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Vom Ödipuskomplex bis zur Achillesferse, von den Tantalosqualen bis zum Trojanischen Pferd sind uns die Begriffe aus dem klassischen Altertum bis heute vertraut. In leichtem Ton erzählt Michael Köhlmeier die besten Geschichten und Abenteuer der antiken Götter und Helden neu. Dabei lässt er sie von ihrem Podest herabsteigen, zeigt die mythologischen Gestalten von einer sehr menschlichen Seite und erweckt sie zu neuem Leben.
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ISBN 978-3-492-97394-6
Oktober 2015 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1999 Covermotiv: Wandmalerei von Thera (Raum Beta 1, Südwand: »Jünglinge beim Boxkampf«) Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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SINGE MIR, MUSE …
Von Athene und der Erfindung der Flöte – Von Marsyas und Apoll – Von Orpheus und Eurydike – Von eifersüchtigen Frauen – Von einem träumenden Hirtenknaben
Sollen wir bei der Schöpfungsgeschichte beginnen, also wie Himmel und Erde aus dem Chaos entstanden? Weiter zurückgreifen läßt sich nicht, denn im Chaos war nichts, wovon man berichten könnte. Es läge nahe, beim Anfang zu beginnen, also an dem Punkt oder Zeitpunkt oder wie man diesen Moment nennen will, an dem es dem Ungeteilten gefiel, sich zu teilen. – Wir tun es nicht. Wir werden von der Schöpfungsgeschichte erst später erzählen. Für uns stehen am Beginn nämlich nicht Chaos und Ursprung, sondern die Sänger, die uns all diese Geschichten erzählen, auch die Geschichte von der Entstehung der Dinge und der Götter und der Menschen. Deshalb will ich den Anfang den Sängern geben.
Ich möchte zunächst von einem kleinen, unbeachteten Musikanten erzählen, nämlich vom unglücklichen Satyr Marsyas. Und diese Geschichte fängt bezeichnenderweise nicht mit diesem komisch-wunderlichen Waldwesen an, sondern mit der ebenso prominenten wie gestrengen Göttin Pallas Athene.
Die Göttin Pallas Athene streifte einst durch die Wälder und fand einen Doppelknochen – ich weiß nicht, was genau darunter zu verstehen ist –, einen von Ameisen ausgehöhlten und gesäuberten Doppelknochen, und in diesen Doppelknochen bohrte sie Löcher, und da war er eine Flöte. Manche behaupten, Athene habe damals die Flöte erfunden. Die Sagen liefern uns ja oft die Entstehungsgeschichte der Dinge, die uns umgeben, wie diese Dinge gegründet, erfunden, gefunden wurden. Bei der besagten Doppelrohrflöte ist zu bemerken, daß sie mit unserer heutigen Flöte nicht zu vergleichen ist. Man muß sich ein Rohr vorstellen, in das ein Blatt geklemmt ist, das in Schwingung gerät, wenn es angeblasen wird, und einen quäkenden Ton von sich gibt, der dann durch Manipulation der beiden Flötenschächte moduliert wird. Aulos wurde das Instrument genannt, und der Aulos war mindestens soviel ein Vorläufer des Dudelsacks wie unserer Blockflöte. Nicht gerade das edelste der Instrumente, und wir werden sehen, die große Pallas Athene konnte sich, zumindest was den Instrumentenbau betrifft, mit ihrem Halbbruder Hermes nicht vergleichen.
Jedenfalls wollte Athene ihre Erfindung oben im Olymp den versammelten Göttern vorführen. Sie setzte sich hin und begann auf dem Aulos zu spielen. Es muß ohne Zweifel eine wunderbare Musik gewesen sein, eine göttliche Musik eben. Und dennoch: Hera, die Göttermutter, die Schwester und auch Gattin des Zeus, und Aphrodite, die Göttin der Liebe, sie drehten sich weg und begannen zu tuscheln und zu kichern. Athene war etwas verwirrt und fragte: »Was ist denn los? Spiele ich nicht richtig?« – Sie bekam aber keine Antwort. Nun, dachte sie, es kann ja nicht nur an den anderen liegen, vielleicht liegt es an mir. Im Gegensatz zu den meisten anderen Göttern war sie zu der eigentlich ganz ungöttlichen Eigenschaft der Selbstkritik durchaus fähig. Sie flog zur Erde hinunter, suchte sich einen klaren Gebirgssee, beugte sich über die Wasserfläche und spielte dasselbe Lied noch einmal, diesmal nur für sich. Und betrachtete, während sie spielte, ihr Spiegelbild. Und nun wußte sie auch, warum Hera und Aphrodite gekichert hatten. Ihr Spiegelbild zeigte ein aufgedunsenes, angestrengtes, bläulich-rot angelaufenes Gesicht, die Augen waren zusammengedrückt, die Nasenflügel unappetitlich gebläht. Die Musik klang zwar wunderschön, aber sie machte den Musikanten häßlich. Und Athene wußte, mit dieser Erfindung konnte sie nirgends großtun, das Spiel auf dem Aulos war nichts für sie, vielleicht überhaupt nichts für Frauen, es machte sie abstoßend.
Sie warf die Flöte hinter sich und nicht nur das, sie heftete an die Flöte zusätzlich noch einen Fluch. Sie sagte: »Wer auch immer diese Flöte spielen wird, es soll Unglück über ihn kommen.«
Und nun kam dieser unglückselige Satyr Marsyas des Weges, ein Kobold, ein harmloser Waldbewohner, nicht sehr klug, aber rundum zufrieden mit sich selbst. Und er stolperte über die Flöte, und er sagte sich: »Na gut, wenn ich schon darüber stolpere, dann soll sie mir auch dienen.«
Und er begann darauf zu spielen. Er hatte keine Ahnung von Musik und keine Ahnung von der Handhabung dieses Instruments. Aber siehe da, aus der Flöte kamen wie von selbst wunderbare, weil eben göttliche Klänge. Marsyas dachte nicht daran, dahinter einen Spuk zu vermuten, er schrieb die wunderbare Musik ganz seinem Genie zu, von dem er, wie er sich sagte, bisher nur nichts gewußt hatte.
So zog er vor die Bauern der Umgebung und spielte ihnen auf. Und die sagten: »Also, wir können dir nur gratulieren, Satyr Marsyas!« – Sie bewunderten ihn mit offenen Mündern. Hingerissen waren sie, und einer der Bauern sprach es aus: »So schön wie du spielt nur noch Apoll, der Gott der Musik!«
Und da hätte der unglückselige, närrische Marsyas widersprechen sollen. Unbedingt! Spätestens nach diesem Wort hätte er die Flöte weit von sich werfen sollen. Aber er hat es nicht getan, er war eben auch eitel wie jeder, und er hat sich solches Lob gerne sagen lassen. Er hat diesen Satz auf seiner weiteren Tournee sogar als eine Art Werbespruch vor sich hergetragen: »So schön wie ich spielt nur noch Apoll!«
Mir scheint es ratsam, die Finger und die Worte von den Göttern zu lassen, man erregt nur ihre Aufmerksamkeit und ihren Ehrgeiz. Apoll hörte, wie da mit seinem Namen geprahlt wurde, er sah eine Weile lang vom Olymp aus zu, dann kam er herunter und sagte zu Marsyas: »Wenn du meinst, daß du so schön spielen kannst wie ich, dann laß uns doch einen Wettstreit abhalten. Ich auf der Lyra und du, Marsyas, auf deiner merkwürdigen zweiknochigen Flöte.«
Fehler Nummer zwei: Marsyas stimmte zu.
Apoll bestellte eine Jury, eine wirklich auserlesene Jury, das muß festgehalten werden, nämlich die Musen, die Göttinnen der Künste und der Wissenschaften, und die sollten beurteilen, wer nun tatsächlich schöner spielte.
Bevor sie aber zu spielen begannen, sagte Apoll: »Weil ich der Gott bin und du, Marsyas, nur ein niedriger, schmutziger Satyr, werde ich die Regeln des Wettstreites bestimmen. Wer von uns beiden Sieger wird, der darf mit dem anderen machen, was er will.«
Marsyas war wieder einverstanden. Es blieb ihm diesmal allerdings keine Wahl. Außerdem sah der eitle Dummkopf in der Tatsache, daß Apoll, Zeus’ erstgeborener Sohn, sich herabließ, ihm Bedingungen zu diktieren, ein Zugeständnis, daß er, der kleine, unbedeutende, schmutzige Satyr, dem großen, bedeutenden Gott überlegen sei – oder zumindest sein könnte, daß er eine reelle Chance habe gegen den strahlenden Sohn der Leto.
