Das kann uns keiner nehmen - Matthias Politycki - E-Book
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Das kann uns keiner nehmen E-Book

Matthias Politycki

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Beschreibung

 Eine ganz und gar unwahrscheinliche Freundschaft, jede Menge Ärger und ein großes Abenteuer  Am Gipfel des Kilimandscharo: Hans, ein so zurückhaltender wie weltoffener Hamburger, ist endlich da, wo er schon ein halbes Leben lang hinwollte. Hier, auf dem Dach von Afrika, will er endlich mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen. Doch am Grunde des Kraters steht bereits ein Zelt, und in diesem Zelt hockt der Tscharli, ein Ur-Bayer – respektlos, ohne Benimm und mit unerträglichen Ansichten.  In der Nacht bricht ein Schneesturm herein und schweißt die beiden wider Willen zusammen. Es beginnt eine gemeinsame Reise, unglaublich rasant und authentisch erzählt, wie das nur Politycki kann, gespickt mit absurden und aberwitzigen Abenteuern. Als sich die beiden schließlich die Geschichte ihrer großen Liebe anvertrauen, erkennen sie, dass sie mit dem Leben noch eine Rechnung offen haben.  Doch der Tod fährt in Afrika immer mit, und nur einer der beiden wird die Heimreise antreten.  Dieser grandiose Roman über zwei sehr gegensätzliche Weggefährten, jeder auf seine Weise von der Liebe gezeichnet, verhandelt zugleich ein großes gesellschaftspolitisches Thema: Wie findet zusammen, was nicht zusammen passt – auch über einen tiefen Graben hinweg.  

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Matthias Politycki

Das kann uns keiner nehmen

Roman

Hoffmann und Campe

Karten

Wir sahen ihn schon vom Kraterrand aus, ein leuchtend roter Punkt zwischen den Zelten, genau dort, wo unser Pfad am Kraterboden enden würde.

Sieben Tage lang hatte ich den Moment ersehnt, da ich endlich allein sein würde mit diesem Berg. Sieben Tage, während es auf den Wanderwegen immer voller geworden war, je höher wir kamen. Im Barafu Camp, 1200 Meter unterm Gipfel, wo die meisten Aufstiegsrouten vor der letzten Etappe zusammenfinden, hatte größerer Trubel geherrscht als auf dem Markt in Arusha, und dann wurde auch noch eine Frau abtransportiert, die nicht einsehen wollte, daß sie die Höhenkrankheit hatte, und lieber hier oben sterben wollte als tausend Meter weiter unten überleben. Schließlich schnallte man sie auf eine Trage, noch lange hörten wir sie schimpfen und schreien.

»Der da unten ärgert sich gerade noch mehr als wir«, versuchte Hamza, den roten Punkt am Kraterboden herunterzuspielen, während er ihn durch sein Fernglas betrachtete. Drei der Zelte seien übrigens die unsern, setzte er das Glas wieder ab. Dann wies er auf zwei weitere Punkte, das seien Mudi und Dede, sie stellten gerade das Toilettenzelt auf. Beim gestrigen Abendessen hatte er ein letztes Mal versucht, auch Paolo und Ezekiel zu überreden, vergeblich, auf die paar zusätzlichen Dollars würden sie gern verzichten, in den Krater müßten wir ohne sie. Dort wohnten böse Geister, die verwandelten sich nachts in schlimme Schwefeldämpfe oder kämen im Eishagel und holten sich, wen immer sie wollten. Selbst die, die sie verschonten, schlügen sie mit Übelkeit und Wahn, einfach so, weil sie die Macht dazu hätten. Auf diesem Berg sei man nur Gast; wer mehr von ihm wolle als den Gipfel, der müsse auch mehr geben, nicht wenige das Leben.

Nur der Einbruch der Kälte hatte kurz für Ruhe gesorgt. Von einer Sekunde zur andern war’s so still im ganzen Camp, daß ich meinen Puls pochen hörte und den Schmerz im Kopf wieder wahrnahm, ein leichtes Ziehen unter der Schädeldecke. In Gedanken ging ich noch einmal die 25 Jahre ab, die ich gebraucht hatte, um hierherzukommen, und nahm mir fest vor, nicht noch auf den letzten Metern einzuknicken. Schließlich hatte ich noch eine Rechnung mit diesem Berg offen und war entschlossen, sie morgen zu begleichen. Ab Mitternacht brachen die ersten auf, um den Gipfel vor Sonnenaufgang zu erreichen, und von da an hörte man immer wieder Getrappel, wenn die nächste Gruppe an unseren Zelten vorbeimarschierte, ein aufgeregtes Flüstern und Kichern. Wir ließen sie ziehen, heute hatten wir ja nur den Aufstieg zu bewältigen und nicht wie alle anderen – hoffentlich ausnahmslos alle anderen – auch die Hälfte des Abstiegs. Um halb drei fing Hamza im Zelt neben mir zu rascheln an, um vier liefen wir los. Unsre Träger schliefen noch, sie würden sich den Gipfel sparen und direkt zum Crater Camp gehen. Schon nach wenigen Minuten schalteten wir die Stirnlampen aus, der Mond leuchtete uns den Weg.

Als wir um kurz nach acht den Kraterrand bei Stella Point erreicht hatten, war mein Kopfweh verflogen. Unter uns, umbrabraun schweigend und ernst, absolut ernst, lag eine Hügellandschaft aus Asche, feierlich von einem Felsenkranz umzackt, dessen Innenseite mit Schnee geschmückt war. Weiß und strahlend auch die Gletscher am Kraterboden, mit ihren geriffelten Kanten hart von der Aschewüste abgegrenzt. Ja! dachte ich nur immer wieder, ja! Deshalb war ich gekommen.

Der restliche Weg auf dem Kraterrand bis dorthin, wo er sich, beständig sanft ansteigend, zum Gipfel wölbte, von braunroter Asche bedeckt, linker Hand von einem gewaltigen Gletscherfeld markiert, leicht verschwommen dahinter die Ewigkeit. Rechter Hand die schneebedeckten Kraterwände, am Fuß derselben verstreut ein paar Felsen oder Lavabrocken, weiter innen nurmehr Asche und Eis. Kein Vogel im Firmament, keine Fährte am Grund, kein Grashalm im Wind. Um zehn erreichten wir den Gipfel, und als die letzte Gruppe ihre Siegerfotos geschossen und den Rückweg angetreten hatte, waren wir endlich allein. Hamza riß sich die Kleider vom Oberkörper, kletterte auf das Gerüst, das den Gipfel anstelle eines Kreuzes markiert, und streckte die Arme in die Luft – so sollte ich ihn mit seinem Handy fotografieren. Nach zwanzig Minuten gingen wir auf dem Kraterrand weiter, und als wir die Stelle erreicht hatten, wo der Pfad abzweigt, hinab zum Crater Camp, sahen wir ihn.

»Weißt du, was der Unterschied ist zwischen dem und uns?« wollte Hamza die Sache mit Humor nehmen.

