Die Frauen der Villa Fiore 1 - Constanze Wilken - E-Book
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Die Frauen der Villa Fiore 1 E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Seit Generationen ist das toskanische Weingut Villa Fiore im Besitz der Familie Massinelli. Nach Jahren der Misswirtschaft leiten nun die Brüder Lorenzo und Salvatore die Geschäfte. Sie sind jedoch heillos zerstritten und der Ruf des Gutes angeschlagen. Als Lorenzos älteste Tochter Giulia nach langer Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, erfährt sie, dass ein Unbekannter Sabotage betreibt, um die Massinellis zu ruinieren. Gemeinsam mit dem kalifornischen Weinexperten Paul Reed versucht sie verzweifelt, das Familiengut zu retten. Paul ist von der unnahbaren Frau fasziniert. Doch Giulia zweifelt und steht bald nicht nur vor der größten Aufgabe, sondern auch vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

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Buch

Seit Generationen ist das toskanische Weingut Villa Fiore im Besitz der Familie Massinelli. Nach Jahren der Misswirtschaft leiten nun die Brüder Lorenzo und Salvatore die Geschäfte. Sie sind jedoch heillos zerstritten und der Ruf des Gutes angeschlagen. Als Lorenzos älteste Tochter Giulia nach langer Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, erfährt sie, dass ein Unbekannter Sabotage betreibt, um die Massinellis zu ruinieren. Gemeinsam mit dem kalifornischen Weinexperten Paul Reed versucht sie verzweifelt, das Familiengut zu retten. Paul ist von der unnahbaren Frau fasziniert. Doch Giulia zweifelt und steht bald nicht nur vor der größten Aufgabe, sondern auch vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

Informationen zu Constanze Wilken sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Constanze Wilken

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Originalausgabe März 2019 Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München. Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München Coverfoto: © FinePic®, München Redaktion: Regine Weisbrod BH · Herstellung: kw Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-21539-2V002 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Es ist gefährlich, anderen etwas vorzumachen, denn es endet damit, dass man sich selbst etwas vormacht.

Eleonora Duse (1858–1924)

Wine is bottled poetry.

(Wein ist Poesie in Flaschen.)

Robert Louis Stevenson (1850–1894)

Personenverzeichnis

Villa Fiore

Luciano (†) und Vittoria (†) Ridolfi Massinelli

Teresa Massinelli (Patriarchin) und Ettore Massinelli (†)

Lorenzo (Teresas Sohn) und Manuela (geb. Wiesinger) Massinelli

ihre Töchter:

Giulia (Wirtschaftsprüferin)

Bianca (Köchin)

Milena (Pferdetrainerin)

Mitarbeiter des Weinguts

Alberto Fatta (Kellermeister)

Masato Tanaka

Nico Bove

Mauro Ruggero (Trüffelsucher) und Pino (Trüffelhund)

Pietro

Luca

Restaurant und Hotel

Ilaria (Zimmermädchen)

Renata (Beiköchin)

Simone (saisonale Mitarbeiterin)

Fattoria Fiore

Salvatore (Lorenzos Bruder) und Bruna (geb. Contesini) Massinelli

ihr Sohn Dario (Rechtsanwalt)

Paul Reed (kalifornischer Flying Winemaker)

Noah Reed (sein Großvater)

Juan (mexikanischer Mitarbeiter auf dem Reed Estate)

Jack Reed (Pauls Vater)

Jean Ducasse (Flying Winemaker)

Harper Ford (Wissenschaftlerin, Giulias Freundin)

1

Der Fahrtwind war warm, und sie schloss die Augen, um die Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren. Sie hörte das Knattern der Vespas und atmete den Geruch von Benzin, Pinien und Staub, in den sich der modrige Duft des Sees mischte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Soll ich das Verdeck schließen? Es staubt ziemlich«, wandte Dario sich an seine Beifahrerin.

Sie öffnete die Augen. »O nein, es ist schön so.«

Es war kalt in New York gewesen. Kalt, nass und beklemmend. Die Straßenfluchten zwischen den Wolkenkratzern hatten ihren Reiz verloren, der Glamour war verflogen, die Stadt nur noch eine Ansammlung von Beton, Stahl, Glas und zu vielen hektischen Menschen. Das schnelle Leben, der Erfolg und die Anerkennung in der Firma hatten ihr alles bedeutet. Doch am Ende waren es nur Zahlen auf dem Papier. Erfolg war vergänglich und das Lob der Kollegen heuchlerisch. Alle warteten nur darauf, dass einer aus der Meute einen Fehler machte. Dann biss und schlug man sich um das goldene Fell und den Platz, den es zu besetzen galt. Sie hatte es ihnen leicht gemacht und war einfach gegangen.

»Giulia, geht es dir gut? Sollen wir anhalten?« Dario warf ihr einen besorgten Blick zu und lenkte den Wagen von der Hauptstraße auf einen Rastplatz.

Sie lächelte. »Mein schöner Cousin. Warum bist du noch nicht verheiratet? Ein erfolgreicher Anwalt, ein Dottore mit einer Kanzlei in Rom. Die Frauen laufen dir sicher die Tür ein!« Sie strich ihm über die Wange. »Danke fürs Anhalten, caro. Ich vertrete mir kurz die Beine.«

Dario Massinelli half ihr aus dem Sportcabrio. »Das mit den Frauen hat Zeit. Wobei du dir vorstellen kannst, dass meine Mutter lieber heute als morgen einen Enkel hätte.«

Er hakte seine Cousine unter und ging mit ihr zum Ufer des Sees.

»Wie geht es Tante Bruna? Streitet sie noch immer so viel mit deinem starrköpfigen Vater?«

»Sie reden schon lange nicht mehr richtig miteinander. Wenn es um die Fattoria geht, raufen sie sich zusammen, aber sonst …« Er machte eine vielsagende Geste. Dario Massinelli war der einzige Sohn ihrer Tante Bruna und ihres Onkels Salvatore, dem Bruder ihres Vaters.

»Die Fattoria … Es ist so lange her. Ich war immer gern bei euch. Habt ihr die Pferde noch?«

»Aber natürlich! Du weißt nicht, dass deine Schwester sich jetzt um den Stall kümmert? Milena macht das großartig. Sie hat einige Preise für die Fohlen gewonnen.«

Sie blieben stehen und schauten über den Lago Trasimeno. Das Plätschern des Wassers, das Schnattern der Enten und Kindergelächter weckten glückliche Kindheitserinnerungen in Giulia.

»Damals schien alles so einfach und so sicher. Ich hätte nie gedacht …« Sie brach ab und strich sich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht. »Lass uns weiterfahren, Dario.«

»Wissen sie, dass du kommst?«

»Sì, aber nur Bianca weiß, was passiert ist.« Bianca war die mittlere der drei Massinelli-Schwestern und stand Giulia am nächsten. Selbst die Entfernung und die Jahre im Ausland hatten nichts an der Vertrautheit der Schwestern ändern können. Wenn es ein ernsthaftes Problem gab, rief Giulia Bianca an, und umgekehrt war es genauso.

Dario öffnete ihr die Wagentür. »Du hast Glück, dass du solche Schwestern hast.«

Als Einzelkind aufgewachsen hatte Dario viel Zeit bei seinen Cousinen verbracht und die Stelle des großen Bruders und Beschützers übernommen. Giulia drückte seinen Arm und ließ sich wieder in den Sitz sinken. Die restliche Fahrt über hing sie ihren Gedanken nach und wappnete sich für die Begegnung mit ihrem Vater.

Lorenzo Massinelli hatte ihr bis heute nicht verziehen, dass sie nach dem Studium in New York geblieben war. Das Familienunternehmen hatte sich damals in einer Krise befunden, und Lorenzo hatte auf sie als Nachfolgerin gebaut. Aber Giulia hatte ihre Zukunft nicht im Weinanbau gesehen. Das Risiko, das jede neue Ernte mit sich brachte, die aufwendige Pflege der empfindlichen Rebstöcke und die enge Welt der Hügel östlich von Florenz waren ihr damals als Bedrohung und nicht als Verlockung erschienen. Doch als sie jetzt durch die Hügel fuhr und das Sonnenlicht die endlosen Reihen der Rebstöcke in goldenes Licht tauchte, entrang sich ihr ein tiefer Seufzer.

Dario wich einem Traktor aus, der von einem Kiesweg auf die schmale Straße bog. In lang gezogenen Spiralen mit scharfen Kurven zog sich die Straße durch die Hügel und schließlich um den Berg herum, auf dem sich das Gut der Massinellis befand. An einer Kreuzung schaltete Dario in einen niedrigeren Gang, denn der Weg führte steil bergan. »Villa Fiore« wies ein handbemaltes Schild die Richtung. In entgegengesetzter Richtung säumten Zypressen einen Feldweg. »Fattoria Massinelli« stand auf einem verwitterten Wegweiser und darunter ein offizielles Straßenschild, das nach Doccia wies.

Die Villa war das Symbol des Weinguts und zierte Etiketten, Briefköpfe und das Hinweisschild. Seit einigen Jahren stand Villa Fiore für einen qualitätsvollen biologischen Wein, der sich auf dem Markt behauptet hatte. Die Olivenbäume der Fattoria grenzten an die Weinreben, und Giulia entdeckte eine Gruppe Reiter zwischen den Bäumen.

»Milena?«

Dario nickte. »Sie kann sich vor Anfragen nicht retten. Reitest du noch?«

»Ich habe das letzte Mal vor zehn Jahren auf einem Pferd gesessen. Aber wenn ich es jetzt so sehe …« Sie beobachtete die Pferde.