Sie spielten – Apoll auf der Lyra, Marsyas auf dem Aulos. Und zunächst sah die Sache für den Satyr gar nicht so schlecht aus. Die Musen sagten: »Nein, wir können tatsächlich nicht feststellen, wer von euch der Bessere ist. Ihr seid beide gleich gut.«
Und Apoll sagte: »Dann werde ich den Wettbewerb erweitern. Im folgenden sollst du, Marsyas, mir alles nachmachen, was ich mache. Wenn du das kannst, dann gebe ich mich geschlagen.«
Nun wird es dem Marsyas wohl etwas mulmig geworden sein, aber er stimmte wieder zu.
Apoll drehte seine Lyra um und spielte das Griffbrett linkshändig – und wurde somit gleich auch zum Stammvater aller linkshändigen Gitarristen von Jimi Hendrix bis Paul McCartney –, und er sagte: »Dreh du dein Instrument ebenfalls um, Marsyas! Und noch etwas!« Und der Gott begann zur Lyra zu singen. »So«, sang er, »mach es genauso! Sing, während du spielst!«
Das geht vielleicht mit der Lyra, mit der Kithara geht das vielleicht, aber sicher nicht mit einem flötenähnlichen Instrument, wie es der Aulos ist. Erstens kommt nichts heraus, wenn man die Flöte umdreht und hinten hineinbläst, und zweitens kann kein Mensch Flöte spielen und gleichzeitig singen. Nicht einmal ein Gott kann das. Denn auch die Götter können mit den Dingen dieser Welt nicht nach Willkür verfahren.
Also hatte Marsyas diesen Wettstreit verloren. Die Musen gaben den Siegerkranz an Apoll.
Apoll sagte zu Marsyas: »Nun, wir hatten ausgemacht, der Sieger darf mit dem Verlierer machen, was er will. Ich bin der Sieger.«
Er packte den kleinen Marsyas am Genick, hängte ihn an eine hohe Fichte und schabte ihm mit dem kuriosen Doppelknochen die Haut vom Körper. Die Musen standen dabei, und das Geschrei des Marsyas empfanden sie auch als eine Art von Musik. Denn die Musen verstehen es, in allen Dingen dieser Welt das Ästhetische zu sehen.
Wir dürfen aber nicht glauben, daß Apoll einer gewesen sei, der neben sich keinen anderen hätte aufkommen lassen, keinen anderen Sänger, keinen anderen Lyraspieler. Das Gegenteil ist der Fall. Darum will ich nun die Geschichte des größten aller Sänger des griechischen Altertums erzählen, die Geschichte von Orpheus.
Orpheus soll – und ich neige dazu, dies zu glauben – der Sohn des Apoll gewesen sein. Man kann sich sonst nicht erklären, daß jemand so verzaubernd singen konnte. Wer aber war die Mutter des Orpheus? – Ich möchte hier auf die erste Zeile aus Homers Ilias verweisen:
»Singe, Göttin, den Zorn des Peleiden Achilleus …«
Das ist ein Hinweis auf die Mutter des Orpheus, auf Kalliope. Kalliope heißt: die Schönstimmige. Sie ist die Patronin der epischen Dichtung.
Kalliope die Mutter, Apoll der Vater, der Sohn: Orpheus, der bedeutendste, der größte, der schönste, der rätselhafteste Sänger der Antike. Über ihn hieß es: »In unendlichen Scharen kreisten die Vögel über seinem Haupt, und hoch sprangen die Fische aus dem dunkelblauen Meer ihm entgegen.«
Die Tiere versammelten sich um ihn, wenn er zu singen und zu spielen begann, die Tiere des Wassers, die Tiere des Landes, die Tiere der Luft. Aber nicht nur die Tiere wandten sich ihm zu, sondern, wie es heißt, auch die Bäume und die Sträucher. Ich war vor kurzem in der kleinen Inselstadt Sirmione im Gardasee, wo der römische Dichter Catull seine Villa angelegt hat, und dort stehen im Hain des Catull uralte Olivenbäume. Sie sind so alt, daß ihre Stämme gespalten und zerrissen sind, und es sieht manchmal so aus, als ob es alte Männer wären, die sich im Schritt befinden, der Stamm geht unten zweifach in die Erde hinein. Und solche alten Olivenbäume kann man auch in Griechenland sehen, und man sagt, das seien die Olivenbäume, die Orpheus nachgelaufen sind.
Es sind ihm auch die Erdhügel, die Steine, die Felsbrocken nachgefolgt, und die Berge hätten, so heißt es, an ihren breiten Wurzeln gerissen, so daß die Erde zu beben begonnen habe. Wenn man am Ufer steht und ins Meer hinausschaut, an manchen Stellen sieht man die Felsen wie Köpfe aus dem Meer herausragen. Man sagt, sie seien vom Meeresgrund aufgetaucht, um Orpheus singen zu hören.
Orpheus bedeutet das Dunkle, und tatsächlich gab es ein Ereignis, das aus dem einst fröhlichen Sänger eine düstere, rätselhafte Gestalt machte …
Ich will zunächst erzählen, woher er sein Instrument hatte. Seine Stimme zusammen mit diesem Instrument ergab ja erst diese alles bezwingende Musik. Und auch dieses Instrument, wie schon die Flöte des Marsyas, ist göttlichen Ursprungs.
Orpheus hat es von seinem Vater Apoll bekommen, und diesem hat es wiederum Hermes, Apolls Halbbruder und olympischer Freund, geschenkt. Hermes ist einer der liebenswürdigsten Götter. Am ersten Tag in seinem Sein – um nicht zu sagen: in seinem Leben – kroch er aus den Windeln, hinaus aus seiner Höhle, dort fand das kleine Götterbaby eine Riesenschildkröte, der drehte er kurzerhand den Hals ab, riß ihr den Rückenpanzer vom Körper, spannte darüber Saiten und hatte somit im Handumdrehen die Lyra, die Kithara, unsere Gitarre erfunden. Und weil er an demselben ersten Tag seinem Halbbruder Apoll einen frechen Streich gespielt hatte und dieser ihm vorübergehend zürnte, hat er ihm die Lyra als Versöhnungsgeschenk überlassen.
Und Apoll hat sie an seinen Lieblingssänger Orpheus weitergegeben. Und auf diesem Instrument hat Orpheus seinen wunderbaren Gesang begleitet.
Orpheus war einer der Argonauten, die auf dem Schiff Argo durch die Welt gesegelt sind. Er war für die Besatzung der Argo nicht irgendein Sänger, ein lästiges kulturelles Anhängsel, so eine Art Troubadix, wie wir ihn von Asterix und Obelix kennen, dem gleich der Mund zugebunden wird, sobald er nur einen Laut von sich gibt – nein, Orpheus war auch aus militärischen Gründen für die Besatzung der Argo äußerst wichtig. Man stelle sich vor, was das für ein militärischer Vorteil ist, wenn man dem Feind gegenübersteht, und noch bevor ein Schuß abgegeben wird, beginnt der Sänger auf der eigenen Seite zu singen, und die Gegner sind so hingerissen von dieser Musik, daß sie die Waffen sinken lassen und sich niedersetzen, um zu lauschen. Und während die Stimme des Sängers noch erschallt, kann man in aller Ruhe den Feinden die Kehlen durchschneiden.
Ein anderes Beispiel für die Nützlichkeit der Musik an Bord der Argo: Orpheus hat die Mannschaft auch vor den Sirenen gerettet. Auf die Sirenen werden wir noch zu sprechen kommen, wenn wir von Odysseus berichten. Als die Argo an der Insel dieser verlockenden Ungeheuer vorüberfuhr, hat Orpheus so laut gesungen, daß die Sirenen dagegen nicht ankamen, und das Schiff fuhr ungehindert an dieser gefährlichen Stelle vorbei.
Die Bücher, die über Orpheus geschrieben wurden, sind nicht zu zählen; auch Filme wurden gedreht, ich denke nur »Orphée« von Jean Cocteau, Comics wurden gezeichnet, sogar solche mit dem Etikett »besonders wertvoll« wie »Orphi und Eura« von Dino Buzzati. Und vieles mehr.
Der Grund, warum Orpheus bis heute so berühmt und beliebt ist, liegt nicht in seinen militärischen Erfolgen beim Zug der Argonauten. Seinen Ruhm verdankt er einer Liebesgeschichte. – Es ist die Geschichte von Orpheus und Eurydike.