»Will’s nicht wissen«, ließ ich mir sein Fernglas reichen, um den roten Punkt meinerseits in Augenschein zu nehmen, »und werde auch morgen nicht drüber lachen.«

Nun war da also ein Kerl im Krater, wo ich mir seit Jahren nichts anderes als leere Landschaft vorgestellt hatte, in der ich meine Vergangenheit begraben wollte. Daß der Berg auf seinen Trekkingrouten von Touristen überlaufen war, hatte ich immer gewußt – doch auch, daß so gut wie niemand davon im Krater übernachtet. So gut wie niemand! Nämlich heute offensichtlich ein Kerl in roter Jacke, der gekommen war, mir durch seine Gegenwart die Würde des Ortes zu zerstören, wo ich mir seit sieben Tagen, die ganze lange Lemosho-Route über, nichts anderes vorgestellt hatte als: wie ich dort unten Maras Namen ein letztes Mal flüstere oder schreie oder meinetwegen gegen die Kraterwände schleudre und dann ganz tief in der Asche beerdige. Je länger ich auf dem Berg unterwegs gewesen war, desto näher waren mir meine Erinnerungen gerückt und mit ihnen die Gefühle, die ich längst im Griff zu haben glaubte. Als ob der Berg all das freisetzte, was ich mit einiger Mühe beiseitegeschoben und irgendwann nicht mehr angerührt hatte, je höher wir kamen, desto heftiger – und in schier überwältigender Wucht während der letzten Minuten, nachdem auch das Gejohle am Gipfel überstanden und die ganz große Stille angebrochen war.

»Der Unterschied ist: Der da unten ist schon da. Wir könnten immer noch umkehren und absteigen.«

Das kam natürlich nicht in Frage. Im Fernglas beobachtete ich Mudi und Dede, wie sie die Heringe unsrer Zelte mit Felsbrocken sicherten. Dann traten zwei Männer aus einem der fremden Zelte, auf der Plane stand »Safari Porini«, wenig später noch einer aus einem anderen Zelt. Sie gingen zum Gletscher, der in der Mitte des Kraters lag, Hamza behauptete, sie würden ein Stück davon abschlagen, um es zu Teewasser zu schmelzen. Hinter dem Gletscher stieg die Aschelandschaft sanft zu einer Hügelkette an, dahinter verbarg sich der innere Krater. Gewiß war dort alles von derselben feinen Asche überzogen, die auch unseren Weg bedeckte.

»Vielleicht kriegt er ja noch die Höhenkrankheit«, meinte Hamza. Im Krater schlage das Klima ständig um, es herrsche kein guter Geist, Paolo und Ezekiel hätten recht. Er selbst sei zwar an die sechzig Mal auf dem Gipfel gewesen, aber erst ein einziges Mal im Krater und nur für eine knappe Stunde, weil sein Kunde schlagartig ganz schlechte Blutwerte hatte, sie hätten die Zelte sofort wieder abbauen müssen und absteigen.

»Der Kibo schläft nur«, sagte Hamza, »er entscheidet, wen er übernacht bei sich duldet, wen nicht, du kannst es nicht erzwingen.«

»Und er kann jeden Moment erwachen«, fügte er nach einer Weile an, da waren wir schon ein paar Serpentinenwindungen tiefer und mitten im Schnee.

*

»Lecko mio«, begrüßte mich der Kerl in der roten Jacke, der die ganze Zeit über am Ende des Pfades mit demonstrativ vor der Brust verschränkten Armen auf uns gewartet und also auch meinen Sturz mitbekommen hatte. In einer der Kehren war ein Schneebrett unter meinem Tritt abgerauscht und ich rücklings ein paar Meter mit ihm, zum Glück erst im unteren Drittel. Danach hatte ich eine Weile gebraucht, um mir den Schnee aus der Kleidung zu schlagen, zum Schluß wischte ich die Brillengläser trocken und wickelte mir das Tuch um den Kopf, das sich bei meiner Talfahrt gelöst hatte.

»Wie kommt ’n a so a Hornbrillenwürschtl wie du ausgerechnet hierher?«

Er schnaubte verächtlich aus, auch ihm hatte ein bißchen Gesellschaft gerade noch gefehlt. Daß ich einer der Deutschen war, die auf diesem Berg scharenweise unterwegs waren, hatte er offensichtlich erkannt oder unterstellte es ganz selbstverständlich, es machte die Sache nicht besser. Mein rechtes Auge war müde von der Anstrengung, ich schob mir die Brille in die Stirn und massierte die Augenhöhlen.

»Jetz hat’s eahm d’ Sprach verschlang.«

Er hatte halblange zerzauste Haare, einen buschigen Schnauzbart, der sich beidseits des Mundes bis zum Kieferknochen hinabzog, buschige Koteletten, die genauso tief reichten, alles in Silbergrau. Hals, Kinn, Wangen von Bartstoppeln übersät und jeder Menge Falten – ein Zausel, wettergegerbt, vielleicht Ende sechzig, der immer noch den Rocker geben wollte. Dafür war er allerdings entschieden zu dünn, geradezu spiddelig, und auch zu blaß, noch nie hatte ich einen solch bleichen Menschen gesehen. Eine weiße Sportbrille mit orangerot verspiegelten Gläsern hatte er sich hoch in die Stirn geschoben, die Hände mittlerweile in die Hüften gestemmt, kein Zweifel, er empfand mich ebensosehr als Störenfried wie ich ihn. Als ich mich nach Hamza umsah, begrüßte der gerade die fremden Träger, der Reihe nach schlugen sie die Fäuste aneinander.

»Was hast ’n da für a Windel um dein’ Kopf gwickelt, ha? Oder sprichst du ned mit jedm?«

»Hans!« streckte ich ihm meine Hand entgegen.

»I bin da Tscharli«, ergriff er die Hand und drückte kräftig zu, ließ nicht locker, im Gegenteil, erhöhte den Druck und rückte näher: »Da Windelhans bist’.«

Er lachte kurz auf, es klang hart und bitter, erst danach ließ er meine Hand los. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Träger noch immer mit Hamza verbrüderten. Nun kam ein weiterer Mann aus dem Zelt, gähnte, streckte sich, rieb sich die Augen, rief Hamza auf Suaheli einen Gruß zu, anscheinend ein Witz auf dessen Kosten, reihum Gelächter. Nachdem er Hamza nach allen Regeln der Kunst Faust auf Faust abgeschlagen, Handfläche auf Handfläche abgeklatscht, auf Brust und Schultern geboxt und die entsprechenden Schläge von Hamza empfangen hatte, kam er auf mich zu, gab mir ganz artig die Hand und stellte sich als John vor.

»Mountain doctor«, ergänzte der Kerl.

John grinste, blinzelte in die Sonne und zog sich seine Jacke aus. Auf dem T-Shirt, das er über einem Icebreaker-Unterhemd trug, stand »It’s now! Dr Never«.

»Bist du der Führer von Tscharli?« fragte ich ihn auf Deutsch, John guckte freundlich durch mich hindurch. Bevor ich die Frage auf Englisch hinterherschieben konnte, blaffte mich der Kerl an: Er sei der Tscharli! Und John also der Führer vom Tscharli! Auch für einen Preußen wie mich, »host mi?«.

»Yes, Mister Tscharli«, pflichtete John bei, »big boss.«

Ich sei kein Preuße, versetzte ich, sondern aus Hamburg.

Und er aus Miesbach, erwiderte der Kerl, da hätten wir ja was gemeinsam. Erneut lachte er auf, klopfte mir die Schulter, offensichtlich hatte er seine eigene Form von Humor.

