchte Sie nicht länger aufhalten.« Verärgert drehte sie sich um und begann, den Hügel wieder hinaufzustapfen.

Roger schien nicht im Mindesten gekränkt von ihrer Schroffheit. »Hat mich gefreut, Alexandra. Vielleicht sehen wir uns abends in Aberystwyth? Rummers ist ein netter Pub!«, rief er ihr hinterher.

Innerlich lächelte sie, drehte sich aber nicht noch einmal um. Der Regen nahm zu, und sie beschleunigte ihren Schritt.

Kapitel 2

Seit Tagen regnete es. Alexandra saß auf dem Boden ihres Kaminzimmers. Bücher stapelten sich, Kisten standen geöffnet herum und machten ein Durchkommen kaum noch möglich. Genau der richtige Tag, um endlich alles einzuräumen. Das sagte sie sich schon seit ihrer Ankunft. Jedes Mal, wenn sie anfing, eine der Kisten auszupacken, blieb sie an etwas hängen. Heute war es ein großformatiger Bildband über Georgia O’Keeffe. Die warmen Farben und abstrahierten Formen, die so viel Raum für die Fantasie des Betrachters ließen, faszinierten sie. Mit den Fingern strich sie die fast greifbar weiche Form aus rosa schimmerndem Weiß entlang, die eine Höhlung zu umschließen schien. Das in unzähligen Schattierungen leuchtende Türkisblau zog sie in die Tiefe ihrer eigenen Gefühle. So musste man malen! Sie seufzte und lehnte den Kopf an die warmen Steine des Kamins.

Der Makler hatte Karen versichert, dass der Kamin ein Bestandteil des ursprünglichen Hauses sei, das wohl aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stammte. Die Natursteine wirkten in der Tat alt und gebraucht. An manchen Stellen bröckelte es aus den Fugen, sodass Alexandra schon mit dem Gedanken gespielt hatte, die Feuerstelle renovieren zu lassen. Das kleine Feuer, welches sie mühsam zustande gebracht hatte, war erloschen, doch die Steine speicherten die Wärme und gaben sie langsam ab. Sie wollte aufstehen, um sich eine Tasse Tee zu machen, doch ihre Haare mussten sich in dem porösen Mauerwerk verfangen haben. Mit einem kurzen Ruck befreite sie eine Strähne aus der steinernen Falle und war entsetzt, als sie den losen Stein bemerkte. So marode hatte sie sich den Kamin nicht vorgestellt. Vorsichtig wollte sie den Stein wieder in seine ursprüngliche Position schieben. Sicherheitshalber rüttelte sie an den benachbarten Steinen, doch sie rührten sich keinen Zoll breit.

Dieser hier jedoch – Alexandra zog ihn vorsichtig weiter heraus – ließ sich mühelos bewegen, ganz so, als sei er dafür gefertigt worden. Neugierig geworden, starrte Alexandra in die freigelegte Öffnung. Zuerst konnte sie nichts erkennen, doch ganz hinten schien etwas zu liegen. Sie fuhr mit der flachen Hand in die staubige Öffnung. Mit den Fingerspitzen stieß sie an etwas Weiches. Da die Öffnung sehr schmal war, zog sie mit zwei Fingern an dem stoffartigen Gegenstand. Zusammen mit Sand und Staub beförderte sie ein dunkelblaues Stück Samt auf den Boden, das mit einer seidenen Kordel umwickelt war. Der Stoff schien sehr alt, war stellenweise vergilbt und einige Fäden hingen heraus. Alexandra öffnete den Knoten der Kordel. Wie eine Blüte fiel der Stoff auseinander und gab den Blick frei auf eine rosafarbene Perlenkette und eine kleine Papierrolle.

Langsam rollte Alexandra das gelbliche Papier auseinander, ängstlich darauf bedacht, das alte Material nicht zu brechen. Es war kaum größer als die Innenfläche ihrer Hand und enthielt nur wenige Worte:

Mon cher mari,

si Vous trouvez cela, Vous savez ou je suis. Nana sait tout.

Amour éternel

Madelaine

le 21 Janvier 1841

Langsam las Alexandra die französischen Worte, die in schön geschwungener Handschrift das Papier bedeckten. Sie sprach sie noch einmal laut aus: »Mein geliebter Gatte, wenn Sie dies hier finden, wissen Sie, wo ich bin. Nana weiß alles. In ewiger Liebe, Madelaine.« Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und der Regen schlug gegen die Scheiben. Alexandra fröstelte.