Wie hatte sie es geliebt, mit Milena durch die Hügel zu reiten. Dieses Gefühl von unbeschwerter Freiheit hatte sie seither nicht mehr gespürt.

Zu beiden Seiten der Straße zogen sich Weinreben wie ein Webmuster über den Hügel. Vor ihnen führte die Zypressenallee zur Villa und zum Wald auf der Hügelkuppe hinauf, und zwischen den Bäumen schimmerte das sanfte Gelb der Fassade hindurch.

»Deine Mutter wird sich freuen, wenn sie hört, dass du vorhast zu bleiben.« Dario fluchte, als der Sportwagen Kies aufwirbelte und ein Stein gegen die Windschutzscheibe flog.

»Wer sagt, dass ich bleibe?« Wie sollte es weitergehen? Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie keinen Plan für die Zukunft, und das machte ihr Angst.

»Ich dachte nur, weil du doch nicht mehr nach New York zurück willst. Für mich wäre das auch nichts. Kundenbesuche, zwei, drei Tage, dann reicht es mir. Es gibt dort nichts, was in Rom nicht schöner wäre.«

Giulia lachte. »Du Snob!«

»Überhaupt nicht. Sag, dass ich unrecht habe!«

»Kann ich nicht.«

»Ecco qui, da haben wir es.«

Der Wagen rollte über raues Kopfsteinpflaster durch ein hohes Tor. Eine Zeder, die ein aristokratischer Vorfahre vor über dreihundert Jahren gepflanzt hatte, begrüßte die Besucher der Villa mit elegant ausladenden Zweigen. Ein typisch toskanischer Bau mit rotem Ziegeldach, mattgelber Fassade und hölzernen Fensterläden erhob sich zweigeschossig vor ihnen – die Villa. Bepflanzte Terrakottatöpfe, Zitronenbäume, Oleander und Rosen zierten Mauern und Wege. Ein erdiger, süßlicher Duft hing in der Luft.

»Ich habe beinahe vergessen, wie schön es hier ist«, murmelte Giulia.

Auf der anderen Straßenseite waren die Kellerei mit den großen Stahltanks und darüber der Wald. Eichen und Haselbäume machten den Großteil des Baumbestands aus und boten einen guten Nährboden für die begehrten Trüffel. Als Giulia einen struppigen braunen Hund durch das Unterholz jagen sah, wartete sie einen Moment und war enttäuscht, als ein junger, ihr unbekannter Mann erschien und nach dem Hund pfiff.

»Wo ist Ruggero? Ist er nicht mehr für unsere Trüffel verantwortlich?« Sie war als Kind oft mit dem knorrigen Mann auf der Suche nach Trüffeln durch den Wald spaziert. Er musste an die siebzig Jahre alt sein. »Er ist doch nicht gestorben?«

»Der alte Ruggero? Nein, nein. Als ich ihn das letzte Mal traf, klagte er über schmerzende Knochen. Ah, dein Empfangskomitee … Bist du bereit?« Dario hatte den Wagen langsam vor den Haupteingang rollen lassen, auf dessen Treppenstufen ihre Eltern standen.

Ihr Vater war grauer geworden, hatte sich seine schlanke Figur und seine jugendliche Ausstrahlung jedoch bewahrt. Die ernste Miene verriet nicht, welche Gefühlslage sie zu erwarten hatte. Lorenzo Massinelli überragte seine Frau Manuela um einen halben Kopf. Die zierliche blonde Frau wischte sich verschämt die Augen, und Giulia kämpfte ihrerseits mit den Tränen. Ihre deutschstämmige Mutter war der ruhende Pol der Familie und hatte mit ihrer diplomatischen Art manchen Familienstreit beilegen können. Nur mit Giulias Entscheidung für ein Leben in den USA hatte auch Manuela ihren Mann nicht versöhnen können. Und weil sich die Fronten zwischen Vater und Tochter immer mehr verhärtet hatten, war Giulia seit Jahren nicht nach Hause gekommen. Heimlich hatten sie und Manuela sich stattdessen in Rom getroffen.

Giulia atmete tief durch und ging auf ihre Eltern zu. Kurz bevor sie die letzte Stufe erreicht hatte, entrang sich ihrem Vater ein Schluchzen, und er schloss die verlorene Tochter in die Arme.

»Warum erst jetzt, Giulia?« Er küsste sie auf die Wangen und schien sich wieder gefasst zu haben.

»Meine Schöne …« Ihre Mutter umarmte und küsste sie und strich ihr über die langen braunen Haare. »Du bist zu blass und zu dünn. Das werden wir ändern.« Manuela lächelte und begrüßte Dario. »Danke, dass du sie uns gebracht hast.«

Dario stellte Giulias Koffer ab.

»Bianca hat ein Mittagessen für uns gekocht. Sie müsste auch gleich da sein. Renata ist eine fähige Köchin und nimmt ihr viel ab. Kommt herein, nun kommt schon!«, drängte Manuela ihre Familie ins Haus.

Die große Halle des Familiensitzes hatte nichts von ihrer beeindruckenden Atmosphäre eingebüßt. Das Deckenfresko, die Nischen mit den Marmorbüsten, die Säulen und das Familienwappen über dem Durchgang zum Terrassenzimmer. Die Terrasse bot einen unvergleichlichen Blick über den Park und die Weinberge der Massinellis.

»Und du bist auch noch da, hm?« Giulia zwinkerte einem Frauenporträt zu, das in einer Ecke der Halle hing und über die Besucher der Villa zu wachen schien.

Auf einem Tisch vor den geöffneten Terrassentüren wartete eine Champagnerflasche nebst Sektgläsern, Brot und Oliven, doch kaum hatte Lorenzo die Flasche in die Hand genommen, wurde eine Seitentür aufgestoßen.

»Signor Massinelli! O Dio, kommen Sie schnell!« Ein junger Mann in Arbeitskleidung winkte aufgeregt.

Alarmiert sahen ihn alle an.

»Was gibt es, Pietro?«, fragte Lorenzo.

»Ein schreckliches Unglück … ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich kann es mir nicht erklären.« Pietro, ein langjähriger Mitarbeiter, wirkte verzweifelt. »Alberto …«

Seit vielen Jahren war Alberto Fatta der Kellermeister der Massinellis. Auch wenn Giulia sich nicht für das Weingut entschieden hatte – die Mitarbeiter waren wie eine große Familie, und sie erinnerte sich an jeden einzelnen.

Lorenzo packte den Mann an der Schulter. »Ist er verletzt? Habt ihr den Arzt verständigt? Was ist passiert? Wer ist bei ihm?«

»Paolo. Aber ich dachte, dass die Signora vielleicht helfen kann …«, sagte der Mitarbeiter schon im Gehen begriffen.

Manuela nickte. Wenn sich jemand verletzte, leistete sie Erste Hilfe, denn ihre Mutter hatte ihr früh beigebracht, was im Notfall zu tun war. Ohne zu zögern, folgten alle Pietro über den Hof in die alten Kellergewölbe, in denen die Fässer der edlen Sorten lagerten. Auf den abgewetzten Steinen hatten die Karren und Füße vieler Generationen von Winzern ihre Spuren hinterlassen.

»Giulia, gib auf die Stufen acht!«, warnte ihre Mutter sie unnötigerweise. Sie hatte die Notfalltasche mitgebracht.

Einige der Kellergewölbe wurden bei Bedarf mit Sprinkleranlagen feucht gehalten, doch Pietro führte sie hinunter in das Allerheiligste, den dreihundert Jahre alten Weinkeller, dessen konstante Temperatur von achtzehn Grad besonders im Sommer bei Weinproben beliebt war. Sechs große Fässer lagerten neben drei historischen, nicht mehr genutzten Fässern in dem Gewölbe. Hinter verschlossenen Eisengittern wurden die Schätze des Weinguts aufbewahrt – Flaschen, die auf Auktionen Tausende einbrachten.

Niemand hatte jedoch Augen für die kostbaren Weine, denn eines der leeren 2000-Liter-Fässer war aus seiner Verankerung gerollt und quetschte den Körper des bedauernswerten Kellermeisters. Dass der Mann noch am Leben war, verdankte er womöglich der Geistesgegenwart eines blonden Mannes, der einen Balken zwischen Fass und Steine geklemmt hatte, und der Tatsache, dass das riesige Fass zur Wand gerollt war.

In einem Italienisch, das einen starken amerikanischen Akzent aufwies, sagte der Unbekannte: »Wir brauchen noch einen Balken und einen neuen Keil. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Signora Massinelli. Es sieht schlimmer aus, als es ist!«

Alberto Fatta lag stöhnend auf dem Steinboden. An der Schläfe klebte Blut, und das linke Bein lag in unnatürlich verkrümmter Haltung. Der Kellermeister hatte schütteres graues Haar, seine Brille lag zerbrochen neben ihm, doch er biss sich tapfer auf die Lippen, als er Manuela und Lorenzo sah.

»In ein paar Tagen haben wir den Schaden hier behoben«, brachte er mühsam hervor und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein. »Die Probe war hervorragend.«

Manuela ging neben dem Verletzten in die Knie und tupfte die Stirnwunde ab. »Das ist jetzt nicht wichtig, Alberto. Zuerst einmal müssen wir Sie da herausholen. Die Ambulanz ist unterwegs.«

Dario und Pietro halfen, den neuen Keil unter das Fass zu setzen, und ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Gruppe.

»Paul, was genau ist denn nur geschehen?«

Der Angesprochene wischte sich den Schweiß von der Stirn und strich dunkelblonde Haare aus dem Gesicht. Offene blaue Augen registrierten Giulias Anwesenheit, bevor sie sich auf Manuela und Lorenzo richteten.

