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Das Restaurant Fiore ist Bianca Massinellis ganzer Stolz. Mit viel Herzblut hat sie das Lokal, das zum Weingut ihrer Familie gehört, aufgebaut und zum Geheimtipp gemacht. Doch dann kündigt ausgerechnet ihr Chefkoch, als ein Reisemagazin über das Restaurant berichten will. Hilfe naht von unerwarteter Seite: Nando Branconi, einer der Hotelgäste, springt spontan ein. Er kann nicht nur hervorragend kochen, sondern sieht auch gut aus, weshalb sich Biancas Mitarbeiterin Elena schon bald in ihn verliebt. Nando hat jedoch nur Augen für Bianca. Als die beiden sich näherkommen, droht die eifersüchtige Elena das Fiore zu ruinieren ...
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Seitenzahl: 478
Buch
Das Ristorante Fiore ist Bianca Massinellis ganzer Stolz. Mit viel Herzblut hat sie das Lokal, das zum Weingut ihrer Familie gehört, aufgebaut und zum Geheimtipp gemacht. Doch dann kündigt ausgerechnet ihr Chefkoch, als ein Reisemagazin über das Restaurant berichten will. Hilfe naht von unerwarteter Seite: Starkoch Nando Branconi, einer der Hotelgäste, springt spontan ein. Er kann nicht nur hervorragend kochen, sondern sieht auch gut aus, weshalb sich Biancas Mitarbeiterin Elena schon bald in ihn verliebt. Nando hat jedoch nur Augen für Bianca. Als die beiden sich näherkommen, droht die eifersüchtige Elena, das Fiore zu ruinieren …
Informationen zu Constanze Wilken sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Ogni promessa è debito.
Jedes Versprechen ist eine Verpflichtung.
Italienisches Sprichwort
Feinschmeckerei ist ein Hauptband der Gesellschaft.
Stufenweise wirkt sie auf den Grad der Geselligkeit,
der täglich die verschiedensten Stände auf ein neutrales
Gebiet leitet, die Unterhaltung belebt und die bekannten
Ecken der Ungleichen abschleift.
Brillat-Savarin (1755–1826)
Villa Fiore
Luciano (†) & Vittoria (†) Massinelli
Teresa & Ettore Massinelli (†)
Lorenzo (Teresas Sohn) & Manuela (geb. Wiesinger) Massinelli
Ihre Töchter:
Bianca – Köchin
Giulia – Wirtschaftsprüferin
Milena – Pferdetrainerin
Restaurant Fiore & Hotel
Elena – Servicemitarbeiterin
Luca – Beikoch
Ivano – Küchenhilfe
Ariano – Beikoch
Renata – Beiköchin
Simone – Mitarbeiterin
Claudia – Rezeptionistin
Biancas Freunde
Sara, Mia & Rachele
Marco Campucci
Filippo Marchetti
Maurizio Rossi
Nando Branconi – Starkoch aus Neapel
Arianna – Nandos Ehefrau
Umberto Talone
Valentino Talone – Umbertos Sohn
Corrado Talone – Umbertos Onkel
Mitarbeiter des Weinguts
Alberto Fatta – Kellermeister
Masato Tanaka – Kellermeister
Mauro Ruggero – Trüffelsucher mit Pino, dem Trüffelhund
Fattoria Fiore
Salvatore (Lorenzos Bruder) & Bruna (geb. Contesini) Massinelli
Dario Massinelli (ihr Sohn) – Rechtsanwalt
Paul Reed – kalifornischer Flying Winemaker
Juan – Pauls mexikanischer Partner auf dem Reed Estate
Jean Ducasse – Flying Winemaker
Harper Ford – Wissenschaftlerin, Giulias Freundin
Sie kannte jede Kurve und jedes Schlagloch dieser Straße. Automatisch legte sich Bianca nach rechts, denn gleich folgte die scharfe Biegung mit der unbefestigten Geröllkante. Was für ein Abend! Noch immer summte sie in Gedanken das Lied von George Michael, zu dem sie zuletzt getanzt hatte: »These are the days of the open hand …«
Sie musste die Vespa hart nach rechts drücken, um nicht auf den losen Steinen auszurutschen.
»Maybe we should all be praying for time …«, hieß es weiter in dem eindringlichen Song. Obwohl die Party ausgelassen gewesen war, hatte ein wenig Wehmut diesen Abend bestimmt. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, genau wie die Ferien und auch die Schulzeit. Noch ein Jahr, und dann mussten sie sich entscheiden, welchen Weg sie einschlagen wollten.
Mia Salvati, ihre beste Freundin, hatte es gut. Sie wollte Kunst studieren, und mit ihrem Talent würde sie es weit bringen, davon war Bianca überzeugt. Die exzentrische, begabte Mia mit ihren Tattoos und Piercings, die den vornehmen Salvatis ein Dorn im Auge waren. Was Mias Rebellion nur noch weiter befeuerte. Rachele dagegen war eher still, der ruhende Pol der Mädchenclique, wollte eine kaufmännische Ausbildung absolvieren und wünschte sich Kinder. Wie konnte man nur so früh schon sicher sein, dass das der richtige Weg war? Manchmal neckten sie Rachele und ihren Freund Franco wegen ihres unaufgeregten Lebens und ihrer Häuslichkeit.
Die Vespa knatterte laut in der stillen Nacht, denn die Nebenstrecke hinauf zur Villa Fiore war kaum befahren. Das Weingut ihrer Familie lag auf einem Hügel im Rufina, unweit von Florenz. Der Weinanbau hatte eine lange Tradition bei den Massinellis, und die Arbeit mit den Rebstöcken bestimmte das Leben aller auf dem Gut. Bianca liebte die alte Villa, den Wald, in dem es wunderbare Trüffel gab, und den Garten. Sie hatte sich ein kleines Stück zum Anbau ihres eigenen Gemüses abgetrennt. Es war ihr Experimentiergärtchen, wie sie ihn nannte. Ihre Schwestern schmunzelten darüber, begeisterten sie sich doch für ganz andere Dinge.
Milena liebte ihre Pferde, war eine ausgezeichnete Reiterin und verbrachte jede freie Minute im Stall. Und Giulia, die Älteste der Massinellis, vertiefte sich am liebsten in ihre Bücher. Sie war ein Zahlengenie und hatte bereits einige Mathematikwettbewerbe gewonnen. Seufzend steuerte Bianca die Vespa an einem Schlagloch vorbei. Was hatte sie an besonderen Talenten vorzuweisen? Sie interessierte sich für exotische Gemüsesorten und wie man sie verarbeitete. Am liebsten stand sie mit ihrer Mutter und Nonna in der Küche. Die Rezepte ihrer Großmutter waren legendär, und auf keiner Familienfeier durften Nonnas Polpette, die berühmten Fleischbällchen, und ihr Zitronen-Tiramisu fehlen. Nonna freute sich immer diebisch, wenn die Gäste leicht beschwipst aufstanden, weil sie den Gehalt an Limoncello im Dessert unterschätzten.
Dieses Dessert hatte sie heute auch für Saras Geburtstagsfeier mitgebracht. Ihre Mitschülerin lebte in Pontassieve und hatte ihre besten Freunde eingeladen. Außerdem war auch der junge Maurizio da gewesen, dessen Vater das Promirestaurant Da Rossi in Florenz betrieb. Man sah ihm nach, dass er gerne mit den Berühmtheiten angab, die er dort traf, weil er unterhaltsam und zu außergewöhnlichen Aktionen bereit war.
Bianca lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie ihr Maurizio heute Abend wieder einmal schöne Augen gemacht hatte. Es war nicht so, dass sie ihn nicht mochte, aber sie war einfach nicht verliebt in ihn und basta! Sie hatten zu George Michaels Song getanzt. »Praying for time …«, summte Bianca und gab Gas, um die Steigung bewältigen zu können.
Und dann ging alles ganz schnell. Sie hatte den Wagen erst im letzten Moment gehört, da war er schon neben ihr und touchierte ihre Vespa. Sie schrie, verlor die Kontrolle über das Zweirad und rutschte über die Geröllkante. Ein stechender Schmerz schoss ihr durchs Bein, als das schwere Gefährt auf sie fiel und sie den Hang hinunterschob. Kurz schwoll der Schmerz an, schien sie zerreißen zu wollen, bis er in einem dumpfen Nebel aus gnädiger Ohnmacht erstarb.
Wie lange sie bewusstlos gewesen war, konnte sie nicht sagen, doch irgendwann lichtete sich die watteartige Umhüllung ihres Gehirns, und sie spürte die spitzen Steine, fühlte warmes, klebriges Blut an ihrem Bein, das sich nicht bewegen ließ. Tränen schossen ihr in die Augen, die sie zunächst nicht öffnen konnte. Als es ihr endlich gelang zu blinzeln, konnte sie in der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Der Lichtkegel ihrer Vespa schien unwirklich und auf unpassende Weise starr in die Nacht. Sie wollte schreien, brachte jedoch keinen Laut mehr über die aufgesprungenen Lippen. Schließlich zog sie einen Arm unter der Vespa hervor und streckte ihn hilflos aus. Ist dort denn niemand? Und dann sah sie eine Gestalt, die sich gegen das Licht am Abhang abzeichnete. Regungslos verharrte dort oben jemand, dessen war sie sich sicher, doch die Person machte keinerlei Anstalten, ihr zu helfen, sondern wandte sich abrupt ab. Ein Motor heulte auf. Sie war allein.