Französisch war nie ihre Stärke gewesen, aber sie verstand, dass eine Frau hier an ihren Ehemann schrieb, um ihn wissen zu lassen, dass sie gegangen war. Wohin hatte sie gehen müssen, diese Madelaine? Wer war Nana, und warum hatte sie die mysteriöse Botschaft überhaupt hier versteckt? Offensichtlich hatte diese Frau ihren Gatten sehr geliebt, denn sie hinterließ ihm eine Perlenkette von erlesener Schönheit. Alexandra ließ die zartrosa Perlen durch die Finger gleiten. Sie machten ein leise klingendes Geräusch und wiesen kleine Unebenheiten auf. Weiße oder schwarze Perlen, die Muscheln entnommen wurden, waren glatt. Perlen hingegen, die aus Korallen gefertigt wurden, wiesen natürliche Unebenheiten auf.

Die Schließe war aus reinem Gold, und in der Mitte saß eine dunklere Perle, die matt schimmerte. Die Arbeit war mit großer Sorgfalt und Kunstfertigkeit ausgeführt worden und hatte nichts mit den Souvenirketten aus Korallen gemein, die man in vielen Urlaubsorten kaufen konnte. Aber wie kam dieses Stück hierher, in ein Cottage an der walisischen Küste?

Mit dem Büchereinräumen war sie nicht weit gekommen, aber angesichts dieses besonderen Fundes war das nebensächlich. Ein historisches Rätsel – dafür hatte sich Alexandra eigentlich noch nie interessiert. Ihr eigenes Leben erschien ihr verzwickt genug, warum sollte sie sich mit den Problemen von Verstorbenen beschäftigen? Aber hatte nicht alles im Leben eine Bestimmung? Sie war weder schicksalsgläubig noch abergläubisch, aber die Perlen und ihre Botschaft waren ihr in die Hand gefallen und nicht einem der hundert Feriengäste und Mieter vor ihr.

Sie war zum Abendessen bei ihrer Schwester eingeladen. Der Fund war Hauptgesprächsthema. Karen und Charles wussten nichts über die Geschichte des Cottage und empfahlen Alexandra einen Besuch in der Nationalbibliothek oder ein Gespräch mit den Llangaeroggs. Letzteres wollte Alexandra möglichst vermeiden und entschied sich für die Bibliothek. Karen fand, dass Alexandra die Sachen wieder mitnehmen sollte, denn schließlich stammten sie aus dem Cottage. Sie bewunderte die intensive Farbe der Korallen und meinte, dass John Porter, ein Antiquitätenhändler in der Terrace Road, bestimmt mehr über diese Art Schmuck sagen könnte. Alexandra versprach, den Hinweisen nachzugehen, und machte sich gegen zehn Uhr auf den Heimweg.

So viel zur Ruhe auf dem Land, dachte sie, während sie den Wagen durch die nächtlichen Straßen steuerte. Aus einem der zahlreichen Pubs wankte eine Gruppe singender Studenten. Da die meisten Pubs nur eine Lizenz zum Ausschank bis elf Uhr hatten, begann das Nachtleben hier sehr viel früher als in Berlin, wo man oft erst nach Mitternacht wegging. Langsam fuhr sie weiter. Die kleine Küstenstadt verdankte ihren Charme den Studenten, ohne die es hier im Winter wie ausgestorben wäre. Im Sommer bevölkerten Touristen, zumeist aus Birmingham, den Strand, die Campingplätze und vor allem die lange Promenade, die sich parallel zur befestigten Kaimauer vom Constitution Hill bis hinunter zum Leuchtturm am südlichen Strand erstreckte. Jetzt im Winter spazierte Alexandra gern den leeren schmalen Strand entlang und bummelte auf dem Rückweg durch die Innenstadt, wo sie manches Mal im Sunclouds hausgemachte Scones mit frischer Sahne und Marmelade genoss.

Heute hatte sie noch keine Zigarette geraucht, doch genau in diesem Moment überkam sie das unwiderstehliche Verlangen nach einem Zug, nur um den heißen Tabakrauch tief in den Lungen spüren zu können. Allerdings hatte sie die Stadt gerade hinter sich gelassen und hätte umdrehen müssen, um in dem einzigen rund um die Uhr geöffneten Laden noch einkaufen zu können. Nein, nein, ich werde nicht schwach, sagte sie sich. Es durfte nicht sein, dass sie bei dem kleinsten Anzeichen eines unvorhergesehenen Ereignisses sofort wieder ihren alten Lastern verfiel.