»Die jährliche Probe des Fiore Puro stand an. Ich bin dazugekommen, als Alberto auf die Leiter stieg, um den Glasaufsatz zu kontrollieren, und da passierte es auch schon. Unter seinem Gewicht hat sich ein Keil gelöst, er ist von der Leiter gerutscht und unters Fass gefallen.«

Mit gerunzelter Stirn untersuchte Lorenzo den defekten Keil. »Das Holz ist morsch, das hätte nie verwendet werden dürfen. Paul ist unser Chefönologe, Giulia. Er kommt aus Kalifornien und ist ein weltweit gefragter Experte.«

Ausgerechnet ein Amerikaner, dachte Giulia missbilligend, doch Paul ignorierte ihre abweisende Miene und sagte nachdenklich: »Ganz genau, das Holz hätte nicht verwendet werden dürfen. Alle hier wissen das.«

2

Nachdem die Ambulanz Alberto mitgenommen hatte, waren die Massinellis, Dario und Paul zurück in die Villa gegangen. Lorenzo und Paul diskutierten immer noch, wie der morsche Keil überhaupt in den Keller gelangt war.

»Hier, Giulia, trink einen Schluck. Das beruhigt die Nerven.« Ihre Mutter reichte ihr ein Glas Champagner. Manuela war mitfühlend und im gleichen Maße praktisch veranlagt. »Im Krankenhaus können sie sich am besten um Alberto kümmern, und ich habe seine Frau Vala angerufen. Sie ist auf dem Weg nach Florenz.«

Die Villa und ihre Ländereien waren weniger als dreißig Kilometer von Florenz entfernt, der Monte Giovi mit fast eintausend Metern der höchste Berg der Region. Die Hauptstadt der Toskana lag also in greifbarer Nähe, doch der Unterschied zu den abgeschiedenen Tälern und Hügeln hätte kaum größer sein können. Für Winzer und Touristen ein Segen, für Teenager eine Strafe. Giulia nippte an ihrem Glas und sah durch die Terrassentüren auf die weite Rasenfläche, die Zypressen und den Kräutergarten, den ihre Mutter hegte. Krähen riefen, ließen sich in einer Zeder nieder, und in der Ferne ratterte ein Traktor durch die Felder. Diese Landschaft strahlte eine pastorale Ruhe aus, täuschte ein Postkartenidyll, ein Arkadien vor, wie es nur in der Fantasie der Menschen existierte.

Ihre Mutter trat neben sie und legte den Arm um Giulias Schultern. »Was siehst du?«

»Schönheit, Sorgen, Arbeit …« Giulia seufzte und lehnte ihren Kopf an die mütterliche Schulter. »Es ist so still und friedlich, aber nichts ist, wie es scheint.« Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge.

»Nein, Giulia. Alles ist genau so, wie du es sehen willst. Du kannst vor vielem weglaufen, nur nicht vor dir selbst. Was ist in New York vorgefallen?«

»Manuela, bitte, was machen wir nun ohne Alberto?« Ihr Vater trat zu ihnen und bewahrte Giulia so vor einer Antwort. »Sein Bein ist anscheinend gebrochen, er wird für Wochen, wenn nicht Monate ausfallen.«

Manuela sah von ihrem Mann zu Paul. »Paul ist doch bei uns. Sie bleiben uns noch ein wenig länger erhalten, nicht wahr?«

Die blonden Haare fielen Manuela Massinelli gerade auf die Schultern und betonten ihr schmales, ebenmäßiges Gesicht mit dem energischen Kinn. Eine hochwertige Uhr und der Ehering waren ihr einziger Schmuck. La Tedesca, wie sie bei ihrer Ankunft auf dem Gut von den Einheimischen genannt worden war, hatte sich durch ihre Kenntnisse als Winzerin und ihr resolutes Auftreten Respekt verschafft. Aufgewachsen war Manuela Wiesinger auf dem Weingut ihrer Eltern an der Mosel. Sie hatte das Handwerk mit dem ersten Glas Traubensaft aufgesogen und Önologie studiert. Ein Praktikum brachte sie in die Toskana, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Heute leiteten ihre Brüder Georg und Martin das Gut an der Mosel, doch Manuela wusste um die aufreibende Zusammenarbeit mit ihrem Vater.

Ihren eigenen Kindern hatte sie nie vorschreiben wollen, wie sie ihre Zukunft zu gestalten hatten, und schon gar nicht sollten sie sich genötigt fühlen, die Villa und alle Verpflichtungen zu übernehmen. Lorenzo sah das grundsätzlich anders. Die Familie hielt zusammen, und Traditionen wurden weitergeführt. Da hatte es für ihn keine Diskussionen gegeben.

»Giulia, ihr wurdet einander noch gar nicht richtig vorgestellt. Paul Reed«, sagte Manuela. »Paul ist ein Flying Winemaker und seit einigen Jahren unser Berater. Und wir sind sehr froh, dass er gerade jetzt bei uns ist.«

Lorenzo nickte, runzelte aber sorgenvoll die Stirn.

»Freut mich sehr, Giulia.« Pauls Händedruck war warm und fest. »Ihre Familie ist etwas ganz Besonderes, und ich schätze mich glücklich, mit Ihnen arbeiten zu dürfen.«

»Das sagen Sie nur, weil Sie uns nicht richtig kennen«, meinte Giulia. »Sie fliegen durch die Gegend, beraten hier und dort, aber wenn es kompliziert wird, sind Sie wieder weg. Ein netter Job.« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.

»Giulia!«, herrschte ihr Vater sie an. »Entschuldige dich sofort bei Paul für deine Frechheit. Es tut mir leid, bitte verzeihen Sie ihr …«

Paul zuckte mit den Schultern. »Kein Problem. Ihre Tochter hat ja nicht unrecht. Nur in einer Sache widerspreche ich. Jetzt bin ich hier, und ich bleibe, solange Sie mich brauchen, Signor Massinelli.«

Bevor sie eine weitere spitze Bemerkung äußern konnte, hörte sie ihre Schwester Bianca rufen: »Giuli!«

Die Schwestern fielen einander in die Arme und hielten sich liebevoll umfangen. Jedes Mal wenn sie sich sahen, spürte Giulia schmerzhaft, wie sehr sie ihre Schwester vermisste. »Du hast mich gerettet«, flüsterte sie an Biancas Ohr.

»Du wolltest dich wohl gleich wieder mit Vater streiten, was? Giuli, komm doch erst mal an.« Bianca küsste sie auf die Wangen und hielt sie von sich. »Du bist wunderschön! Ah, dieser Schick. Eine echte New Yorkerin bist du geworden.«

»Bah, sieh dich an! Eh, Dario, sieht unsere Bibi nicht umwerfend aus?«

An Bianca war alles zart, weich und weiblich. Die hellen Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem sich hier und dort eine Strähne stahl. Ihre Wangen waren gerötet und hatten einen ähnlichen Ton wie Biancas Seidenbluse. Eine rosa Perlenkette, Ohrringe und schmale Ringe ließen kaum darauf schließen, dass Bianca gerade aus der Küche des Restaurants kam, das sie leitete.

Dario umarmte seine Cousine. »Hast du von Albertos Unfall gehört? Der arme Mann!« Er berichtete von dem Vorfall im Keller.

Bianca schlug sich die Hand vor den Mund. »Er wird ganz sicher wieder gesund? Das ist das Wichtigste.«

Giulia strich ihrer Schwester über den Arm. »Wir hoffen sehr, dass es nicht so schlimm ist.«

Bianca nahm sich das Unglück anderer immer doppelt zu Herzen. Mit sechzehn Jahren hatte sie mit ihrer Vespa einen tragischen Unfall erlitten. Ein unbekannter Autofahrer hatte sie nachts angefahren und die Schwerverletzte am Straßenrand liegen lassen. Die Ärzte hatten dem jungen Mädchen wenig Hoffnung gemacht, dass sie jemals wieder normal würde laufen können, doch Bianca hatte sich zäh zurück ins Leben gekämpft. Nur wer sie gut kannte, wusste um die Narben an ihren Beinen und die tiefer gehenden Verletzungen ihrer Seele.

»Ja, das hoffe ich. Er ist ein reizender Mann. Und so geduldig!« Bianca kicherte. »Dario, erinnerst du dich noch, wie wir alle damals betrunken in der Cantina Unsinn gemacht haben?«

In der Cantina, dem neuen Weinkeller, in dem die Produktion stattfand, hatten die drei Schwestern und ihr Cousin eine private Weinprobe abgehalten und eine Flasche des teuersten Rotweins geöffnet. Hätte ihr Vater davon erfahren, wäre die Strafe empfindlich und nachhaltig ausgefallen.

Dario strich sich schmunzelnd über das Kinn. »Alberto hat uns gerettet. Milena war erst zwölf. Aus der Nummer wären wir nicht ohne ein Höllendonnerwetter herausgekommen.«

Bianca, Giulia und Dario hatten die Stimmen gesenkt, denn bis heute hatte Alberto sein Schweigen nicht gebrochen. »Und gerade deshalb sind wir ihm was schuldig«, meinte Giulia.

»Inwiefern?« Bianca sah sie fragend an.

Dario antwortete: »Der Unfall heute. Etwas daran ist merkwürdig. Ob es Absicht war? Wer hat alles Zutritt zum Keller?«

Giulia meinte: »Das werden sicher einige sein, schwierige Sache, denke ich.«

»Ihr solltet das Holz untersuchen, Giulia. Woher stammt es, wer hat den Keil benutzt und dort platziert? Ich halte das für einen Ansatz.« Dario reichte Bianca ein Glas Champagner.