Die Julisonne brannte heiß vom Mittagshimmel. Bianca wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn sie war seit dem frühen Morgen in der Küche, um die Gerichte für das große Festessen vorzubereiten. Ihr Bein schmerzte vom langen Stehen. Aber sie hatte keine Wahl. Ihr Chefkoch hatte sich einfach aus dem Staub gemacht. Über Nacht war der Mistkerl verschwunden. Sie ballte wütend die Hände und schickte einen stummen Fluch in Richtung des wolkenlosen Himmels. Alles hätte perfekt sein können – die Gäste freuten sich auf die Hochzeitsfeier, das Wetter spielte mit, die Musiker waren da, und sie spielten gut, die Stimmung hätte nicht besser sein können. Wenn, ja wenn nur ihr Koch noch hier wäre! Bianca stand hinter dem Restaurant im Schatten der alten Olivenbäume und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten.
Ihre Schwester Giulia schaute um die Ecke. »Hier steckst du, Bibi!« Giulia kam mit sorgenvoller Miene zu ihr und reichte ihr ein Glas gekühlter Zitronenlimonade. »Trinken!«
Gehorsam leerte Bianca das Glas in einem Zug. »Danke. Oh, Giuli, was mache ich denn nur? Dieser verdammte Gino! Wie konnte er mir das bloß antun? Wir haben doch gut gezahlt, und er hätte mich zumindest vorwarnen können. Porca miseria!«
»Die Konkurrenz in Rom zahlt besser, so einfach ist das. Und da der Kerl anscheinend kein Gewissen hat …«, meinte Giulia, die wie immer bildschön aussah. Die langen braunen Haare fielen ihr in gepflegten Locken über den Rücken, das weiße Leinenkleid unterstrich ihren olivfarbenen Teint und ihre sportliche Figur. Paul tat ihr gut.
Bianca freute sich von Herzen über das Glück, das ihre Schwester an der Seite des amerikanischen Önologen Paul Reed gefunden hatte. Die beiden waren nicht nur ein liebevolles Paar, sondern auch ein gutes Team, wenn es um den Weinanbau ging. Paul hatte den Massinellis geholfen, mit exzellenten biologischen Weinen den Markt zu erobern, und in Kombination mit Giulias Talent als Wirtschaftsprüferin dem Betrieb aus einer ernsten Krise geholfen. Die dramatischen Ereignisse des letzten Sommers schienen vergessen, doch sie alle wussten, dass die Schatten der Vergangenheit noch immer auf eine Gelegenheit lauerten, die Familie erneut zu quälen.
»Ich hatte schon befürchtet, dass er die Stelle hier nur als Sprungbrett benutzt, aber dass er sich auf so miese Weise vom Acker macht, nein, das hätte ich ihm niemals zugetraut. Gestern sprachen wir noch darüber, dass er wahrscheinlich im Herbst nach Rom gehen würde«, klagte Bianca händeringend.
»Bianca!«, rief eine Frauenstimme aus der Küche. »Was ist mit dem zweiten Gang? Wer soll den rausbringen, und wer soll ihn anrichten? Ich schaffe das nicht!« Der Kopf einer älteren Frau erschien im offenen Küchenfenster. Ihre Wangen glühten, und die Haare klebten an ihren Schläfen.
Renata war am Morgen spontan eingesprungen. Sie war eine rüstige Endsechzigerin, doch dem Stress und der Hektik eines großen Restaurantbetriebs war sie nicht mehr gewachsen.
»Meine Liebe, mach eine Pause, ich komme wieder herein.« Bianca hatte Renata im letzten Jahr aus der Festanstellung gehen lassen müssen, da die Köchin einen Kreislaufzusammenbruch und Venenprobleme gehabt hatte. Sie wollte sich nicht vor Renatas Familie verantworten müssen, wenn der hilfsbereiten Frau erneut etwas zustieß.
»Pause, Pause, das ist nicht drin! Ah!« Renata verschwand, und man hörte sie in der Küche die Hilfskräfte kommandieren.
Bianca dehnte den Rücken und machte zwei Schritte nach vorn, wobei sie das Bein ein wenig nachzog.
Ihre Schwester bemerkte das sofort: »Bibi, du hast wieder Schmerzen, das seh ich doch. Du kannst nicht so lange in der Küche stehen. Wir müssen einen Ersatz finden!«
Der große Olivengarten erstreckte sich hinter dem Restaurant über den Hügel und war mit gemütlichen Korbmöbeln bestückt. Die Gäste liebten die schattige Ruheoase, in der sie sich abseits des Trubels der Caféterrasse entspannen konnten. Auch jetzt lagen einige Gäste dort und lasen oder dösten.
Giulia senkte die Stimme: »Ich meine das sehr ernst, Bibi. Wenn du niemanden findest, besorge ich einen Koch, und mir ist es egal, wie qualifiziert er ist, wenn er dir nur die Arbeit bei all den Festlichkeiten, die bei uns gebucht sind, abnehmen kann. Ich freue mich sehr, dass das Fiore als Hochzeitslocation so beliebt geworden ist, aber es bedeutet auch viel mehr Arbeit. Das kann niemand allein schaffen.«
Einer der Gäste, ein gutaussehender gebräunter Mittdreißiger, drehte interessiert den Kopf in ihre Richtung. Bianca nahm ihre Schwester am Arm und zog sie näher zum Haus. »Halte dich da raus, Giuli! Ich suche mir meinen Koch selbst aus. Meine Küche, meine Probleme. Daran bin ich allein schuld, und ich muss die Suppe auslöffeln.« Sie schlug sich gegen die Stirn. »Die Suppe! Das wird eine Katastrophe. Die Granatäpfel sind noch nicht da …«
»Was kann eine Suppe so kompliziert machen?«, fragte Giulia.
»Oh, die Zutaten müssen frisch und vor allem verfügbar sein!« Bianca fuhr sich über die erhitzte Stirn. »Das Hochzeitspaar hat sich diese spezielle Suppe gewünscht. In die Brühe gehören Granatäpfel, Trüffel, Pilze und Seetang«, zählte sie auf. »Die Klößchen werden mit Topinambur, Sellerieknolle, Parmesan und Muskat gemacht.« Sie schloss genießerisch die Augen. »Ich kann es schon riechen. Hm, welch ein Duft, aber ohne die verdammten Granatäpfel kann ich sie nicht machen.«
Bianca liebte das Kochen. Sie liebte es, sich über die Zutaten Gedanken zu machen, über neue Rezepte, über die Arten der Zubereitung, und sie experimentierte gern. Aber all das bereitete nur Vergnügen, wenn sie Zeit und genügend kompetente Mitarbeiter hatte, die ihre Ideen umsetzen konnten.
»Hey, hast du mir überhaupt zugehört?«, sagte Giulia dicht vor ihr. »Dreh dich jetzt nicht um, aber der Typ dort hinten auf der Liege starrt jetzt zu uns herüber. Wer ist das? Gehört er nicht zu der Gruppe aus Mailand, die gestern gekommen ist?«
Ohne nachzudenken, wandte Bianca den Kopf und begegnete dem Blick des Fremden. Es lag etwas amüsiert Interessiertes in diesen dunklen Augen, die sie aus einem gerade geschnittenen Gesicht ansahen. In dem dichten schwarzen Haar steckte eine hochwertige Sonnenbrille. Auch die Uhr an seinem Handgelenk wirkte kostspielig, selbst auf die Entfernung. Für einen Mailänder schien er zu dunkel. Sie tippte auf den Süden, Apulien oder Neapel vielleicht.
»Na? Sieht gut aus und scheint dich zu mögen. Amüsiere dich doch mal, Bibi. Du kannst nicht immer nur arbeiten!«, sagte ihre Schwester.
Bianca fegte den Vorschlag mit einer entschiedenen Handbewegung weg, küsste ihre Schwester flüchtig auf die Wange und ging zum Kücheneingang. »Doch, kann ich. Es macht mir Freude, das weißt du, Giuli.«
Sie stellte sich vor, wie ihre Schwester hinter ihrem Rücken die Augen verdrehte und die Hände zum Himmel hob. In den nächsten Stunden dachte sie jedoch weder an Giulia noch an attraktive Gäste, denn das Hochzeitsmenü forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Am späten Nachmittag endlich hatten sie es geschafft – die Gäste waren zufrieden und voll des Lobes für das Menü gewesen. Doch jetzt stand Bianca erschöpft inmitten eines Chaos aus Töpfen, Pfannen und Geschirrbergen und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Mit zitternden Fingern griff sie nach einem Weinglas und goss sich etwas Weißwein ein. Ihr Bein schmerzte wie schon lange nicht mehr, und sie fühlte sich ausgelaugt und müde.
