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Der Preis der Gier … Bayern, 1617: Nach dem Tod ihres Mannes kehrt die junge Witwe Marie von Langenau auf Gut Kraiberg, den Sitz ihres Bruders Albrecht, zurück – doch dieser will sie schnellstmöglich wieder verheiraten. Einzig ihrem eigenbrötlerischen Onkel Remigius, der im Hofturm als Steinschneider arbeitet, kann Marie ihren Kummer anvertrauen. Zur gleichen Zeit wird in Prag der Alchemist Sallovinus ermordet, der im Besitz von Kupferstichen war, die die Vorlage für vier wertvolle Mamortafeln sind. Als Marie herausfindet, dass Remigius im Besitz einer der Tafeln ist, wird ihr klar, dass ihr Onkel in tödlicher Gefahr ist. Denn diese Kunstwerke sind der Schlüssel zu einem Schatz, nach dem viele ihre gierigen Hände ausstrecken. Gemeinsam mit Sallovinus‘ Ziehsohn Ruben Sandracce setzt Marie alles daran, die Mamortafeln zu finden, bevor sie in die falschen Hände geraten … »Wilken webt einen opulenten Erzählteppich, der an Sinnlichkeit und Farbenpracht seinesgleichen sucht.» PAZ am Sonntag Ein packender historischer Roman für die Fans von Sabine Weiß und Peter Dempf.
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Seitenzahl: 666
Über dieses Buch:
Bayern, 1617: Nach dem Tod ihres Mannes kehrt die junge Witwe Marie von Langenau auf Gut Kraiberg, den Sitz ihres Bruders Albrecht, zurück – doch dieser will sie schnellstmöglich wieder verheiraten. Einzig ihrem eigenbrötlerischen Onkel Remigius, der im Hofturm als Steinschneider arbeitet, kann Marie ihren Kummer anvertrauen. Zur gleichen Zeit wird in Prag der Alchemist Sallovinus ermordet, der im Besitz von Kupferstichen war, die die Vorlage für vier wertvolle Mamortafeln sind. Als Marie herausfindet, dass Remigius im Besitz einer der Tafeln ist, wird ihr klar, dass ihr Onkel in tödlicher Gefahr ist. Denn diese Kunstwerke sind der Schlüssel zu einem Schatz, nach dem viele ihre gierigen Hände ausstrecken. Gemeinsam mit Sallovinus‘ Ziehsohn Ruben Sandracce setzt Marie alles daran, die Mamortafeln zu finden, bevor sie in die falschen Hände geraten …
Über die Autorin:
Geboren an der norddeutschen Küste, zog es Constanze Wilken nach einem Studium der Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaft für einige Jahre nach England. Im wildromantischen Wales entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben, aber auch für Antiquitäten. Die Forschungen zur Herkunft seltener Stücke und ausgedehnte Reisen der Autorin sind Inspiration und Grundlage für ihre Romane.
Die Website der Autorin: constanze-wilken.de/
Die Autorin bei Facebook: facebook.com/Constanze.Wilken
Die Autorin auf Instagram: instagram.com/constanzewilken/?hl=en
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin die folgenden Romane:
»Ein Cottage in Wales«
»Das Geheimnis des Schmetterlings«
»Die vergessene Sonate«
»Was von einem Sommer blieb«
»Das Licht von Shenmóray«
»Die Frauen von Casole d'Elsa«
»Die Malerin in von Fontainebleau«
»Die Tochter des Tuchhändlers«
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Blut und Kupfer« bei Goldmann, München.
Copyright © der Originalausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Details aus einem Gemälde von Domenico Quaglio sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-98952-492-7
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Constanze Wilken
Die Erbin des Steinschneiders
Historischer Roman
dotbooks.
Zum Einen kommt man nicht durch einen Sprung.
Und auch nicht ohne Irrwege.
Amos Comenius, »Das Labyrinth der Welt«, 17. Jh.
Ursache Prinzip und Eines immerdar,
Woraus Bewegung fließt und Sein und Leben,
Das weit und breit sich ausdehnt, tief und eben,
Vom Himmel und der Erd’ zur Hölle gar.
Giordano Bruno,
»Über die Ursache, das Prinzip und das Eine«, 1585
Seit zwei Tagen fielen dicke Flocken und hüllten die Stadt an der Moldau in jungfräuliches Weiß. Langsam wuchs die Schneedecke, und die Schritte der Stadtbewohner knirschten auf der kristallinen Schicht. Der alte Mann, dessen weißer Bart auf ein zerschlissenes Wams fiel, zog sich vom Fenster zurück und rieb sich die knochigen, vernarbten Hände.
»Wo bleibt er nur?«, murmelte er. Er trommelte mit den Fingern auf einen der vielen Bücherstapel, die aus den Regalen quollen, die Ecken des schmalen Raumes füllten und sogar als Tischbeine dienten.
Auf dem riesigen Arbeitstisch im Zentrum des Studierzimmers standen ein Destillationsapparat, Mörser, Schalen in verschiedenen Größen und eine Phiole, in Bechern staken Löffel, Nadeln und Messer, dazwischen lagen Zeichnungen und ein aufgeschlagenes Buch, in dem der Gelehrte die Ergebnisse seiner Experimente notierte.
Bernardus Sallovinus hatte seine besten Zeiten unter Kaiser Rudolf II. erlebt. Gott sei der armen, gequälten Seele gnädig, dachte er und zog fröstelnd seinen Mantel enger.
Das Feuer im größeren der beiden Öfen, dem Athanor, war fast ausgegangen. Kopfschüttelnd nahm er die letzten Holzscheite aus dem Korb und steckte sie in die Glut. Eine der Grundregeln der Alchemie war das ständige Befeuern des Dauerbrandofens. Ich werde nachlässig oder einfach nur alt, dachte Sallovinus. Sein Blick glitt über die Bücher. Es half nichts, er musste sich erneut von einigen trennen. Ruben konnte das übernehmen, wenn er aus der Werkstatt kam. Der Alte sah zu, wie die frischen Scheite zu glühen begannen und die Flammen sich knisternd in das Holz fraßen. Zufrieden rieb er sich die Hände. Die Grundregeln der Alchemie! Schon lange destillierte er nur noch Alkohol und Pflanzenextrakte für Heiltränke. Zu Kaiser Rudolfs Zeit hatte sich alles um das große Mysterium, den Lapis philosophorum, gedreht.
Alchemisten, Scharlatane und Wunderdoktoren hatten sich in den Läden der kleinen Gassen gedrängt, die zur Burg hinaufführten. Sie alle waren besessen von dem einen Ziel: der Transmutation. Sie wollten für Kaiser Rudolf Gold herstellen, und wenn das nicht gelang, so doch zumindest das Verjüngungselixier. Welch eine Hybris! Sallovinus nahm einen Becher vom Ofen, in dem sich ein Rest Honigwein befand. Sein Magen knurrte, aber er musste auf Ruben warten, der als Edelsteinschneider bei den Castruccis arbeitete und im günstigsten Falle etwas Fleisch und Brot aus der Werkstatt mitbrachte.
Die Castruccis hatten sich mit ihrer Steinschneidewerkstatt einen Ruf erarbeitet, der Rudolfs Tod überdauerte. Der alte Cosimo Castrucci hatte die Technik des Pietra-Dura aus Florenz mitgebracht und schuf Tischplatten und Tafelbilder aus Edelsteinen, die jeden in sprachloses Erstaunen versetzten. Sallovinus leerte den Becher und nahm ein Ebenholzkästchen vom Tisch, dessen Deckel und Seiten mit winzigen Blumen und Vögeln aus bunten Steinen verziert waren. Das Kästchen war Rubens Gesellenstück gewesen. Wie viele Jahre waren seitdem vergangen?
Bernardus Sallovinus stellte das zierliche Kunstwerk wieder auf den Tisch und beugte sich über eine Papierrolle. Die festen Bögen waren unbeschädigt nach langer Reise in ihrem Lederbehältnis nach Prag gelangt. Sorgsam strich er die Blätter auseinander und befestigte sie an den Seiten mit einem Mörser und glatten Steinen, die zu diesem Zweck bereitlagen. Was der Bote heute vom Fluss heraufgebracht hatte, war eine Sammlung von Kupferstichen, die ihm ein alter Freund aus dem Herzogtum Bayern geschickt hatte. »Plagt dich auch die Gicht, Remigius?«, murmelte Sallovinus in seinen Bart und studierte aufmerksam die Abbildungen von rechteckigen Tafeln, die mit einer auf den ersten Blick verwirrenden Mischung aus floralen Ornamenten, Figuren und fremdartigen Symbolen ausgefüllt waren.
»Was hast du für mich, alter Freund? Ein Rätsel?« Nachdenklich strich der Gelehrte über die Abbildungen. Im beiliegenden Brief erklärte Remigius, dass er die Stiche bei Kilian in Augsburg gefunden hatte. Sallovinus schnalzte anerkennend mit der Zunge. Die Werkstatt der Kupferstecherfamilie Kilian stand für Qualität. Die Stiche waren nicht nur handwerklich gut gemacht, sondern ein Abbild der Wirklichkeit, und das war der springende Punkt. Sallovinus blinzelte, um die kleinteiligen Kupferstiche besser lesen zu können, doch es gab keine Bildunterschrift, nur die Motive in den Tafeln, die für sich genommen bemerkenswert genug waren. Über alle Maßen außergewöhnlich! Woher kenne ich euch?, fragte er sich und beugte sich noch dichter über die Blätter.
Unten im Haus wurde eine Tür zugeschlagen, und jemand kam pfeifend die Treppen herauf. Wenig später schwang die Tür auf und schlug mit lautem Knall gegen eine Truhe.