»Unser Anwalt wittert gleich einen Fall. Fehlt nur Milena. Sie kommt heute Abend zum Essen. Bleibst du, Dario?« Bianca sah ihn bittend an.

»Ich würde gern, aber ich kann nicht, tut mir leid«, erwiderte Dario ausweichend.

»Ah, wie heißt sie?« Giulia knuffte ihn kameradschaftlich in die Seite.

»Ihr seid genauso neugierig wie früher. Gar nichts sage ich euch. Paul, bitte hilf mir! Ist das bei dir zu Hause genauso?«, wandte sich Dario an den Amerikaner, dem Manuela gerade ein Glas in die Hand drückte.

»Äh, wie war das?« Der Önologe schien nicht verlegen, sondern bewegte sich mit großer Selbstverständlichkeit inmitten der Massinellis.

Bemerkenswert, dachte Giulia, die ihren Vater als einschüchternden Mann kannte. »Die Familie. Wie sieht es bei Ihnen aus?«

Paul Reed verlagerte sein Gewicht gelassen auf ein Bein und prostete ihr zu. »Salute! Die Reeds sind auch nicht ohne.« Er grinste breit.

Dario lachte. »Ich hätte beinahe Mitleid mit dir gehabt, Paul, aber ich glaube, das hebe ich mir für meine Cousine auf.«

»Bah«, wehrte Giulia ab und trank einen Schluck Champagner.

»Paul, du warst doch auch irritiert über den morschen Keil. Hast du eine Idee, wem da ein Fehler unterlaufen sein könnte?«, wollte Dario wissen.

Der Önologe zog die Augenbrauen zusammen. Er war groß und wirkte sportlich. Wenigstens trägt er keine Turnschuhe, stellte Giulia insgeheim fest. Sie hatte sich während ihrer Jahre in den Vereinigten Staaten nie mit der flapsigen Art vieler Amerikaner und deren oberflächlicher Unverbindlichkeit anfreunden können. Und die Geschichte mit Phil hatte nicht dazu beigetragen, ihre Meinung über das ehemalige Land ihrer Träume zu verbessern.

»Nein. Zum alten Weinkeller hat jeder hier Zutritt, auch die Touristen. Wir hatten einige Weinverkostungen, und dann gibt es noch die Gäste des Restaurants und der Villa. Wer will, kann sich mühelos Zutritt verschaffen«, meinte Paul.

»Warum sollte ein Gast sich die Mühe machen, einen morschen Keil anzubringen? Das ergibt keinen Sinn«, sagte Giulia.

»Nun«, wandte Bianca ein, »stell dir vor, einer unserer Konkurrenten schleicht sich als Gast ein oder schickt jemanden, der uns schaden soll … Das wäre doch denkbar.«

»Welcher Konkurrent denn? Klärt mich auf, ich bin nicht mehr im Bilde darüber, mit wem wir mal wieder im Streit liegen«, antwortete Giulia mit vorwurfsvollem Seitenblick auf ihren Vater.

Lorenzo Massinelli sprach in sein Telefonino, sein Mobiltelefon, und ging zur Tür. Manuela hatte den letzten Satz gehört und trat zu ihnen.

»Giulia, dein Vater freut sich sehr über deinen Besuch. Provoziere ihn bitte nicht andauernd«, bat sie ihre Tochter.

»Aber ich …«, setzte Giulia an, wurde jedoch von Manuela mit einem sanften Lächeln zum Schweigen gebracht.

»Ihr seid euch so ähnlich. Du weißt ja gar nicht, wie sehr.«

»Mama hat recht, Giuli.« Bianca nickte. »Lass es gut sein. Ich meinte die übrigen Verdächtigen. Die großen Betriebe aus dem Chianti schicken immer wieder ihre Spione. Sie haben inzwischen erkannt, dass unser Biowein konkurrenzfähig ist.«

»Etwa Talone?«, fragte Giulia. »Die sind doch riesig! Wen sollten die fürchten?«

Paul hob leicht die Hand. »Gerade die Großen gönnen niemandem etwas. Ich kenne das aus dem Napa Valley. Da wird alles getan, um den Aufstieg eines neuen Produzenten zu verhindern. Und die Mittel sind nicht immer legal, so viel ist sicher.«

»Der Markt ist hart umkämpft, und die Weinlandschaft verändert sich. Klasse statt Masse ist gefragt. Und immer mehr Bioqualität. Da hinken die großen konventionellen Weinbetriebe hinterher. Die haben sich gedacht, dass der Boom der Achtziger andauert, aber dem ist nicht so«, fügte Manuela Massinelli hinzu.

»Talone. Hat der Alte endlich Valentino die Leitung übergeben, oder klammert er sich noch immer mit seinen Giftzähnen an den Chefsessel?« Sie war zu Hause, und wie immer gab es nur ein Thema – den Wein.

Paul schien sich bestens in der Szene auszukennen, denn er übernahm die Antwort: »Valentino Talone hat die Leitung übernommen, ja. Ein alter Freund von mir, Jean Ducasse, hat einige Monate als Chefönologe für Talone gearbeitet. Ich könnte mit ihm sprechen und beiläufig nach der Stimmung im Betrieb fragen.«

»Nein, bitte nicht, Paul. Nachher sieht es so aus, als würden wir Sie für uns spitzeln lassen. Das möchte ich auf keinen Fall«, bat Manuela.

»Und was ist mit Onkel Salvo? Nimm es mir nicht übel, Dario«, sagte Giulia.

»Mein Vater ist ein jähzorniger, verbohrter Mann und sicher kein Engel. Aber so weit würde selbst er nicht gehen«, antwortete ihr Cousin, um hinzuzufügen: »Und warum sollte er das tun …«

Paul sah fragend von einem zum anderen, als Lorenzo auf sie zukam. Er hatte sein Telefonat beendet, und Dario murmelte: »Später, Paul.« Zu seinem Onkel sagte er: »Zio, ich sterbe vor Hunger, und deine Tochter ist eine Göttin in der Küche. Bibi, was hast du heute für uns gezaubert?«

Das Essen. Giulia lächelte. Hier drehte sich alles ums Essen. Wenn nicht der Wein im Mittelpunkt stand. Oder die Oliven. Früher hatte ihre Großmutter Teresa in der Küche gestanden und für das leibliche Wohl der Familie gesorgt. Teresa Massinelli wurde von allen respektvoll Nonna genannt. Nach dem frühen Tod ihres Mannes Ettore hatte sie ihre beiden Söhne allein großgezogen und sich mit harter Hand um die Weinberge und die Landwirtschaft gekümmert. Die Geschichte der Massinellis war geprägt von Schicksalsschlägen. Der Krieg hatte seine Opfer gefordert und die Politik Zwietracht gesät.

»Warst du schon bei Nonna?«, riss die Stimme ihrer Schwester sie aus ihren Gedanken.

»Nein, aber ich habe gerade an sie gedacht. Wie geht es ihr?« Giulia nahm den Arm ihrer Schwester und folgte den anderen in die Eingangshalle.

»Für ihre fast neunzig Jahre ist sie ausgesprochen rüstig. Giuli, geh doch zu ihr und komm dann ins Restaurant. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.« Bianca küsste ihre Schwester auf die Wange und ließ sie vor der großen Treppe stehen.

Ihre Schwester sah in allen nur das Gute. Giulia nahm die Schultern zurück und atmete tief durch. Teresas selbstgerechte Art und ihr moralischer Anspruch hätten einem Großinquisitor alle Ehre gemacht. Für die Rolle der liebevollen Großmutter war Teresa Massinelli eine Fehlbesetzung. Langsam stieg Giulia die Stufen hinauf. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die sich oft mit zusammengebissenen Zähnen Nonnas Vorträge hatte anhören müssen. Eine gute Schwiegertochter kochte das Lieblingsessen ihres Mannes auf genau diese Weise und nicht anders, eine gute Schwiegertochter erzog ihre Töchter zu braven Ehefrauen und setzte ihnen keine Flausen in den Kopf, und vor allem kam eine gute Schwiegertochter nicht aus Deutschland. Manuela Wiesinger hatte sich ihren Platz in der Familie Massinelli erkämpfen müssen und dabei weder sich selbst noch ihre liebevolle Art verloren.

Allein dafür bewunderte Giulia ihre Mutter. Sie selbst hingegen hatte sich bereits als junges Mädchen geschworen, niemals zu heiraten, wenn das bedeutete, sich in eine solche Abhängigkeit begeben zu müssen. Im Ausland schienen ihr die besten Chancen für ein selbstbestimmtes Leben zu liegen. Lange hatte sie nach einer passenden Universität für ihren Studiengang gesucht. Sie wollte international als Wirtschaftsprüferin tätig sein können, und dafür war ein Abschluss an einer der renommiertesten amerikanischen Ostküstenuniversitäten die beste Voraussetzung.

Giulia betrachtete die antiken Cotto-Fliesen, ausgetreten von vielen Generationen. Die Massinellis waren nicht die Erbauer der Villa gewesen. Erst seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts war der Name ihrer Familie mit der Villa Fiore verbunden. Sie war noch nie in Ehrfurcht vor dem prächtigen Gebäude erstarrt, hatte sich nicht vom Land und dem Einfluss des Familiennamens beeindrucken lassen. Ein Haus war ein Haus. Erst die Menschen erfüllten es mit Leben.