Sie steckte eine Hand in ihre Handtasche und holte das samtene Tuch hervor. Die Perlen lagen warm in ihrer Hand. Was könntet ihr mir erzählen, dachte Alexandra und schob die Kette wieder zurück in die Tasche. Im Cottage überlegte sie nicht lange, sondern deponierte den Fund in einer der Schubladen des zierlichen Schreibtisches. Sie überflog noch einmal die Zeilen der beigefügten Botschaft und versuchte sich vorzustellen, wer einen solchen Brief hätte schreiben können. Die Schrift war ausgewogen und energisch. Nach einem Scherz sah das alles nicht aus. Alexandra seufzte und legte den Brief in die Schublade.

Sie musste an ihrem Schreibtisch eingeschlafen sein. Alexandra schreckte auf. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Es war dunkel. Draußen heulte der Wind und peitschte die Zweige eines Baumes gegen die Fenster. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass im Kamin ein Feuer brannte? Es war kalt im Haus. Nach ihrer Rückkehr hatte sie weder Brennholz geholt, noch die Zentralheizung hochgestellt. Sie reckte die verspannten Glieder, warf noch einen ungläubigen Blick auf den Kamin, der dunkel in der Zimmerecke lag, und ging in ihr Schlafzimmer.

Mitten in der Nacht wachte sie schweißgebadet auf. Ein Albtraum! Beklemmende Träume hatte sie seit ihrer Kindheit. Meist drehten sie sich um ihre Mutter. An diesen Traum erinnerte sie sich nur bruchstückhaft. Geblieben war das bedrückende Gefühl, sich auf den Klippenrand zuzubewegen, ohne das Ende des Weges erkennen zu können. Schwer atmend schlug sie die Bettdecke zurück und ging ins Bad, wo sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser abwusch. Was ihr da aus dem Spiegel entgegenschaute, war nicht ermutigend – dunkle Augenringe, hohle Wangen und struppiges Haar.

Wie hatte Wolfgang es überhaupt mit ihr ausgehalten? Er war ein karrierebewusster Finanzberater, der ständig wichtige Leute traf und noch wichtigere Geschäfte abschloss. Wahrscheinlich war eine ausgeflippte Künstlerin eine exotische Abwechslung für ihn gewesen. Er fand es bestimmt aufopfernd und sehr menschlich, ihr seine kostbare Zeit zu schenken, wenn sie wieder einmal einer Depression nahe war. Einmal hatte sie ein Bild zerschnitten und die Fetzen anschließend verbrannt. Danach hatte sie tagelang geweint, dass sie ihr bestes Werk zerstört hatte und unfähig war, überhaupt etwas in ihrem Leben richtig zu Ende zu führen. Wolfgang hatte seine Ungeduld unterdrückt, ihr aber nahe gelegt, es doch mal mit therapeutischer Behandlung zu versuchen. Das hatte den Ausschlag gegeben, denn natürlich wusste sie genau, was der Grund für ihre extremen Handlungen war. Sie fand aber, dass es ganz allein ihre Entscheidung sein sollte, wann und wie sie sich mit ihrer Familie auseinander setzte. Sie vermisste Wolfgang nicht, was sie nur in ihrer Entscheidung bestätigte. Keiner ihrer bisherigen Lebenspartner hatte sie verstanden oder begriffen, was in ihr vorging. Sie schloss die Augen vor ihrem eigenen Spiegelbild.

Fünf Uhr leuchtete es auf der Digitalanzeige der Küchenuhr am Backofen. Sie ging zu den Terrassentüren im Kaminzimmer – es hatte aufgehört zu regnen und der Mond stand direkt über dem Meer. Wäre es warm genug, hätte sie nichts davon abhalten können, jetzt in der See zu schwimmen. Aber es war kalt und windig, kleine Eiskristalle überzogen die Fensterscheiben. Holz für den Kamin lag im Schuppen. Sie zog sich eine Jogginghose und einen dicken Pullover an und ging mit einer Taschenlampe bewaffnet in den Schuppen, der links neben dem Haus unter einer alten Tanne stand. Es roch nach den trockenen Holzscheiten, die an einer Wand lagerten. Im Haus entzündete sie ein prasselndes Feuer im Kamin, kochte sich einen Tee und beobachtete die züngelnden Flammen, wie sie auf- und niederschossen und von hellem Orange, Weiß bis Rot alle Farben durchspielten.

Ihr Blick fiel auf den Stein, den sie heute Nachmittag aus der Ummauerung des Kamins gezogen und genauso sorgfältig wieder an seinen Platz gerückt hatte. Sie kuschelte sich enger in eine Sofaecke. Was konnte diese Frau dazu getrieben haben, eine solche Nachricht für ihren Mann zu hinterlassen? Wer mochte 1841 in diesem Cottage gelebt haben, das damals sicher noch zum Besitz des Earls von Llangaerogg gehört hatte?