»Ruben! Gib doch acht, und mach die Tür zu!«
»Seht her!« Stolz warf Ruben einen Sack auf den Tisch, aus dem ein halbes Brot, Zwiebeln, eine Handvoll kandierte Früchte und eine gebratene Gänsekeule herausfielen.
»Ah! Nicht doch! Nimm das weg!«, rief Sallovinus und schob die fettige Gänsekeule von den Blättern, doch der Schaden war schon angerichtet. Ein großer Fettfleck zog sich über zwei Stiche.
»Feinstes Fleisch – und was ist der Dank? Castrucci sendet es Euch mit seinen Empfehlungen!«, entrüstete sich der dunkelhaarige Mann, dessen Umhang steif von der Kälte war. Er entledigte sich des schneenassen Kleidungsstücks und ließ seinen Blick prüfend durch das Studierzimmer seines Mentors schweifen. »Ihr braucht Holz.«
»Ja. Schau doch, Ruben. Das kam heute Morgen mit einem Boten aus Bayern.« Sallovinus zeigte auf die Kupferstiche und trat zur Seite, damit Ruben das Licht des Fensters nutzen konnte.
Der jüngere Mann runzelte konzentriert die Brauen und trat ins Licht. Er war von ebenmäßigem Wuchs, hatte ein gerades Profil und dunkle Augen, die kein Gefühl preisgaben. Sein muskulöser Körper strafte die feingliedrigen Hände Lügen. Wer sich auf einen Streit mit Ruben einließ, musste sich auf einen Gegner gefasst machen, dem das Leben eine Kindheit versagt und einen bitteren Überlebenskampf beschert hatte. Ruben betrachtete die Kupferstiche mit mäßigem Interesse. »Tischplatten?«
Entrüstet schnaufte Sallovinus. »Du sagst das, als wären das einfache Platten aus bunten Steinen und etwas Holz! Sieh doch mal hin. Hast du denn gar nichts bei mir gelernt?«
»Tut mir leid, Meister. Ich dachte nur, Ihr freut Euch über den unverhofften Festschmaus«, murrte Ruben, beugte sich jedoch erneut über die Blätter.
»Natürlich. Ich danke dir, mein Freund. Ohne dich wäre ich schon längst nicht mehr.« Und das kam aus tiefstem Herzen, denn Ruben kümmerte sich um Sallovinus tatsächlich wie ein eigener Sohn. »Hat Castrucci Grund zum Feiern?«
Ruben legte die Gänsekeule auf ein Holzbrett und widmete sich weiter den kleinteiligen Abbildungen. »Er hat einen Auftrag von Herzog Maximilian für einen Prunktisch.«
Bedächtig schnitt Sallovinus sich einen Streifen Gänsefleisch ab. »Maximilian, Herzog von Bayern, ein großer Kunstkenner und -Sammler, und hier haben wir Kupferstiche von einem alten Freund aus Bayern, von dem ich jahrelang nichts gehört habe. Ein bloßer Zufall?«
Ruben zuckte mit den Schultern und tippte auf die Blätter. »Also, ich denke, die Tafeln sind florentinischer Herkunft. Der Stil erinnert mich an Castruccis frühe Arbeiten oder auch an ältere Florentiner Steinschneider. Mit den Bildern in der Mitte weiß ich nicht so viel anzufangen. Sind die gemalt?«
»Nicht schlecht! Der äußere Rand mit den Blumen und Tieren ist eine Pietra-Dura-Arbeit, und die Bilder, die aussehen wie gemalt, sind in der wenig bekannten Scagliola-Technik gefertigt. Maximilian von Bayern liebt Scagliola-Arbeiten und bildet sich viel darauf ein, derzeit der Einzige zu sein, der Künstler hat, die in Scagliola für ihn arbeiten. Aber diese Tafeln sind nicht nur künstlerisch wertvoll, Ruben.« Sallovinus machte eine bedeutsame Pause und nickte gedankenvoll vor sich hin.
»Nein?«, hakte Ruben, neugierig geworden, nach.
»Oh nein! Ich müsste mich sehr irren, wenn das hier nicht die sagenumwobenen Tafeln sind ... Sie galten als verschollen und sind das Vermächtnis eines geheimnisvollen Gelehrten, über dessen Existenz kaum etwas bekannt ist. Je länger ich die Stiche betrachte, desto sicherer bin ich mir. Nur wenige wissen überhaupt von ihrer Existenz, und selbst innerhalb dieses kleinen Kreises hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Tafeln nur eine Legende sind. Was haben wir uns damals darüber gestritten und uns die Köpfe heißgeredet. Mein Gott, so lange ist das her. Aber nun ...«
Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Ruben ging zu einem der Buntglasfenster, in dem Teile bereits durch geöltes Papier ersetzt worden waren. »Ihr solltet die Hälfte der Bücher verkaufen. Dann könnt Ihr das Fenster erneuern und genügend Holz für vier lange Winter kaufen.« Er öffnete das Fenster, um hinunterzusehen.
»Die Bücher sind Weggefährten, Freunde. Verkauft man einen Freund?«, murrte Sallovinus und streichelte liebevoll über einen aufgequollenen Ledereinband.
Sie befanden sich im zweiten Stock eines baufälligen Hauses direkt am Hirschgraben. In der Schlucht am Fuße der düsteren Burg hatte Rudolf einst der Jagd gefrönt, und Unruhestifter wurden dort unten in Käfigen an meterhohen Tannen aufgehängt, wo sie elend verhungerten. Das Fenster ging zur Gasse, in der es stiller war als gewöhnlich. Der Schnee schluckte sämtliche Geräusche. Ein Junge, den Ruben aus der Werkstatt kannte, winkte ihm zu.
»Kommt schnell, Herr Ruben, der Meister verlangt nach Euch!« Der Junge hüpfte auf und ab und schlug sich die Arme um den dünnen Leib.
Ruben nickte und schlug das Fenster zu. »Ich muss noch einmal zurück, Bernardus. Seid mir nicht gram. Geduldet Euch bis heute Abend.«
»Ich werde hier sein, denn Zeit und Geduld sind das Einzige, was ich im Überfluss besitze«, sagte der Alte mit einem müden Lächeln.
Mit einem letzten Blick auf die Stiche griff Ruben nach seinem Mantel und eilte davon.
»Das Temperament gebührt der Jugend ...«, murmelte Sallovinus, doch er wandte die Augen nicht von den Stichen. Hin und her wendete er die Blätter und konnte sich nicht sattsehen an den geheimnisvollen Motiven, die von kunstvoll arrangierten Ornamenten umrahmt wurden. »Remigius, du alter Fuchs! Du hast immer mehr daran geglaubt als wir. Es gibt sie also, die vier Tafeln! Nur wer sie alle besitzt, wird ihr Geheimnis lüften können. Solltest du etwa ... Dass wir das noch erleben dürfen!«
Dann kicherte er, glücklich und aufgeregt wie ein kleiner Junge. Er benötigte ein Stück Tuch, mit dem er das Fett vom Papier wischen konnte. Sallovinus bückte sich, wobei seine Knochen knackten, und durchstöberte Kisten und Körbe nach geeignetem Material.
Als die Tür sich in ihren Angeln drehte und danach leise ins Schloss fiel, fragte der Gelehrte, ohne sich umzusehen: »Bist du das, Ruben? Hast du etwas ...«
»Verzeiht, dass ich einfach hier eindringe. Ihr seid doch der Meister Sallovinus?«
Erschrocken führ Sallovinus auf, stieß sich den Kopf an einem Balken und fand sich einem Fremden gegenüber, der durch seine Gestalt und die dunklen Haare auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit Ruben hatte, den alten Gelehrten nach einem zweiten Blick jedoch instinktiv zurückweichen ließ. Bernardus Sallovinus hatte in seinem langen Leben genug Erfahrung gesammelt, um zu erkennen, wann sich hinter einem Lächeln das Böse verbarg. Und dieses Lächeln weckte noch dazu dunkle Erinnerungen.
»Was wollt Ihr?«
Der Fremde sah sich in der Unordnung des Studierzimmers um, bis sein Blick auf die Kupferstiche fiel. Bernardus erkannte das gierige Aufglimmen in den Augen des ungebetenen Gastes und legte eine Hand auf die Stiche, wurde jedoch sofort grob zur Seite gestoßen.
»Ihr wisst natürlich, worum es sich dort handelt?«
»Diese Tischplatten da? Ach, das sind Entwürfe aus Castruccis Werkstatt. Wer seid Ihr?«
Der Fremde warf Sallovinus einen kurzen Blick zu und starrte dann wie gebannt auf die Stiche. »Unfassbar! Alle vier! Ich habe noch nie alle vier zusammen gesehen! Deshalb bin ich hier.
Ich wollte Euch nach den Tafeln fragen. Mein Gott! Wisst Ihr, wo sie sind?« Das drohende Lauern in seiner Stimme jagte Sallovinus eine Gänsehaut über den Rücken.
»Lasst mich nach meinen Aufzeichnungen suchen.« Der gebrechliche alte Mann schob sich um den Tisch herum, hob hier und da ein Buch auf, schob Papiere hin und her, wobei er darauf achtete, dass der Brief seines alten Freundes unter einem Folianten verschwand.
»Von wem habt Ihr diese Stiche? Ich kaufe sie Euch ab. Ein paar Gulden könntet Ihr gut gebrauchen.« Der Fremde schwenkte seinen Gürtelbeutel, in dem es verlockend klimperte, doch Sallovinus sah sehr wohl den Dolch und die Pistole des Fremden und suchte nach einem Halt, den er an einem Regal neben dem Fenster fand.