Als er zurückkam von seiner Weltreise, traf er Eurydike. Und verliebte sich sofort in sie. Und auch Eurydike verliebte sich sofort in ihn. Sie waren das glücklichste und schönste Paar, das in der damaligen Welt anzutreffen war.
Eurydike ging eines Tages hinaus auf das Feld, um Blumen für Orpheus zu pflücken, denn Orpheus war in die Stadt gefahren, um ein leichtes Tuch für Eurydike zu kaufen. Es war ein schläfriger Sommernachmittag, um die Blumen surrten die Bienen. Eurydike wartete, bis die Bienen ihren Nektar gehoben hatten, dann erst brach sie die Blumen.
Die Bienen aber gehörten dem berühmtesten Bienenzüchter der Antike, nämlich Aristaios. Er hatte die Bienenzucht erfunden, er betrieb eine erfolgreiche Imkerei und belieferte den ganzen Erdkreis mit Honig, und nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter belieferte er.
Dieser Aristaios beobachtete Eurydike, wie sie sich niederbeugte, um die Blumen zu pflücken, und er war augenblicklich von Begierde erfüllt und rannte auf sie zu. Eurydike lief davon, Aristaios lief ihr hinterher, Eurydike hatte furchtbare Angst vor dem Mann, der so ein merkwürdiges Netz über dem Gesicht hatte, und sie blickte nicht auf den Boden und trat auf eine Schlange. Und diese Schlange biß sie in den Fuß, und daran starb Eurydike.
Als Orpheus mit dem leichten Tuch aus der Stadt zurückkam, war seine geliebte Frau bereits tot.
Er wurde von einer ungeheuren Trauer erfaßt, einer Trauer, wie sie die Welt bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Er aß nichts mehr. Er schlief nicht mehr. Er konnte keine Minute ruhig sein. Er komponierte im Gehen die wunderschönsten Trauerlieder, Trauerlieder, wie sie noch nie gehört worden waren. Diese Lieder sind leider alle verlorengegangen, weil er sie dem Wind auf den Straßen zur freien Verfügung überlassen hat, und der hat sie weggetragen. Wohin? The answer is blowin’ in the wind …
Und schließlich machte sich Orpheus auf den Weg ans Ende der Welt. Er wanderte nach Süden, nach Süden, nach Süden, bis er die Südspitze des Peloponnes erreichte, und dort gibt es einen Eingang in das Totenreich, in das Reich des Hades. Vor diesen Eingang stellte sich Orpheus und spielte und sang, eingehüllt in die finstere Wolke der Trauer. Er wußte ja, daß Hermes, der Götterbote, der Gott der Diebe, auch der Führergott ist, der die Seelen sanft in die Unterwelt geleitet; Orpheus wußte, daß Hermes seine geliebte Eurydike durch diesen Eingang in die Unterwelt, in das grausige Reich der Schatten und der Toten, geführt hatte.
Orpheus stand also mit seiner Lyra am Eingang und sang und spielte, und sein Spiel und sein Gesang waren nichts anderes als ein sehnsuchtsvolles Rufen nach Eurydike.
Und es stellte sich heraus, daß sein Gesang und sein Spiel nicht nur Steine erweichen und Bäume und Sträucher zum Gehen und Tiere zum Lauschen und Tanzen und die Berge zum Reißen an ihren Wurzeln zwingen, sondern auch das Herz von Charon bezwingen konnte.
Charon ist der Fährmann, der die Seelen in seinem Boot über den Fluß der Unterwelt, den Styx, hinüberführt. Und Charon, der es eigentlich besser wissen müßte, ihm ist ja aufgetragen, keinen Lebenden über diesen Fluß zu lassen, Charon ließ sich überreden durch diese Musik, ließ sich verführen, er ließ Orpheus, den Lebendigen, auf den Kahn steigen und setzte ihn über auf die andere Seite des Styx.
Dort wartete Zerberus, der Höllenhund, der noch die zweite Sicherung war, damit kein Lebender in den Hades komme. Aber auch dieses vielköpfige Monster ließ sich vom Gesang des Orpheus verzaubern und ließ Orpheus passieren, und so betrat der Sänger die Unterwelt.
Und während er immer tiefer in die absolute Finsternis schritt, spielte er auf seiner Lyra und hörte nicht auf zu singen und im Gesang nach seiner geliebten Eurydike zu rufen.
Und siehe da: In das elende, langweilige, graue, jammervolle Reich der Toten kam so etwas wie Freude, so etwas wie eine vorübergehende Erleichterung. Aus allen Enden der Dunkelheit drängten die Toten, um die Lieder des Orpheus zu hören. – Sisyphos, der im Tartaros verurteilt ist, einen Stein auf einen Fels zu rollen, der immer wieder zurückfällt, der ihn wieder hinaufschieben muß, von wo er wieder hinunterrollt, dieser Zwangsneurotiker Sisyphos hielt in seiner sinnlosen Arbeit inne, setzte sich auf seinen Stein, lauschte auf die Musik. – Tantalos, der verflucht war, im Wasser zu stehen und über sich die leckersten Früchte zu sehen und dennoch vor Hunger und Durst fast umzukommen, er vergaß vorübergehend seine Qualen. – Persephone, die dunkle Königin der Unterwelt, und auch Hades, ihr königlicher Gemahl, sie lauschten dem Gesang des Orpheus, der um Eurydike klagte.
Schließlich stimmte Persephone zu und sagte: »Du darfst deine Eurydike mit nach oben nehmen.«
Hades aber knüpfte eine Bedingung daran, er sagte: »Du darfst das, aber du darfst dich nicht ein einziges Mal zu ihr umsehen, bis ihr beide das Licht der Welt wieder erblickt habt, bis ihr beide wieder über die Grenze, über den Styx, auf der anderen Seite seid.«
Es gibt viele Abbildungen von Orpheus in der Unterwelt, bei allen ist eines gleich: Orpheus schaut mit leerem Blick vor sich nieder. Um ihn schweben die Seelen der Toten, stehen Persephone und Hades. Orpheus schaut niemandem ins Gesicht, auch seiner Eurydike nicht. Es ist verboten, den Toten und der Königin der Toten und dem König der Toten ins Gesicht zu blicken.
Orpheus ging voran, Eurydike folgte ihm, so verließen sie den Hades. Orpheus spielte und sang, immer weiter, ohne Unterbrechung, er wußte, wenn er aufhört zu singen, dann fällt dieser Zauber zusammen. Eurydike folgte durch die Finsternis, und sie orientierte sich nach dem Klang seiner Stimme.
Und als sie schon das Licht sahen, da drehte er sich doch nach ihr um. – Wir wissen nicht, warum er sich umgedreht hat. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür. Er tat es. Vielleicht packte ihn der Alp des Perversen, dem Edgar Allan Poe eine seiner scharfsichtigsten Erzählungen gewidmet hat, dieser Ungeist, der die Menschen dazu antreibt, sich selbst zu schaden. Ich weiß es nicht … – Jedenfalls wurde in diesem Augenblick Eurydike für immer von Orpheus genommen. Hermes stand schon bereit und zog sie zurück in die Finsternis. Und nun war auch Charon nicht mehr umzustimmen, und Zerberus jagte Orpheus hinaus aus der Unterwelt, und er hatte seine geliebte Eurydike für immer verloren.
Von nun an zog sich Orpheus aus der Welt zurück. Er liebte die Frauen nicht mehr. Er mied die Frauen, er gründete einen Orden und wurde der vielleicht einzige Mystiker des griechischen Altertums. Die Griechen hatten mit Mystik nichts im Sinn, derlei war ihnen unheimlich. Sie sahen auf die Welt mit den Augen des Mythos. Das muß genau unterschieden werden. Der mythische Blick ist im Grunde ein aufgeklärter Blick, auch wenn im Mythos wunderbare Dinge passieren. Diese wunderbaren, seltsamen Dinge sind ja auch nichts anderes als Erklärungsversuche. Dahinter steckt ein Aufklärungswille. Das Rätsel war den Griechen unheimlich. Sie wollten Rätsel nicht bestehen lassen. Rätsel waren – wie für uns – dazu da, um gelöst zu werden.
Orpheus, den Dunklen, interessierten von nun an nur noch die Geheimnisse. Er gründete einen Männerorden. Dort traf er sich mit seinen Freunden, nachts trafen sie sich, er sang ihnen vor. Erzählte ihnen von seiner großen Liebe Eurydike und erzählte ihnen von seinem Besuch in der Unterwelt. Er erinnert uns an mittelalterliche Mönche. Mir fällt die traurige Liebesgeschichte zwischen Abälard und Heloise ein. Auch Abälard konnte seine Heloise nicht bekommen, und auch er hat sich aus der Welt zurückgezogen …
Orpheus muß aber ein sehr attraktiver, schöner, für die Frauen begehrenswerter Mann gewesen sein. Er pflegte zwar nur noch den Umgang mit Männern, aber viele Frauen folgte ihm nach, lauschten von weitem seiner Stimme. Er ließ nicht zu, daß eine Frau vor sein Angesicht trat.