Das letzte Jahr hatte ihnen allen viel abverlangt. Ihre Eltern, Lorenzo und Manuela, hatten sich weitestgehend aus dem Geschäft zurückgezogen, denn ihr Vater brauchte seit seinem Herzinfarkt im vergangenen Jahr mehr Ruhe, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Giulia, Milena und Bianca hatten die Eltern ermutigt, endlich die Reisen zu unternehmen, die sie schon so oft aufgeschoben hatten, angefangen mit einem Besuch bei Manuelas Familie in Deutschland. Neben dem Weinbau hatten sich das Gästehaus und das Restaurant zu einem zweiten Standbein der Massinellis entwickelt. Dank Giulias Marketingstrategien kamen mittlerweile regelmäßig Gäste, auch in der Vor- und Nachsaison, und das Restaurant Fiore war zu einem Geheimtipp geworden.
Längst war die Küche zu klein, das Arbeiten unter Zeitdruck in der beengten Atmosphäre zehrte am gesamten Team – vielleicht war das ein Grund gewesen, warum der Koch das Handtuch geworfen hatte. Bianca trat in die noch warme Abendsonne hinaus und betrachtete das Gebäude. Dabei nippte sie an ihrem Wein und ging in Gedanken die Möglichkeiten für einen Umbau durch. Auf der anderen Hügelseite lagen die beiden Häuser mit den Ferienapartments. In einem wohnten nun Giulia und Paul, da sie sich in der Villa gemeinsam mit den Eltern und Nonna nicht wohlfühlten. Hier oben im Hauptgästehaus, in dem sich auch das Restaurant befand, gab es acht Gästezimmer. Drei davon bewohnte die Gruppe aus Mailand, die anderen fünf waren mit der kleinen Hochzeitsgesellschaft belegt.
Bianca hatte für sich das Dachgeschoss des Hotels ausgebaut. So war sie vor Ort und hatte sich gleichzeitig Nonnas Kontrolle entzogen. Sie liebte ihre Großmutter und bewunderte sie für ihre Stärke und den unbeugsamen Willen, der ihr geholfen hatte, die Villa Fiore für die Familie zu erhalten. Doch Nonna war trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch sehr präsent und mischte sich liebend gern in die Angelegenheiten der Familie ein. Anders als Giulia war Bianca mit ihrer Großmutter immer recht gut ausgekommen. Vor allem die Liebe zum Kochen verband die beiden Frauen. Vielleicht war Nonna auch ein wenig nachsichtiger mit Bianca, weil diese als Teenager Monate im Krankenhaus verbracht hatte.
Das Bein war bei dem schrecklichen Unfall mehrfach kompliziert gebrochen, und zwei Operationen waren der Beginn einer langen Odyssee von Arzt zu Arzt geworden. Letztlich hatte Bianca sich damit abgefunden, dass sie nie wieder auch nur annähernd so gut würde laufen können wie vor dem Unfall. Aus einem fröhlichen, sportlichen jungen Mädchen wurde ein zurückhaltender Teenager, der sich am liebsten hinter Büchern und in die heimische Küche verkroch.
Bianca strich unbewusst über die große Narbe am Oberschenkel, die sich nicht mehr so stark rötete, doch noch immer wetterfühlig war.
Eine tiefe männliche Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Verzeihung, Signorina Massinelli?«
Sie fuhr herum und fand sich dem gutaussehenden Gast gegenüber, auf den ihre Schwester sie am Nachmittag so wenig subtil hingewiesen hatte. Beinahe wäre ihr das Glas aus der Hand gerutscht. »Ja?«
Er war eineinhalb Köpfe größer als sie und hatte grünbraune Augen, die sie auf irritierende Weise musterten. Sein Lächeln war einnehmend und verursachte einen kurzen Moment der Unsicherheit, doch Bianca gewann ihre Selbstsicherheit sofort zurück. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu verbergen, und sich einen Schutzpanzer aus Distanziertheit und kühler Gelassenheit zugelegt. Männer, vor allem so attraktive wie dieses Exemplar, wollten perfekte Frauen, und sie war alles andere als das.
»Ich will nicht stören, aber ich muss Ihnen einfach sagen, dass Ihr Essen hervorragend ist! Complimenti!«, sagte er, wobei er lässig seine Sonnenbrille auf den dunklen Haaren richtete. »Ich hätte niemals erwartet, eine derart feine Küche hier vorzufinden.«
»Nein? Was hatten Sie denn erwartet? Tiefkühlkost?«, fragte sie bissiger als beabsichtigt.
Der Gast ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das nicht, aber Ihre Gerichte zeugen von einer frischen Kreativität, die ich bemerkenswert finde. Wer ist Ihr Chef?«
Bianca lachte trocken, leerte ihr Glas und breitete die Arme aus. »Er steht vor Ihnen. Unser Koch hat uns gestern verlassen. Hurra, super Timing! Mitten in der Saison und vor einem Hochzeitsessen macht sich der Mistkerl davon. Ah!« Am liebsten hätte sie das Glas gegen die Wand geschmettert. »Und in den kommenden Wochen erwarten wir einen Tester von einem wichtigen Reisemagazin. Wir haben die Chance, unter den Empfehlungen der Landhotels gelistet zu werden. Das können wir wohl vergessen.«
»Warum? Es lief doch alles prächtig!«, versicherte der Mann.
Bevor Bianca etwas erwidern konnte, steckte Elena, eine Servicemitarbeiterin, die aus einem nahen Dorf stammte, den Kopf zur Tür hinaus, grinste breit, als sie den Gast sah, und sagte: »Kommst du mal, Bianca? Das mit dem Dessert für heute Abend funktioniert nicht, jedenfalls nicht, wenn wir den Zeitplan einhalten wollen.«
Bianca hob die Schultern. »Entschuldigen Sie mich. Aber danke für das Kompliment, auch wenn Sie in nächster Zeit mit Desastern werden rechnen müssen …«
Sie ließ den verblüfften Mann stehen und ging in die Küche, in der sich die Hitze noch immer staute.
»Warum ist denn der verdammte Wrasenabzug nicht an? Man bekommt ja keine Luft!«, schimpfte Bianca.
»Der was?«, wollte Elena wissen.
»Die Dunstabzugshaube! Wie oft muss ich das noch erklären?! Hörst du auch mal zu, wenn ich etwas sage?« Sie war gereizt und ungerecht, aber Elenas Gleichgültigkeit brachte sie an ihre Grenzen.
»Ach so, dieses Ding.« Die junge Frau, die im Service und auch in der Küche aushalf, schaltete den Abzug an. »Weißt du überhaupt, wer das da eben war?«
»Nein, er und seine Bekannten haben bei Claudia eingecheckt. Er meinte nur, dass es ihn überrascht habe, hier gutes Essen zu bekommen, ehrlich, wie soll ich das denn verstehen?«, beschwerte sich Bianca.
Elena, die stets makellos geschminkt und frisiert war, verdrehte die Augen. »Das kann nicht wahr sein, du kennst den nicht? Das ist Nando Branconi! Der Starkoch aus Neapel! Hallo, wo lebst du denn?«
»Der Branconi?« Erschüttert und peinlich berührt wegen ihres flapsigen Verhaltens dem berühmten Chef gegenüber, der in der Schweiz, in London und in Los Angeles in der Spitzengastronomie gekocht hatte, griff sie nach einem Kochlöffel und biss theatralisch ins Holz.
Ihre Mitarbeiterin lachte. »Das ist typisch. Da bekommst du ein Kompliment von einem echten Starkoch und erkennst ihn nicht mal.«
Bianca stöhnte. »Was soll’s, damit ist es sowieso bald vorbei. Wir schaffen das nicht allein. Irgendetwas wird schiefgehen. Ich tippe auf die Schokoladen-Cannelloni …«
Die Zeit bis zum Abendessen hatte gerade ausgereicht, um zu duschen und die verschwitzten Kleider zu wechseln. Wenn sie arbeitete, band Bianca die blonden Haare am Hinterkopf zusammen. In schwarzem Hemd und dunkler Jeans stand Bianca mit Claudia an der Rezeption und ging die Gästeliste für den Abend durch.
»Wer ist das, dieser einzelne Herr?« Bianca konnte den Namen nicht entziffern.
Claudia, eine Mittzwanzigerin mit einer Ausbildung zur Hotelfachfrau und Erfahrung im Service, antwortete: »Steve Lamb. Er hat sich gestern telefonisch angemeldet, wohnt in dem neuen amerikanischen Luxusresort in der Nähe von Arezzo.«
»Ah!«, machte Bianca bedeutsam.
»Oh, du denkst, er könnte der Tester vom Reisemagazin sein?« Claudia pfiff durch die Zähne. Sie trug ihr dunkles Haar halblang und sah mit dem exakt getrimmten Pony aus wie ein Model, fand Bianca. Dabei war Claudia immer freundlich und nie arrogant. Die Gäste mochten ihre unaufdringliche, aufmerksame Art. Sie im Team zu haben war eine Bereicherung. Bianca konnte nur hoffen, dass die hübsche Rezeptionistin nicht auch davonlief.