»Es sieht ärmlicher aus, als es ist. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche«, gab der alte Mann störrisch zurück.
»Ts, ts, Armut hat ihren eigenen Geruch, und Ihr, mein Guter, seid ein Bedürftiger. Warum sagt Ihr mir nicht einfach, was ich wissen will, und schon habt Ihr wieder Euren Frieden.«
»Verschwindet! Ich habe Euch nicht eingeladen!«, entfuhr es Sallovinus, und er spürte, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Die Stimme, das verschlagene Gebaren, woher kannte er den Kerl?
»Nein, das stimmt wohl, aber das Schicksal hat es gut mit mir gemeint und mich just im rechten Moment zu Euch geführt.« Der sehnige Mann schlug seinen Mantel über die Schultern und legte den breitkrempigen Hut auf den Tisch.
Sallovinus’ Atem ging stoßweise, und er spürte das Aussetzen seines Herzschlags. Nach Luft ringend taumelte er ans Fenster und rief mit ersterbender Stimme: »Ruben!«
Der Fremde fluchte, packte Sallovinus am Arm und wollte ihn vom Fenster wegzerren, doch der alte Mann verlor den Halt, fiel nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf an das steinerne Fenstersims. Mit offenen Augen und gebrochenem Blick kam Bernardus auf dem Boden zu liegen, ein Bein unnatürlich verdreht. Als der Eindringling sich vorbeugte, entdeckte er ein dunkles Rinnsal, das langsam unter dem Kopf von Bernardus Sallovinus hervorquoll.
»Dummer alter Narr ...«, murmelte der Fremde und ging zum Tisch, wo er die Kupferstiche zusammenrollte.
»Herr Ruben, seid Ihr da oben?«, rief eine Frauenstimme aus dem Treppenhaus.
Der Mann schrak zusammen, stopfte sich die Stiche in seinen Gürtel, griff nach der Pietra-Dura-Schatulle und drückte sich den Hut tief in die Stirn, bevor er eilig das Studierzimmer des seligen Bernardus Sallovinus verließ.
Die Natur lässt sich nicht bremsen oder zwingen ...
weit gefehlt!
Sie herrscht über uns, wir nicht über sie.
Heinrich Khunrath alias Ricenus Thrasibaldus (1560-1605)
Die Tannenzweige waren unter dem nassen Schnee nach unten gesunken, doch noch war kein Tauwetter zu erwarten. Marie von Langenau sog die würzige Waldluft ein und legte eine Hand auf den Kopf des grauen Wolfshunds neben ihr. »Das hätten wir uns nicht träumen lassen, einmal hierher zurückzumüssen, mein Freund.«
Die junge Frau stand am Waldrand. Vor ihr führte ein ausgetretener Pfad hinunter zum Gut, und unter anderen Umständen hätte sie sich über einen längeren Aufenthalt auf dem elterlichen Besitz gefreut. Doch alles hatte sich verändert. Sie war nicht mehr die kleine Marie, die sich mit den Brüdern vor den strengen Lehrern in den Wald flüchtete, um Hasen zu schießen. Seufzend strich sie sich eine lange, dunkelblonde Locke aus der Stirn.
Das Gut machte einen vernachlässigten Eindruck. Die Dächer der Stallungen waren notdürftig geflickt, die Unterkünfte des Gesindes baufällig, genau wie das Wohnhaus, dessen Front einst mit prächtigem weißgrünem Stuck beeindruckt hatte. In der Morgensonne waren die Löcher im Putz und die über Jahre unbehandelten Wasserschäden selbst aus der Entfernung deutlich zu sehen. Marie hob den Rocksaum an, um über die Wurzel einer mächtigen Fichte zu steigen. Albrecht, ihr ältester Bruder und Erbe von Kraiberg, war ein schlechter Gutsherr, und sie hatte ihn kaum wiedererkannt. Als sie vor einem Monat mit ihren Habseligkeiten angekommen war, hatte sie nicht mit einer überschäumenden, so doch mit einer herzlichen Begrüßung gerechnet, doch Albrecht war ihr mit verletzender Reserviertheit gegenübergetreten.
Marie setzte vorsichtig einen Stiefel auf die gefrorene Schneedecke und genoss das knirschende Geräusch des einsinkenden Fußes. Der Hund stapfte langsam neben ihr her, die Nase witternd in alle Richtungen reckend. Als er innehielt und seiner Kehle ein leises Knurren entwich, blieb Marie stehen. »Was ist, Aras?«
Sie kniff die Augen zusammen, aber zwischen ihr und dem Gut lag nur ein schneebedecktes Feld. An den Rändern wurde es von kahlen Laubbäumen und Buschwerk begrenzt. Plötzlich stellten sich Aras’ Nackenhaare auf, und seine Muskeln spannten sich zum Sprung. »Ist da wer?«, rief Marie laut.
»Kein Grund zur Sorge, Herrin!«, kam es seitlich von ihr aus dem Wald, und ein Mann sprang in den Schnee, der wider Erwarten tief war und ihn bis zu den Oberschenkeln versinken ließ.
»Grüß dich Gott, Anton! Hast du uns erschreckt! Ruhig, Aras.« Sie tätschelte dem Hund den Rücken, und das Knurren verebbte.
Anton befreite sich aus der Schneewehe, schüttelte seinen Umhang aus und begutachtete seine Armbrust. Seine Familie gehörte seit Generationen zu den Pächtern von Kraiberg, und Marie kannte den fleißigen Mann seit Kindertagen. Er hatte die Tochter des Schusters aus dem Nachbardorf geheiratet.
»Wie geht es deiner Frau?«, erkundigte sich Marie und wartete, bis er bei ihr war.
Seine Kleidung war an vielen Stellen geflickt, aber sauber. Die Armbrust stammte noch aus der Zeit ihres verstorbenen Vaters, der seinen Pächtern bei guter Bewirtschaftung des Landes Geschenke gemacht hatte. An so etwas verschwendete Albrecht keine Gedanken. An ton musste kaum zehn Jahre älter sein als sie selbst, doch seine Züge waren von harter Arbeit und einem entbehrungsreichen Leben geprägt. Es war nicht richtig, dass Albrecht seine Pächter auspresste, bis ihnen kaum noch etwas zum Leben blieb. Marie schämte sich für ihren unbarmherzigen Bruder.
»Und Gott mit Euch!« Der Pächter neigte den Kopf und schenkte ihr unter seinem breitkrempigen Hut ein strahlendes Lächeln. »Dank Eurer Hilfe geht es meiner Agnes viel besser. Das Fieber ist fast verschwunden.« Uber seiner Schulter hingen zwei kleine Hasen, und er zog das Messer aus seinem Gürtel, um einen abzuschneiden.
»Lass nur, Anton. Ihr braucht das Fleisch nötiger. Du hast genug hungrige Mäuler zu stopfen, und der Winter ist noch lang nicht vorbei.« Die Ernten waren schlecht gewesen, und das Korn wurde allerorten knapp. Ihr Bruder hätte die Hasen von Anton eingefordert, und sie warf rasch einen Blick den Weg hinunter, doch niemand war zu sehen. »Nimm sie und mach dich davon. Na, geh schon!«
Doch Anton senkte den Blick, räusperte sich einige Male und sagte schließlich: »Ihr seid so gut, Herrin. Da ist noch etwas.«
»Ja?«, ermunterte sie den Pächter.
»Paul, mein Sohn, ist ein guter, ehrlicher Junge. Sie haben ein Kindshändel bei ihm gefunden!«
Erschrocken ließ Marie die Röcke fahren und suchte Halt bei Aras, der neben sie getreten war. »Das ist schlimm.«
»Jemand muss ihm das verhexte Ding untergeschoben haben!«, stieß Anton gepresst hervor. »Niemals würde mein Sohn so teuflische Sachen tun! Niemals, dafür leg ich meine Hand ins Feuer.«
Marie wusste, wie sehr der Aberglaube in den Leuten verwurzelt war. Wenn jemand des Stehlens bezichtigt wurde und man noch dazu ein sogenanntes Kindshändel fand – die linke Hand eines toten Kindes, auf besondere Weise präpariert und von Dieben bei sich getragen, weil ihre Zauberkraft angeblich Türen öffnete -, dann bestand kaum Hoffnung für den Ertappten. »Anton, das ist eine ernste Sache. Das musst du meinem Bruder sagen.«
»Ich wünschte, dass sich die Sache so aus der Welt schaffen ließe. Ach, verhenkert, der Einhard steckt dahinter, und das nur, weil Paul seine Tochter nicht heiraten will.«
»Hatte er ihr denn die Ehe versprochen?«
»Nein! Aber Einhard wollte Paul zwingen, weil seine Tochter schweren Leibes ist.«
»Von deinem Sohn?«
»Nein!«, rief Anton. »Das ist ja das Hinterhältige. Sie gibt den Vater ihres ungeborenen Bastards nicht preis, aber Paul hat ihr mal schöne Augen gemacht und soll jetzt herhalten für ihre Sündhaftigkeit!«
»Und weil Paul nicht in die Ehe einwilligen wollte, hat Einhard ihn des Stehlens beschuldigt und gleich noch ein Kindshändel als belastenden Beweis gefunden!« Marie überlegte, ob sie sich an Einhard erinnerte, konnte den Namen jedoch nicht mit einem Gesicht in Verbindung bringen. »Wer ist denn dieser Einhard?«
»Ihm gehört der kleine Schwaighof direkt unterhalb von meinem Roggenfeld. Seine Kühe sind schon oft durch mein Getreide getrampelt! Ach, aber dass er zu so etwas Schandbarem fähig ist, hätte ich niemals für möglich gehalten.«
»Was kann ich denn tun, Anton?«
»Bitte, geht zum Einhard und bringt ihn dazu, dass er seine Anschuldigung zurücknimmt. Der ist ein sturer Bock! Euch aber wird er zuhören!«
»Versprich dir nicht zu viel davon, doch versuchen werde ich es«, versprach Marie, die Mitleid mit dem geplagten Familienvater hatte.