Es wird von dionysischen Festen erzählt, die nachts zu seinen Ehren gefeiert wurden, und irgendwann war es den Frauen vielleicht zuviel geworden, daß Orpheus die Liebe ihrer Männer abgezogen hatte, oder aber sie begehrten ihn selbst so sehr, jedenfalls kam es zur Katastrophe. Die Frauen schlossen sich zusammen, überwältigten die Männer, stürzten sich auf Orpheus und zerrissen ihn. Sie warfen die Teile seines Körpers in den Wald, in den Fluß und hackten ihm zum Schluß den Kopf ab, damit er endlich mit dem Singen aufhöre. – Aber der Kopf des Orpheus sang weiter. – Sie nagelten den Kopf an die heilige Lyra und warfen dieses ganze Singwerk in den Fluß.
Und so trieb der Kopf des Orpheus, genagelt an die Lyra, den Fluß hinunter, Orpheus immer noch singend, nach seiner Eurydike rufend, dazu klang die Lyra des Apoll. Und der Fluß brachte seine Gabe ins Meer, und Lyra und Kopf wurden auf der Insel Lesbos angespült.
Auf Lesbos wurde dem Orpheus ein Tempel errichtet, unaufhörlich sang er weiter, sang weiter, weissagte in seinem Gesang, machte sogar dem Orakel in Delphi Konkurrenz, bis es schließlich seinem Vater, dem Gott Apoll, zuviel wurde, und er sagte, er solle still sein. – Nun schwieg Orpheus endlich.
Aber es gibt da noch eine kleine, sehr schöne Sage: Nämlich an der Stelle, an der Orpheus von den aufgebrachten Frauen erschlagen und zerrissen wurde, soll später einmal ein Hirtenknabe gesessen haben und eingeschlafen sein, und im Traum soll dieser Hirtenknabe zu singen begonnen haben, und zwar so bezaubernd schön, daß die Hirten der Umgebung und die Tiere und vielleicht sogar die Bäume herangekommen seien, um zuzuhören. Und als der Knabe erwachte, sah er all diese Leute und Tiere und Pflanzen um sich, und er hörte nicht auf, mit seiner traumwandlerischen Stimme zu singen, und es heißt, er habe gesungen, als wäre es die unsterbliche Stimme des Orpheus gewesen, der aus dem Totenreich herüberriefe.
Manche behaupten, daß an eben demselben Fluß der erste, der große Dichter des Abendlandes geboren wurde, nämlich Homer. Die Sage behauptet es; genauer muß man sein: eine Sage behauptet das. Mir behagt diese Sage. Homer, denke ich mir, wird von der Wiege aus in den Himmel geblickt und dort die Lyra des Orpheus gesehen haben. Denn Zeus selbst soll die Lyra des großes Sängers als Sternbild an den Himmel geheftet haben, und vielleicht hat Homer von dort die Eingebung zu seinen großen Gesängen empfangen …
EUROPA UND IHR BRUDER KADMOS
Von Europa und dem Stier – Von Kadmos und einer Kuh mit Fleck – Von gesäten Schlangenzähnen – Von der Errichtung der Stadt Theben – Von einer herrlichen Hochzeit
In der Gegend von Palästina, vielleicht siebzig Kilometer südwestlich von Beirut, lag die Stadt Tyros. In Tyros herrschte der König Agenor. Er war ein Sohn des Poseidon, des Meeresgottes. Die ganze Welt, samt Himmel und Unterwelt, wurde ja von den drei Brüdern Zeus, Hades und Poseidon beherrscht. Zeus herrschte über den Himmel und die Erde, Poseidon über die Gewässer und Hades über die Unterwelt.
Agenor war ein Sohn des Poseidon, und er hatte eine lieblich anzusehende, zarte, vielleicht etwas naive Tochter, und diese Tochter hieß Europa. Sie mochte es, mit ihren Freundinnen am Meer zu spielen. Dort wurde sie eines Tages von Zeus beobachtet.
Und der Göttervater konnte einem so hübschen Mädchen nicht lange zusehen, ohne daß er von Begierde nach ihr entflammt wurde, und so geschah es auch bei Europa. Er sah ihr zu, wie sie mit ihrem Blumenkörbchen über den Strand tanzte und mit ihren Freundinnen spielte. Da verwandelte er sich in einen Stier – und zwar in einen sehr stattlichen, weißen, schneeweißen Stier, dessen Haut von einer zarten, samtenen Fellschicht überzogen war. Er stieg aus dem Wasser und trottete über den Strand. In einigem Abstand vor Europa blieb er stehen, bewegte sich nicht. Die Mädchen erschraken und rannten alle weg. Nur Europa, ich sagte es schon, sie war wohl ein wenig naiv, sie betrachtete voll Erstaunen das gewaltige Tier. Vor allem der Blick dieses Tieres hatte es ihr angetan. Der Stier hielt den Kopf leicht gesenkt, und seine blauen Augen sahen sehr schüchtern und treuselig drein.
Und Europa machte Anstalten, sich dem Stier zu nähern. Der Stier hatte so eine große Halsfalte. Merkwürdigerweise wird überall auf diese Halsfalte hingewiesen, ich weiß gar nicht warum, aber ich tue es hier auch. Er hatte eine große Halsfalte und zierliche Hörner, die aus Edelsteinen waren, und er war ganz zahm. Er ließ sich von Europa streicheln, er legte seinen Kopf an ihre Seite, und schließlich faßte sie Mut und setzte sich auf seinen Rücken. Nun machte der Stier ein paar Schritte, er ging langsam im Kreis umher, und die Mädchen kamen aus ihren Verstecken und freuten sich und wollten auch auf den Rücken des Stiers steigen, aber das ließ der Stier nicht zu. Er drehte sich um und rannte weg und sprang ins Wasser und schwamm davon.
Europa, in der einen Hand hielt sie ihr Blumenkörbchen, mit der anderen Hand klammerte sie sich an einem Horn des Stiers fest, und so schwamm sie auf Zeus’ Rücken hinaus und wurde von ihren Gespielinnen nie wieder gesehen.
Wir wissen, der Stier schwamm mit Europa auf seinem Rücken durch das Mittelmeer, und erst in Kreta stieg er an Land. Und wir wissen auch: Europa kehrte nie mehr zu ihrem Vater und zu ihren Brüdern zurück. Agenor, ihr Vater, der seine Tochter über alles liebte, schickte seine Söhne aus, um sie auf der ganzen Welt zu suchen. Vorübergehend verlassen wir nun das hübsche Mädchen Europa. Wir können ahnen, was Zeus mit ihr anstellte, aber wir schieben die Erzählung noch ein wenig hinaus.
Agenor schickte seine Söhne in die Welt, um seine Tochter Europa zu suchen. Es ist dies ein typischer Fall von Vergeblichkeit, solche Geschichten kann man in allen Märchen finden, daß Söhne ausgeschickt werden, um ihre Schwester zu suchen – oder umgekehrt. Zum Beispiel bei den Brüdern Grimm kann man das Märchen von den sieben Raben nachlesen. Dort sendet der Vater die Tochter aus, um die sieben in Raben verwandelten Söhne zu suchen … Und hier also auch.
Es ist für uns gar nicht so wichtig, welche Söhne das waren. Da gibt es den Phönix – er hat Phönizien gegründet – oder Kilix und Thasos und Phineus, und wie sie alle geheißen haben. – Nur einer ist wirklich von Bedeutung und von ihm soll erzählt werden, nämlich von Europas Bruder Kadmos.
Auch Kadmos machte sich auf den Weg, und er landete in Griechenland. Er war schlauer als die anderen Brüder Europas. Er dachte sich, ich werde nach Delphi gehen und mir dort von dem Orakel sagen lassen, wo meine Schwester ist.
Delphi spielt in der gesamten griechischen Mythologie eine ganz zentrale Rolle, und niemand bis heute weiß ganz genau, was dort eigentlich geschah. Man weiß nur, das Orakel, von Apoll selbst eingerichtet, gab nie oder nur in den seltensten Fällen klare Auskünfte, immer waren die Antworten verrätselt, oft in ironischer Form, und mit diesen Rätseln mußte man umgehen, diesen Rätseln mußte man sich stellen. Man kann auch sagen, das war ein Trick. Wenn die Weissagung nicht eingetreten ist, dann konnte das delphische Orakel immer noch behaupten, gut, du hast mein Rätsel eben nicht verstanden.