Ein Paar kam von draußen herein. »Buona sera!«, begrüßte Claudia sie und lächelte. »Hatten Sie einen schönen Tag?«
Die Frau strahlte. »Danke, es war einfach herrlich.« Sie sprach mit französischem Akzent.
Ihr Begleiter fügte mit sympathischem Schweizer Akzent hinzu: »Die Gegend hier ist wirklich schön. Wir sind durch den Wald gewandert und haben mit Ihrem Trüffelexperten gesprochen. Für morgen wollen wir unbedingt eine Tour buchen.«
»Chéri, aber jetzt müssen wir uns beeilen, ich möchte mich vor dem Essen noch umziehen«, sagte die Französin.
Nachdem die beiden im Treppenhaus verschwunden waren, sagte Claudia leise: »Das waren die Freunde von unserem Starkoch.«
»Tatsächlich?« Bianca sah automatisch zur Treppe. »Seit ich nur noch in der Küche stehe, bekomme ich gar nichts mehr mit. Schweizer?«
»So stand es in den Ausweisen. Oliver und Inès Chastel aus Lausanne. Zur Gruppe gehört noch eine einzelne Dame, Mailänderin, und eben Branconi. Sie kommen von einer Modenschau. Die Dame ist Modefotografin. Ehrlich, Bianca, du kannst stolz sein auf das, was du hier erreicht hast. Die Gäste kommen von überall. Wegen des Weins und wegen des Essens.«
Seufzend strich sich Bianca über die Haare. »Das kann sich schnell ändern. Okay, also diesen Lamb müssen wir heute Abend besonders betreuen. Gib Elena Bescheid, wenn er kommt, ja? Und hast du schon Bewerbungen von Köchen?«
Claudia schüttelte den Kopf. »Ich habe die Anzeige in alle Onlineportale gesetzt, aber noch hat sich niemand gemeldet. Teilzeit, Vollzeit, alles. Wir müssen einfach warten und auf eine Prise Glück hoffen.«
»Eine Prise? Ein Fass voll wäre besser. Na gut, ich muss mich um die Nachspeise kümmern. Warum nur habe ich diese Cannelloni auf die Speisekarte gesetzt. Die sind so schrecklich zeitintensiv in der Herstellung.«
»Du konntest ja nicht ahnen, dass Gino einfach abhaut. Mistkerl! Hattest du ihm nicht sogar einen Vorschuss gezahlt?«
Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte Bianca: »Ich dumme Gans. Das war mir eine Lehre. Von dem Geld sehen wir keinen Cent mehr.«
Stimmen ertönten, und der Starkoch kam in Begleitung der Fotografin herein. Die Frau war schlank und bewegte sich mit der Grazie einer Tänzerin, was Bianca an ihre eigene Unzulänglichkeit erinnerte. Rasch verschwand sie in die Küche und hörte noch, wie Claudia die Ankömmlinge begrüßte.
In ihrer Küche fühlte sie sich sicher. Seufzend band sie sich eine Schürze um, knotete sie vorn zu und suchte die Zutaten für die Cannelloni. Der Teig musste geknetet und dann kühl gestellt werden. Anschließend wollte sie die Füllung zubereiten, und zwischendrin musste sie nach den anderen Gängen sehen. Es gab mehr als genug zu tun.
Im Verlauf des Abends stellte Elena lautstark einen Teller in die Spüle und sagte genervt: »Der Kerl an Tisch vier macht mich wahnsinnig. Unverschämt, wie der mich ansieht, und dann will er jedes Mal, dass ich ihm genau erkläre, was in dem Essen ist. Irgendwann wurde es mir zu bunt, und ich habe ihn gefragt, ob er gegen irgendetwas allergisch ist. Tester hin oder her, ehrlich.«
Bianca fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Bitte nicht. Hoffentlich warst du höflich!«
»Ph! Höflich? Was bildet der sich ein? Weil er ein reicher Ami ist, oder was?«
Bianca stellte ihre Schüssel ab: »Was genau ist passiert, Elena? Sag es einfach!«
»Er meinte, fragen würde er ja wohl dürfen, außerdem führe er selbst ein Restaurant in Boston. Da schmecke das Steak besser und überhaupt … Dann hat er mir an den Hintern gegriffen, und da ist mir vor Wut beinahe der Teller aus der Hand gefallen. Ist er aber nicht!«, fügte sie stolz und mit einem vielsagenden Grinsen hinzu. »Bin schließlich Profi. Mit so einem Wicht werde ich noch alle Tage fertig. Der ist sicher kein Tester. Das passt nicht zu deren Benehmen.«
Erleichtert stieß Bianca die Luft aus, die sie während Elenas Vortrag angehalten hatte. »Da gebe ich dir recht, Elena, die würden meckern und einen Aufstand wegen des Essens machen, aber so entgleisen würden sie nicht. Tut mir leid, dass du das erleben musstest. Ich werde mit dem Herrn ein ernstes Wörtchen sprechen. Liebe Güte! Was muss denn noch passieren? Dieser Tester kann jeden Tag hier eintreffen, und wir brauchen die Empfehlung im Magazin. Der Wein noch mehr als wir. Es läuft momentan, aber du weißt ja, wie das ist.«
»Ja, ja, schon klar. Ist ja alles gut gegangen. Brauchst nicht mit dem Idioten zu sprechen. Wir haben alle Wichtigeres zu tun. So, wo sind die Cannelloni? Branconi und seine Freunde haben bestellt.«
Bianca nahm die Schüssel und starrte entsetzt hinein. »Das ist die Füllung, vielmehr das war sie. Jetzt ist sie geronnen! Porca miseria, ich wusste, dass das heute schiefgeht!«
Elena schaute ebenfalls in die Schüssel, in der sich die Schokolade von der Sahne trennte. »Können wir nicht etwas anderes nehmen? Nur Sahne?«
Verärgert schnaufte Bianca. »Diese Zartbitterkuvertüre war verdammt teuer. Muss an der Sahne oder den Eiern liegen. Mist, Mist, Mist. Und ich habe keinen Ersatz!«
Renata trat hinzu und begutachtete das Malheur. »Weg damit. Nehmen wir die Erdbeeren. Davon sind noch genügend zum Pürieren vorhanden.«
Für weitere Überlegungen war keine Zeit, und Bianca nickte. Innerhalb weniger Minuten zauberten sie mit vereinten Kräften eine Erdbeersahnefüllung, die ein durchaus hochwertiger Ersatz war. Zumindest schien es den Gästen geschmeckt zu haben, denn Elena brachte leere Teller und Komplimente mit zurück.
Normalerweise verließ Bianca die Küche, wenn die Hauptgerichte serviert waren, und machte eine Runde durch das Restaurant, um mit den Gästen zu plaudern. Heute war es eigentlich dafür zu spät geworden, doch ihr erschien es unhöflich, gar nicht zu erscheinen. Daher spritzte sie sich etwas kaltes Wasser ins erhitzte Gesicht und tupfte sich trocken. Dann band sie eine saubere Schürze um.
Nur die Hälfte der Tische war noch besetzt. Die Gäste plauderten angeregt, und Elena brachte gerade eine Flasche des Fiore Puro an einen Tisch mit zwei älteren Paaren. Bianca trat hinzu. »Guten Abend! Wie schön, Sie bei uns zu haben. Hat es Ihnen geschmeckt?«
Ein Herr mit weißem Haar und dunklem Teint sagte: »Wo ist Ihr Küchenchef? Complimenti! Es war ganz hervorragend!«
Bianca lächelte. »Das Kompliment gebe ich gern an mein Team weiter. Können wir Ihnen noch einen Grappa oder etwas anderes servieren? Elena wird sich um Sie kümmern. Einen schönen Abend noch.«
Sie hörte, wie hinter ihr getuschelt wurde: »Das ist doch die Massinelli-Tochter. Sie hat gekocht, na …«
An einem Ecktisch saßen der Neapolitaner und seine Freunde. Branconi war in ein Gespräch mit der Fotografin vertieft, hob jedoch sofort den Blick, als Bianca zu ihnen trat. Ein warmes Lächeln glitt über sein Gesicht.
»Guten Abend, ich hoffe, Sie haben das Essen genossen. Wir mussten die Cannelloni kurzfristig umstellen.« Sie hob entschuldigend die Hände. »Darf ich Ihnen noch ein Getränk bringen lassen?«
Branconi blickte in die Runde: »Vielleicht einen Grappa für uns alle, ja?« Das Schweizer Paar nickte, nur die Fotografin verzog das Gesicht.
»Ich hatte mich so auf die Schokoladenfüllung gefreut. Schade, wirklich«, sagte sie mit Enttäuschung in der Stimme.
»Du machst dir doch sonst nicht viel aus Schokolade, Ambra«, meinte Branconi mit erhobenen Augenbrauen und erntete einen bösen Blick.