Sie strich über eine Schnitzerei am Treppengeländer. Jeder Mensch sollte sich einen eigenen Namen machen, sich ausprobieren können und seinen Weg in der Welt finden. Weder ihr Vater noch Nonna hatten sie je verstanden.

Giulia blieb vor einer massiven Holztür stehen, deren Beschläge glänzten. Zwei hohe Bodenvasen aus toskanischer Herstellung flankierten die Tür zum Zimmer ihrer Großmutter. Sie klopfte und wartete, bis ein kurzes »Herein« ertönte.

Nervös zupfte Giulia an ihrer Bluse. Die schweren Samtvorhänge, das antike Mobiliar, der runde Marmortisch mit Intarsien, die Insekten und Vögel darstellten, der Seidenteppich – es war alles unverändert. Teresa Massinelli saß in ihrem Lieblingssessel am Fenster. Von hier aus überblickte sie den Park, die Hänge mit den Rebstöcken des Sangiovese und konnte in der Ferne die Häuser von Doccia sehen.

»Komm herein, Giulia. Ich bin nicht mehr ganz so gut zu Fuß. Das wirst du einer alten Frau nachsehen müssen.« Die Stimme war ein klein wenig heiser, doch keineswegs zittrig oder unsicher. Es war die Stimme einer Frau mit eisernem Willen.

Vor zwei Jahren hatte Teresa einen leichten Schlaganfall erlitten, von dem sie sich fast vollständig erholt hatte. Der Priester sprach von einem Wunder, die Ärzte von einer stählernen Konstitution und beeindruckender Willenskraft.

»Du siehst gut aus, Nonna«, begann Giulia und drückte die ausgestreckte Hand ihrer Großmutter, beugte sich vor und hauchte Küsse auf die nach Puder duftenden Wangen.

Teresa Massinelli war klein, drahtig und in einen cremefarbenen Hosenanzug gekleidet. Ihre auf Kinnlänge geschnittenen grauen Haare waren noch immer dicht und akkurat geföhnt. Das einstmals schöne Gesicht war in ein Meer von Falten getaucht, doch die dunklen Augen musterten sie genauso streng wie vor zwanzig Jahren, wenn Giulia in der Küche Geschirr zerbrochen hatte.

»Ach was, spar dir das Gesäusel. Ich bin ein gut erhaltenes altes Wrack, dessen Verstand noch immer funktioniert. Selbst ein verdammter Schlaganfall konnte daran nichts ändern. Du warst nicht da, als es passierte.« Sie zeigte auf einen Sessel ihr gegenüber, in dem Giulia Platz nahm.

»Nein, es war mir nicht möglich zu kommen, aber ich habe es gehört und mich sehr gefreut, dass du alles so gut überstanden hast. Du bist eine bemerkenswerte Frau, Nonna.« Giulia betrachtete die Frau, vor der sie sich als Kind gefürchtet hatte und die einer von mehreren Gründen für ihre Flucht ins Ausland gewesen war.

War Teresa milder geworden? Hatten die Jahre und die Zeit sie nachsichtiger gemacht? Oh nein! Aber Giulia hatte sich verändert. Sie hatte keine Angst mehr. Nicht vor Nonna und nicht vor ihrem Vater.

Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte die schmalen Lippen der Älteren. »Jede von uns hat ihre Zeit. Meine ist beinahe abgelaufen. Ich habe getan, was ich tun musste, um diese Familie zusammenzuhalten. Dieses Haus, das Land – ich habe es für euch gerettet. Dieser Boden ist mit dem Schweiß und dem Blut unserer Familie getränkt. So etwas gibt man nicht einfach auf.«

Die dunklen Augen funkelten leidenschaftlich, und Teresas Blick glitt aus dem Fenster.

»Du hast es für deine Söhne getan.«

Sie hätte wissen müssen, dass dieses Gespräch genauso verlaufen würde wie jedes andere zuvor. Vorwürfe. Anklagen.

Teresa sah sie direkt an. »Selbstverständlich. Für wen sonst? Eine Frau tut alles für ihre Familie. Du hast dich gegen sie entschieden.«

»Nein, das habe ich nicht! Ich habe nur eine andere Vorstellung vom Leben als du, Nonna«, sagte Giulia ruhig.

Zu ihrer Überraschung nickte Teresa. »Du bist so stark wie ich, Giulia. Stark und unbeugsam. Bist du auch einsam?«

3

Er sah der Familie nach, die gemeinsam zum Restaurant hinunterging. Die Villa und die Kellerei lagen auf Höhe der Weinstöcke in etwa fünfhundert Meter Höhe. Die Hügelkuppe wurde vom Wald und einer kleinen Olivenplantage bedeckt. Auf dem höchsten Punkt des Hügels, im Volksmund Monte Fiore genannt, versteckte sich eine kleine Kapelle zwischen alten Zypressen und Eichen. Ein Ort, zu dem Paul in den wenigen freien Stunden gern spazierte. Die verfallene Kapelle verströmte etwas Friedvolles, und die Landschaft berührte sein Innerstes. Er liebte Kalifornien, aber diesem Weinberg fühlte er sich so verbunden, als kenne er ihn schon sein Leben lang.

Die Menschen hier bearbeiten den Boden seit Jahrhunderten. Das Wissen um die Weinherstellung, die Eigenheiten des Bodens und der Pflanzen gaben die Alten an die Jungen weiter. Dabei blieb man nicht hinter neuen Entwicklungen zurück. Im Gegenteil, die Winzerfamilien öffneten sich modernen Technologien und Erkenntnissen. Am meisten beeindruckte ihn der Mut vieler kleiner Winzer, neue Wege zu gehen. Der Wechsel vom konventionellen zum biologischen Anbau war mit Risiken und hohen finanziellen Einbußen in den Anfangsjahren behaftet.

Während Paul zur Kellerei hinüberging, suchte er in seinem Mobiltelefon nach der Nummer von Jean Ducasse. Seit einem gemeinsamen Seminar in Bordeaux vor einigen Jahren war er mit dem Franzosen befreundet. Jean war nicht nur witzig und ein guter Tennisspieler, sondern verstand mehr vom Weinbau als mancher Dozent. Schon als kleiner Junge war er mit seinem Vater und seinen Brüdern durch die Weinberge der Ducasse gegangen und hatte alle Geheimnisse der alten Kunst des Weinbaus erlernt. Als jüngster von vier Söhnen hatte er sich für eine Karriere außerhalb des elterlichen Gutes entschieden.

Bevor Paul die Nummer drücken konnte, kam ein junger Mann aufgeregt winkend auf ihn zu, Nico Bove, der Mitarbeiter von Kellermeister Alberto.

»Paul, was ist denn mit Alberto passiert? Ich war auf der anderen Seite des Hügels, wollte gerade den Syrah kontrollieren, da klingelt mich Pietro an, aber ich habe kein Wort verstanden …« Nico wischte sich die Hände mit einem Lappen ab, den er in der Hosentasche seiner Arbeitshose verstaute.

»Alberto hatte einen Unfall im alten Keller. Eines der Fässer hat sich gelöst und ihn unter sich begraben.« Paul hob die Hände in einer beruhigenden Geste, denn Nicos Gesicht drückte blankes Entsetzen aus. »Er ist verletzt, aber bereits im Krankenhaus. Die Chancen stehen gut, haben sie uns versichert.«

Der junge Mann fuhr sich über die Augen. »Wie konnte denn das passieren? Wir haben doch alles zusammen geprüft! Mein Gott, was für ein Unglück. Deshalb war Pietro so von der Rolle. Was kann ich tun?«

Nico war Mitte zwanzig und ein hilfsbereiter, patenter Bursche, der anpacken konnte. Er hatte sich gut eingearbeitet, und Alberto hielt große Stücke auf ihn. Dass er ein netter Bursche war, hatten auch die Mädchen aus dem Restaurant festgestellt. Paul sah ihn abends des Öfteren mit der jungen Ilaria vor der Küche stehen.

»Geh zu Pietro in den Keller und hilf ihm mit dem Fass. Die anderen werden schon dort sein. Wer hat eigentlich den letzten Keil am Puro eingesetzt?«

Nico runzelte die Stirn. Er hatte ein schmales Gesicht und wache, dunkle Augen. »Ich weiß nicht. Alberto, Pietro und ich haben das gemeinsam gemacht. Die Keile lagen griffbereit, und einer hat halt Material geholt, während die anderen die Hebel befestigt haben. Warum? War was nicht in Ordnung?«

»Mach dir keinen Kopf. Wir finden schon heraus, wie das passieren konnte. Geh nur. Die können jede Hand gebrauchen.« Paul tippte auf die Nummer seines Freundes und hielt sich das Telefon ans Ohr. Nico ging davon.

Während das Freizeichen ertönte, bemerkte er, dass eine einzelne Gestalt am Waldrand verharrte und sie beobachtete. Das musste Mauro, der Neffe von Ruggero, dem Trüffelsucher sein. Tatsächlich kam sein Hund aus dem Gestrüpp gesprungen, bellte, als er Paul entdeckte, wurde aber sofort von Mauro zurückgepfiffen.

»Ducasse?«, meldete sich sein Freund.

»Jean, hallo, wie geht es dir?«

»Danke, bestens. Du glaubst nicht, was ich gerade tue.« Jean klang entspannt.

»Du bist bei den Gordons in Australien?« Davon hatte er bei ihrem letzten Treffen gesprochen.