In den folgenden zwei Tagen war das Wetter so schön, dass sie die meiste Zeit draußen verbrachte und den Besuch der Bibliothek noch etwas vor sich herschob. Auf einem ihrer Streifzüge durch die Stadt besuchte sie den Antiquitätenhändler, von dem Karen ihr erzählt hatte. John Porter war ein kauziger alter Mann mit wachen Augen hinter einer kleinen Brille, der sich mit flinken Bewegungen zwischen den Unmengen von Möbeln, Geschirr, Kerzenleuchtern und sonstigem antiken Trödel hin und her bewegte. Die Luft draußen war klar und kalt, und Alexandra musste erst die dicken Handschuhe ausziehen, um die Perlen aus der Innentasche ihres Mantels holen zu können.

»Kalt heute, nicht wahr? Aber schön, viel besser als diese feuchte Kälte, die einem in alle Glieder zieht. Sie merken das noch nicht so. Sie sind jung, aber kommen Sie in mein Alter, dann erwischt Sie auch das eine oder andere Zipperlein – oh, was haben wir denn da Schönes?« Das faltige Gesicht unter den schlohweißen dichten Haaren hellte sich auf.

Alexandra legte die Perlenkette vorsichtig auf den mit grünem Samt bezogenen Ladentisch.

»Die habe ich geerbt«, log sie, denn sie konnte unmöglich sagen, dass sie den Schmuck gefunden hatte.

John Porter pfiff durch die Zähne und sah sie listig an. »Geerbt, hmm? Und wollen Sie die verkaufen? Sind ein gutes Stück Geld wert!«

»Nein, nein", beeilte sich Alexandra zu sagen, »sie kommen aus einem umfangreichen Nachlass und niemand weiß genau, woher sie stammen. Meine Schwester, Karen Conway hat mich zu Ihnen geschickt, weil Sie sich mit antikem Schmuck auskennen. Sicher ist eine Erwähnung um 1840, mehr Informationen habe ich nicht.«

Der Alte lächelte. »Karen? Sie kommt manchmal zu mir und stöbert nach diesem und jenem. Lassen Sie mich sehen.«

Er holte eine riesige Lupe und hielt den Verschluss der Kette gegen das Licht, drehte und wendete ihn. Dann ließ er die Perlen durch die Finger gleiten und sah Alexandra direkt an. »Was Sie hier haben, meine Liebe, ist ein ganz besonderes Stück. Der tatsächliche Materialwert liegt bei, nun ja, vielleicht eintausend englischen Pfund – aber das meine ich nicht. Korallen, das wissen Sie sicherlich, wurden besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerne zur Herstellung von Schmuck verwendet. Wir finden sie in Ringen, Broschen oder in geschnitzten Ohrgehängen. Heute sind allerdings viele Fälschungen im Umlauf. Diese Korallen sind wunderschön geschliffen, dennoch nicht zu perfekt, sodass man ihre natürliche Herkunft an den kleinen Unebenheiten erkennt. Die Verknüpfung zwischen den Perlen ist noch in Ordnung. Wollen Sie sie tragen?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Wenn ja, dann sollten Sie die Perlen sicherheitshalber neu aufziehen lassen. Aber jetzt kommen wir zum eigentlichen Besonderen – dem Verschluss. Es handelt sich um Cannetille, Filigranarbeit aus Edelmetall, in diesem Fall aus Gold. Manchmal ist Cannetille mit Edelsteinen verbunden, hier mit Korallen! Das ist äußerst selten, außerdem sind Cannetillearbeiten leicht zu beschädigen, doch dieser Verschluss ist wundervoll erhalten. Bei der Herkunft bin ich mir nicht sicher. Um 1830 war diese Technik in England, Italien und Frankreich in Mode. Ich tippe mal auf Frankreich, aber auch eine nichteuropäische Herkunft wäre möglich.«

Alexandra sah ihn erstaunt an. »Nicht aus Europa? Wieso?«

John Porter grinste. »Nennen Sie es Intuition – die Arbeit hat einen exotischen Touch, den ich im Orient ansiedeln würde. Es sind kleinste Details, die Biegung eines Blattes, ein Ornament hier und da – präziser kann ich es nicht ausdrücken. Auf jeden Fall haben Sie da ein ganz ausgefallenes Stück, das von einem Meister seines Faches kreiert wurde. Bewahren Sie es gut auf oder, noch besser, tragen Sie es! Schmuck muss getragen werden, damit er lebt, und zu Ihnen würden diese Perlen passen – sie sind schlicht und dennoch etwas ganz Besonderes.«

Verlegen nahm Alexandra die Perlen wieder an sich, bedankte sich bei dem hilfsbereiten Alten und verließ leicht irritiert den Laden. Aus dem Orient, das machte alles nur noch komplizierter, Frankreich, das hätte gepasst. In Gedanken versunken stand sie auf dem Bürgersteig, als jemand ihren Namen rief.