»Gott vergelt’s Euch.« Anton zog den Hut und ging an ihr vorbei in den Wald. Sein Haus und das Stück Land, das er bearbeitete, lagen in einer Schneise des Kraiberger Forstes.
Nachdenklich stapfte Marie die Anhöhe hinunter. Hier lag noch vieles mehr im Argen, als auf den ersten Blick zu sehen war. Die Menschen hatten kein Vertrauen zu ihrem Bruder, und in einem solchen Klima konnte nichts Gutes entstehen.
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die frühen Morgenstunden für ausgedehnte Spaziergänge zu nutzen. Die Bewegung tat ihr gut, und mit Aras an ihrer Seite fürchtete sie sich nicht vor unliebsamen Begegnungen mit Wilderern oder anderem Gesindel, das sich zu jeder Jahreszeit in den Wäldern herumtrieb. Je näher sie dem Hoftor kam, desto düsterer wurde ihre Stimmung. Ein Krähenschwarm ließ sich in sicherem Abstand von ihnen auf dem Feld nieder. Aras warf ihr einen bittenden Blick zu, und sie nickte. Sofort preschte der Hund davon und machte sich einen Spaß daraus, die Krähen aufzuscheuchen. Vielleicht hatten die Krähen genauso viel Spaß daran, ihn an der Nase herumzuführen.
Als sie das Hoftor erreicht hatte, kam Aras hechelnd wieder zu ihr. »Na, wenigstens einer von uns hat sich amüsiert«, sagte Marie und schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück. Das wärmende Kleidungsstück war aus weicher kupferfarbener Wolle und mit dunkelgrünem Samt gefüttert. Es war ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes, und sie mochte das edle Stück trotz allem. Sie knirschte mit den Zähnen. Werno von Langenau hatte die Angewohnheit gehabt, sich eines schlechten Gewissens mit teuren Geschenken zu entledigen, und Gelegenheiten hatte es allzu viele gegeben.
Sie trat durch das offene Tor in den Hof, der von zwei Knechten gefegt wurde. Ein kleiner Junge trieb eine Gänseschar umher, die Hühner scharrten auf dem dampfenden Misthaufen, und im Stall zu ihrer Rechten machten Schweine und das Milchvieh ihrem Unmut Luft. Eine Magd schleppte zwei volle Milcheimer heraus. Das Gesinde ging seinen Beschäftigungen nach wie jeden Tag. Einige Gesichter kamen Marie bekannt vor, die meisten allerdings waren noch nicht lange auf Gut Kraiberg. Man machte Marie Platz und nickte ihr zu, doch sie spürte ihre Ablehnung und schrieb die unterschwellige Feindseligkeit der Strenge und Unerbittlichkeit ihres Bruders zu.
Aras ignorierte einen mageren Hofhund, der mit gefletschten Zähnen einen fauligen Knochen verteidigte. Noch war der Boden gefroren, und sie gelangte trockenen Fußes bis zum Treppenaufgang. Das dreistöckige Wohnhaus mit dem turmartigen Anbau im Westen war von ihrem Großvater errichtet worden, dem ersten Freiherrn zu Kraiberg. Er hatte aus dem schlichten Gutshaus ein herrschaftliches Anwesen mit architektonischen Finessen gemacht, doch geblieben war davon nur noch ein schaler Rest. Die steinerne Kugel auf dem Geländerabsatz bröckelte, Treppenstufen und Platten auf der ersten Terrasse zeigten Witterungsschäden.
Bevor sie durch die angelehnte Flügeltür trat, nahm sie die Schultern zurück und zupfte an Umhang und Überrock. Es war unsinnig, nervös zu sein, immerhin war sie eine ehrbare Witwe, die das Schicksal zurück in das Elternhaus gebracht hatte. Doch sie brauchte nur an Eugenia, Albrechts Frau, zu denken, schon fühlte sie sich wie ein unerwünschter Gast.
Die Eingangshalle war mit Jagdtrophäen geschmückt. In ihrer Erinnerung hatte es auch Wandteppiche mit mythologischen Szenen gegeben, doch die schien ihr in diesem Haus öfters Streiche zu spielen.
Eine Tür schlug zu, und Geschirr klapperte. Ursel, Eugenias Kammerfrau, kam mit sauertöpfischer Miene die Treppen herunter. Auf ihrem Tablett standen ein Wasserkrug und der mit einem Tuch abgedeckte Topf mit Kammerlauge. »Guten Morgen, Hochwohlgeboren«, sagte Ursel knapp.
»Gott zum Gruße, Ursel. Ist Herr Albrecht schon auf?«, fragte Marie und löste die Bänder ihres Umhangs.
Ursel rümpfte die lange Nase, die ihrem schmalen Gesicht den Ausdruck eines Sumpfhuhns verlieh. Uber dem hochgeschlossenen schwarzen Kleid trug sie eine lange weiße Schürze, und die Haare waren unter einem Häubchen festgesteckt. Sie hatte ihr Äußeres dem strengen und frömmlerischen Gebaren ihrer Herrin angepasst. »Ich kann Euch nicht sagen, ob der Herr schon auf ist, weil ich nicht weiß, ob er überhaupt im Haus ist. Gibt es sonst noch etwas, oder darf ich meinen Pflichten nachgehen?«
Marie überhörte den frechen Tonfall der Dienerin und winkte sie vorbei. Aras hob die Nase. Aus der Küche duftete es nach Eiern und Brot. Auch ihr Magen meldete sich, und Marie nahm den Umhang über den Arm und folgte den verlockenden Gerüchen. Vor der Küche traf sie auf Vroni, eine hübsche junge Dienerin, die Albrecht ihr als Kammerfrau zugewiesen hatte.
Vroni errötete, machte einen tiefen Hofknicks oder das, was sie dafür hielt, und lächelte. Das offene Lächeln schätzte Marie an dem jungen Mädchen am meisten und ließ sie über ihre Unzulänglichkeiten als Dienerin hinwegsehen.
»Werte Frau von Langenau, guten Morgen, wünscht Ihr ein Frühstück? Es gibt gebratene Eier, Hafergrütze und Honig.« Für die Dienerschaft gab es Honig nur selten, doch Vroni leckte sich die Lippen, und Marie ging davon aus, dass sie die angepriesenen Speisen selbst gekostet hatte.
»Schon recht, Vroni, gib mir von allem ein wenig und für Aras, was die Köchin an Verschnitt hat. Ich bin in der Bibliothek.« Sie wartete, dass Vroni ihr den Umhang abnahm, doch das Mädchen, das sechzehn Jahre alt sein mochte, strahlte sie nur an und wollte in die Küche gehen. »Vroni.« Sie hielt ihr den schneenassen Umhang hin.
»Oh, natürlich. Verzeihung. Ich bin ein dummes, nichtsnutziges ...«, stotterte Vroni verlegen. Ihre Wangen glühten, und der runde Busen wogte in ihrem Mieder. Die braunen Haare lagen in geflochtenen Schnecken um ihre Ohren, und ihre ansehnliche Figur wurde von einem blauen Überkleid und einer weißen Schürze betont.
»Ausbürsten und trocknen, mehr nicht.« Marie lächelte aufmunternd, denn Vroni schaute sie bei jedem noch so kleinen Fehler furchtsam an.
»Ihr sagt es nicht der Herrin?«
»Was denn? Und jetzt mach dich auf. Ich habe Hunger und Aras auch!« Nachdem Vroni davongeeilt war, wandte sich Marie der Bibliothek zu, die an das Jagdzimmer im Erdgeschoss grenzte.
Ihre nassen Röcke streiften über den Steinfußboden des Gangs. Die Bibliothek war mit Dielen ausgelegt, und im Kamin brannte ein Feuer. Sie wollte sich eben über die ungewohnte Verschwendung von Feuerholz für einen nicht bewohnten Raum wundern, als sie ein Husten hörte. Aras knurrte nicht, sondern lief schwanzwedelnd auf einen Wandschirm zu.
»Oheim, seid Ihr das?«, fragte Marie. Neben Vroni war Remigius von Kraiberg, der Bruder ihres verstorbenen Vaters, der einzige Mensch im Haus, den Aras freundlich begrüßte. Ein Buch fiel zu Boden, wirbelte eine Staubwolke auf und bewirkte das erneute Husten ihres Onkels. Schließlich schlurfte ein weißhaariger alter Mann, dessen Schnurrbart einem Husaren zur Ehre gereicht hätte, hinter dem Wandschirm hervor.
Remigius von Kraiberg trug einen langen, farbenfrohen Mantel über einem blaugrünen Wams. Seine Kniehosen waren voller Säureflecken, genau wie sein Kinnbart, der zudem angesengt war. Einstmals golddurchwirkte Samtschuhe platzten an den Seiten auf, und die Waden waren mit Stofflappen umwickelt. Er runzelte die Stirn und hob den Blick nur kurz von dem Buch in seinen Händen. »Ihr seid das. So früh. Was macht Ihr hier?«
»Guten Morgen, Oheim. Ich wollte essen und mir dann ein Buch nehmen. Habt Ihr etwas dagegen?« Sie ging zu einem der vielen Regale, in denen große Lücken klafften. In den verschlossenen Bücherschränken, die wertvolle Folianten und seltene Schriften beherbergten, waren ihr bereits freie Stellen aufgefallen, die zu Lebzeiten ihres Vaters nicht da gewesen waren.