Kadmos, der Bruder der Europa, ging also nach Delphi, und die Pythia, die Priesterin, sagte zu ihm: »Hör auf, deine Schwester zu suchen, das hat überhaupt keinen Sinn, du wirst sie nicht finden, und wenn, dann bedeutet es für dich nur Unglück.« – Ist ja klar, Apoll wußte, wer Europa entführt hatte. »Nein«, sagte die Priesterin, »such du Europa nicht! Geh, wohin dich deine Füße tragen, und wenn du auf eine Kuhherde triffst, und in dieser Kuhherde befindet sich eine Kuh, die an ihrer Seite so ein mondförmiges Mal, so einen krummen Fleck hat, dann nimm diese Kuh, gib ihr einen Tritt und folge ihr nach, bis sie vor Erschöpfung zusammenbricht.«
Kadmos tat genau, wie ihm geheißen. Er streifte umher, ging einfach seinen Füßen nach und traf tatsächlich auf eine Kuhherde. Gleich sah er in der Herde ein Tier mit diesem mondförmigen Fleck an der Seite, und er gab dem Tier einen Tritt und folgte ihm nach. Er hetzte es vor sich her, bis es schließlich irgendwo niederbrach. Das Orakel hatte noch gesagt, an der Stelle, wo die Kuh umfällt, dort sollst du, Kadmos, eine Stadt gründen. Und Kadmos gründete an dieser Stelle die Stadt Theben. Und damit eröffnet sich ein ganzer ungeheurer Sagenkreis für uns, nämlich der thebanische Sagenkreis, der unüberschaubar ist, deshalb tun wir schon gar nicht so, als ob wir ihn überschauen könnten, und bleiben vorerst ganz nah bei Kadmos.
Kadmos schlachtete die erschöpfte Kuh und wollte sie den Göttern als Opfer darbringen. Dazu war Wasser nötig. Er ging zur nächsten Quelle, um Wasser zu schöpfen. Aber dort war ein Drache – oder eine Schlange, wie es in einer weniger aufgeregten Version heißt. Und diese Schlange mußte die Quelle bewachen. Kadmos machte kurzen Prozeß: Er erschlug die Schlange, schöpfte Wasser und brachte den Göttern sein Opfer dar.
Aber diese Schlange war eine besondere Schlange. Es war nämlich eine Schlange des Kriegsgottes Ares. Und von diesem Kriegsgott ist für die Menschen niemals aber auch nur irgend etwas Gutes gekommen, und es ist von ihm auch nichts Gutes zu erwarten. Deshalb tauchte schnell Athene auf, um den Schaden zu begrenzen, und sie riet dem Kadmos: »Reiß der toten Schlange alle Zähne aus und säe sie sofort in den Boden! Tu, als ob es Samenkörner wären, säe sie um dich herum in den Boden!«
Kadmos tat, wie ihm geheißen. Er säte die Schlangenzähne aus, und aus den Zähnen wuchsen Männer empor, und diese Männer begannen sofort aufeinander einzuschlagen. Ein prächtiges Bild: Wie Pflanzen wachsen Menschenähnliche aus dem Boden, und sobald sie ihre Wurzeln aufgegeben haben und in Stiefeln dastehen, halten sie schon Schwerter bei sich und sind voll gerüstet und führen Krieg.
Kadmos sah ihnen ganz verwundert zu. Binnen kurzer Zeit war von diesen Männern keiner mehr übrig, alle waren sie tot. Das Spiel gefiel ihm, er hatte noch zwei Handvoll Schlangenzähne übrig, die warf er wieder aus, und wieder wuchsen die Männer empor. Nun, das zweite Mal schienen sie etwas friedlicher zu sein, das gefiel dem Kadmos aber nicht, er warf Steine zwischen sie, und sie beschuldigten sich gegenseitig und fingen wieder an, sich die Köpfe zu spalten.
Aber Kadmos brach das martialische Spiel ab, bevor sie sich alle gegenseitig abgeschlachtet hatten. Er behielt fünf zurück. Er nannte sie die gesäten Männer, weil sie aus den Schlangenzähnen gewachsen waren. Das heißt auf griechisch: Spartoi. Das sind die Ahnherren der Spartaner, und die Spartaner waren das kriegerische Volk schlechthin, und sie gehörten von nun an dem Kadmos an.
Wir werden von diesen gesäten Männern noch des öfteren hören, zum Beispiel, wenn von Ödipus erzählt wird. Heute würde man sagen, sie waren menschliche Mordinstrumente, Killermaschinen, diese gesäten Männer der ersten Generation. Sie waren eine fürwahr würdige Brut des Gottes Ares …
Allein, der Kriegsgott war noch nicht zufrieden, und er zürnte dem Kadmos weiter, daß er seine Schlange getötet hatte, und er forderte dafür, daß er ihm diene. Acht Jahre, forderte Ares, solle ihm Kadmos dienen.
Ich habe Ares immer für einen ziemlich dummen Gott gehalten. Ich möchte an dieser Stelle zwei Worte über ihn sagen. Dieser Ares ist der Gott des Krieges, und wir dürfen nicht vergessen, daß der Krieg für die Griechen nicht nur Zerstörung und grausamer Tod war, es war auch eine Art Sport, man muß das wirklich so formulieren. Der Kampf selbst war etwas Herrliches, das Ziel des Kampfes war nicht unbedingt, den Feind zu vernichten, sondern eher, ihn zu verletzen. Er sollte sich von seinen Wunden wieder erholen, damit man erneut auf ihn einschlagen konnte. Das machte Spaß, erleichterte einen. Und dieses Haudegenhafte, das eignet dem Ares. Athene, die Intellektuelle im Olymp, fühlte sich ebenfalls für den Krieg zuständig. Sie verachtete Ares, hielt ihn für einen primitiven Schläger. Sie war die Göttin der kriegerischen Strategie und der Taktik. Von Strategie und Taktik wußte Ares überhaupt nichts, wollte auch nichts davon wissen, er war der bloß Leidenschaftliche, der drauflos schlug. Athene hingegen hielt ihre Freunde an: »Überlege zuerst, was du willst. Ein Gegner ist da, um vernichtet zu werden. Wenn du ihn nicht vernichtest, wird er dich eines Tages vernichten. Also tu du es!« Kadmos war ein Freund der Athene. Ihm war sie gewogen … Wenn also in diesem Götterhimmel eine Gottheit für unseren modernen Vernichtungskrieg steht, dann ist das nicht Ares, sondern dann ist es Athene.
Jedenfalls: Kadmos diente wider Willen diesem verrückten Ares acht Jahre lang. Er tat, was der Gott von ihm verlangte, es waren lauter Verrücktheiten, sie gingen nicht in den Mythos ein, und nach diesen acht Jahren war Ares zufrieden mit Kadmos, und er gab ihm sogar ein Geschenk, nämlich Harmonia, das ist die Tochter, die er zusammen mit Aphrodite hatte.
Und es war das erste Mal, daß ein göttlicher Sproß, eine reine Götterfee, daß die Tochter zweier Olympier einem Sterblichen zur Frau gegeben wurde. Und das war für die Götter Anlaß genug, bei dieser Hochzeit persönlich zu erscheinen. Es muß etwas Furchtbares gewesen sein und gleichzeitig natürlich auch etwas Wunderbares, wenn die ganze Götterschar, dröhnenden Schrittes, vom Olymp heruntermarschierte, Zeus mit verdecktem Angesicht, denn es war verboten und sicher nicht ratsam, dem Göttervater ins Gesicht zu schauen, es hätte zum Wahnsinn geführt. Und so saßen sie auf dem Marktplatz von Theben und feierten die Hochzeit von Kadmos und Harmonia. Und ich muß gleich sagen, diese Ehe war glücklich, sie war gesegnet mit Kindern, und Harmonia und Kadmos wurden am Ende in das Elysium geführt. – Das Elysium liegt außerhalb des Hades, dorthin werden die Seligen verfrachtet, denen man einerseits den Hades nicht zumuten möchte, die man andererseits aber auch nicht im Olymp haben will.