»Alexandra, hallo, wie schön, Sie hier zu treffen, nun ja, Aberystwyth ist mehr oder weniger ein Dorf.«

Roger Llangaerogg stand vor ihr, diesmal nicht in Cordhosen, sondern in elegantem Anzug mit dandymäßig geschlungenem Tuch anstelle einer Krawatte. Man hätte lügen müssen, wenn man behauptet hätte, es stünde ihm nicht. Es passte zu seinen gewellten rotblonden Haaren, die an den Schläfen leicht ergraut waren, wie sie feststellte, und seine grünen Augen fixierten sie aufmerksam.

»Oh, hallo. Entschuldigung, ich war ganz in Gedanken.« Alexandra kramte in ihrer Tasche und erwiderte unsicher Rogers Blick.

Er lächelte. »Bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken, trinken Sie einen Kaffee mit mir? Ich habe Zeit und würde mich über Ihre Gesellschaft sehr freuen.«

Sie nickte, denn ungern erinnerte sie sich an ihre letzte Begegnung, als sie ihn so abrupt verlassen hatte. In dem Café in einer kleinen Seitenstraße servierte man ihnen hervorragenden Espresso, was Alexandra auch dankbar bemerkte.

»Genau deshalb komme ich hierher, denn es ist nicht selbstverständlich in England, guten Kaffee zu bekommen. Entdeckt man eine Quelle dieses schwarzen Glücks, pflegt man sie. Rauchen Sie?« Roger hielt ihr eine Schachtel Gauloise hin.

Ihre Hand zuckte automatisch, doch sie beherrschte sich.

»Nicht mehr, danke. Ich versuche, es mir abzugewöhnen. Sagen Sie, wie lange war das Cottage eigentlich im Besitz ihrer Familie?«

Roger überlegte angestrengt. »Puhh, ich weiß nicht genau.«

Genüsslich stieß er den Tabakrauch seiner Zigarette aus. »Warum wollen Sie das wissen? Weil Sie etwas in dem alten Gemäuer entdeckt haben?«

Alexandra starrte ihn erschrocken an. »Ich, äh, nun …«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, hier bleibt nichts lange verborgen. Keine Sorge, Sie haben sie gefunden, also gehört sie Ihnen. Eine Perlenkette, wenn ich richtig gehört habe?«

»Meine Güte – das ist ja schlimmer als die spanische Inquisition! Wie haben Sie das nur herausgefunden?«

»Ihre Nichte hat es in der Schule herumgeplaudert, der Sohn eines Freundes hat es mir erzählt – so einfach. Was ist dran an der Sache?«

»Wirklich nicht viel. Nun, die Kette ist aus Korallen und …«

»Korallen?«, unterbrach er sie. »Dann kann sie nicht besonders wertvoll sein. Wären es echte Südseeperlen gewesen, hätten Sie sich in Acht nehmen müssen.«

Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Liebe Alexandra, das war ein Scherz! Wahrscheinlich hat irgendein Feriengast sein Andenken dort verlegt, keine Aufregung. Aber gab es auch einen Brief?«

Sie sah auf die Uhr. »Ach du liebe Zeit, schon so spät. Danke für den Kaffee, ich muss wirklich gehen, Roger. Wir sehen uns, bis bald!«

Sie kramte ihre Sachen zusammen und verließ eilig das Café, denn die Fragestunde bei Roger Llangaerogg verunsicherte sie. Über seine offensichtliche Neugier täuschte auch sein anziehender Charme nicht hinweg. Auf der Straße atmete sie erst einmal tief durch und ging dann geradewegs zu ihrem Jeep, den sie drei Straßen weiter geparkt hatte. Sie fragte sich, warum sie Roger nicht alles erzählt hatte. Lag ihr doch mehr an der Sache, als sie sich eingestehen wollte? Wahrscheinlich war es nur seine selbstsichere bestimmende Art, die sie nicht mochte. Sie wollte selbst entscheiden, was sie ausplauderte und was nicht!