»Da war ich bis vorgestern, und jetzt liege ich in Sydney am Strand … Entschuldige …« Es rauschte, und eine Frauenstimme war zu hören, bevor Jean sich wieder meldete. »Bondi Beach, sagt Mia. Sie ist Gordons Tochter. Und wo steckst du? Etwa immer noch bei den Massinellis?«

Paul musste grinsen, denn Jean war in Gesellschaft von Frauen ganz in seinem Element. »Ich will dich gar nicht weiter stören. Ja, ich bin noch hier und wahrscheinlich noch länger als geplant. Deshalb rufe ich dich an. Der Kellermeister ist ausgefallen.« Er umriss kurz die Situation und äußerte seine vage Vermutung in Bezug auf mögliche Sabotage.

»Mia, sei doch ein Engel und hol uns noch ein Wasser, ja?« Zu Paul sagte Jean: »Ich rede nicht gern über andere Winzer, wenn jemand vom Fach dabei ist. Mia ist nicht nur die Tochter von Gordon, sondern leitet auch das Marketing und ist darüber hinaus bildschön. Das erleichtert die Arbeit.« Er räusperte sich. »Gut. Ich ahne, worauf du hinauswillst. Du denkst an Talone, eh?«

»Hm, scheint mir nicht abwegig. So, wie er sich geäußert hat.«

»Der Alte ist ein harter Hund, keine Frage. Aber ich halte ihn eher für ein Großmaul als für einen, der jemanden anheuert, um Konkurrenten zu sabotieren. Talone ist alte Schule, der hat Stolz und Familienehre.«

Ducasse arbeitete seit Jahren immer wieder für die Talones, die eines der größten Weingüter der Toskana führten. Die riesigen Stahltanks des Talone-Imperiums überragten wie glänzende Säulen die Hügel des Chianti-Classico-Gebiets zwischen Castellina, Radda und Gaiole. Der schwarze Hahn der Chianti-Liga prangte deutlich sichtbar auf den Etiketten von Talones Weinen. Die Familie sah sich ganz in der Tradition der Medici und betonte bei jeder Gelegenheit die historisch belegten verwandtschaftlichen Verbindungen. Cosimo III. de Medici, Großherzog der Toskana, hatte 1716 als einer der Ersten die Notwendigkeit von Weingesetzen erkannt und den Chianti als Herkunftsbezeichnung geschützt. Die Güter von Talone lagen im historischen Kerngebiet, und die Familie ließ kaum andere Winzer neben sich gelten. Allerdings baute Talone nach wie vor konventionell an und versuchte mit allen Mitteln, biologisch anbauende Winzer zu diskreditieren. Umberto Talone, der Seniorchef, nutzte für seine Rufmordkampagnen seine weitreichenden Kontakte zu einschlägigen Weinmagazinen und renommierten Weinkritikern.

»Das mag sein, aber vergiss nicht, wie er damals die Pocettinis fertiggemacht hat. Die haben sich bis heute nicht davon erholt.«

Nur zu gut erinnerte er sich an das Drama um den aufstrebenden Winzer Pocettini! Vor knapp zehn Jahren hatten dessen Rotweine zu den vielversprechendsten Newcomern auf dem Markt gehört. Von einem neuen Star am Chianti-Himmel wurde gesprochen. Doch bei der alles entscheidenden Verkostung, an der internationale Kritiker teilnahmen, hörte man plötzlich von parfümiertem Bouquet, zu holziger Note, Spannungslosigkeit, und die erwartete Punktezahl war nicht annähernd erreicht worden.

»Talone hat sie bestochen, davon war ich sofort überzeugt, und bei den Amerikanern James Pritchert und Thomas Marsten – nichts gegen dich, mein Freund – hat es mich nicht gewundert. Mathis Clement dagegen hat mich sehr enttäuscht. Ich hätte ihn für standhafter gehalten. Aber was willst du machen? Wer will es beweisen? Ihre Stimme hat Gewicht. Sie sind Götter!«

»Zumindest benehmen sie sich wie Gottheiten. Clements Urteil war so vernichtend wie ein Donnerschlag des Zeus, keine Frage.«

Jean Ducasse sagte in nachdenklichem Ton: »Bestechungsgelder zu bezahlen ist eine Sache, aber jemanden zum Sabotieren loszuschicken und womöglich Verletzte in Kauf zu nehmen – das ist schon eine andere Nummer. Meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Pocettini sich etwas angetan hätte. Das Gut stand vor der Pleite. Und das alles nur wegen dieser vernichtenden Kritiken.« Paul sah noch heute das Foto von Pocettini vor sich, das nach der Preisverleihung im Weinmagazin erschienen war. Der sonst selbstbewusst strahlende Mann war kaum noch ein Schatten seiner selbst gewesen, blass, die enttäuschte Miene voller Verzweiflung.

»Du übertreibst, Paul. So was ist auch anderen widerfahren, und sie haben sich neu aufgestellt und später auf dem Markt behauptet.«

»Vielleicht. Aber jeder Mensch ist anders. Und Pocettini war einer der ersten überzeugten Biowinzer. Für ihn stand viel mehr auf dem Spiel.«

Paul hörte einen Traktor kommen und stellte sich an die Seite, um das Gefährt mit Hänger vorbeizulassen. Es roch nach Pferdemist. Der Traktor hielt mit laut ratterndem Motor neben Paul an, und der Fahrer beugte sich zu ihm herunter. Luca war ein Cousin von Pietro, die Familienähnlichkeit unverkennbar.

»Ciao, Paul. Ich hab den Pferdemist von der Fattoria geholt, wie du gesagt hast. Sollen wir ihn gleich auf der Zehn ausbringen? Die sind mit dem Binden noch nicht fertig.«

»Bleib bitte dran, Jean!«, rief Paul ins Telefon und noch lauter zu Luca: »Fang da an, wo sie fertig sind, Luca, und wenn du nicht weiterweißt, warte auf mich. Ich will mir die Zehn noch mal ansehen. Bis gleich.«

Die Weinfelder rings um den Hügel waren nummeriert. Auf der Zehn wuchs eine neue Sorte Merlot, und der Boden hatte unter Erosion gelitten. Paul hatte Lorenzo erst davon überzeugen müssen, dass auch dieser Teil des Hangs sich für den Anbau von Weinreben eignete. Mit guter Bodenbearbeitung und geringen Mengen ausgewählten Düngers ließ sich die Bodenstruktur verbessern.

Nachdem der Traktor davongerollt war, hob Paul das Mobiltelefon wieder ans Ohr. Er hörte Jean leise lachen.

»Alles Handarbeit bei euch. Wie gehabt. Wenn das die Australier hier sehen würden, die würden sich totlachen.«

»Das Lachen vergeht denen spätestens, wenn sie unseren neuen Fiore Puro getrunken haben, glaub mir. Das wird ein großer Wein!«, sagte Paul und war sicher, nicht zu übertreiben.

»Ich weiß, mein Freund, mir brauchst du das nicht zu sagen. Klasse statt Masse, aber das ist eben so gar nicht deren Maxime hier. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Talone. Was ist mit Valentino? Wie schätzt du ihn ein?«

»Ich bin mit Valentino gut ausgekommen. Er lebt gern und gut – aber wer tut das nicht. Vielleicht übertreibt er es manchmal, doch dann bremst der Alte ihn aus. Valentino leitet das Gut zwar, aber Umberto hat ein Vetorecht in letzter Instanz.«

»Gibt Valentino noch immer so viel Geld für Kunst aus? Ich erinnere mich an seine spektakulären Auftritte bei Auktionen in Rom und Florenz.«

»Dafür hat er jetzt wohl nicht mehr so viel Zeit. Du zielst darauf ab, dass er Geld braucht und deshalb alle Konkurrenten ausschalten will?«

»Eine Überlegung ist es wert, oder nicht?«

»Ich glaube, du überschätzt Valentino. So weit denkt der nicht voraus. Obwohl, so recht trauen würde ich ihm in Geschäftsdingen nicht. Ich war immer froh, dass ich mein Geld vom Alten bekam.«

»So kommen wir nicht weiter. Aber ich danke dir für deine Einschätzung, Jean. Wenn du doch noch die Möglichkeit hast, mit den Talones zu sprechen …«

»Das mache ich auf jeden Fall, mein Lieber. Und jetzt kümmere du dich um den Pferdemist, während ich mich Mia Gordon widme.«

Lächelnd steckte Paul sein Telefon in die Tasche und ging mit raschen Schritten den schmalen Feldweg entlang. Das Frühjahr war eine arbeitsreiche Zeit im Weinberg. Die Reben begannen zu bluten, wie man das Austreten des Saftes aus den Schnittwunden nannte. Er ging unterhalb des Waldrands entlang und warf hin und wieder einen Blick hinauf zu den Bäumen, deren frische Triebe sich zart grün färbten. Wandte er den Blick talwärts, erstreckten sich endlose Reihen von Weinreben. Paul ging bei diesem Anblick stets aufs Neue das Herz auf.

So musste es den Menschen schon vor Hunderten von Jahren gegangen sein, denn Wein gehörte zu den ältesten Getränken überhaupt. Nektar der Götter, Genuss- und Heilmittel, Volksgetränk der Römer und Griechen im Altertum. Paul gefielen die alten Legenden und Geschichten rund um das Traubengewächs, dessen Kultivierung er sich verschrieben hatte. Einen guten Wein herzustellen hing von vielen Faktoren ab.

Es knackte und raschelte im Wald über ihm, und ein Hund stürzte sich schwanzwedelnd auf ihn. »Wow, langsam, mein Junge, langsam!«

Paul kraulte das dichte, lockige Fell des braunen Hundes.

»Hey, scusi!« Mauro sprang mit behänden Sätzen den Hang hinunter und blieb vor Paul stehen.