»Wie lange bleiben Sie?«, erkundigte sich Bianca. »Wir werden das Dessert sicher noch einmal für Sie machen. Nur heute, wie gesagt, es tut mir leid.«
Die Fotografin zuckte nur mit den Schultern. Bianca kannte solche Gäste, die sich gern selbst in den Vordergrund stellten und kritisierten, um sich wichtigzumachen. Doch Nando Branconi sagte: »Machen Sie sich keine Gedanken, Signorina, wir haben sehr gut gegessen.«
Der Schweizer hob sein Glas. »Wenn er das sagt, sollten Sie sich etwas darauf einbilden. Salute!«
Bianca lächelte verlegen und rief Elena, damit sie den Gästen ein Getränk auf Kosten des Hauses servierte. Zurück in ihrer Küche lehnte sich Bianca an eine Arbeitsplatte und sah zu Renata, die mit langsamen Bewegungen eine Schüssel abdeckte und zum Kühlschrank trug.
»Geh nach Hause, Renata. Und wenn du dich morgen nicht gut fühlst, bleib daheim. Es hilft ja nichts, ich muss einen Ersatz finden.«
Die hilfsbereite Frau verstaute die Schüssel, band ihre Schürze ab und tätschelte Biancas Wange. »Bist ein tapferes Mädchen, aber kümmere dich lieber um deine eigene Gesundheit. Du kannst auch nicht so weitermachen. Vergiss das nicht. Gute Nacht alle zusammen!«
Die Belegschaft rief ein einstimmiges: »Buona notte!«
Während Renata in ihren Gummilatschen hinausschlurfte, nickte Bianca ihrem Team zu. »Ihr wart klasse heute, danke!«
Luca, ihr Beikoch, ein stiller schlaksiger Mann aus einem der umliegenden Dörfer, wischte seine Messer sauber, Ariano sah kurz von seinem Schneidebrett auf, und Ivano, ein Neuzugang aus Aserbaidschan, lachte. Er war geschickt und machte mangelnde Erfahrung und Sachkenntnis durch eine schnelle Auffassungsgabe und Organisationstalent wett. Angela spülte das Geschirr und war auch sonst für peinliche Sauberkeit in der Küche zuständig. Bei Bedarf half sie im Service aus, doch Elena duldete kaum jemanden neben sich. Schließlich verdiente sie gut an den Trinkgeldern.
Biancas Handy klingelte. »Pronto?«
Sie hatte nicht aufs Display gesehen und war überrascht, ihre alte Schulfreundin zu hören. In einem Forum für Ehemalige hatten sie vor einiger Zeit ihre Nummern und E-Mail-Adressen hinterlegt. »Ciao, Bianca, du bist es doch, ja?«
»Sara? Das ist aber eine Überraschung! Wie geht es dir? Meine Güte, wie lange haben wir uns nicht gesehen?«
Sara hatte zu ihren besten Freundinnen gezählt, bis … ja, bis der Unfall alles verändert hatte. Sie selbst hatte sich verändert, aber auch die Freunde hatten sehr unterschiedlich reagiert. Einige hatten sich unangenehm berührt von ihrem Schicksal von ihr zurückgezogen, darunter auch Sara. Giulia sagte, dass solche Leute ihre Freundschaft nicht verdient hätten. Ihre Schwester war immer geradeheraus und machte selten Kompromisse. Erst die Liebe zu Paul hatte sie weicher und zugänglicher gemacht.
Und jetzt rief Sara zu so später Stunde an?
»Hey, ja. Wir haben so lange nichts mehr voneinander gehört. Ich wollte dich fragen, ob wir uns sehen können?«
Das wurde ja immer interessanter. »Tja, warum nicht? Ich habe momentan zwar wenig Zeit, aber wenn du herkommen willst, können wir sicher einen Kaffee trinken und plaudern.«
»Äh, wo bist du denn eigentlich, Bianca? Immer noch bei deinen Eltern?«
»Ich leite das RistoranteFiore.«
»Oh, das ist toll, das freut mich. Ja, meine Eltern haben davon gesprochen. Ich wusste nur nicht, dass du das Restaurant führst. Kompliment. Ihr habt da etwas Großes geschaffen, nicht wahr? Ich bin gerade zu Besuch. Normalerweise arbeite ich in Verona. IT, na ja, das Übliche. Okay, dann komme ich morgen Nachmittag vorbei. Passt dir das?«
»Gut, bis morgen, Sara.« Das Freizeichen ertönte, doch Bianca starrte noch immer perplex das Telefon an. Was wollte Sara von ihr?
Bianca spazierte zwischen den Olivenbäumen hindurch und prüfte die Früchte. Manchmal strich sie über die Rinde der knorrigen, alten Bäume und tätschelte sie liebevoll. Die Ernte würde gut ausfallen in diesem Jahr. Die Oliven mochten Hitze und Trockenheit, zumindest, wenn sie nicht extrem lange anhielten. Der Morgennebel lichtete sich, und als sie zwischen den Bäumen hindurchtrat und über das Tal blickte, sog sie tief die frische Luft ein. Letzte Nebelschwaden verflüchtigten sich über den Hügeln und gaben die Weinreben und Obstplantagen für die Sonnenstrahlen frei. Sie kannte nichts Schöneres als dieses Land. Von klein auf hatte sie eine tiefe Verbindung zu dem Boden verspürt, der den Menschen hier reiche Ernten bescherte, auch wenn sie hart dafür arbeiten mussten.
Anders als Giulia, die sich immer für die Welt dort draußen interessiert und begeistert hatte, verreiste Bianca nicht gern. Es war zwar nett, hin und wieder neue Eindrücke in einem fremden Land zu sammeln, doch wichtig war es ihr nicht. Hier war sie glücklich, denn hier fühlte sie sich geborgen. Sie stieß mit ihrem Turnschuh gegen einen Stein. Nein, wenn sie schon vor sich hin philosophierte, dann sollte sie auch ehrlich mit sich sein. Der Unfall hatte sie aus der Bahn geworfen. Dieser verdammte, verhasste Unfall hatte ihre Träume zerplatzen lassen wie eine Seifenblase. Ihre Mitschüler hatten das letzte Schuljahr absolviert, während sie Monate in Krankenhäusern zugebracht hatte.
Seufzend riss sie ein Olivenblatt von einem Zweig und zerrieb es zwischen den Fingern. Jedes Blatt, jedes Kraut, jede Blüte hatte ihren eigenen Duft. Sie schnupperte an den Fingern. Bitter, frisch und erdig, das waren Oliven. Verarbeitet und eingelegt konnten sie vollkommen anders schmecken und bereicherten beinahe jedes Gericht. Auch die einfachste Sauce erhielt durch das Aroma der Oliven mehr Biss. Heute Mittag hatten sie frische Tagliolini mit Butter und Trüffeln geplant, denn die Gäste gingen mit Mauro auf Trüffelsuche. Mauro und sein Hund Pino waren ein eingespieltes Team. An guten Tagen brachten sie zwei Taschen voller schwarzer Trüffel mit.
Hier auf dem Gut verarbeiteten sie alles frisch. So wie Giulia und Paul sich der Herstellung von biologischem Wein verpflichtet hatten, versuchte Bianca, nur saisonale Zutaten aus der Gegend und aus biologischer Landwirtschaft zu verwenden. Wenn sie auf andere Ressourcen zurückgreifen musste, kennzeichnete sie diese auf der Speisekarte. Zum einen unterstützte sie damit die hiesigen Landwirte, zum anderen leistete sie einen Beitrag zum Klimaschutz. Kurze Transportwege bedeuteten weniger Umweltbelastung. In dieser Hinsicht dachten die Schwestern wie ihre Eltern und versuchten, möglichst nachhaltig zu arbeiten. Restaurant und Weingut durften die Schnecke führen, das Symbol der Slow-Food-Bewegung. Die Fiore-Weine trugen höchste Auszeichnungen und Biozertifikate, worauf die Massinellis sehr stolz waren.
Im vergangenen Sommer hatten Sabotageakte Alberto Fatta, den langjährigen Kellermeister der Massinellis, schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, und Lorenzo hatte einen Herzinfarkt erlitten. Doch langsam verblassten die dramatischen Ereignisse, und überhaupt blieb nicht viel Zeit zum Grübeln, denn der Weinanbau, die Olivenbäume und der Gästebetrieb forderten ihre ganze Aufmerksamkeit.
Bianca sah auf die Uhr, als Mauro und Pino die Straße heraufspazierten. Der struppige Hund entdeckte Bianca und sprintete auf sie zu. Oft holte er sich in der Küche eine Leckerei ab und hoffte wahrscheinlich auch dieses Mal auf eine Belohnung.
»Na, mein Hübscher, gleich sollt ihr in den Wald!« Sie streichelte den wuscheligen Kopf und klopfte ihm den Rücken. »Pino steht gut im Futter, Mauro.«
Der junge Mann blieb auf seinen Trüffelstock gelehnt vor ihr stehen und grinste. »Was soll ich machen, er ist schrecklich verfressen, und die Gäste stecken ihm heimlich was zu.«
»Wie geht es Ruggero?« Mauros Onkel hatte sich aus dem täglichen Trüffelgeschäft zurückgezogen, seit sein Neffe sich erfolgreich bewährt hatte.