Wieso er ausgerechnet heute hierhergekommen sei? konnte ich mir nicht verkneifen.

»Wei’s wuascht is!« Der Kerl lachte nicht mehr. Er stierte mich drohend an, als erwarte er eine Replik, die er mit einem Faustschlag beantworten konnte. Als sie ausblieb, ließ er locker, grinste in die Runde. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er eine kleine Flasche Jägermeister aus der Jackentasche gezogen, einen Schluck genommen und ganz selbstverständlich an den Mountain doctor weitergereicht hätte. Aber er legte den Kopf nur leicht schief, kniff die Augen zusammen und musterte mich von oben bis unten. Schließlich gab er sich einen Ruck: »Komm, Windelhans, samma wieda guat. Mir kenna ja beide nix dafür.«

Zwölf Uhr mittags, Crater Camp, 5600 m, null Grad, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Ich wollte nur noch eines, in mein Zelt verschwinden und verschwunden bleiben.

*

Kaum war ich drin, wurde’s draußen windstill und heiß. Ich hatte mich auf meinen Schlafsack gelegt; doch die Sonne brannte mit solcher Macht aufs Zelt, daß mir der Schweiß unterm Hemd zusammenlief und ein feiner Schmerz im Kopf zusetzte, direkt an der Schädeldecke. Durch die Zeltplane hörte ich locker mit, wie sich der Tscharli auf geräuschvolle Weise in seinem Toilettenzelt zu schaffen machte, von kommentierenden Zurufen befeuert. Noch aus dem Zelt heraus ließ er wissen, »Problem finished«, und nachdem er den Reißverschluß des Eingangs hoch- und hinter sich wieder heruntergerissen hatte, »Internet Cave finished«.

Internet Cave nannten sie in seiner Mannschaft das Toilettenzelt, Dede und Mudi meckerten begeistert auf. »Did you catch a monkey?« rief John. Anstelle einer Antwort stieß der Tscharli einen Schrei aus und trommelte sich auf die Brust.

Dann redete er in einem fort, ein derb reduziertes Pidgin, vermischt mit bairischen Brocken und Suaheli. Was immer er sagte, wurde gut gelaunt zur Kenntnis genommen und nicht selten mit schallendem Gelächter quittiert, offensichtlich auch verstanden und akzeptiert. Stets pflichtete ihm irgendwer mit »Yes, sir« bei, selbst Hamza, der mich nur beim Vornamen ansprach.

Viel später erst erkannte ich, daß es mit des Tscharlis Suaheli nicht weit her war, er freilich den Tonfall der Sprache sehr gut aufgeschnappt hatte und – zusätzlich zu der Handvoll Wendungen, die er beherrschte – nach Belieben Wörter erfand, was überall für Begeisterung sorgte und Bereitschaft, ihm zu Diensten zu sein. Und noch viel später erkannte ich, daß ich ihn von Anfang an um diese Fähigkeit beneidet und mir eingeredet hatte, er würde die Einheimischen mit seinen Späßen verspotten. Statt mir einzugestehen, daß er damit ihre Herzen gewann und Türen öffnete, die mir verschlossen blieben – schon ein Leben lang verschlossen geblieben waren. Seine Träger begriffen auch jetzt ohne weitere Nachfragen, daß er am Nachmittag zum inneren Krater gehen, zuvor aber erst mal eine tüchtige Brotzeit einnehmen wollte. Und daß sich der, den sie Helicopter nannten, gefälligst an die Arbeit machen sollte, offensichtlich war er der Koch.

»High noon, Helicopter, Big Simba hungry!«

»Big Simba hungry«, wiederholte Helicopter.

»Mambu didi!« machte ihm der Tscharli Beine, und die beiden anderen Träger seiner Truppe, Samson und Rieadi, wiederholten den Zuruf unter fröhlichem Gekecker.

Es war nicht auszuhalten. Doch drinnen im Zelt erst recht nicht. Nach einer halben Stunde gab ich auf, zog den Reißverschluß hoch und schloß geblendet die Augen. So viel Sonne an diesem Tag. Ich schob mir die Brille in die Stirn und massierte die Augenhöhlen.

Ein tiefdunkelblauer Himmel und vollkommen leer. Der gefalle ihm nicht, begrüßte mich Hamza. Erst jetzt sah ich, wie sich zwischen den Zacken des Kraterrands die Wolken stauten.

*

Natürlich hatten Hamza und John beschlossen, ihre Gruppen zusammenzulegen und das Mittagessen gemeinsam in einem der beiden Eßzelte einzunehmen. Samson servierte, und als er alles herbeigeschafft hatte, deutete er einen Diener an, man wußte nicht, ob es ernst gemeint war oder witzig: »Enjoy your meal, sir.« Welchen sir er damit meinte, ließ er offen.

Es gab Kekse, Honig, Nutella, Bananen, Beuteltee. John aß fast nichts, Hamza umso mehr und der Tscharli wie ein Schwein. Jetzt, da er seine rote Jacke über die Klappstuhllehne gehängt hatte, verströmte er den Geruch von altem Schweiß. Nach dem Essen kramte Hamza sein Meßgerät hervor, das normalerweise morgens und abends zum Einsatz kam, um Puls und Sauerstoffgehalt im Blut zu überprüfen. John tat’s ihm gleich, der Tscharli und ich reichten brav unsre Zeigefinger, die Geräte wurden aufgesetzt, es kam ein ganz klein bißchen Spannung auf.

Nach einer Weile las John die Werte ab: »Pulse 93, oxygen 78. Good.«

Der Tscharli grinste zufrieden, John stellte ihm seine Fragen nur pro forma: Wie’s mit dem Luftholen hier oben sei? Ois easy. Und die Lunge? Dito. Kopfweh? Woher denn. Übelkeit? Schwindel? Geh weida.

»Strong man«, attestierte John.

»Wer ko, der ko«, strahlte der Tscharli.

Er sei bereits als Kind viel in den Bergen gewesen, ließ er mich mit plötzlicher Jovialität wissen, quasi jeden Sonntag mit seinen Eltern, damals hatte er das Wandern gehaßt. Schon allein das dauernde Grüßgott, wenn wer entgegenkam oder überholt wurde.

Zum Glück waren meine Werte kaum weniger gut, der Tscharli pfiff anerkennend durch die Zähne, klopfte mir auf die Schulter, »Werd scho, Hansi«.

Ich sei im Süden aufgewachsen, ließ ich ihn wissen, auch ich hätte am Wochenende mit meinen Eltern in die Berge gemußt.

Darauf schob sich der Tscharli den kleinen Finger ins Ohr und kratzte sich so intensiv, daß ihm der Mund offenstand. Nachdem er den Finger herausgezogen und daran gerochen hatte, wollte er wissen, ob auch meine Mutter an keiner einzigen Kapelle vorbeigegangen sei. Die seine sei dann auch aus keiner einzigen herausgekommen, ehe sie eine Kerze für die Verstorbenen gespendet hatte. Sein Vater habe immer gespottet, in ihrer Familie sei jede Woche Totensonntag, aber davon habe sie sich nicht abbringen lassen.

Kapellen hätten bei unseren Wanderungen keine Rolle gespielt, versetzte ich, meine Eltern seien nicht katholisch gewesen.

»Zuagroaste«, schloß der Tscharli messerscharf, »mei«.