Remigius war ein seltsamer Mann, in sich gekehrt und verschroben. Manchmal schloss er sich tagelang in seinem Turm ein und war fur niemanden zu sprechen. Die Dienerschaft mied ihn und verbreitete die wildesten Gerüchte über den kauzigen Alten, der vor Jahren ein geschätzter Steinschneider am Münchner Hof gewesen war. Mehr als einmal hatte Marie gesehen, wie Ursel sich bekreuzigte, wenn sie aus dem Turm kam.
»Was fragt Ihr? Ich habe hier nichts zu sagen, und die Bibliothek wird von Eurem Bruder geplündert!« Wütend klappte Remigius das offene Buch zusammen und zeigte auf die Bücherschränke neben dem Wandschirm. »Da haben bis vor einem Monat noch die kompletten Schriften von Aristoteles und Erasmus gestanden! Vergil und Horaz waren vertreten und Rabelais und Boiardo! Zum Teufel mit Albrechts Spielsucht!«
»Eugenia könnte Euch hören.« Rasch ging Marie zur Tür und drückte sie zu.
»Dieses strohdumme Weibsstück hat nichts anderes im Kopf als den Jesuitenpater und seine Exerzitien.« Remigius warf das Buch auf einen mächtigen Eichentisch und raufte sich die Haare. »Dieser Schund! Dafür wird teures Papier verschwendet!«
»Sie ist eben sehr fromm«, wandte Marie vorsichtig ein und las laut den Titel vor: »>Gazophylacium Christi Eleemosyna<. Ist das von diesem Drexel?«
»Jeremias Drexel, Hofprediger, nein, herzoglicher Ins-Ohr- Bläser!«, ereiferte sich Remigius.
Marie schmunzelte. »Ihr könnt die Jesuiten nicht leiden.«
Der Alte kniff die Augen zusammen und musterte sie. »Mein gichtiges Knie plagt mich, also verschwendet meine Zeit nicht mit dem Offensichtlichen.«
»Habt Ihr keine Angst vor Pater Hauchegger? Er könnte Euch denunzieren.«
»Weswegen?«
»Die Dienerschaft redet so einiges über Eure Experimente im Turm«, warf Marie ihren Köder aus, denn sie war neugierig, was ihr Onkel dort oben trieb.
»Was soll ich da schon tun? Ich schneide und poliere Edelsteine«, erwiderte Remigius und stützte sich auf den Tisch. Er hatte die feingliedrigen Hände eines Künstlers, doch die Gelenke waren geschwollen und die kleinen Finger verkrümmt.
»Mit den geschwollenen Fingern dürfte Euch das schwerfallen.«
»Aufmerksames Frauenzimmer. In Euch steckt mehr als im Rest dieser liederlichen Sippe.«
»Warum seid Ihr dann überhaupt hier?«
»Warum seid Ihr hier?«, schleuderte er die Frage zurück.
Sie hob die Schultern. »Ich bin eine mittellose Witwe. Welche Wahl hatte ich?«
»Seht Ihr?« Er kratzte sich den Bart und schien zu überlegen.
»Hört auf, meine Fragen mit Gegenfragen zu beantworten!«, erwiderte Marie. Aras lief zur Tür und winselte.
Dankbar für die Unterbrechung dieses Gesprächs sah Marie zu, wie Vroni ein Tablett mit warmer Grütze, Brot, gebratenen Eiern und Honigmilch auf den Tisch stellte.
»Danke, Vroni.«
Das Mädchen strahlte. »Komm mit, Aras, dein Futter steht vor der Tür.«
Marie zog einen Stuhl herbei und setzte sich an den Tisch. Bevor sie den Löffel aufnahm, fragte sie Remigius: »Möchtet Ihr etwas?«
»Es ist ungesund, so früh schon zu essen.«
»Wie Ihr wollt.« Hungrig probierte sie die Eier und nahm einen Löffel Grütze, die aus Haferkörnern gekocht war. Sie wusste nicht, wie es tatsächlich um das Gut stand, doch die Köchin war ein Engel!
Remigius ging zu einem Regal und zog zwei schmale Bücher heraus, die er sich unter den Arm klemmte. »Wenn Ihr fertig seid und nichts Besseres vorhabt, könnt Ihr mich besuchen und Euch überzeugen, dass ich mich nicht der Zauberei schuldig mache.«
Überrascht starrte sie ihn an. Remigius schlurfte zur Tür. Er hielt den Knauf bereits in der Hand. »Oder Ihr lest Drexels Machwerk. Sehr erbaulich.« Mit lautem Krachen fiel die Tür hinter dem alten Sonderling zu, und Marie verschluckte sich an ihrem Ei.
Gesättigt und den letzten Tropfen Honigmilch auf den Lippen verließ Marie kurze Zeit später die Bibliothek. Vor der Tür wäre sie fast über Aras gestolpert, der dösend auf sie wartete. Von Vroni war nichts zu sehen, und aus der Küche drangen die üblichen Geräusche und Gerüche, die das nächste Mahl ankündigten. Auf den Steinen hinterließen ihre durchweichten Stiefel nasse Flecken, und sie begann zu frösteln. Wollte sie sich kein Fieber zuziehen, musste sie die Füße trocknen, bevor sie Remigius aufsuchte.
»Weg, geh weg!«, kreischte ein kleines Mädchen und stürzte mit einer Puppe im Arm aus einem der Schlafräume im ersten Stock.
Marie machte dem weinenden Kind Platz, das an ihr vorbeistürzte und die Treppen hinunterlief. Albrecht hatte ihr zwei Räume am Ende des langen Korridors zugewiesen. Vergeblich hatte sie um ihre alten Zimmer gebeten, denn Eugenia hatte sie für sich beansprucht.
»Marie! Warum habt Ihr das Kind nicht aufgehalten? Es könnte sich verletzen!«, riss die kalte Stimme der Hausherrin sie aus ihren Gedanken. Eugenia rauschte mit erhobenem Kann in den Gang. Ihr schwarzes Kleid war noch im Stil der spanischen Mode und ließ der Freifrau durch den Stehkragen und eine weiße Halskrause, auf der ihr spitzes Kinn ruhte, wenig Bewegungsfreiheit. Die dunklen Haare wurden von einem Netz verdeckt. An ihrem Gürtel hing ein Rosenkranz, und an einer goldenen Kette schwang ein edelsteingeschmücktes Kreuz im Takt von Eugenias gezwungen ruhigen Bewegungen.
»Wie hätte ich wissen sollen, dass ich sie aufhalten soll? Guten Morgen wünsche ich Euch, und vielleicht habt Ihr die Güte, mir zu sagen, wo mein Bruder ist? Ich möchte ihn in einer privaten Angelegenheit sprechen«, sagte Marie etwas zu forsch, denn die hellgrauen Augen ihrer Schwägerin verengten sich.
»Dann werdet Ihr Euch gedulden müssen, Albrecht ist nicht da«, zischte Eugenia. »Ursel! Komm sofort her!«, schrie sie und nestelte an ihrem Rosenkranz.
Marie neigte den Kopf und sah gerade noch, wie die beiden anderen Töchter ihrer Schwägerin die gelockten Köpfe zur Tür herausstreckten und Grimassen schnitten. »Hast du noch Hunger, Aras? Magst du kleine Mädchen?«, flüsterte sie laut genug, dass die Mädchen sie hörten.
Die Kinder schrien und verschwanden in ihrem Zimmer, und Marie ging lachend weiter. Die Mädchen waren verzogen, und Charlotte, die Älteste, stachelte ihre Geschwister zu Unverschämtheiten gegenüber der Dienerschaft an. Da Eugenia sich um die Erziehung kümmerte, waren die Mädchen ihr verzerrtes Abbild.
»Ich habe das gehört, Marie! Wenn Euer Köter den Kindern auch nur seinen stinkenden Atem entgegenhaucht, lasse ich ihn töten!« Die unbarmherzige Kälte Eugenias klirrte in jedem einzelnen Wort, so dass es Marie fröstelte.
Auch der kleine gusseiserne Ofen in ihrem Zimmer konnte die feuchte Kälte nicht aus den Mauern vertreiben, doch sie musste dankbar nehmen, was man ihr gab. Nachdem sie die nassen Stiefel ausgezogen und auf einen Schemel gelegt hatte, schlüpfte sie in ein trockenes Paar, das sie aus ihrer Aussteuertruhe nahm. Die riesige, mit Schnitzereien verzierte Truhe, ein kleiner Pietra-Dura-Tisch und ein Porträt ihrer Mutter waren neben Kleidern und Schmuck alles, was ihr aus der Zeit mit Werno geblieben war. Ihre Mutter Hortense war bei ihrer Geburt gestorben, und Marie hütete das Bild wie ihren Augapfel.