Mauro war das ganze Gegenteil von Nico. Er hatte dunkle Locken, ein verschlossenes Gesicht, über das selten ein Lächeln glitt, und trug abgewetzte Jeans, schlammige Stiefel, in seinem Gürtel steckte ein Jagdmesser. In einer Hand hielt er den Trüffelstecher, ein Stock mit einer winzigen Schaufel am unteren Ende, mit dem das kostbare schwarze Gold aus der Erde geholt wurde.

»Ja, Pino, bist ein guter Hund, aber ja doch!« Paul tätschelte den gut trainierten Lagotto Romagnolo. Diese Rasse wurde traditionell für die Trüffelsuche eingesetzt.

»Pino, komm her!« Mauro stützte sich auf seinen Stock, doch der Hund ließ sich unbeeindruckt weiterstreicheln.

Paul deutete auf die Umhängetasche an Mauros Hüfte. »War eure Suche erfolgreich?«

»Ma sì! Pino ist der beste Trüffelhund, den ich kenne. Ich habe schon Trüffel in der Küche fürs Mittagessen abgegeben. Schlimme Sache das mit Alberto.« Düster starrte er in Richtung der Villa.

»Hm, Unfälle passieren, aber dieser war unnötig.« Paul musterte ihn neugierig.

Mauro nickte zustimmend und kratzte mit seinem Stock auf dem Kies herum. »So kommt es, wenn man unvorsichtig ist.«

»Wie meinst du das?«

Mauro tat die Frage mit einem Schulterzucken ab. »Pino, andiamo. Wir haben noch Arbeit zu tun.«

Paul sah ihm nach, bis er mit seinem Hund im Wald verschwunden war. Schließlich setzte er seinen Weg fort.

Die Arbeiten auf der Zehn waren weit vorangeschritten. Bis auf zwei Reihen waren alle Rebstöcke beschnitten und gebunden worden. Die Männer hatten gute Arbeit geleistet, stellte Paul anerkennend fest. Er winkte zwei Arbeiter zu sich und zeigte ihnen, wie sie den Pferdemist in die Erde einbringen sollten.

»Nicht zu viel. Lieber weniger. Das kennt ihr ja. Die Wurzeln der Rebstöcke dürfen es nicht zu leicht haben. Sie müssen sich anstrengen, um an die Nährstoffe zu gelangen. Nur so nehmen sie all die wichtigen Mineralstoffe des Bodens auf.«

Die beiden Männer nickten. Sie gehörten zu den Saisonkräften, die im Frühling und im Herbst aushalfen. Das Weingut gab vielen Menschen der Umgebung Arbeit. Die meisten lebten in den winzigen Dörfern, die sich in den Hügeln versteckten – alte Dörfer in abgelegenen Tälern, noch nicht ganz die raue Bergwelt des Casentino, doch auch nicht mehr die typisch liebliche Toskana. Hier gab es noch einsame Pfade durch große Waldgebiete, verlassene Gehöfte und eine ehemalige Hippiekommune, deren verbliebene Mitglieder sich mit einem Gemüsegarten und Töpferwaren durchschlugen. Paul mochte die Gegend gerade wegen ihres morbiden Charmes und der überschaubaren Anzahl von Touristen.

In den wenigen kleinen Trattorien wurden traditionelle toskanische Gerichte serviert. Bohnen, Kohl, Zwiebeln und Brot machten die Hauptbestandteile eines festen Eintopfs aus, den Paul schätzte. Er bückte sich und rieb die Blätter einer Senfpflanze zwischen den Fingern. Der Winter war mild gewesen, und die Begrünungspflanzen entlang der Rebstöcke hatten überlebt. Trotzdem musste neu gesät und gepflanzt werden. Kraftvolle, gesunde Begrünungspflanzen waren für die Gesundheit der Rebstöcke überlebenswichtig, zumindest im biologischen Weinbau.

Die beiden Arbeiter hatten ihn beobachtet. »Damit beginnen wir in den nächsten Tagen. Haben Sie eine neue Mischung für den äußeren Blühstreifen ausgeknobelt?«

Paul grinste. Der Blühstreifen am Rande der Felder waren in jedem Jahr ein Experiment und für Nützlinge wie Raubwanze, Gallmücke oder Marienkäfer von Bedeutung. Die Tierchen ernährten sich von den unerwünschten schadhaften Milbenarten, die den Rebstöcken zusetzten.

»Ja, das besprechen wir morgen. Gute Arbeit, danke. Ich sehe euch morgen früh im Büro vom Gewächshaus.«

Das kleine Gewächshaus lag am Gemüsegarten und verfügte über einen Anbau mit Geräteschuppen und einem Büro, wobei es sich mehr um einen Besprechungsraum handelte. Hier erklärte Paul den Mitarbeitern seine Pflanzstrategien für die Schädlingsbekämpfung. Manchmal kam auch diese Methode an ihre Grenzen, und es gab einige wenige offiziell zugelassene Insektizide, die im schlimmsten Fall zum Einsatz kamen.

Paul sah auf seine Uhr und winkte den Männern zu. Wenn er sich beeilte, schaffte er es noch zum Mittagessen ins Restaurant. Etwas wehmütig dachte er an seine Familie in Napa Valley. Eine Großfamilie, die sich zum Essen gemeinsam an den Tisch setzte, war als Kind sein Wunschtraum gewesen. Und deshalb interessierte ihn, warum die älteste Tochter der Massinellis all das aufgegeben hatte, was ihm so erstrebenswert erschien.

4

Ich allein muss mein Leben in meinen Händen halten. Ich allein kann wissen, bis zu welchem Punkte ich es zu tragen vermag.

Eleonora Duse

Giulia legte ihre Gabel auf den Teller und hob das Glas. »Auf die Köchin!«

Die anderen folgten ihrem Beispiel und stießen auf das vorzügliche Essen an, das Bianca für sie gekocht hatte. Ihre Schwester saß mit geröteten Wangen neben ihr und winkte bescheiden ab.

»Ah, danke, danke, aber das Lob gebührt Renata, die heute das meiste gemacht hat. Renata, komm doch mal zu uns!«, rief Bianca in Richtung Küche.

Eine kleine, robuste Frau kam langsam um die Ecke. Ein rot-weißes Kopftuch bedeckte die aufgesteckten Haare, die ein breites Gesicht rahmten. Sie hätte auch eine Landfrau sein können, dachte Giulia und lächelte der älteren Frau zu, die verlegen den Blick senkte.

»Die Ribollita war himmlisch!«, lobte Giulia sie.

»Grazie, das Rezept für die Brotsuppe ist von meiner Mutter. Darf ich den Kaffee servieren?«

Alle nickten und lehnten sich zurück. Sie saßen an einem runden Tisch, Lorenzo zwischen seiner Frau und Dario, Giulia neben ihrem Cousin und ihrer Schwester, und ihr gegenüber hatte Paul leicht verspätet Platz genommen.

»Wie geht es mit der Zehn voran, Paul? Ich bin noch immer skeptisch, ob der Boden für den Merlot geeignet ist«, wandte sich Lorenzo an seinen Önologen.

»Ich komme gerade von dort. Es sieht alles gut aus. Die Rebstöcke sind kräftig und voller Saft. Wir haben den Dünger ausgebracht, und morgen besprechen wir den Begrünungsplan«, antwortete Paul.

Insgeheim bewunderte Giulia die Ruhe und Gelassenheit, mit der Paul sich ihrem Vater gegenüber behauptete. Sie selbst konnte ihr aufbrausendes Temperament nur schwer zügeln, vor allem nicht in Gegenwart ihres Vaters. Dass sie einander so ähnlich wären, machte es nicht leichter. Lag es daran, dass sie die Erstgeborene war und sich jede noch so kleine Freiheit hatte erkämpfen müssen? Oder machte sie tatsächlich alles falsch? Ihr Vater hatte womöglich nicht einmal unrecht, denn sie war in New York nicht glücklich geworden. Sie hatte sich beweisen, sich fern der Heimat eine Existenz, ein eigenes Leben, eine Familie aufbauen wollen – und war gescheitert. Sie beobachtete, wie Lorenzo mit Paul über den Wein fachsimpelte und zustimmte, wenn der Amerikaner seine Entscheidungen begründete. Hatte ihr Vater jemals ihre Erfolge in Studium und Beruf anerkannt? Sie konnte sich nicht erinnern. Ein solcher Tag wäre ihr im Gedächtnis geblieben.

»Giuli, mach nicht solch ein Gesicht. Ich freue mich so sehr, dass du hier bist.« Bianca hatte ihre Hand genommen und drückte sie unter dem Tisch. »Du weißt doch, wie er ist«, fügte sie leise hinzu.

Ihre Schwester schien noch immer zu wissen, wie sie sich fühlte. Seufzend erwiderte Giulia den liebevollen Händedruck. »Ich habe dich so vermisst. Und wow, du bist eine Meisterköchin geworden! Aber sag, wie schaffst du es körperlich? Dein Bein, hast du noch Schmerzen?« Bianca beklagte sich nie. Der schwere Unfall hatte zahlreiche Operationen nach sich gezogen, und Giulia hatte miterlebt, wie ihre Schwester von wiederkehrenden Schmerzen heimgesucht wurde.

»Es ist besser geworden. Ich kann nur nicht so lange stehen. Aber Renata ist eine große Hilfe. Ich bin so froh, dass sie hier ist. Jetzt kann ich Verantwortung am Herd abgeben und mich ganz um die Menüplanung kümmern. Wir haben schon Stammgäste aus Florenz und Arezzo.«

»Das ist fantastisch! Ich bin so stolz auf dich, Bibi!«

Ihre Mutter sah sie an. »Giulia, erzähl uns doch etwas über deine Arbeit in New York. Wir reden hier ja über kaum etwas anderes als über Trauben oder unseren neuen Vin Santo, den du gleich kosten sollst. Da hat Paul sich selbst übertroffen!« Manuela tätschelte den Arm des Amerikaners, der den Kopf schüttelte.