Dann schob er denselben kleinen Finger ins andre Ohr, kratzte sich, bis ihm erneut der Mund offenstand. Hamza sah ihm interessiert zu. John arbeitete die neuen Nachrichten auf seinen drei Handys ab. Der Tscharli kratzte und sah durch mich hindurch, vermutlich in irgendeine dieser Kapellen, auf seine Mutter, die im Dämmer vor dem Altar abkniete, tonlos ein Gebet flüsterte, sich aufrappelte, eine Münze in den Opferstock warf, eine Kerze entzündete, sich bekreuzigte …

»Denn da gäb’s ja auch überhaupts koan Grund, sich drüber lustig z’ macha!« fand der Tscharli wieder in unser Zelt zurück und zum Faden seiner Darlegungen, zog den Finger aus dem Ohr, roch daran und blickte mir fest in die Augen: Die Kerzen für all jene, die uns vorausgegangen, die würden uns, wenn’s soweit sei, den Weg leuchten.

Woraufhin wir eine Weile schwiegen. Offensichtlich war er ein noch seltsamerer Vogel, als ich zunächst vermutet, hatte auch seine eigene Form von Tiefsinn. Wenn er nur nicht immer so schnell zu seiner schrecklichen Form des Frohsinns zurückgefunden hätte! Jedesmal wenn ich die Augen schloß und mir vorstellen wollte, wo ich gerade war, endlich war, und was das für mich bedeutete, scheuchte er mich mit einer neuen Bemerkung auf. Wie gern hätte ich mir zumindest ausgemalt, wie es ohne ihn hier oben gewesen wäre und ob ich vielleicht verrückt geworden wäre vor lauter Stille. Aber nein, immer wieder zwang er mich, die Augen zu öffnen und ihn, nichts als ausgerechnet ihn wahrzunehmen.

»Was tuast ’n da so bedeutungsvoll seufzen, Hansi?«

Ich nippte an meinem Tee und lauschte auf die Zeltplanen, an denen ein kleiner Wind zu zerren begonnen hatte. Notgedrungen tat der Tscharli dasselbe. Erst Samson scheuchte uns auf, der zum Abräumen gekommen und dabei so ungemütlich war, als wolle er uns zum Aufbruch drängen.

Wie wir vor dem Zelt standen, hatte, bei vollem Sonnenschein, ein leichter Schneefall eingesetzt. Der Tscharli rülpste, zog sich die Kapuze in die Stirn und klatschte in die Hände: »Wakala!«

Was soviel wie »Pack ma’s, Burschn, auf geht’s« bedeuten sollte, ich verstand ihn schon ganz gut.

*

Der Krater war von wirbelndem Leben erfüllt und verzaubert. Weil der Wind innerhalb der letzten Minuten kräftig aufgefrischt hatte, fielen die Flocken wie in einer Schneekugel, die man gerade geschüttelt hatte: in leicht kreiselnden Bewegungen, ein Teil der Flocken wurde wieder emporgetragen, schwebte über uns hin, ehe er einige Meter entfernt in verspielten Spiralen zu Boden trudelte. John hielt geradewegs auf den Gletscher zu, dessen Kante als türkisblaue Wand schemenhaft im Schneetreiben schimmerte. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich die Ödnis in eine märchenhafte Kulisse, der weiche Ascheboden ins schwarzweiß gefleckte Fell eines schlafenden Schneeleoparden. Ein, zwei Minuten später war das Fell durchgängig weiß; wenn man sich umdrehte, sah man unsre Fußspuren darin. Nur Hamza trübte das Vergnügen, indem er uns immer wieder wissen ließ, das gefalle ihm nicht.

Nachdem wir ein paar Fotos am Gletscher gemacht hatten, schien uns die Sonne nicht mehr; anstelle eines heiteren Schneetreibens vor blauem Himmel sahen wir nurmehr Nebel. Trotz der Eile, die nun geboten war, machte John dieselben kurzen Schritte wie Hamza, polepole, selbst hier oben ging es auf diesem Berg nur ganz langsam voran. Gleichwohl war der Saum des inneren Kraters bald erreicht, schweigend standen wir nebeneinander und blickten in den Trichter. Am Rand war er schon von Schnee bedeckt, aber dort, wo er in die Tiefe führte, war er nackt und schwarz, es hätte mich nicht gewundert, wenn Dampf daraus aufgestiegen wäre. Fast alles, was als gegenüberliegender Kraterrand ragte, war bereits durch den Nebel verschluckt.

Weil der Schnee nun nicht mehr fröhlich wirbelte, sondern, vom Wind getrieben, in dichten Fäden schräg zu Boden klatschte, mußten wir erst noch ein Stück auf dem Kraterrand gehen, ehe wir das Kreuz sahen. Ein schlichtes Holzkreuz direkt am Rand des Kraters. Von der ursprünglichen Beschriftung konnte man nur noch ein paar Buchstaben lesen, die keinen Namen ergeben wollten. Es galt einem amerikanischen Touristen, der hier gestorben war; ob man ihn auch hier beerdigt oder im Kraterschlund als verschollen aufgegeben hatte, wußte keiner. So viele Gräber, die es auf diesem Berg gebe – wie sollte man von jedem die Geschichte kennen! Wir standen vor dem Kreuz und wußten nicht weiter. Auf einmal brummelte der Tscharli, er habe dringende Geschäfte zu erledigen, »Big business«, deutete einen Kniefall an, bekreuzigte sich und verschwand mit einem halblaut geknurrten »Habe die Ehre«. Er ging so schnell bergab, daß ihm John kaum folgen konnte.

Hamza und ich sahen ihm nach, bis er vom Nebel verschluckt war. Er wirkte sehr dünn und zerbrechlich, geradezu hinfällig, manchmal sah es so aus, als ob er im nächsten Moment stürzen würde.

*

Kurz bevor wir zurück im Lager waren, setzte der Sturm ein, er schlug uns den Schnee fast waagrecht ins Gesicht. Irgendwann tauchten die rotweißen Planen unsrer Zelte auf, zur Hälfte eingeschneit, ohne Hamza hätte ich nicht mehr zurückgefunden. Im Mannschaftszelt herrschte angespannte Stimmung. Samson ließ jeden wissen, daß dies nichts als der Anfang sei; erst wenn es wieder still geworden, ganz still, werde’s richtig ernst. Wir könnten froh sein, wenn wir uns morgen früh hier zum Dankgebet versammeln dürften. Der Herr sei mächtig, doch die Götter, die den Kibo beherrschten, seien es nicht minder.

Welche Götter er denn meine? fragte Dede. Schließlich wohne hier oben der Gott der Massai, jedenfalls wenn er nicht gerade auf seinem Hausberg sei, aber auch der Gott der Chagga – und wer weiß, wer noch, das Haus Gottes sei groß.

Das sei es, bestätigte Samson, und wer sich gerade darin aufhalte, wisse kein Mensch je zu sagen. Er war überzeugt, wir hätten beim Aufstieg irgendein Vergehen begangen, das den Gott erzürnt hatte – diesen oder jenen oder wahrscheinlich jedweden Gott, der es zufällig mitbekommen hatte. Obwohl er ein bißchen in die andre Welt hinüberblicken konnte, war Samson kein witch doctor, er wußte kein Mittel, die Götter zu besänftigen. John war Christ, Hamza Moslem, sie hatten hier sowieso nichts zu bieten. Alle anderen waren Chagga, vom Gott der Massai wußten sie nur, daß er noch schrecklicher und grausamer sein konnte als der eigene. Der Berg war heilig, keine Frage, niemandem wollte jedoch etwas einfallen, was er im Gegensatz zu früheren Besteigungen anders gemacht und damit den Zorn der Götter erregt haben könnte.