»Gut, danke. Er bildet gerade wieder einen Hund aus. Das macht ihm nach wie vor großen Spaß. Und er hat einfach ein Gespür für Hunde mit Talent.« Er sah zum Restaurant hinüber. »Da kommen meine Kunden. Ich muss los, Bianca. Wir bringen euch sicher genug für das Mittagessen mit.«
Bianca strich Pino noch einmal über den Kopf. »Na dann los, ihr beiden!«
Langsamer folgte sie nach und beobachtete, wie Mauro Oliver und Inès begrüßte. Das Schweizer Paar wirkte trotz der frühen Morgenstunde munter und voller Vorfreude auf die kleine Expedition, während die Fotografin mit ausdrucksloser Miene auf ihrem Handy tippte. Wie hatte Branconi sie genannt? Ambra? Sie fühlte sich hier offensichtlich nicht so wohl wie ihre Begleiter. Automatisch hielt Bianca nach dem Starkoch Ausschau, der jedoch nicht zu sehen war. Da sie keine Lust auf ein Gespräch mit den Gästen hatte, schlug sie den Weg durch die Olivenbäume ein und fand den Hintereingang zur Küche bereits offen vor.
Es duftete nach Kaffee und gebratenen Eiern. Sie schaute durch die Tür und fand Ivano am Herd stehend vor. Er pfiff vor sich hin, schubste mit einer Hand die Eierpfanne an und wendete mit der anderen Pilze in einer kleinen Pfanne.
»Guten Morgen, Ivano! Ich wusste gar nicht, dass du Frühschicht hast.« Sie ging zum Kaffeeautomaten und nahm den Siebträger heraus.
Routiniert füllte sie aus einem Glas frisch gemahlenen Espresso in den Träger, drückte das Kaffeepulver kurz an und klemmte das Sieb unter die Maschine. Dann drückte sie auf den Knopf und beobachtete, wie sich die Tasse mit cremigem Espresso füllte. Himmlisch!
Ivano antwortete in seinem gebrochenen Italienisch: »Elena kommt später heute. Ich habe gesagt, kein Problem, springe für dich ein. Ist in Ordnung, ja?«
Der junge Mann war von mittlerer Größe, schlank und in seinen Bewegungen flink und immer vorsichtig. Sie hatte Mitarbeiter gehabt, die innerhalb einer Woche zehn große Essteller zerschlagen hatten. Auf Dauer eine kostspielige Angelegenheit.
»Hm, ja, schon, aber nächstes Mal fragst du mich bitte vorher, ja? Ich weiß immer gern, wer eingeteilt ist.« Insgeheim missfiel ihr Elenas eigenmächtiges Verhalten, doch sie war auf die Servicekraft angewiesen, und die wusste das ganz genau. Gutes Personal zu bekommen und zu halten war mit das Schwierigste in der Gastronomie.
»Natürlich, mache ich, ganz sicher. Tut mir leid«, sagte Ivano, sichtlich unglücklich.
»Ist nicht deine Schuld, Ivano, du wolltest nur helfen, aber lass dich von den anderen nicht ausnutzen«, riet sie dem gutmütigen jungen Mann.
»Nein, nein, danke, Bianca.« Er schwenkte die Eierpfanne und ließ ein perfektes Omelett auf einen Teller gleiten. »Willst du essen?«
Sie schnupperte und verspürte tatsächlich Appetit. Mit einer Gabel trennte sie ein kleines Stück ab und kostete. Überrascht sah sie Ivano an. »Das ist richtig gut! Wie hast du es zubereitet?«
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, und er erklärte ihr, wie er die Eier mit etwas Mineralwasser aufgeschlagen und dass er frische Kräuter hinzugegeben habe. »Zu Hause, Heimat, meine Großeltern haben einen Garten.« Er schloss genussvoll die Augen und berührte seine Nase. »Alles gut, sehr gut, frisch!«
»Aus dir wird mal ein guter Koch, Ivano.« Bianca ging zur Tafel und notierte darauf die Speisenabfolge für den Tag. Als sie bei den Süßspeisen angelangt war, fiel ihr ein, dass sie heute Besuch von Sara bekam. In der Kühlung hatte sie noch eine ganze Kiste mit frischen Aprikosen und entschied, dass ein Aprikosenstrudel heute genau das Richtige wäre. Sara, dachte Bianca und musste seit langem auch wieder an ihre Freundin Mia denken, die sie sehr gemocht hatte. Mia war die Rebellin gewesen, und manches Mal hatte Bianca sich gefragt, was aus ihr geworden war.
Sofort machte sie sich an die Arbeit und knetete zuerst den Teig, der eine halbe Stunde ruhen musste. Danach schälte und entsteinte sie die Aprikosen und schnitt sie in Scheiben. Sie bereitete gleich zwei Strudel vor, und erst als die Backwaren im Ofen waren, erschien Elena in der Küche.
»Wie schön, dass wir dich auch noch sehen, Elena«, meinte Bianca kühl.
Die junge Frau fuhr sich durch die hastig zusammengebundenen Haare und band sich die Schürze um die Hüfte. Sie alle trugen die Fiore-Schürzen, schwarz mit dem in Gold und Grün aufgestickten Emblem des RistoranteFiore – einer Weinrebe und gekreuzten Kochlöffeln. Anfangs hatte Bianca heftige Diskussionen mit Elena führen müssen, weil diese in Miniröcken und allzu knappen T-Shirts zur Arbeit erschienen war. Zumindest das hatte sich gebessert, allerdings auch nur, weil Bianca auf dem Tragen der Arbeitskleidung bestanden hatte. Sie hatte durchaus nichts gegen Variationen, wenn ihre Mitarbeiter Shirts mit einem anderen Schnitt bevorzugten, aber alles musste sich im Rahmen bewegen und zum Stil des Landhotels passen.
»Tut mir leid«, murmelte Elena und trug hastig die Milch- und Saftkrüge in den Frühstücksraum.
Bianca zuckte mit den Schultern. Es hatte keinen Sinn, sich mit Elena zu streiten, die schlimmstenfalls kündigte. Mit einem weiteren Espresso trat sie vor die Tür und freute sich über die noch immer angenehm kühle Morgenluft. Sie spazierte um das Haus herum, kontrollierte den kleinen Küchenkräutergarten und blieb hinter dem Gästehaus stehen. Von hier schaute man über den Weinberg hinauf zum Wald. Auf dem Monte Fiore lag eine kleine Kapelle, mit der ihre Großmutter eine dramatische Familiengeschichte verband. Giulias Ankunft im vergangenen Jahr hatte viele unterdrückte Gefühle und Geheimnisse innerhalb der Familie aufgewühlt. Vollständig geklärt war nicht alles, aber das war wohl auch nicht möglich. Schlechte Stimmung verbreitete nach wie vor ihr Onkel Salvatore, der in ständigem Streit mit ihrem Vater lag. Allein deshalb war es gut, dass ihre Eltern für einige Wochen den Spannungen auf dem Weingut entfliehen konnten.
Als Pferdehufe über den steinigen Boden galoppierten, blieb Bianca neugierig stehen, um zu sehen, wer so früh schon ausritt. Wahrscheinlich war es ihre Schwester Milena. Die begehrte Pferdetrainerin hatte sich auf traumatisierte Tiere spezialisiert. Mit viel Geduld, Liebe und ihrer sanften, aber bestimmten Art fand sie Zugang zu den oft schwer misshandelten Pferden. Aus dem Galopp wurde ein Trab und dann ein Schritt, und schon kamen zwei Pferde um die Kurve. Zuerst der graue Kopf von Milenas Stute und dann ein Schecke, der von Paul geritten wurde.
»Hallo, Bibi!«, rief ihre Schwester und strahlte. Milena war klein, zart, stark und eigenwillig. Wenn sie auf einem Pferd saß, dachte man, sie wäre mit dem Tier verwachsen, so harmonisch agierte sie.
Paul Reed war zwar Kalifornier, doch durch seine Tätigkeit als Flying Winemaker und vor allem eine lange Zusammenarbeit mit den Massinellis vertraut mit dem Lebensrhythmus im Rufina. Sein Italienisch war fließend, und er liebte Giulia aufrichtig. Ihre Eltern, die dem loyalen und sympathischen Mann in Geschäftsdingen schon lange vertraut hatten, waren glücklich gewesen, als sie von der Wahl ihrer Tochter erfuhren. Anfangs hatten sie Bedenken wegen der Entfernung gehabt, doch es war Paul und Giulia gelungen, die beiden Weingüter auf zwei Kontinenten miteinander zu verbinden. Nach dem Tod von Pauls Großvater Noah war das Weingut in Nappa Valley an Paul und den Mitarbeiter und Freund seines Großvaters, Juan, gegangen. Paul flog mehrfach im Jahr hinüber, um am Ausbau des Weins zu arbeiten oder Änderungen am Konzept des Weinguts zu besprechen.
»Hallo, ihr beiden! Das ist mal eine schöne Art, den Tag zu beginnen!«, meinte Bianca.