Der Turm ihres Onkels war über ein schmales Treppenhaus im Osten des Gebäudes zu erreichen. Als Kind war sie oft mit ihren Brüdern die engen Wendeltreppen bis unter das Dach hinaufgeklettert, um Taubeneier zu suchen. In den Turmzimmern hatte ihr Vater allerlei Kuriositäten ausgestellt, die er Gästen zeigte, um sie zu beeindrucken oder zu erschrecken. Allein in diesen seltenen Momenten hatte er Anflüge von Heiterkeit gezeigt, so dass Marie sie zu ihren kostbarsten Erinnerungen zählte. Leonhart Fürchtegott von Kraiberg hatte sie sonst nur als ernsten, freudlosen Mann erlebt, hart gegen sich und andere, wenn auch um Gerechtigkeit in seinen Urteilen bemüht und stets mit einem offenen Ohr für die Nöte seiner Pächter und Arbeiter. Aus den Erzählungen der Brüder und der Amme, die fortgezogen war, nachdem die Kinder ihrer nicht länger bedurften, wusste Marie, dass Leonhart ihrer verstorbenen Mutter Hortense zärtlich zugetan und in ihrer Gegenwart ein heiterer Mann gewesen war. Mit ihr ist die Sonne aus meinem Leben verschwunden, hatte er oft gesagt, und noch heute meinte Marie sich an seine ernsten Augen zu erinnern, die sie mit stummem Vorwurf anklagten.
Zögernd stand Marie vor dem rundbogigen Durchgang. Durch ein winziges Fenster sah sie, dass ein Bote auf den Hof geritten kam. Da sie keine Nachrichten erwartete, nahm sie ihren Mut zusammen und ließ die eiserne Löwenpfote gegen das Türschild fallen.
»Wer ist da?«, fragte nach einer schier endlosen Weile ihr Oheim.
»Marie, aber ich kann später wiederkommen, wenn ...«
»Nein. Wartet!«
Aras schnupperte an einem Haufen Mäusedreck. Auf der anderen Seite der massiven Eichentür machte sich Remigius an den Riegeln zu schaffen. Endlich zog er die Tür auf. Ein Schwall schwefelhaltiger Luft quoll heraus und ließ Marie husten.
»Uh, das ist widerwärtig! Und überhaupt, wenn Ihr Euch derartig verbarrikadiert, kommt Ihr irgendwann selbst nicht mehr heraus! Was verbergt Ihr? Eine Kiste voller Gold? Aber nein!« Sie hob triumphierend den Finger. »Den Stein der Weisen!«
Remigius zog die buschigen Augenbrauen nach oben und zeigte auf Aras. »Er darf nichts auflecken oder fressen, was herumliegt. Gebt acht! Ich habe Euch gewarnt.«
Der Alte verriegelte die Tür sorgfältig hinter ihr. Neugierig sah Marie sich um. Entlang der Wendeltreppe, die sich nach oben verjüngte und in drei verschieden große Räume führte, war die Wand mit fremdartigen Schriftzeichen und Bildern bedeckt. Sie erkannte Sonnen und Planetensysteme, Dreiecke, Zirkel, Bäume und unbekannte Schriftzeichen. »Ich habe es doch gewusst. Ihr seid ein Alchemist!«
Remigius stieg vor ihr die Stufen hinauf. »Ein Steinschneider bin ich! Zum Teufel, schreibt Euch das hinter die Ohren!«
»Ich entsinne mich eines Besuchs in der Münchner Residenz. Da habt Ihr in der Werkstatt des Herzogs gearbeitet.«
Vor Hortenses Tod waren die Kraibergs regelmäßig in München gewesen, doch dann hatte sich ihr Vater Leonhart vom Hofleben und von seinen offiziellen Ämtern zurückgezogen, um sich ausschließlich der Leitung des Gutes zu widmen. Gelegentlich schimpfte er über die verschwenderische Regierung von Wilhelm V, dessen prunkvolle Hofhaltung, große Bauvorhaben und Ansammlungen von Kunstschätzen dem Land fast sechs Millionen Gulden Schulden bescherten. Mit der Abdankung Wilhelms zugunsten seines Sohnes Maximilian im Jahre des Herrn 1597 wurden neue Zeiten im Herzogtum Bayern eingeläutet. Leonhart und der übrige Adel des Herzogtums mussten feststellen, dass der junge Herzog Reformen einführte, die auch an der bis dato privilegierten Stellung des Adels rüttelten. So wurden Hofämter, die traditionell der Adel besetzt hatte, nun auch Juristen zugänglich gemacht, eine Veränderung, die dem standesbewussten Leonhart stets ein Dorn im Auge blieb.
Marie hatte nie erfahren, warum ihr Vater bis zu seinem Tode kein Wort über seinen Bruder verloren hatte.
»Ich war ein guter Steinschneider. Warum sollte ich nicht in der Residenz gearbeitet haben?«, kam es barsch von Remigius.
»Oheim, verzeiht, ich war noch so jung damals, und dann bin ich fortgegangen, und Vater hat nie über Euch gesprochen.« Sie dachte an die wenigen kurzen Briefe, die sie während ihrer Ehe aus Kraiberg erhalten hatte.
Remigius murmelte in seinen Bart und deutete auf den Eingang zum ersten Raum. Durch die schmalen, hohen Fenster schien die Morgensonne auf Regale, die mit den absonderlichsten Dingen gefüllt waren, und in der Mitte stand ein Tisch mit wissenschaftlichen Instrumenten, jedenfalls war das Maries erster Eindruck. Sie trat näher.
»Ein, oh, wie war der Name? Mein Vater hatte einen Stein wie diesen dort!«, rief sie aus und starrte auf den gelblich grauen Klumpen, der die Form eines Katzenschädels hatte.
»Ein Bezoar. Er gehörte Eurem Vater. Hätte ich ihn nicht hier mit den anderen Kleinodien versteckt, Albrecht hätte ihn längst versilbert.« In Remigius’ Stimme schwangen Bitterkeit und Verachtung mit, doch als sie ihn ansah, meinte sie außerdem eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen zu sehen.
»Der Magenstein einer asiatischen Bezoarziege.« Remigius beobachtete, wie Marie über die unebene Oberfläche des organischen Kuriosums strich.
»Vater hat uns erzählt, dass es dreimal so wertvoll ist wie Gold, und wenn man den Stein zu Pulver macht, könnte man daraus ein Mittel gegen verschiedene Gifte und Krankheiten bereiten.«
»Ja, das ist richtig. Leonhart war ja nicht dumm.«
»Was ist geschehen, dass Ihr und Vater Euch entzweit habt?«, fragte Marie vorsichtig.
»Wer sagt denn so etwas?«, knurrte Remigius.
»Nach Mutters Tod und zu seinen Lebzeiten seid Ihr nicht nach Kraiberg gekommen. Was soll man anderes daraus schließen, als dass es einen Zwist gegeben hat?«
»Tja, was soll man daraus schließen?«, äffte er sie nach. »Wenn man nichts weiß, soll man gar nichts schlussfolgern, weil nur dummes Zeug dabei herauskommt!«
Eingeschüchtert betrachtete sie den Bezoar und sah sich mit großen Augen neben ihren Brüdern Albrecht und dem kleinen Georg stehen, wie sie gebannt dem Vater lauschten, der ihnen die abenteuerlichsten Geschichten über die Wunderkräfte des Gebildes erzählte. Sie hob den Kopf, genau wie Aras, denn im Stockwerk über ihnen war etwas zu Boden gefallen, und jemand lachte. »Wer ist das?«
»Niemand.«
»Aber jemand hat gelacht!«, beharrte Marie.
»Lasst den Hund hier unten«, befahl Remigius und ging zur Treppe.
»Bleib«, sagte Marie zu Aras und folgte ihrem Oheim, dem Geheimnisse offenbar ein großes Vergnügen bereiteten, hinauf in den zweiten Stock. Der Geruch von Schwefel verstärkte sich, und als sie um die Ecke kam, bot sich ihr ein Bild scheinbarer Verwüstung, doch bei näherem Hinsehen erkannte sie einen Destillationsapparat, einen kleinen Ofen, Tiegel, Töpfe, Flaschen und Regale, die mit Instrumenten, Messern, Eisen- und Kupferstangen und Drähten vollgestopft waren. Auf Kisten, Truhen und Tischen standen leere Tierkäfige, überall lagen Bücher und Dokumente, beschriebene Papierfetzen, und inmitten der wissenschaftlichen Unordnung saß auf einem Holzgerüst ein grüngelber Papagei.
»Bella, das ist Marie«, sagte Remigius und kraulte den schönen Vogel am Kopf.
»Gott zum Gruße!«, sagte der Papagei höflich, beäugte sie und stimmte das Lachen an, das sie bereits vernommen hatte.
Marie war einen Moment lang sprachlos, musste dann aber herzlich lachen, und während sie eine Nuss vom Tisch nahm und dem Vogel hinhielt, wurde ihr bewusst, dass sie sich schon lange nicht mehr so unbeschwert gefühlt hatte. »Ich habe schon einmal einen solchen Vogel gesehen bei einem Gaukler auf dem Markt.« Sie deutete auf die alchemistischen Gefäße und Apparaturen. »Und das hier?«
»Ich habe Euch mit heraufgenommen, weil ich Euch seit Eurer Ankunft auf Kraiberg beobachtet habe.«
»Da bin ich aber neugierig, wo ich Euch höchstens zwei Mal gesehen habe ...« Sie zog den Finger weg, bevor Bella zubeißen konnte.
»Nun, Ihr seid aufgeweckt, habt eine schnelle Auffassungsgabe, hängt nicht an den Rockzipfeln der Jesuiten und scheint mir einen klaren, unbestechlichen Verstand zu haben. Zumindest hoffe ich das«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.