Jedenfalls werde es ein Heidenspaß werden heut nacht, faßte der Tscharli auf seine Weise zusammen. Und das bei minus zwanzig Grad, »mir gangst«.

Minus zwanzig? Woher er das denn wisse?

Das habe er im Orinoco.

Es wurde Zeit, daß diesem Großmaul mal einer das Großmaul stopfte. Aber nein, John und Hamza nickten, minus zwanzig, damit sei zu rechnen.

Schon um vier servierte uns Samson das Abendessen. Zunächst einen Topf mit heißer Knoblauchsuppe. Als er dann Rührei mit einem Stapel verbrannter Toastbrote brachte und den Reißverschluß nicht richtig hinter sich zuzog, bellte ihn der Tscharli an:

»Tür zu, Chef! Oder hast du dahoam an Vorhang?«

Samson verstand kein Wort, begriff indes sofort. Der Tscharli lobte: »Geht doch.«

Mit Negern müsse man immer mal wieder Klartext reden, ließ er mich wissen, kaum daß sich Samson mit seinem »Enjoy your meal, sir« zurückgezogen hatte: Die bräuchten eine starke Hand. Andernfalls würden sie einem bald auf der Nase herumtanzen.

Die bräuchten sie ganz gewiß nicht! platzte mir endlich der Kragen: Und Neger seien es bekanntlich auch keine!

»Oha, jetz wird’s sogar hier … Ja leck mich fett!« wurde der Tscharli prompt lauter: Was die … Neger denn bräuchten?

»Respekt!« ließ ich ihn wissen: Was er sich eigentlich einbilde? Die hätten ihn hier hochgebracht, ohne sie würde er nicht mal mehr runterkommen!

Die bekämen mehr Respekt von ihm, stemmte sich der Tscharli ein wenig von seinem Klappstuhl empor und schnappte nach Luft: mehr … mehr Respekt … als von einem dahergelaufnen Klugscheißer wie mir! Offenbar wollte er mir an die Gurgel: Die … die … Neger, jawollja. Oder was ein Samson meiner Meinung nach bittschön sei?

»Ein Afrikaner!« versetzte ich und drückte mich ebenfalls vom Stuhl hoch, klein beigeben würde ich nicht. John hob den Blick kurz von einem seiner Displays und sah mich fragend an. Hamza pulte sich umständlich einen Essensrest aus den Zähnen und schaute weg. Ein, zwei Sekunden schwiegen wir uns alle mit großer Inbrunst an.

»Ja freilich!« ließ sich der Tscharli zurück auf seinen Stuhl fallen und sackte mit einem Pfeifton in sich zusammen, als hätte man ihm den Stecker gezogen: »Was ’n sonst?« Aber ein … Afrikaner sei doch wohl erst recht ein Neger?

»Mit mir sprichst du nicht über Neger!« ließ ich ihn von oben herab wissen, und weil ich wußte, daß es ihm weh tat, betonte ich jede Silbe schön scharf und spitz und stichelnd. Erst dann ließ ich mich ebenfalls wieder auf den Stuhl ab. Um ihn weiterhin von oben herab zu fixieren, saß ich ganz aufrecht und mit durchgedrücktem Rücken, schön korrekt und kompromißlos und bewußt blasiert: »Selbst wenn sich das noch nicht bis Miesbach rumgesprochen haben sollte: Es heißt Afrikaner.«

»Afri-ka-ner …« Der Tscharli gab den abgebrühten Afrikakenner, bekam allerdings vor Empörung kaum Luft: Wie ich denn bittschön die Weißen bezeichnen wolle, die hier geboren seien? Etwa auch Afrikaner? Und die Schwarzen dann vielleicht ganz oberschlaumeiermäßig Afroafrikaner?

»Verdammte –«

Und ob ich selber nichts als ein Europäer sei? Oder doch ein Weißer? Und ganz eigentlich ein Deutscher, nein, ein feiner Han-se-at, was Besseres?

»– Scheiße!« schlug ich mit der Faust auf den Tisch, daß die Aluteller schepperten: Jetzt reiche es mir, er solle seinen Mund wenigstens beim Essen halten! Und darüber nachdenken, welch reaktionären Stuß er gerade verzapft habe.

Genau so. Es war längst überfällig gewesen. Der Tscharli war so verblüfft, daß er tatsächlich nichts mehr sagte. Er schüttelte nur ab und zu den Kopf, seine Haarsträhnen glänzten im Licht der Funzel wie eine Silbermähne, und dabei ließ er die Luft zwischen den Zähnen herauszischen, was jedesmal einen ziemlich scharfen Ton erzeugte. Der Sturm riß an den Zeltplanen und klapperte mit allem, was er draußen zu fassen bekam. Als sich der Tscharli erhob, wischte er sich mit der Hand übern Mund, dann übern Hosenboden, und bevor er im Dunkel draußen verschwand, steckte er noch mal den Kopf herein:

»Hornbrillenwürschtl, preußisches!«

*

Aus dem Zelt, in dem sich die Träger ihr Nachtlager eingerichtet hatten, drangen anfangs noch ein paar Gesangsfetzen. Dann hörte man lange nichts als den Wind. Ich hatte lediglich Schuhe und Jacke ausgezogen, um in den Schlafsack zu kriechen, und sogar die Mütze aufbehalten. Unsre Wasserflaschen waren von Helicopter mit kochend heißem Wasser befüllt worden, über die meine hatte ich einen Socken gezogen und sie zwischen die Füße gelegt. Selbst meine Reservekleidung hatte ich in den Schlafsack gestopft, ich mußte nur aufpassen, nicht von der schmalen Isomatte abzurutschen. Hamza und John hatten prophezeit, daß keiner von uns ein Auge zutun würde. Als es plötzlich still wurde, wurde es auch gleich ganz still. Nun gingen die Götter umher, hatte Samson angekündigt, und wenn sie an einem der Zelte rüttelten, sei’s bereits vorbei, da gebe’s kein Entkommen. Wir könnten froh sein, wenn wir uns morgen früh vor den Zelten versammeln dürften, um ihre Spuren zu betrachten. Just in jenen Minuten wurde meine Wasserflasche kalt.

Ich hatte die Gesichtsöffnung meines Schlafsacks bis auf ein kleines Loch zugezogen und lauschte, ob ich irgendetwas hören konnte, was ein Rütteln hätte sein können, hörte aber nur meine eigenen Atemzüge. Aus den anderen Zelten, wo sonst mit Freude geschnarcht wurde, kam kein Laut, offensichtlich lag man überall auf der Lauer und spitzte die Ohren. War da was, draußen? Oja, da war was, ganz sicher war da was. Natürlich war ich nicht abergläubisch, woher denn! Doch so ganz auf sich allein gestellt, jeder in seinem Zelt und die Götter gegen alle, rückten sich die Dinge draußen doch anders zurecht als tagsüber unten im Tal. Da konnte schon was sein. Wenn man sich totstellte, ging es vielleicht weiter, hoffentlich.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich riß das Loch so weit auf, daß ich den Kopf hindurchstecken konnte, und schnappte nach Luft wie einer, der am Ersticken ist. Als ich ein rasselndes Stöhnen vernahm, hielt ich erschrocken inne und lauschte nach draußen. Ja, da war was. Oder war’s nur ich selbst gewesen, der so gestöhnt? In ein paar Stunden sollte mir jeder von diesem Stöhnen erzählen, Rieadi hatte es für einen Berglöwen gehalten, in den sich der Gott der Massai gelegentlich zu verwandeln gelüste, er hatte mich verlorengegeben.