Aber über allen Geschenken der Götter lauert auch ein Fluch. Das kann man sich als Richtschnur für die ganze Mythologie nehmen: Wenn dir die Götter etwas Gutes tun, dann paß auf, paß auf, es ist ein Haken dabei. Am besten ist, die Götter ignorieren dich. – Nun, Harmonia und Kadmos wurden nicht von den Göttern ignoriert, sie wurden reich mit einem erfüllten Leben beschenkt; aber all ihre Kinder waren zutiefst unglücklich, sie nahmen sich das Leben oder verfielen dem Wahnsinn, wie Semele, die unbedingt das Angesicht ihres Liebhabers Zeus sehen wollte.
Das war die Geschichte von Kadmos, der ja eigentlich seinen Weg angetreten hatte, um seine Schwester Europa zu suchen, die an jenem verhängnisvollen Tag mit dem weißen Stier ins Wasser gestiegen war.
KRETA
Von Minos und seinem Bruder – Von Pasiphaë und einem anderen weißen Stier – Von Minotauros – Von Theseus und Ariadne – Von Daidalos und Ikaros
Kehren wir zu Europa zurück.
Das naive, hübsche Mädchen Europa wurde von Zeus, dem weißen Stier, durch das Meer nach Kreta getragen. Und dort am Strand verwandelte sich Zeus abermals, diesmal in einen Adler, er legte seine dunklen Schwingen über die kleine Europa und – und hier gehen die Meinungen auseinander: vergewaltigte sie, sagen die einen, liebte sie, sagen die anderen. Normalerweise spielt es keine so große Rolle, für welche Interpretation man sich entscheidet; in diesem Fall lege ich Wert darauf. Die anderen sagen: Nein, er vergewaltigte sie nicht, es war eine Liebesbeziehung, Europa verliebte sich ihrerseits ebenfalls in ihren Entführer. Ich bin der Meinung, es ist schon entscheidend, ob unser Kontinent als Folge einer Vergewaltigung entstanden ist oder aus Liebe. Die Zyniker werden sagen: Schau dir doch die Geschichte Europas in den letzten paar tausend Jahren an, was soll das andres gewesen sei als eine Vergewaltigung. Europa ist vergewaltigt worden, und Europa hat dann im Laufe seiner Geschichte die ganze Welt vergewaltigt. Das sagen die Zyniker. Ich bin kein Zyniker, und deshalb neige ich mehr zu der Liebesgeschichte. Immerhin hat Europa ihrem göttlichen Liebhaber drei Söhne geschenkt, und ich kann nicht glauben, daß drei Söhne nur aus Vergewaltigungen entstanden sind.
Der dritte Sohn wurde von der Mythologie vernachlässigt. Die ersten beiden Söhne sind wichtig: Minos und Rhadamanthys. Minos steht für den Beginn eines neuen Sagenkreises. Wir haben auf der einen Seite den thebanischen Sagenkreis, und hier haben wir den minoischen, den kretischen Sagenkreis.
Diese beiden Söhne der Europa, Minos und Rhadamanthys, hatten von Kindesbeinen an miteinander Streit. Sie waren sich nie einig. Wenn der eine etwas tat, hielt der andere Gericht über ihn und verurteilte ihn, und umgekehrt. Und einmal gab es einen offenen Konflikt, da waren sie schon halbwüchsig, sie verliebten sich beide in denselben Knaben. Minos war der Stärkere, er vertrieb Rhadamanthys von Kreta, er solle sich nie wieder auf der Insel blicken lassen. Rhadamanthys floh nach Griechenland, und als er starb, wurde er in der Unterwelt als Richter über die grauen Seelen eingesetzt.
Minos herrschte von nun an über Kreta. Seine Mutter Europa blieb bei ihm, er hielt sie gezwungenermaßen in Ehren. Er hätte sie gerne losgehabt, sie ließ sich nicht von ihm beherrschen, folgte ihm nicht, mischte sich in seine Macht ein und kritisierte bei jeder Gelegenheit seine Führung des Landes. Minos war in Wahrheit voller Haß gegen seine Mutter. Aber er hielt sich von ihr fern, mied offenen Streit, denn Europa hatte von ihrem Geliebten, von Zeus, drei Geschenke bekommen: Das erste war ein Speer, der immer traf, ganz egal, wie ungeschickt der Werfer war, und ich nehme an, daß Europa, die so gern Blumen pflückte, sehr ungeschickt im Werfen von Speeren war. Als zweites Geschenk hatte sie einen äußerst bösartigen bissigen Hund von Zeus bekommen, den schnellsten Hund, den es auf der ganzen Welt gab. Die dritte Liebesgabe war ein Bronzemann, der nichts anderes tat, als täglich drei- bis sechsmal im Laufschritt um die Stadtmauern zu dampfen, um jedem möglichen Feind von vornherein die Lust zur Eroberung zu vermiesen. Vor diesen drei Geschenken des Zeus fürchtete sich Minos, und deshalb hütete er sich davor, Europa, seine Mutter, allzusehr zu reizen.
Minos wurde König von Kreta, nachdem er seinen Bruder Rhadamanthys von der Insel verjagt hatte. Als Rhadamanthys bald darauf starb und in den Hades einging, machte ihn Zeus zum Richter über die Schatten. Dem Minos schenkte der oberste Gott die Gesetze, mit Hilfe derer er sein Reich regieren sollte. Minos war niemand anderem verantwortlich als Zeus, seinem Vater. Und die Kreter zweifelten nicht an diesen Gesetzen, denn ihnen war klar, ihr König ist der Sohn des höchsten Gottes, und darauf waren sie stolz.
Kreta ist umspült vom Meer. Der Gott des Meeres aber war Poseidon. Und Poseidon sah es auf die Dauer wohl nicht gerne, daß dieser Minos nur seinem höheren Bruder Zeus diente. Immerhin, sagte sich Poseidon, immerhin lebt er ja auf einer Insel, und Inseln gehören zu meinem Einflußbereich. Und er war eifersüchtig. Poseidon war eifersüchtig, und Zeus, der die Launen seines Bruders kannte, riet Minos, doch auch ab und zu zum Gott des Meeres zu beten, und Minos tat das. Er tat das ungern. Aber er tat es. Außerdem kostet Beten nichts.
Da war aber auch noch der Sonnengott Helios, der mit seinen Strahlen die Insel wärmte und die Frucht gedeihen ließ. Helios wünschte sich ebenfalls die Aufmerksamkeit des Minos. Gut, Minos betete auch zu ihm, und weil Helios darüber so gerührt war – der Sonnenkult war nicht sehr verbreitet in dieser Gegend –, schenkte ihm Helios seine Tochter Pasiphaë zur Frau. Minos nahm das Geschenk an, er wollte es eben allen recht machen.
Um Pasiphaë wehte von Anfang an ein tragisches Geschick. Sie gebar dem Minos etliche Kinder, darunter Phaedra und Ariadne. Oft ist es so, daß die grausamsten Schläge des Schicksals nicht die erste Generation treffen, sondern die Kinder, die an der Schuld ihrer Eltern gar nicht teilgehabt haben. Sie bekommen dann die volle Wucht der Rache der Götter ab. Phaedra und Ariadne wurden nicht glücklich. Phaedra wurde die Frau des Athenerkönigs Theseus, aber sie verliebte sich in einen seiner Söhne, aus erster Ehe, einen vierzehnjährigen Knaben. Und der war entsetzt darüber, daß ihn seine Stiefmutter begehrte, und er meldete es seinem Vater. Er verspottete seine Stiefmutter, die ihm wohl zu alt und auch zu häßlich war. Phaedra war gedemütigt und entsetzt, und sie stritt alles ab. Sie behauptete vor ihrem Mann, der Knabe habe sie verführen wollen, und als Theseus ihr nicht glaubte, nahm sie sich das Leben. – Die andere Tochter der Pasiphaë und des Minos, Ariadne, wurde ebenfalls die Frau des Theseus.
Minos, sagten wir, sah sich gezwungen, auch dem Gott des Meeres, dem Gott der Gewässer, Poseidon, seinen Respekt zu erweisen und zu ihm zu beten. Das aber war Poseidon bald zuwenig. Er sah ja, daß seinem Bruder Zeus geopfert wurde. Also forderte er ebenfalls ein Opfer. Er forderte von Minos einen Stier. Der Stier ist das Wappenzeichen der Kreter. Zeus war in einen weißen Stier verwandelt, als er mit Europa auf dem Rücken auf der Insel landete.
»Genau so einen Stier will ich geopfert bekommen«, ließ Poseidon verlauten. Der Meergott war immer eifersüchtig gewesen auf seinen viel größeren, viel mächtigeren Bruder.
»Woher soll ich so einen weißen Stier nehmen«, fragte Minos.