»Das ist wirklich ungeheuer ...«
»Ungeheuer schlau von mir? Ja, da stimme ich Euch zu, und deshalb weiß ich, dass Ihr niemandem von meinem Zeitvertreib berichten werdet. Seid Ihr nicht neugierig? Wollt Ihr nicht wissen, was eine Putrefaktion oder eine Fermentation ist? Was sind Edelsteine? Woraus sind sie entstanden?« Er nahm ein ungeschliffenes Stück Lapislazuli in die Hand. »Wunderschön, aber wie hat die Erde es hervorgebracht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr enttäuscht mich. Als Nächstes erzählt Ihr mir, dass Ihr bald Gold herstellen könnt.«
»Ihr habt nicht zugehört. Ich stelle Fragen. Ich nenne mich einen Suchenden, und jeder neugierige Geist ist wie ich.« Bedächtig legte er den blauen Edelstein auf den Tisch. »Oder interessiert Euch nur der schöne Schein? Seht Ihr nicht mehr, als wie sich dieser Stein in einem Mosaik machen könnte?«
»Nuss!«, kreischte Bella, hüpfte hin und her und flatterte mit den beschnittenen Flügeln. »Nuss!«
Seufzend nahm Marie eine weitere Nuss aus der Holzschale und gab sie dem Papagei. Dabei fiel ihr Blick durch einen der Fensterschlitze. »Er reitet wieder fort, und Albrecht ist noch immer nicht zurück.«
»Fort? Wer? Etwa ein Bote?« Remigius stieß sie unsanft zur Seite, um sich in die Fensternische zu zwängen. Dann rannte er die Treppen hinunter.
Marie folgte ihm mit Aras. Der Alte wirkte aufgeregt und war außer Atem. Hustend mühte er sich mit den Türschlössern ab.
»Lasst mich Euch helfen, Oheim. Wenn es eine Sendung für Euch war, werde ich sie heraufbringen.«
Remigius hustete, und dabei rasselte es schwer in seinen Lungen. Unfähig zu antworten, nickte er und winkte sie fort.
Als Marie kurz darauf über die steinernen Stufen des seitlichen Treppenaufgangs zur Eingangshalle hinunterging, sah sie Eugenia allein neben einer marmornen Büstensäule stehen.
Während Marie noch überlegte, welche Büste fehlte, entdeckte sie den großen, versiegelten Umschlag in Eugenias Händen. Neugierig wendete Eugenia ihn hin und her und machte schließlich Anstalten, das Siegel zu erbrechen.
»Der Oheim schickt mich nachzusehen, ob etwas für ihn abgegeben wurde, aber anscheinend war der Brief für Euch?«
Marie hob die Stimme am Ende des Satzes nur leicht und sah, wie Eugenia ertappt zusammenzuckte, doch es war zu spät, den Brief noch zu verstecken. Eugenia streckte ihr den bräunlichen Umschlag mit versteinerter Miene entgegen. »Was habt Ihr plötzlich mit dem alten Wunderling zu schaffen?«
Bevor Marie den Brief ergreifen konnte, zog Eugenia ihn wieder zurück, was Aras, der alles genau beobachtete, zu einem warnenden Knurren veranlasste. »Aus Prag«, sagte Eugenia und konnte die Augen nicht von dem Siegel und der ebenmäßigen Handschrift auf dem Umschlag nehmen.
»Warum gebt Ihr mir den Brief nicht einfach, damit Remigius feststellen kann, wer ihm etwas mitzuteilen hat«, sagte Marie mit einem höflichen Lächeln.
Abrupt ließ Eugenia den Brief auf die Säule fallen und sagte im Weggehen: »Der Alte ist nur eine Last und bringt uns noch in Misskredit bei Seiner Herzoglichen Hoheit. Niemand weiß, was er dort oben treibt! Mein Albrecht ist ein viel zu gutmütiger Mensch!«
Rasch nahm Marie den Brief an sich und steckte ihn in ihren Gürtelbeutel. Albrecht ein gutmütiger Mensch! Wenn ihr Bruder Remigius hier im Turm wohnen ließ, konnte das nur bedeuten, dass ihr Oheim Wohnrecht besaß. Und dieses Recht war mit Sicherheit notariell verbrieft. Je länger Marie auf ihrem Rückweg in den Turm darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass Albrecht von Remigius’ Aufenthalt hier finanziell profitierte.
Der Samische Stein, welcher auf derselben Insel workommt, deren Erde ich lobend erwähnt habe, dient zum Poliren des Goldes, wird aber auch in der Medicin gebraucht, nämlich mit Milch gegen Augengeschwüre ... gegen anhaltendes Triefen der Augen, innerlich gegen Magenbeschwerden, Schwindel, zerrütteten Verstand.
Caius Plinius Secundus, »Naturgeschichte«,
XXXVII. Buch, »Von den Edelsteinen«
Aus dem Destillierkolben tropfte es langsam in ein Glas. Marie schnüffelte und lächelte zufrieden. Remigius stellte hervorragendes Kirschwasser her. Man durfte nicht mehr als ein kleines Glas genießen, aber das vertrieb die Kälte aus müden Gliedern und machte trockene Kuchen genießbar. Aras lag zusammengerollt auf einem Schaffell vor dem gemütlich knisternden Ofen.
Neben den Apparaturen, Fläschchen und Schalen lagen Papiere und aufgeschlagene Bücher über den Tisch verstreut. Darunter waren Andreas Libavius’ »Alchymia«, eine Schrift des Epiphanias von Eleutheropolis, und ein Lapidarium, ein Steinbuch, des Bischofs Marbod von Rennes.
Marie betrachtete die Abbildungen der verschiedenen Edelsteine. Seit sie einen Großteil ihrer Zeit hier oben im Turm ihres Onkels verbrachte, war ihr klar, wie wenig sie letztlich wusste. Immerhin war sie des Lateinischen mächtig, was ihr beim Erfassen der wissenschaftlichen Texte half, doch von den Zusammenhängen hatte sie im günstigsten Falle nur eine dunkle Ahnung.
Remigius war in einer seltsamen Stimmung. Einerseits wirkte er aufgeräumt, was sie auf den gelungenen Destillationsprozess zurückführte. Andererseits schien er abwesend und in sich gekehrt. Der Winter hatte das Land noch immer in seinen frostigen Klauen, doch kündigte sich Tauwetter an, und der Alte schien weniger gichtgeplagt. Er tippte auf die Zeichnung eines Saphirs. »Der Saphir ist seinem Wesen nach kalt. Verarbeitet man ihn zu Arznei, hilft er gegen Fieber und hitzige Krankheiten. Am Hals getragen wirkt er gegen Neid und Angst.«
Marie legte den Kopf schief und spielte mit einer losen Haarsträhne. Ihr einfaches Hauskleid wies Flecken und Risse auf, doch in Remigius’ Laboratorium kam es dauernd zu kleineren Unfällen mit Tinkturen oder Säuren, und zwei ruinierte Kleider waren genug. »Ein Amulett gegen Neid und Angst. Das klingt nach Hexerei. Vielleicht verbrennen wir das Buch lieber?«
Remigius machte eine ungeduldige Handbewegung. »Humbug! >De Lapidibus< ist ein seriöses Werk über die Beschaffenheit der Steine! Himmel, Bischof Marbod war ein guter Christ und hat seine Beobachtungen vor sechshundert Jahren niedergelegt! Die Nonne Hildegard von Bingen hat ebenfalls über den Saphir geschrieben. Allerdings hat sie sogar behauptet, dass der Saphir Blinde und Taube heilen kann. Ha, und ein vergichtigter Mensch solle den Stein nur im Munde einspeicheln, und die vermaledeite Krankheit weiche von ihm!«
»Das mag ja alles sein.« Sie fuhr mit einem Finger die Unebenheiten der Holzplatte entlang. »Aber wisst Ihr, was ich von Vroni gehört habe? Sie hat Eugenia und den Jesuiten belauscht, der dauernd hier herumschleicht. Herzog Maximilian hat ein Kästchen, in dem er Bußwerkzeuge aufbewahrt! Und sie sollen blutbefleckt sein! Der Herzog geißelt sich wie ein Büßer.«
»Maximilian ist bei Jesuiten aufgewachsen, hat an deren Kolleg studiert, was war da anderes zu erwarten?«, meinte Remigius unbeeindruckt.
»Ja, aber das zeigt doch, wie ernsthaft er die Frömmigkeit betreibt! Jeden Monat werden neue Mandate erlassen gegen Aberglauben, gegen Hexerei, Buhlerei, Unzucht, Fluchen, gegen kleinste moralische Verfehlungen ...«
»Durch Gesetze regiert ein Landesherr, und genauso werden auch Münzwesen, Steuern, Tagwerkordnungen und Wilderei geregelt.« Er kratzte sich unter der Filzkappe und ging zum Fenster.
»Ihr haltet mich für eine dumme Gans, nicht wahr?«
»Was wollt Ihr? Kommt nach Jahren hierher und glaubt, mir Vorhaltungen machen zu müssen? Ich habe Euch zum letzten Mal gesehen, da trugt Ihr noch Zöpfe und eine Puppe im Arm!«, erwiderte Remigius, doch seine Stimme war weniger scharf als seine Worte. Er zog einen zerknitterten Umschlag aus seinem Gürtel und warf ihn auf den Tisch. Es war der Brief aus Prag.
Seit jenem Morgen, an dem Marie den Brief vor ihrer neugierigen Schwägerin gerettet hatte, rätselte sie, was darinstehen mochte. Remigius hatte ihn nicht in ihrem Beisein gelesen und sich danach mehrere Tage in seinem Turm eingeschlossen.