So lag ich und rang nach Luft. An der Zeltplane über mir hatte sich Rauhreif gebildet, der bald zu einer dünnen Eisschicht gefror. Im Schlafsack war es jetzt so kalt, daß ich permanent meine Gliedmaßen massierte. Wenn ich auf die Uhr sah, war es jedesmal noch Stunden hin bis Mitternacht, die Zeit stand still. Mit einem Mal hörte ich es im Zelt des Tscharli fluchen, »Heilandsack«, sodann rascheln, »Sakra«, hörte, wie er sich nach draußen zwängte, zu seinem Toilettenzelt tappte, sah den Lichtkegel einer Taschenlampe kurz über mein Zelt wischen. Er brauchte eine ganze Weile, um den Reißverschluß zu öffnen, »Imma ’s gleiche Gfrett«, anscheinend war er eingefroren, »Scheißglump, varreckts«, und dann wurde es wieder still, sehr still. Ja, verreck du nur, du Scheißkerl, dachte ich, dann sind wir alle erlöst.

***

Es war die lautloseste und längste und kälteste Nacht meines Lebens. Als gegen sechs Uhr morgens der Reißverschluß meines Zeltes aufgerissen wurde und Samson den Kopf hereinsteckte, wollte ich gar nicht glauben, daß alles überstanden sein sollte. Samson reichte mir einen Becher heißen Tee, und bevor er den Reißverschluß wieder hinter sich zuzog, sagte er halblaut:

»Now you are mountain king, sir.«

*

Auch die anderen hatte die Nacht arg zerzaust, sie versicherten einander immer wieder, man sei gerade noch mal davongekommen. John hatte sich übergeben müssen, Mudi und Helicopter hatten rasende Kopfschmerzen bekommen, Dede war irgendwann aus dem Zelt rausgerannt und gleich an irgendeinen der Götter geraten. Er hatte geschrien und geweint, bis ihn der Gott wieder aus der Umklammerung freigegeben hatte; ich war der einzige, der nichts davon mitbekommen hatte. Am allermeisten hatte der Tscharli gelitten, der sagte gar nichts.

Schon vor Sonnenaufgang sah man, daß sich die Aschewelt des Kraters übernacht in eine wundervolle Winterlandschaft verwandelt hatte. Im Zwielicht fingen die Felsen der Kraterwände an, rötlich zu schimmern, darüber stand ein blasser Mond. Der Tscharli bedankte sich per Handschlag bei Hamza und John, umarmte erst den einen, dann den anderen. Sie in seiner Nähe zu wissen, habe ihm heut nacht sehr geholfen. Anschließend ging er zum Mannschaftszelt, um sich auch bei den Trägern zu bedanken, erst schüttelte er jedem die Hand, dann umarmte er ihn. Am Ende blieb nur noch ich übrig.

»Samma wieda guat, Hansi«, streckte er mir seine Hand hin, »immerhin hamma jetz wirklich was gemeinsam.« Eine solche Nacht zu überstehen, schweiße »quasi auf ewig« zusammen, »oda ned?«.

Er sah sehr krank und sehr blaß aus, seine Augäpfel schimmerten, als stünde ihm ein Wasser in den Augen. Ich dachte daran, daß ich ihm heute nacht den Tod auf den Hals gewünscht und daß ihm das vielleicht zusätzlich zugesetzt hatte, ein bißchen schäbig und vielleicht sogar schuldig fühlte ich mich schon.

Ob er wenigstens was Ordentliches dagegen habe? fragte ich ihn und ergriff die ausgestreckte Hand.

»Gegen d’ Scheißerei?« Der Tscharli drückte zu, umarmte mich dann ebenfalls, ich hatte das Gefühl, es sei ihm schwindlig, so fest hielt er sich an mir fest. Endlich schob er mich von sich weg, ohne die Hände von meinen Schultern zu nehmen, und blickte mich mit glasigen Augen an:

Freilich hätte er was dagegen. Einen eisernen Willen. Er habe sich den ganzen Berg hinaufgeschissen, nun werde er sich den ganzen Berg wieder hinunterscheißen, »Aus die Maus«.

Es stellte sich heraus, daß er bereits all seine Medikamente genommen hatte – ohne daß sich seine Verdauung im Geringsten beruhigt hatte. Ich fand noch sieben Tabletten Imodium in meiner Reiseapotheke und schenkte sie ihm, am besten nehme er gleich zwei davon.

Um halb sieben ging die Sonne auf, ihre Strahlen fielen auf die Wand, in deren Schneefeld wir gestern abgestiegen waren, die Felsen leuchteten ockerbraun und gelb und rot. Noch immer hatte uns Helicopter nicht zum Frühstück gerufen, anscheinend hatte er Schwierigkeiten, den Kopf wieder klar zu bekommen. Wir standen zwischen den Zelten herum und wärmten uns an unseren Teebechern. Dreihundert Meter über uns ertönte ein erster Gipfeljubel.

»Ready to rumble«, sagte Hamza.

»Jetzt mach ma die Flatter«, sagte der Tscharli.

»Pack ma’s«, sagte John, auf Deutsch.

»Wakala«, sagte ich. Aber man hörte es kaum, so leise sagte ich es.

Das war das erste Mal an diesem Tag, daß wieder gelacht wurde. Wie wir uns anschließend abklatschten und die Fäuste aneinanderschlugen, war ich, den süßen Schmerz in den Knöcheln spürend, dabei. »Alles klar, Herr Kommissar«, rief uns Samson zu, der bereits die Kloschüssel aus der Internet Cave heraustrug, offenbar hatte der Tscharli im Lauf der letzten Tage auch ihm was beigebracht. Trotzdem beschied uns Helicopter jetzt erst mal ins Mannschaftszelt, es gab verbrannten Toast mit Schokokeksen.

*

Als wir zwischen den Lavabrocken unsern Weg am Fuß der Kraterwand nahmen, 7:45 Uhr, fing der Schnee zu schmelzen an. Alle paar Minuten wurde hoch über uns gejubelt. Wir waren noch keine hundert Meter vom Camp entfernt, da hielt der Tscharli inne, drehte sich zu mir um und sagte, nein flüsterte mir fast atemlos ins Ohr: daß er sich so, genau so, das Totenreich vorstelle, ganz kalt und still und leer. Daß die Seelen nach dem Tod nirgendwo sonst als ausgerechnet hierher kämen, um sich dem Weltgericht zu stellen. Daß es ihn jetzt schon davor grause, wie es nach dem Sterben nicht etwa vorbei sei, sondern hier oben weitergehe, bis irgendeiner der Götter irgendeine Entscheidung getroffen hatte und die einen zum Jubeln nach oben dürften und die andern hier unten bleiben müßten, in Eis und Hagel und Hitze und … »Hal-le-lu-ja. Host mi?«

Er bemerkte, wie sehr er mich mit seinem Anfall von Vertraulichkeit überrumpelt hatte, legte mir ganz vorsichtig den Arm um den Nacken und sagte nichts mehr. Nach ein paar Sekunden der Stille, die ich auf diese Weise unfreiwillig, doch seltsam innig mit ihm geteilt hatte, fragte er mich in normaler Lautstärke und einigermaßen eindringlich, ob er ausnahmsweise auf mein »Häusl« dürfe, seins sei ja abgebaut. Noch ehe ich antworten konnte, war er unterwegs, wieder sah er von hinten so hinfällig aus, daß ich fast Mitleid mit ihm bekam. Es mußte ihn arg erwischt haben, auch John blickte ihm besorgt hinterher.