Paul nickte. »Ich werde das von nun an öfter machen, und vielleicht kann ich auch Giulia überreden, aber sie hat sich so in die Buchhaltung verbissen, dass es momentan schwer ist, sie überhaupt zu etwas zu bewegen.«
»Ohne das Superhirn unserer Giuli wären wir verloren gewesen. Aber du hast recht, Paul, sie sollte sich mal etwas Freizeit gönnen.« Bianca hob die Tasse. »Frühstück?«
»Danke, Bibi, später. Ich muss die Pferde zurückbringen und dann einen Neuzugang empfangen. Wir haben die Trüffelsucher oben gesehen. Wer war denn die arrogante Schnepfe? Das Paar machte einen netten Eindruck, aber diese Frau hat regelrecht geschrien, als sie die Pferde sah, und uns angesehen als wären wir Mondkälber«, beschwerte sich Milena.
Paul lachte. »Wer Pferde nicht mag, hat bei Milena schlechte Karten!«
»Aber die Dame ist tatsächlich nicht ohne«, sagte Bianca. »Ich habe sie gestern Abend im Restaurant genossen. Sie gehört zu Branconi und seiner Gruppe.«
Paul pfiff durch die Zähne. »Ja, ich habe gehört, dass er hier ist. Den kennt sogar mein Freund Jean. Ich entsinne mich, dass er mal in einem von Branconis Restaurants gegessen hat und aus dem Schwärmen nicht herauskam.«
Milena räusperte sich und ließ ihr Pferd ein wenig tänzeln.
Erschrocken sah Bianca sich um und fand Branconi auf der Terrasse sitzend. Wie lange hatte er wohl schon dort gesessen und ihnen zugehört? Eine äußerst unangenehme Vorstellung.
Nachdem Milena und Paul weitergeritten waren, fasste Bianca sich ein Herz und trat mit einem Lächeln auf die Terrasse. »Guten Morgen, Signor Branconi!«
Der Neapolitaner erwiderte ihr Lächeln und machte eine einladende Handbewegung. »Bitte, leisten Sie mir doch Gesellschaft bei einem Kaffee. Und da wir Kollegen sind – Nando.«
»Bianca, piacere.« Sie setzte sich und winkte Elena herbei, die begann, die Tische abzuwischen. »Noch einen Espresso, Nando? Oder möchten Sie etwas vom Büfett? Elena bringt es Ihnen gern heraus.«
Ihre Mitarbeiterin stellte sich so, dass ihre Figur möglichst vorteilhaft zur Geltung kam, doch Nando Branconi winkte ab. »Danke, morgens esse ich nicht.«
Abrupt drehte Elena sich um und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
»Ich hoffe, Sie halten uns nicht für unhöflich, äh …«, begann Bianca verlegen.
Doch er lachte. »Keine Sorge, ich weiß, dass Ambra etwas zickig sein kann, vor allem bei einer so attraktiven Kollegin.«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen sich röteten, und wünschte, sie wäre so selbstsicher wie Giulia, die mit Komplimenten umging, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
»Das ist sehr freundlich, aber ich bin nur eine einfache Köchin und ganz sicher nicht mit Vertretern Ihrer Liga zu vergleichen.«
»Sagen Sie das nicht. Sie sind viel zu bescheiden. Es kommt nicht auf die Exotik oder kunstvolle Kreation auf dem Teller an, sondern auf den Geschmack und die Zutaten, und beides ist bei Ihnen von hervorragender Qualität.«
Sie verzog den Mund. »Bis auf das Dessert gestern Abend. Ich kann es nicht leiden, wenn etwas schiefgeht, aber unter den Umständen …« Seufzend beobachtete sie, wie eine der Hauskatzen auf der kleinen Steinmauer zu ihr lief, um sich von ihr streicheln zu lassen.
Fragend sah er sie an. »Ja?«
»Ach, das können Sie natürlich nicht wissen, und ich sollte es auch nicht erzählen, schließlich wollen Sie Ihren Urlaub genießen und nicht mit unseren Problemen belastet werden. Mein Koch ist über Nacht verschwunden. Und das mitten in der Saison.«
Er runzelte die Stirn. »Oh, das tut mir leid für Sie, eine ganz dumme Situation. Ersatz zu finden ist jetzt so gut wie unmöglich. Aber Sie machen das wirklich gut.«
Wie konnte sie ihm sagen, dass sie zwar gern kochte, aber ihre Gesundheit nicht mitspielte? Sie sprach kaum über ihre Verletzung – und schon gar nicht mit einem attraktiven Fremden. Die Einzige, die immer wusste, wie es um sie stand, war Giulia. Ihre Schwester las in ihr wie in einem offenen Buch, daran hatte sich seit Kindertagen nichts geändert. »Hm, danke, aber ich kann das auf Dauer nicht allein schaffen. Selbst meine Aushilfsköchin wird bald gehen – und dann? Es ist zum Verzweifeln.«
Warum sie ihm hier ihre Sorgen anvertraute, wusste sie nicht, aber es tat gut, darüber zu sprechen, zumal er verstand, worum es ging. »Wir haben die Chance, in einem Reisemagazin als Landgasthaus empfohlen zu werden. Und nun stellen Sie sich vor, der Tester kommt, und hier läuft nichts rund. Eine Katastrophe.«
Das Display seines vor ihm liegenden iPad leuchtete auf, und er blickte darauf. »Das kann ich verstehen«, sagte er, ohne sie anzusehen. Er tippte kurz etwas ein, um dann plötzlich zu sagen: »Warum lassen Sie mich nicht aushelfen?«
Entgeistert starrte sie ihn an. Ihr erster Gedanke war, dass sie diesen gutaussehenden Mann nicht in ihrer Küche wollte. Er würde Verwirrung stiften! Elena würde wahrscheinlich keinen Teller mehr servieren, und ihr Beikoch wäre sicher beleidigt, wenn er plötzlich Anweisungen von einem Gast entgegennehmen musste. Ein Wildfremder! Noch dazu ein Neapolitaner! Luca hielt toskanische Traditionen hoch und hätte sicher etwas gegen Avantgardeküche à la Branconi.
»Nein!«, entfuhr es ihr. Schnell fügte sie hinzu: »Nein, das ist ein großzügiges Angebot, aber ich kann das nicht akzeptieren, außerdem können wir Ihr Spitzengehalt sicher nicht zahlen.«
Im Haus klirrte es. Anscheinend hatte jemand etwas zerbrochen.
Er lehnte sich zurück und sah sie nachdenklich an. »Ich würde umsonst für Sie arbeiten.«
Energisch schüttelte Bianca den Kopf. »Das geht nicht. Danke, aber wir kochen doch ganz anders, als Sie es gewohnt sind. Das würde niemals funktionieren.«
»Hören Sie, ich habe mir eine Auszeit genommen. Seit Monaten koche ich nicht mehr professionell, weil ich diesen ganzen Zirkus satthatte. Es würde mir Freude bereiten, mich der einfachen, aber raffinierten Landküche zu widmen.«
Elena stand am Fenster des Restaurants und gestikulierte wild, sie solle zusagen, doch Bianca schüttelte den Kopf und wollte gerade antworten, als der Jeep ihrer Schwester den Kieselweg heruntergerollt kam. Beschwingt stieg Giulia aus und war mit wenigen Schritten bei ihnen. Ihre langen Locken hatte sie lose zusammengebunden, an den schlanken Armen klimperten schmale Goldreifen, und seit Neuestem blitzte ein Verlobungsring an ihrem Finger. Sie strahlte die Zufriedenheit einer verliebten Frau aus, die ihren Platz im Leben gefunden hatte.
»Buon giorno zusammen!« Sie trat zu ihrer Schwester und küsste sie auf die Wangen.
Währenddessen hatte Nando sich erhoben und wurde von Giulia ebenso herzlich begrüßt. »Nando Branconi«, stellte er sich vor und schob ihr einen Stuhl hin.
Giulia zögerte kurz, setzte sich dann aber. »Giulia Massinelli, freut mich. Ihr kennt euch schon länger?«
Bianca errötete erneut und sagte rasch: »Nein, Signor Branconi ist Gast bei uns im Haus.«
»Wir sind Berufskollegen«, erklärte Nando nonchalant.
Giulia überlegte, und dann erhellte sich ihre Miene. »Ah nein, das ist ja ein Ding! Sie sind der, ich meine der Branconi? Haben Sie nicht in Zürich für die Außenminister gekocht bei diesem Gipfeltreffen?«
»Daran erinnern Sie sich? Ja, das stimmt, aber das war keins meiner Highlights. Die Herren hatten kaum Zeit, das Essen zu genießen. Die Stimmung war denkbar schlecht.« Er grinste.
Giulia lachte. »Oh ja, ich erinnere mich! Die Resultate des Treffens waren niederschmetternd, was zumindest nicht am Essen gelegen haben kann.«
Bianca wollte ihre Schwester nach dem Grund ihres Kommens fragen, doch Branconi kam ihr zuvor. »Ich habe Ihrer Schwester eben meine Hilfe in der Küche angeboten. Ich hörte, dass sie derzeit ohne Koch dasteht, und ich habe Zeit und bin vom Fach.«
»Wirklich?«, staunte Giulia. »Das ist ja phantastisch! Bibi, ist das nicht großartig?«
Bianca biss sich auf die Lippen. »Das geht nicht. Es kann nicht funktionieren, und wir können kein Starkochgehalt zahlen.«
»Ich arbeite unentgeltlich«, beharrte Nando.