»Den haben Lorenzo und ich gemeinsam entwickelt«, wehrte Paul das Lob höflich ab.

»Aber Sie hatten die Idee mit der Honignote«, gab Lorenzo ohne Weiteres zu.

Ihre Mutter bemühte sich, sie einzubeziehen, eine neue gemeinsame Ebene zu schaffen – vergeblich, dachte Giulia. Es interessierte ihren Vater einfach nicht. Der Wein war sein Leben, das Land, die Tradition, daneben zählte nichts anderes.

»Sie wollten von Ihrer Arbeit in New York erzählen, Giulia. In welcher Firma sind Sie tätig?«, unterbrach Paul ihre Gedanken.

»Milton LLC ist mein Arbeitgeber.«

»Ach, mein Vater ist in der IT-Branche. CY-Tec.«

»Tatsächlich? Die gehören zu unseren Kunden. Eines der größten Unternehmen, die zu unserem Stamm gehören. Ich habe sie allerdings nicht betreut, sondern mein Kollege Philip Rodwell …«

»Dann sind Sie Wirtschaftsprüferin, nehme ich an?«, fragte Paul.

Ihr Vater entkorkte demonstrativ den Vin Santo, den Renata zusammen mit den Espressotassen auf den Tisch gestellt hatte.

»Ja. Zahlen haben mich schon immer fasziniert. Man kann beinahe alles berechnen, den Schwung einer Kurve, den Verlauf einer Welle, das Universum ist nur denkbar durch Zahlen, es …« Wie ertappt hielt sie inne, nachdem sie die Begeisterung mitgerissen hatte. Ein Seitenblick auf die missmutig hochgezogenen Augenbrauen ihres Vaters genügte, und der Anflug von Freude verwandelte sich in Bitterkeit. »Es sind nur Zahlen, aber sie sind verlässlich, und kein Unternehmen kommt ohne sie aus.«

Ihr Vater goss ungerührt den Vin Santo in kleine Likörgläser. »Trinkt, meine Lieben. Diese Farbe! Bernstein! Riecht! Was riecht ihr?«

Lorenzo wartete nicht, sondern gab die Antwort gleich selbst: »Zitrusnoten, Piment, Kardamom, Orange, und nun schmeckt … süß, Honig, ein Hauch von Lebkuchen. Göttlich!«

Giulia kostete ebenfalls und stellte ihr Glas ab. »Gut.«

»Gut?« Lorenzos Lippen wurden weiß, und seine Augen verengten sich. »Das ist alles, was dir dazu einfällt? Handverlesene Trauben, drei Monate getrocknet, vergoren, sechsunddreißig Monate in Caratelli ausgebaut und dann noch mal vierundzwanzig Monate in der Flasche gelagert …«

Sie hatte ihn nicht reizen wollen, aber er forderte es geradezu heraus!

»Exzellent, Onkel Lorenzo. Darf ich eine Flasche für einen Klienten mitnehmen?« Dario hatte bisher nicht viel gesagt, sondern die meiste Zeit auf sein Handy geschaut. Unter dem Tisch gab er ihr einen freundschaftlichen Stoß. »Ich bin heute ein schrecklicher Gast, aber dieser Fall macht mich nervös. Wenn ich das nächste Mal komme, sieht es anders aus.«

Lorenzo stand abrupt auf. Seine Hand zitterte, als er Dario bat, ihm zu folgen. »Komm, mein Lieber, nimm einen Karton mit.«

Giulia spürte Pauls Blick und rang sich ein trockenes Lachen ab. »Familie – und ich bin das berühmte schwarze Schaf.«

»Sag das nicht, Giulia. Du weißt, dass das nicht stimmt«, meinte ihre Mutter sanft.

»Es sollte mir inzwischen egal sein …« Sie schluckte aufsteigende Tränen hinunter und hasste sich für ihre Schwäche. Wenn sie nur nicht in dieser verzweifelten Lage wäre …

»Niemand kann einen mehr verletzen als die Menschen, die einem etwas bedeuten«, sagte Paul, und das ehrliche Mitgefühl in seiner Stimme überraschte Giulia.

Die Zeit nach dem Mittagessen war einem Verdauungsspaziergang oder Schläfchen vorbehalten. Auf dem Lande, nicht in der Stadt – und schon gar nicht in New York. In der Villa tickten die Uhren ein wenig langsamer, und im Restaurant wurde aufgeräumt und das Abendessen vorbereitet. Giulia war durch den Olivengarten geschlendert und hoffte, Dario allein verabschieden zu können. Es war immer besser, ihren Vater eine Weile allein zu lassen, wenn sie aneinandergeraten waren.

Ihr Cousin kam tatsächlich im Schritttempo von der Villa heraufgefahren und hielt an, als sie winkte und zu ihm lief. Sie beugte sich über die Fahrertür des Cabrios, umarmte und küsste ihn auf die Wangen.

»Danke! Du warst großartig!«

Er hob eine Augenbraue. »Dein erster Tag zu Hause, und schon seid ihr die reinsten Streithähne. Was ist das nur zwischen dir und Lorenzo?«

»Und was ist das zwischen dir und deinem Vater, hm?« Sie fuhr ihm durch die Haare, sodass er sie wieder richten musste. Ihr Onkel Salvatore war ein weitaus schwierigerer Mensch als Lorenzo, und es gab kaum jemanden, der noch nicht mit ihm gestritten hatte.

»Väter, tja, aber du weißt, du kannst jederzeit zu mir nach Rom kommen.«

Dario hatte eine kleine Wohnung in bester Lage, doch Giulia wollte ihm nicht zur Last fallen. Zudem gab es zu viele ungeklärte Dinge in ihrem Leben, und dazu gehörte auch die Beziehung zu ihrer Familie. Vielleicht war die Katastrophe, die sie zum Weggang aus den Staaten bewogen hatte, der richtige Anlass, sich über vieles klar zu werden und neu zu orientieren, auch wenn sie sich angenehmere Umstände gewünscht hätte.

»Ich werde eine Weile hierbleiben. Oh, und vergiss nicht, dass wir Albertos Unfall aufklären müssen.«

Er nickte ernst. »Aber sei vorsichtig, Giulia. Du bist wieder in Italien, nicht in Amerika. Hier herrschen andere Gesetze.«

»Ach, du nun wieder. Es hat sich doch viel getan in den letzten Jahren.«

»Die Strukturen sind dieselben geblieben. Ruf mich an, und das nicht nur, wenn du einen juristischen Rat brauchst.« Sein Telefon klingelte, und bevor er es mit der Freisprechanlage seines Wagens verband, fügte er hinzu: »Ruf mich an, Cousine!«

»Jaja, du machst dir zu viele Gedanken. Na, fahr schon, lass sie nicht warten!«

War es tatsächlich eine Frau oder ein Fall, der ihm zusetzte? Dario war schon immer ein Geheimniskrämer gewesen. Seufzend stand Giulia auf der Straße und überlegte, ob sie zur alten Ölmühle hinunterlaufen sollte, als ihre Schwester vom Restaurant auf sie zusteuerte.

»Nimm mich mit auf eine kleine Runde. Un giro, wie früher!« Bianca hakte sich lachend bei ihr unter.

Während sie Arm in Arm weitergingen, genoss Giulia die vertraute Nähe der Schwester, deren immer noch leicht humpelnder Gang ihr einen Stich versetzte. Bianca hatte es so schwer gehabt und war trotzdem fröhlich, beklagte sich nie. Und sie, der alle Möglichkeiten offengestanden hatten, haderte stets mit sich und sah Mauern, wo keine waren. Doch ihre derzeitige Situation war kein Hirngespinst, sondern bittere Realität.

»Jetzt sind wir allein, Giuli, was ist los? Hat er dich betrogen? Es ist doch wegen Philip, zumindest hattest du das angedeutet. Wolltet ihr nicht sogar heiraten?«

Sie hatte ihm vertraut, mit ihm eine Zukunft geplant. Wie hatte sie nur so naiv sein können. Giulia dachte an die Anfänge bei Milton und ihre erste Begegnung mit Phil.

Als einzige Frau unter allen Absolventen hatte sie die höchste Auszeichnung für ihre Abschlussarbeit erhalten. Die Professoren hatten ihr die Hand geschüttelt, sie beglückwünscht und ihr eine erfolgreiche Zukunft prophezeit. Mit einem Empfehlungsschreiben gelang ihr der Einstieg bei Milton LLC in New York, und schon bald hatte sie sich eingearbeitet und den Respekt ihres Teamchefs, Philip Rodwell, erworben. Er vertraute ihr immer größere Projekte an. Phil war ein MIT-Absolvent und arbeitete hart für seinen Erfolg. Er verachtete Mitarbeiter, die auf die Uhr sahen und auf freien Wochenenden bestanden. Wenn Jahresabschlüsse oder eine betriebswirtschaftliche Prüfung anstanden, trieb er sein Team zu Höchstleistungen an. Einhaltung der Termine und effiziente Risikoabwägungen im Sinne seiner Klienten hatten für Philip Priorität vor privaten Belangen.

Bei aller Härte in geschäftlichen Dingen konnte Philip charmant und witzig sein. Giulia war bereits vier Jahre bei Milton LLC