Als der Tscharli zurückkam, war er wieder ganz der Alte, scheuchte uns mit einem »Ois easy« schon von weitem zum Weitergehen. Sowie die Sonne den Kraterboden erreicht hatte, wurde’s spürbar wärmer. Bald war alles weggetaut, und es bot sich dasselbe Bild wie am Vortag, als hätte es nie einen Schneesturm gegeben – ernst und melancholisch. Im Himmel trieben vier verschiedene Sorten Wolken; der Grund des Kraters, wie er sich vor uns Richtung Osten darstellte, vollkommen flach. Ja! dachte ich erneut, ja! Deshalb war ich gekommen. Und wenn ich auch zum Trauern und Träumen gekommen war, so ging ich zumindestens mit erhobenem Kopf; die Bitterkeit der Jahre löste sich mit jedem Meter, den wir vorwärtskamen, in eine sanfte Wehmut auf.

John und Hamza gingen mit kurzem Schritt voran, den hier jeder Bergführer hatte, der Tscharli nannte es »Hennadapperln«, die Schrittlänge entsprach kaum mehr als einer Stiefellänge. John telefonierte, Hamza mischte sich gelegentlich ein, anscheinend gab es was zu organisieren. Ich ging hinterm Tscharli, die kleine Deutschlandfahne auf seinem Rucksack im Blick. Dann das kleine Mammut, das als Aufnäher am Ärmel seiner roten Jacke angebracht war. Das Mammut, das in Kniehöhe auf seiner Hose saß. Das Mammut, das auf seinen Stulpen saß. Offensichtlich war er ein Fan dieser Marke. Später sollte er mir berichten, daß er sich seine Ausrüstung in Tansania und Kenia zusammengefeilscht habe, ausschließlich Fakes; wer sich was Echtes von Mammut kaufe, sei selber schuld.

Erstaunlich, wie oft er über einen der herumliegenden Felsbrocken stolperte. Der stolpert über alles, dachte ich. Geht trotzdem ruhig weiter, wie ein Muli. Stolpert, ohne ins Stolpern zu kommen. Oder ist er jetzt schon müde, hat keine Kraft mehr?

Vielleicht war das der Moment, da ich anfing, Notizen über ihn zu machen. Noch nicht schriftlich. Die kurzen Schritte gaben den Rhythmus meiner Gedanken vor, polepole, lauter kurze Gedanken, die nicht in Zusammenhang zu bringen waren. Mal belächelte ich den Tscharli als Kuriosität, mal ärgerte ich mich über ihn, mal verachtete ich ihn, mal wunderte ich mich einfach nur. Lauter kurze Gedanken.

Viel später sollte mir der Tscharli erklären, daß Stolpern zum Handwerk gehöre. Wer nicht stolpere, gehe falsch, im Gebirge allemal. Sein Skilehrer habe ihm vor vielen Jahrzehnten eingeprägt, wer nicht mindestens einmal am Tag stürze, fahre verkehrt. Nämlich nicht am Limit. Daran habe er sich fortan gehalten. Wohingegen ich … »Bei aller Liebe, Hansi, du bist und bleibst hoit doch a recht’s Hornbrillenwürschtl. Des merkt a jeder, der hinter dir geht.« Mein Schritt sei immer leicht verzögert, um nicht zu sagen: ängstlich. Ehrlich gesagt, hinter mir herzugehen sei ziemlich anstrengend.

Als der Weg vom Kraterrand weg- und ins leere Innere des Kraters hineinführte, verschwanden auch die Lavabrocken. Wir gingen über die braunrotgraue Asche wie über feuchten Sand, der Tscharli konnte nur noch über seine eignen Füße stolpern. Ich war froh, daß sich unsre Wege bald trennen würden, schätzungsweise schon am Stella Point, es gab ja keinen Grund für die beiden Gruppen, weiterhin zusammenzubleiben.

Unversehens blieb der Tscharli wieder stehen, ich wäre fast auf ihn aufgelaufen. Linker Hand ein Stück von unserem Weg entfernt, in der Mitte des Kraters, war ein Fußballfeld zu sehen.

John und Hamza, die ein paar Schritte von uns entfernt angehalten hatten, grinsten. Der Tscharli drehte sich vertraulich zu mir um: »Der Schmarrn is mir zu groß.«

Ich schob mir die Brille in die Stirn, massierte die Augenhöhlen. Aber das Fußballfeld war danach noch da, die Seitenlinien weiß markiert, der Strafraum, der Anstoßkreis. Nur Tore und Eckfahnen fehlten. Die brächten die Engländer immer erst mit, erklärte John, sie hätten das Spielfeld auch angelegt. Jedes Jahr kämen sie wieder, an die dreißig, fünfunddreißig Mann.

»Jetz steh ma da wiera Depp«, faßte der Tscharli zusammen. Wir hatten gerade knapp überlebt, andre trafen sich hier zum Kicken.

*

Noch ein paar letzte Schritte in der Stille. Kaum hatten wir den Aufstieg zum Kraterrand hinter uns und Stella Point erreicht, 8:30 Uhr, verwandelte sich der heilige Ort in einen Rummelplatz. Dort, wo ich gestern lediglich in Hamzas Gesellschaft, vom Barafu Camp kommend, gerastet und dann den Weg zum Uhuru Peak genommen hatte, herrschte um diese Uhrzeit der Trubel derer, die den Gipfel noch stürmen wollten, während ihnen andre schon entgegenkamen und versicherten, daß es nicht mehr weit sei. Ein paar Serpentinen unterhalb von Stella Point wurden einige von ihren Bergführern im Zeitlupentempo nach oben geschoben. Anderen hatte man ein quadratisch zugeschnittenes Schaumstoffkissen so übern Hintern geschnallt, daß sie sich überall fallen lassen konnten, ohne sich an den Felsspitzen weh zu tun. Gerade war eine Gruppe Russen angekommen, die Frauen zogen sich erst mal die Lippen nach, indessen sich die Männer bereits lauthals zum Gruppenfoto vor dem Schild »CONGRATULATIONS YOU ARE NOW AT STELLA POINT5756M« zusammenrotteten.