Giulia verdrehte die Augen. »Meine Schwester tut sich schwer damit, einen Gefallen anzunehmen. Ja, natürlich dürfen Sie uns helfen. Es ist uns eine Ehre! Meine Güte, das glaubt uns ja niemand. Branconi kocht in der Villa Fiore!«
Sie ignorierte Biancas wütende Blicke. »Wie lange bleiben Sie denn überhaupt? Sie sind natürlich unser Gast. Das ist das Mindeste, was wir tun können.«
Nando nickte. »Danke, das ist sehr großzügig. Meine Freunde reisen übermorgen ab, und ich hatte noch ein paar Tage dranhängen wollen. Zwei Wochen wären durchaus machbar. Wie gesagt, ich habe derzeit keine Pläne, was ein ungewohnt neues Gefühl für mich ist.«
»Warum wollen Sie dann hier arbeiten?«, meinte Bianca.
»Ignorieren Sie sie einfach, das gibt sich noch. Sie dringen sozusagen in ihr Allerheiligstes ein, ihre Küche, und da ist sie sehr empfindlich«, sagte Giulia scherzhaft und strich Bianca über die Wange.
»Kann ich gut verstehen, und ich versichere Ihnen, dass ich mich ganz Ihren Regeln anpasse und nichts durcheinanderbringen werde«, meinte Branconi und hob eine Hand zum Schwur.
»Oh, wirklich …« Verärgert über die Bevormundung von zwei Seiten stand Bianca auf und ging ins Haus.
Drinnen stieß sie einen stummen Wutschrei aus und ging schnaufend in ihre Küche. Noch war es ihre Küche. Aber das würde sich ändern, sobald der selbstherrliche Starkoch hier hereinrauschte und allen zeigte, wie man richtig kochte. Dass Giulia ihr so in den Rücken fallen konnte! Natürlich wollte sie helfen, aber doch nicht so! Man hatte über ihren Kopf hinweg entschieden, als wäre sie ein unmündiges Kind.
»Bianca, was ist denn nun? Bleibt er?« Elena war ihr gefolgt und sah sie neugierig an. »Ich habe zufällig gehört, dass er hier bei uns kochen will!«
»Zufällig?« Bianca ging zum Backofen, wo der Strudel bereits verführerisch duftete. »Du hast doch die ganze Zeit am Fenster gelauscht. Und welcher Teller ist zersprungen?«
»Ach, das war ein alter Teller, der hatte schon einen Sprung«, wich Elena aus.
»Sicher, du bist nie schuld, was frage ich überhaupt.« Wütend riss sie die Tür des Backofens auf, zog sich einen Handschuh über und holte das Blech mit den Strudeln heraus. Sie waren goldbraun und perfekt aufgegangen. Die süße Aprikosenfüllung quoll an wenigen Stellen heraus.
Mit einem schmollenden Gesichtsausdruck drehte Elena sich um und stolzierte davon. Bianca nahm die duftenden Strudel vom Blech, bestäubte sie mit Puderzucker und legte sie auf Porzellanplatten.
»Bibi!« Giulia kam in die Küche, berührte sie sanft an den Schultern und lehnte sich neben dem Backofen an die Arbeitsfläche. »Sei doch nicht böse mit mir. Der Mann ist wirklich nett und meint es ehrlich. Keine Bedingungen, keine Bezahlung, er liebt das Kochen und möchte helfen. Daran ist doch nichts verkehrt!«
Murrend trug Bianca die Strudel zu einem Tisch, wo sie langsam abkühlen konnten. »Das ist meine Küche, Giuli. Er wird mir alles durcheinanderbringen.«
Giulia ging zu ihrer Schwester und umarmte sie. Dann sah sie Bianca lange an. »Du schaffst das nicht allein. Ich sehe doch, wie du dich quälst. Mir kannst du nichts vormachen, Bibi. Du hast Schmerzen und verbirgst es vor uns. Es tut mir weh, dich so zu sehen. Und Renata kann auch nicht mehr wie früher. Muss sie nicht sogar morgen weg? Also, was bleibt uns? Diesen Mann schickt uns der Himmel!«
Bianca wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich hasse dieses Bein. Manchmal hasse ich es so sehr …«
Ihre Schwester nahm sie erneut in den Arm und sagte leise: »Das darfst du nicht, Bibi. Sag so was nicht. Du bist am Leben, du kannst wunderbar kochen, nur eben nicht so lange und unter so viel Druck. Unfälle passieren. Das ist Schicksal. Kämpfe nicht dagegen an, das macht dich kaputt.«
Wie immer hatte ihre Schwester recht, und Bianca schämte sich für ihr impulsives Verhalten. »Es ist nur manchmal so schwer, Giuli. Aber es geht schon.« Sie löste sich aus der Umarmung. »Danke. Ich bin so froh, dass du hiergeblieben bist.«
Giulia lächelte. »Ich auch. Und wer hätte das gedacht. Nach all den Jahren treffe ich ausgerechnet hier meine große Liebe, und die kommt aus dem Land, in dem ich meine größte Enttäuschung erlebt habe.«
»Paul ist ein wundervoller Mann. Wann wollt ihr eigentlich heiraten?«
»Das hat noch Zeit. Erst mal müssen wir den ganzen Laden hier auf Vordermann bringen. Noch gibt es zu viele Baustellen. Und wir brauchen diesen Artikel im Reisemagazin. Das wäre eine hervorragende Werbung für das gesamte Unternehmen, und die haben wir dringend nötig, zumal das Interview im renommierten Weinmagazin weggefallen ist. Wir müssen den Tester darauf stoßen, dass wir auch in Kalifornien Wein anbauen und der von ebenso guter Qualität ist wie der Fiore Puro. Die Vorurteile den kalifornischen Weinen gegenüber sind immer noch spürbar.«
Bianca seufzte. »Na, jetzt hat sich das sicher erledigt. Ohne Koch schaffen wir das niemals. Und so wie ich mich verhalten habe, wird Branconi seinen Vorschlag gewiss längst bereuen.«
Giulia verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihre Schwester prüfend an. »Ganz bestimmt nicht. Ich glaube, er will das auch machen, weil er dich mag. Zumindest müsste ich mich sehr täuschen, wenn nicht.«
»Mich?«, entfuhr es Bianca überrascht.
»Ja, warum denn nicht? Warum denkst du immer, dass dich niemand attraktiv findet? Du hast das Gesicht eines Engels und die Figur einer Venus.«
»Jetzt hör aber auf! So ein Unsinn. Na schön, er will also kochen. Gut, soll er. Ich werde mich benehmen und ihm einen Teil meiner Küche überlassen.« Bianca räusperte sich. »Ich kriege das hin, versprochen!«
»Brave Bibi. Fein, so habe ich mir das vorgestellt. Dann sage ich ihm, dass er seine Messer auspacken darf.«
»Er hat sein Messerset mit im Urlaub?« Ungläubig verzog Bianca das Gesicht. »So was wie Urlaub kennt er wohl nicht. Das kann ja heiter werden.«
Bianca hatte sich geduscht und umgezogen. Ihre blonden Haare umrahmten das Gesicht in sanften Wellen, und das schwarze T-Shirt und die helle Leinenhose standen ihr besonders gut, wie ihre Schwester betont hatte. Warum war sie so nervös? Sara war nur eine Schulfreundin. Wahrscheinlich lag es daran, dass das Wiedersehen mit ihr alte Wunden aufriss. Sie fühlte sich wieder wie sechzehn. Verletzlich, kaputt, verspottet. Natürlich stimmte das nicht. Keiner ihrer Mitschüler hatte sich abfällig oder zynisch über ihre Verletzung geäußert, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Doch sie hatte gespürt, wie die Jungen sich von ihr abgewandt hatten. Niemand hatte sie nach dem Unfall auf ein Date eingeladen, und auf den Abschlussball war sie gar nicht erst gegangen.
»Die Gäste, die für die Acht vorgesehen waren, wollten lieber ein Zimmer mit Blick auf den Weinberg, weil sie Angst haben, dass es nach vorn raus zu laut ist. Aber ich kann die Hillmanns nicht umbuchen, die kommen zum dritten Mal und wollen genau dieses Zimmer.« Claudia sah ihre Chefin fragend an.
Bianca beugte sich über den Belegungsplan und ging alle Möglichkeiten durch. »Nein, das können wir nicht machen. Wir sind ausgebucht, sag ihnen das. Es tut uns schrecklich leid, aber es gibt nur noch dieses eine Zimmer.«
Sie standen nebeneinander hinter dem Schreibtisch in der Eingangshalle, der als Rezeption diente. Claudia bemerkte den neuen Gast zuerst. »Hallo, können wir Ihnen helfen?«