Gut, da hat Poseidon eben ein bißchen nachgeholfen. Er formte aus dem weißen Gischt der Wellen einen Stier nach Maß und ließ ihn aus dem Wasser steigen. Aber Minos, der sich nur vor seinem Vater Zeus fürchtete und sonst vor niemandem, dem gefiel dieser Stier selber so gut, und er dachte sich: »Ach was, der dumme Gott Poseidon wird’s nicht merken, ich führe dieses herrliche Tier in meine Stallungen und opfere irgendeinen anderen Stier, einen alten, kranken, ausgedörrten.« – Und so tat er es auch und forderte damit das Schicksal heraus.
Poseidon durchschaute die List und bestrafte den Minos. Aber er strafte ihn nicht direkt. Ich meine, er hätte ihn ja mit seinem Dreizack erschlagen können, er hätte ihn mit einer Flutwelle vom Strand wegspülen können, wenn Minos dort spazierenging. Nein, er rächte sich auf viel raffiniertere Art und Weise – auf sehr teuflische Art und Weise, würde man gern sagen, wenn man nicht wüßte, daß die Griechen die Figur des Teufels nicht kannten. Poseidon machte, daß Pasiphaë, die Frau des Minos, die Tochter des Sonnengottes Helios, sich in ebendiesen weißen Stier verliebte.
Pasiphaë verliebte sich nicht nur in ihn, sondern sie begehrte ihn sexuell, und zwar auf eine äußerst leidenschaftliche Art. Sie erzwang sich Eintritt zu seinem Stall. Sie liebkoste das schöne Tier und wollte, daß dieser Stier sie bestieg. Nur, aus rein anatomischen Gründen war das ziemlich schwierig. Aber der Zufall wollte es, daß sich zu dieser Zeit der bedeutendste Erfinder des Altertums auf Kreta aufhielt, nämlich Daidalos. Und so ging Pasiphaë in ihrer sexuellen Not zu Daidalos und sagte zu ihm, er solle ihr helfen.
Daidalos ist das Urbild des Technikers, der die Errungenschaften seiner Profession wertneutral sieht. »Verantwortung trägt der, der eine Erfindung anwendet, nicht der Erfinder«, pflegte er zu sagen. »Die Technik ist moralisch neutral.« Also nicht das Maschinengewehr als solches ist verwerflich, sondern lediglich seine Anwendung kann es sein. – Daidalos wußte fast immer Rat.
Auch der Pasiphaë konnte Daidalos helfen. Er baute ihr eine Kuh aus Holz, die innen hohl war, und legte die Betriebsanleitung gleich mit dazu. Es war unten eine Klappe eingebaut. Dort konnte sich Pasiphaë hineinlegen und den Stier erwarten.
Diese unglückliche Frau! Man muß dazu sagen, diese in mehrerer Beziehung unglückliche Frau, denn bevor sie der Gott des Meeres in dieses besessene, von monströsen Phantasien heimgesuchte Wesen verwandelt hatte, litt sie sehr darunter, daß ihr Gatte Minos sie ununterbrochen mit anderen Frauen betrog.
Aus der Verbindung von Pasiphaë und dem Stier erwuchs ein tatsächliches Monstrum, der Minotauros. Der Minotauros war ein Knabe mit dem Kopf eines Stiers. Er war gefährlich, sah unbeschreiblich häßlich aus und war ein immer gegenwärtiger Beweis des perversen Fehltritts der Pasiphaë.
Der Minotauros war ein Problem. Er fiel die Leute auf den Straßen an. Aufruhr drohte. Daidalos wurde wieder um Rat gefragt, diesmal von Minos.
»Weißt du einen Ausweg«, fragte Minos. »Dieses Untier ist mein Stiefsohn, meine Frau hat ihn geboren.«
Daidalos sagte: »Ich baue ihm ein Gefängnis. Dann sind wir sicher vor ihm.«
Daidalos ließ ein Labyrinth bauen, in das er den Minotauros sperrte. In der Mitte des Labyrinths, wie eine Spinne im Netz, saß das Ungeheuer und fand sich in den verschiedenen Gängen und Winkeln nicht zurecht.
Aber, wie gesagt, dieser Minotauros war ein gefräßiges Wesen, das am liebsten Menschenfleisch mochte. – Wieder ein Problem.
Daidalos sagte: »Menschen kann ich leider keine machen, jedenfalls keine echten, die man fressen kann.«
»Also, was soll ich tun«, fragte Minos.
»Menschen einfangen wäre, rein sachlich betrachtet, eine Lösung«, sagte Daidalos.
Minos war gezwungen, Kriege zu führen, um Lebendfutter für dieses Untier herbeizuschaffen.
Unter anderem kam er in dieser Angelegenheit auch nach Athen. Er wollte die Stadt einnehmen, wollte dort junge Männer und junge Frauen gefangennehmen. Aber Theseus, Prinz von Athen, leistete Widerstand, und er war ein viel besserer Krieger, und so mußte sich Minos zurückziehen. Er betete zu seinem Vater, dem obersten Gott Zeus, er möge ihm die Schande ersparen, ohne Sieg nach Hause zurückzukehren, er möge Athen in die Knie zwingen. Und Zeus, obwohl er über das Ziel dieses Kriegszuges unterrichtet war, hatte ein Einsehen und schickte die Pest nach Athen, und die Athener ergaben sich.
Minos handelte nun mit Theseus aus, daß jedes Jahr neun Jungfrauen und neun Jünglinge nach Kreta geschickt werden sollen, um dem Minotauros zum Fraß vorgeworfen zu werden.
Das war natürlich ein gewaltiger Blutzoll, den die stolze Stadt Athen der Insel Kreta zu zahlen hatte. Theseus, der weithin berühmte Held, konnte eine solche freche Provokation nicht auf sich sitzen lassen.
»Wir können nicht anders«, sagte Minos. »Wir selbst sind Geiseln des Minotauros.«
Theseus zog nach Kreta, weil er sich sagte, man muß das Übel an der Wurzel packen.
»Wir können nicht anders«, sagte er zu Minos, »ich muß den Minotauros töten.«
Minos hatte nichts dagegen. Das Untier war eine Plage. Diese Plage war nicht loszuwerden, davon war er überzeugt. Sie war ihm und der Insel auferlegt worden vom Gott des Meeres. Wenn da ein Tollkühner kam, einer wie Theseus, und meinte, er könne das Übel ausrotten, bitte, da hatte er nichts dagegen. Mithelfen wollte er dabei allerdings nicht.
Er sagte: »Geh du hinein in das Labyrinth, du allein. Wenn du ihn findest, dann töte ihn, und dann komm wieder heraus.« – Und dachte sich: Wenn du wieder herausfindest. Und dachte sich: Wenn er nicht wieder herausfindet, um so besser, dann kassiere ich Athen gleich mit. Er rieb sich die Hände, weil er genau wußte: Der beste Ingenieur hatte dieses Labyrinth gebaut, aus diesem Labyrinth konnte niemand herausfinden.
Aber Theseus traf in der Tochter des Minos eine Verbündete. Ariadne gab ihm ein großes Wollknäuel. Er befestigte das eine Ende am Eingang des Labyrinths und rollte, während er hineinging, den Faden vom Knäuel ab, so daß er wieder zurückfand, indem er einfach dem Faden folgte. Das ist der berühmte Ariadnefaden. Noch heute ist dieser Faden sprichwörtlich, wenn man sagt: Du hast dich in eine Sache hineinbegeben, aus der du nicht mehr herausfindest. Du hast vergessen, einen Ariadnefaden mitzunehmen.
Und nun wiederum die Frage: Wer hat Ariadne auf die Idee mit dem Faden gebracht? Klar, es war Daidalos.
Daidalos hat als Vorbild durch die ganze Antike gewirkt. Zum Beispiel hat der Philosoph Sokrates von sich aus, teils ironisch und augenzwinkernd, teils aber durchaus ernsthaft, behauptet, er sei ein direkter Nachfahre dieses Daidalos.