»Lest ihn. Ihr brennt doch vor Neugierde!«
»Komm, Aras!«, sagte Marie wütend. »Wir lassen uns nicht von einem launischen alten Mann herumstoßen.«
»Weiber!« Remigius raufte sich die Haare. »Bitte, ich möchte, dass Ihr den Brief lest, weil Ihr der einzige Mensch in diesem verfluchten Gemäuer seid, dem ich vertraue.« Er holte tief Luft. »Eugenia ist so doppelherzig wie ihre Kammerfrau.«
Marie hob die Brauen. »Ursel? Sie bringt Euch das Essen!«
Matt erwiderte Remigius: »Seit fünf Jahren wartet sie mir auf. Wenn ich es ihr verbiete, erzählt sie womöglich, dass ich hier oben Blei in Gold verwandle, und dann kommt Albrecht und sperrt mich für den Rest meiner Tage ein, damit ich ihn reich mache!«
Vom Hof schallten Stimmen und das Geklapper von Pferdehufen herauf. Hunde bellten aufgeregt, und Marie ging zum Fenster. »Wenn man vom Teufel spricht ... Albrecht ist mit seinen Freunden von der Jagd zurück. Dann wird wieder bis spät in die Nacht gefeiert.«
Leichtfüßig hüpfte sie die Stufe vor der Fensternische hinunter und griff nach dem Brief. Im aufgebrochenen Siegel waren Fragmente eines Auges zu erkennen und etwas, das aussah wie eine Sonne. »Was bedeutet das? Ist das tatsächlich eine Sonne?«
»Lest zuerst.«
Die Schrift war schön, doch die Rechtschreibung auf eine Art fehlerhaft, die nahelegte, dass der Verfasser des Briefes aus dem Böhmischen oder gar den italischen Ländern stammte. »Werter Signore von Kraiberg«, las Marie laut. »Îmi pare rău, ma, von Herzen hoffe ich, dass Ihr wohlauf seien möget und diese Nachricht Euch erreicht. Es ist ein Unglück orribile geschehen. Der verehrteste scienziato Bernardus Sallovinus ist morto. Die cose, welche Ihr ihm gesandt, wurden entwendet, welcherart ich annehme, dass ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen dem assassinio und der Entwendung. Ein ergebener Freund.«
Sie wendete den Brief hin und her, doch mehr war dem Blatt nicht zu entlocken. »Was bedeutet das? Kanntet Ihr diesen Sallovinus?«
Remigius rieb sich die Augen und räusperte sich einige Male. »Bernardus Sallovinus ist, nein, war«, verbesserte er sich, »einer meiner ältesten Freunde. Wir haben zusammen an der Universität von Prag studiert und sind durch Böhmen und Italien gereist. Ich habe mich ganz dem Erlernen der Steinschneidekunst gewidmet, nachdem ich zur Einsicht gelangt war, dass in meinen Händen mehr Talent steckt als in meinem Kopf. Aber Bernardus war ein großer Denker, der Wissen aufsog wie ein Schwamm. Bei allen Heiligen, ermordet soll er sein! Ich kann es nicht glauben! Und ich weiß nicht, wer der Unterzeichner ist!« Verzweifelt rang der alte Mann die Hände. »Das Furchtbarste ist, dass ich mir die Schuld an seinem Tod geben muss, wenn die cose, die Sachen, die ich ihm geschickt habe, tatsächlich der Grund für dieses Unrecht sind.«
»Sachen? Ist das Italienisch? Dieses îmi pare verstehe ich nicht, klingt mir sehr fremd«, sagte Marie und streichelte Aras, der ihr den Kopf auf den Schoß gelegt hatte.
»Brocken von Italienisch und südböhmischem Dialekt, wenn ich es richtig deute. Vor einigen Monaten habe ich Bernardus einige Kupferstiche zur Ansicht geschickt, auf die ich während meiner letzten Reise in Augsburg gestoßen war. Ich wollte unbedingt seine Meinung dazu hören. Und nun sind diese Stiche verschwunden, und mein alter Freund ist tot!« Remigius starrte sie an, und alle Selbstsicherheit war aus seinem blassen Gesicht verschwunden.
»Wovor furchtet Ihr Euch, Oheim?«
Die kleine Flamme unter dem Destillierkolben zischelte, und von draußen drang gedämpft der alltägliche Lärm herauf, doch selbst Remigius’ Papagei war still, äugte nur neugierig von einem zum anderen, und der Brief aus Prag lag wie eine Bedrohung auf dem Tisch.
Remigius schlurfte zur Tür. »Kommt mit.«
Sie folgte ihm die Treppen hinunter in den ersten Raum, der die Kuriositätensammlung des alten Kraiberg beherbergte. Der Bezoar stand noch in seiner silbernen Fassung auf dem Tisch. Inzwischen hatte sich Marie auch die Gläser mit den eingelegten Extremitäten und Organen exotischer Tiere angesehen, die unter Tüchern versteckt in den Regalen standen. Remigius hatte ihr deren Bedeutung zum Verfassen anatomischer Zeichnungen erklärt, so dass sie ihre anfängliche Scheu überwand. Die Regale ließ Remigius jedoch unbeachtet, sondern ging zu einer Tafel, die in Tücher und Decken verschnürt neben den Schrank geschoben worden war.
Ächzend bückte er sich und kippte die schwere, rechteckige Tafel seitlich vor. Marie eilte herbei und half ihm, sie gegen den Schrank zu lehnen. Gemeinsam lösten sie die Schnüre und befreiten die Tafel von ihren schützenden Hüllen. Als Remigius fast liebevoll das letzte Leinentuch fortzog, hielt Marie den Atem an.
»Wie wunderschön!«, seufzte sie und betrachtete ehrfürchtig die leuchtenden Farben der Pietra-Dura-Tafel, in deren Mitte ein ovales Bild eingelassen war, das sie für ein Ölgemälde hielt. Die Tafel maß fünf Ellen in der Höhe und drei in der Breite, und an den Ecken waren schadhafte Stellen zu sehen. Es handelte sich zweifelsohne um ein seltenes Kunstwerk, und das nicht allein der Edelsteine der Pietra-Dura-Arbeit wegen. Der äußere Rand der Tafel bestand aus dekorativen Blumen und Vögeln, verbunden durch Blattwerk und eingelegt in tiefblauen Lapislazuli-Grund. Die filigrane Schönheit der perfekt geschnittenen und geschliffenen Edelsteine war einzigartig, und doch fesselte Maries Aufmerksamkeit in erster Linie das ovale Bild, es war befremdlich und gleichzeitig von betörender Schönheit.
»Woraus ist es gemacht, und was bedeutet es?« Neugierig strich sie über die leicht unebene Oberfläche und drehte sich erwartungsvoll zu ihrem Onkel um. Erschrocken über den finsteren Gesichtsausdruck, mit dem er sie beobachtete, führ sie zurück und sah sich instinktiv nach Aras um, der in der Tür stand und in das Treppenhaus hineinknurrte.
»Was hat er?«, raunzte Remigius.
Kurz bevor unten fordernd an die Tür geschlagen wurde, stürzte Aras die Treppe hinunter und bellte lautstark. Marie sah, wie Remigius die Tafel verhüllte, raffte ihre Röcke und lief ebenfalls hinunter. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihrem Oheim. Er war unberechenbar, und gerade eben hatte sie sich richtiggehend vor ihm gefürchtet, seine Miene war feindselig, fast bedrohlich gewesen.
»Marie! Ruft den Köter zurück und kommt her! Ich muss mit Euch sprechen!«, rief Albrecht ungeduldig.
Ausnahmsweise war sie froh, die Stimme ihres Bruders zu hören, und machte sich an den Riegeln der massiven Tür zu schaffen, die dem Ansturm eines Regiments gewachsen war. Sie hatte nicht gehört, dass Remigius ihr gefolgt war, und so zuckte sie zusammen, als sie seine knochige Hand unvermittelt von hinten am Arm packte. »Kein Wort von der Tafel! Zu niemandem, hört Ihr? Zu niemandem!«, zischte Remigius ihr ins Ohr und ließ sie abrupt los. Oben kreischte aufgeregt der Papagei.
»Schon gut. Was habt Ihr denn nur? Ich dachte, Ihr vertraut mir? Ich bin keine geschwätzige Gans. Von mir aus versauert doch in Eurem Turm!«, erwiderte Marie verärgert.
Im Halbdunkel des engen Vorraums war sein Gesicht kaum zu erkennen, doch sie spürte eine Veränderung in der angespannten Haltung ihres Oheims. Flehentlich streckte er nun die Hände aus und sagte: »Bitte, verzeiht einem alten Mann seine Launen. Kommt wieder, das tut Ihr doch? Bitte, versprecht mir, dass Ihr wiederkommt!«
Aras kratzte an der Tür, und Marie legte den letzten Riegel nach hinten. »Gehabt Euch wohl.« Dann zog sie die knarrende Tür auf und blinzelte ihrem Bruder entgegen.
Albrecht überragte sie um mindestens einen Kopf. Auf den halblangen hellbraunen Haaren war der Abdruck der Mütze zu sehen, die er in seinen Gürtel gesteckt hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn nach einiger Zeit wiedersah, versetzte es ihr einen traurigen Stich, denn Albrecht war das jugendliche Abbild seines verstorbenen Vaters. Die lange, gerade Nase, das eckige Kinn, ausgeprägte Wangenknochen, ein schmallippiger Mund, der von einem kurzen Bart gerahmt wurde, und die aufgrund einer Sehschwäche stets zwinkernden braunen Augen ergaben das Bild eines gutaussehenden Mannes. Er roch nach Leder, Schweiß und Blut, das an seinen Stiefeln klebte. »Meine reizende Schwester! Seht Euch an! In Lumpen lauft Ihr herum, als wäret Ihr eine Magd und nicht die Witwe eines ehrbaren Edelmanns!«