Daidalos heißt soviel wie der Einfallsreiche. Er war eigentlich Bürger von Athen. Daß er sich zu jener Zeit in Kreta aufhielt, hat eine ganz besondere Geschichte als Grund, und die möchte ich hier kurz erzählen:
Daidalos war der berühmteste Erfinder, aber auch der berühmteste Bildhauer und auch der berühmteste Maler von Athen. Man sagte von ihm, er habe seine Bilder so naturgetreu gemalt und seine Statuen so naturgetreu aus dem Stein gehauen, daß, wenn diese Kunstwerke in Menge auf dem Marktplatz standen, sich die Bevölkerung einbilden konnte, sie sei um ein Vielfaches gewachsen, und es soll Politiker gegeben haben, die sich diese Illusion zunutze machen wollten und den Daidalos baten, er möge großes Volk auf den Platz stellen, wenn sie ihre Kundgebungen abhielten. – Daidalos pflegte, wie gesagt, alles zu tun, was von ihm verlangt wurde. Probleme waren da, um gelöst zu werden …
Daidalos hatte einen Neffen, der hieß Perdix, er war der Sohn seiner Schwester, und diesen Neffen führte er in die Kunst des Erfindens, in die Ingenieurskunst, die Bildhauerei, die Malerei ein. Dieser Perdix war äußerst geschickt. Er hätte das Zeug gehabt, ein noch größerer, noch bedeutenderer Erfinder zu werden als sein Onkel. Er hat unter anderem die Säge erfunden, da war er noch ein Knabe. Er ging am Strand spazieren und sah einen von Vögeln zusammengefressenen Fisch, sah die bloßen Gräten und dachte sich: »Wenn die Gräten aus Metall wären, könnte man damit Holz durchschneiden.«
Er hat auch den Zirkel erfunden. Man stelle sich vor, den Zirkel! Ohne Zirkel, dieses genial einfache Gerät, ist angewandte Geometrie gar nicht denkbar! Zuletzt hat er auch noch die Töpferscheibe erfunden.
Also ganz grundlegende Erfindungen waren es, die Perdix, der Neffe des Daidalos, der Menschheit geschenkt hat. Wir können uns denken, wie Daidalos darauf reagierte. Vielleicht war er am Anfang stolz, daß sein Neffe so fix und zügig lernte. Aber ich würde sagen, spätestens nach Zirkel und Töpferscheibe war es mit dem Stolz vorbei, und der Neid stieg in ihm hoch. Er lockte den Knaben ans Meer, weil er ihm angeblich etwas zeigen wollte. Er wolle ihn, sagte er, einführen in die Berechnung der Entfernung. Die Griechen wußten ja, daß die Erde eine Kugel war. Er wolle ihm, sagte er, eine Aufgabe stellen.
»Was denkst du, wo ist zwischen dir, der du hier an der Klippe stehst, und dem Horizont draußen im Meer die Mitte?«
Perdix wußte es sofort, er sagte: »Da die Erde gekrümmt und der Blickstrahl eine Tangente ist, die sich der Krümmung der Erde angleicht, wird sich diese lange Strecke, wenn wir die perspektivische Verkürzung berücksichtigen, für das Auge so zusammenstauchen, daß ihre Halbierungslinie ungefähr mit der Horizontlinie zusammenfällt.«
Da hat es den Daidalos fast umgehauen, so entsetzt war er über die Klugheit und das Wissen, über die unbestreitbare Genialität seines Neffen, und er gab ihm einen Stoß, und Perdix fiel über die Klippe.
Aber dieser Perdix hatte eine Förderin im Himmel, nämlich die Göttin Pallas Athene höchstpersönlich. Athene hatte es immer mit den ganz Schlauen, mit den ganz Gescheiten, sie fing den Knaben auf, verwandelte ihn noch in der Luft in ein Rebhuhn, und so überlebte Perdix den Sturz von der Klippe.
Daidalos aber wurde in Athen vor Gericht gestellt und des Mordes angeklagt. Er wurde für schuldig befunden und aus der Stadt verwiesen – was die schlimmste Strafe für einen Athener war. Er wurde zu den Wilden auf die Insel Kreta verbannt. Dort kam er mit seinem Sohn Ikaros an und bot der königlichen Familie sich und seine Dienste an. Für Pasiphaë baute er die Kuh, für Minos errichtete er das Labyrinth, Ariadne spendierte er den Trick mit dem Wollknäuel.
Wir waren bei Theseus stehengeblieben. Theseus begab sich also in das Labyrinth, er fand den Minotauros und erschlug ihn. Er befreite die Stadt und den Weltkreis von diesem Ungeheuer und verließ zusammen mit Ariadne die Insel Kreta.
Minos brauchte keine Recherchen anzustellen, wer seine Tochter auf die Idee mit dem Wollfaden gebracht hatte, solche Ideen hatte nur einer in der Welt, nämlich Daidalos. Minos war ungeheuer erbost darüber, daß sich der Erfinder nicht nur von ihm verwenden ließ, sondern daß er sich jedem anbot, und er sagte: »Du sollst mit deinem Sohn in dieses Labyrinth gesperrt werden. Schau zu, wie du wieder herauskommst.«
Daidalos hatte dieses Labyrinth sehr raffiniert gebaut, aber er konnte sich die Pläne nicht merken, das war seine schwache Stelle, das Gedächtnis. Das Labyrinth war ein komplizierter Schaltkreis, würde man heute sagen, und mittendrin saßen nun Daidalos und sein Sohn Ikaros. Sie saßen im Labyrinth, und über ihnen kreisten die Vögel.
Diese Vögel aber, weil sie so gierig in der Luft zappelten, verloren Federn. Daidalos sammelte die Federn auf, studierte ihre Form und stellte fest, daß sie unten flach und oben gebogen waren. Weil der Wind im Labyrinth um die Ecken pfiff, sah er, daß die Federn hochgehoben wurden, und er stellte fest, daß dies aus ebendem Grund geschah, weil sie oben gebogen und unten flach waren, und er entdeckte somit das Prinzip des Flügels.
Nun machte er sich daran, aus den vielen Federn, die vom Himmel fielen, für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel zu bauen. Er leimte die Federn mit Wachs zusammen, mit dem Wachs der Kerzen, die in den Ecken des Labyrinths steckten. Und schließlich hatte er Flügel gebaut.
Er unterwies seinen Sohn Ikaros und sagte: »Paß auf, wenn wir von dieser Insel wegfliegen: Wir müssen über Wasser fliegen. Flieg also nicht zu tief, damit deine Flügel nicht am Wasser streifen und sich vollsaugen. Aber fliege auch nicht zu hoch, dort oben sind die Sonnenstrahlen nämlich zu heiß, und das Wachs wird schmelzen. Halte den Mittelweg.«
Aber Ikaros war ein leidenschaftlicher junger Mann, und er flog sehr hoch hinaus. Es war wunderbar, die Insel von oben zu sehen. Er kam der Sonne zu nahe, ihre Strahlen lösten das Wachs auf, und Ikaros stürzte ab. Als er auf der Wasseroberfläche aufschlug, heißt es, sei da ein Rebhuhn vorbeigeflattert, das war der kleine Perdix, der Vetter des Ikaros, und dieses Rebhuhn habe schrecklich gelacht.
Daidalos versteckte sich nun bei einem ihm verpflichteten König, denn Minos, das wußte er, würde ihn überall verfolgen. Da kam Minos selbst eine Idee: Er ließ überall verkünden: »Ich, Minos von Kreta, gebe der Welt ein Rätsel auf: Wer einen Faden durch eine Schnekkenmuschel ziehen kann, den werde ich reich belohnen.«
Und siehe da: Einer konnte es, es war ein König von irgendwo. Aber Minos wußte: Kein König von irgendwo kann das, nur einer kann das, nur Daidalos kann das. Wenn da ein König ist, der behauptet, er könne das, dann ist Daidalos bei diesem König untergekrochen. Und so hat er ihn gefunden. Aber dieser König von irgendwo wollte natürlich den Daidalos für sich behalten, diesen großen Erfinder, man stelle sich vor, was so einer wert ist, und er verbrühte den Minos mit heißem Wasser, und so endet die Geschichte des Minos. Sein Vater Zeus hatte wohl die Geduld und auch das Interesse an ihm verloren. Aber über der Wiege unserer Kultur prangt auch sein Name. Eine der Wurzeln des Abendlandes ist die minoische Kultur Kretas.
Und wie hat Daidalos die Aufgabe des Minos gelöst? Er hat den Faden an den Hinterleib einer Ameise gebunden und sie durch die Muschel kriechen lassen.
ÖDIPUS
Von Laios und Iokaste– Von durchstochenen Füßchen– Von der Sphinx– Von der Pest– Von der Wahrheit– Von durchstochenen Augen– Von einer treuen Tochter– Von einer treuen Schwester– Von verfeindeten Brüdern– Von einem harten Vater– Vom Tod– Von einem, der schon Frau und Mann war
Ödipus ist im zwanzigsten Jahrhundert die bekannteste Gestalt der griechischen Mythologie, vor allem wohl deshalb, weil Sigmund Freud den Trieb des männlichen Kindes, seine eigene Mutter zu besitzen und den Vater zu hassen, nach ihm benannt hat.
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