Ein letzter Blick zurück auf die schaurig-ernste Schönheit des Kraters, dorthin, wo man sich unser Zeltlager nurmehr vorstellen konnte, die Träger hatten ohnehin längst alles abgebaut und verpackt. Man sah sie der Reihe nach auf demselben Weg unterwegs, den wir genommen hatten, freilich mit zwanzig Kilo auf den Schultern und trotzdem weit ausholenden Schritten, alles andere als »Hennadapperln«. In Kürze würden sie uns überholen, wie jeden Tag. Wir stiegen Richtung Barafu Camp bis auf 5200 m ab, denselben Weg, den wir gestern aufgestiegen waren, um dann ausgerechnet dort Rast zu machen, wo ein deutsches Ehepaar am Wegrand saß. Die Frau drehte sich immer wieder ab, um sich zu übergeben; der Mann hatte starkes Kopfweh und versicherte uns, er sei Manager und könne im Grunde alles, bloß an diesem Berg sei er nun zum zweiten Mal gescheitert. Einige andere, die in ähnlich teurer Montur wie er steckten, wurden an ihm vorbei und bergab geführt, anscheinend war hier die Stelle des Scheiterns.

Oh, ich kannte diese Stelle gut, obwohl ich den Kibo gestern das erste Mal bestiegen hatte. Anscheinend hatte jeder Berg eine solche Stelle – oder sogar deren mehrere, verteilt nach physischer und mentaler Stärke derer, die sich in den Kopf gesetzt hatten, ihn zu besteigen. Alles andere am Berg war nur Vorspiel, an dieser einen Stelle kam es darauf an. Da galt es, die Zähne zusammenzubeißen und im Tritt zu bleiben. Oft und oft hatte ich es getan, als hätte ich damit wettmachen können, daß ich’s ein einziges Mal nicht getan – an einem anderen Berg zu anderer Zeit, gewiß! Doch auch diese längst verblaßte Erinnerung war mir während der letzten Tage wieder so klar und scharfgestochen vors innere Auge gerückt, als wäre sie erst ganz frisch und unverheilt. Oh, ich kannte diese Stelle gut.

Etwas weiter unten warteten Träger in violetten Leibchen, die sie über ihre Jacken gestreift hatten, um all jenen einen Becher Orangensaft anzubieten, die es aus ihrer Gruppe bis zum Gipfel geschafft hatten und auf dem Rückweg waren. Hinter ihnen sah man die wild gezackte Silhouette des Mawenzi, sie ragte als schwarzer Schattenriß über die Wolkendecke, die sich zum Teil schon um ihn herumgeschoben hatte und langsam auf den Kibo zutrieb. Eine unendliche Wolkendecke und ohne die kleinste Lücke, strahlend weiß bis zum Horizont. Darüber ein zartblauer Himmel, von feinen Wolkenbändern durchwebt. Der gefalle ihm nicht, meinte Hamza und setzte sich auf den Felsen neben mir. Ich dachte an Mara und wie ich auf einem ihrer Kinderfotos das Poster mit dem Kilimandscharo entdeckt hatte.

Ja, da habe sie immer hingewollt, hatte sie nur mit den Achseln gezuckt: weniger des Berges als der Wolkendecke wegen, die ihn umgebe. Sie habe sich vorgestellt, daß man von diesem Berg aus auf den Wolken bis zum Horizont gehen könne und darüber hinaus, bis ans Ende der Welt und in den Himmel. Aber den Umzug nach Hamburg habe das Poster dann doch nicht überlebt.

Moment mal, hatte ich eine entsetzlich gute Idee gehabt: Da könnten wir doch mal zusammen hinfahren und nachsehen?

Ob wir gemeinsam über Wolken gehen können? hatte Mara gelacht, und damit war die Sache beschlossen gewesen. Wie oft hatte ich meine Idee später verflucht und vor allem, daß ich sie überlebt hatte. Just als ich die Erinnerung an Mara von den heraufziehenden Wolken ein für allemal davontragen lassen wollte – es wurde ja wirklich Zeit –, entschloß sich der Tscharli, aufsteigende Wanderer anzufeuern. Weil sich die nicht aufhalten ließen und schweigend an ihm vorbeizogen, konzentrierte er sich schnell auf die dazugehörigen Bergführer:

»Servus, du … Afri-ka-ner, du! Wumbu-zumbu, der Berg ruft, karibu!«

Gerade jetzt! Der Typ jedoch, den der Tscharli mit seinem üblichen Kauderwelsch provoziert und ganz eigentlich parodiert und im Grunde beleidigt hatte – der Typ grinste. Und ich, den der Tscharli ebenfalls hatte provozieren wollen, suchte hingebungsvoll nach dem letzten Energieriegel in den Tiefen meines Rucksacks. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der fremde Bergführer auf den Tscharli zuging, um ihn abzuklatschen, ein Riese in ausgetretnen Wildlederslippern und kunstvoll zerrissenen Jeans, mit Rastazöpfen, die ihm bis weit über die Schultern hinabfielen.

»No woman«, sagte der Tscharli, nachdem sie Ghettofaust und High Five ausgetauscht hatten.

»No cry«, sagte der Riese. Und nach einer Pause, wahrscheinlich blickten sie einander ganz tief in die Augen: »We are cappuccino.«

»You milk«, pflichtete der Tscharli bei, »me coffee.«

Erst jetzt brachen sie beide in Gelächter aus. Später erklärte mir der Tscharli, er meine alles immer genau so, wie er es sage, ohne jeden Hintersinn. Wenn er Witze über jemanden mache, nehme er ihn besonders ernst. »Dablecken« wolle er niemanden, am allerwenigstens Afri-ka-ner, im Gegenteil, das seien seine Sekundenfreundschaften, andre habe er nicht.

Das Wort »Sekundenfreundschaften« hörte ich von ihm noch öfter, und irgendwann notierte ich’s mir. In diesen Momenten am Berg wäre ich am liebsten sofort wieder losgelaufen, einfach bergab, weg von ihm und allen anderen. Doch jetzt kamen erst mal unsre Träger. Vorneweg Mudi, den iPod an der Gürtelschlaufe. Es lief einer der Hits, die ich Tag um Tag schon beim Aufstieg gehört hatte, Bongo Flava, tansanischer Hip-Hop, und noch immer sang Mudi leise mit.

»Polepole, babu!« rief ihm der Tscharli zu, und auch Mudi hatte nichts Besseres zu tun, als sofort zu grinsen, schließlich war er mit seinen knapp dreißig alles andre als ein babu, ein alter Mann. Ich grüßte die Träger mit einem beherzten »Jambo«, doch es klang zaghaft, sie erwiderten den Gruß nur aus Höflichkeit. Wohingegen sie den Tscharli ganz offen verehrten und liebten, der Reihe nach konterten sie seine Frechheiten mit fröhlichen Kommentaren. Einzig Samson blieb diesmal ernst, wuchtete den Sack mit dem Toilettenzelt von den Schultern und sprach leise auf John ein, der sofort noch stiller wurde und noch ernster umherguckte, als wüßte er nicht recht, was antworten oder gar tun. Jetzt stellten die anderen Träger ebenfalls ihre Säcke ab. Weniger um Pause zu machen, als um abzuwarten.

»I don’t like him!« rief der Tscharli den Trägern zu und deutete auf Samson, der sogleich konterte, er möge ihn auch nicht, ganz und gar nicht, und kam, um ihn ausführlich zu umarmen, man hätte glauben können, sie hätten sich wochenlang nicht gesehen. Ich aß ganz langsam meinen Energieriegel, schraubte die Wasserflasche auf, nahm einen kleinen Schluck. Dann zog ich mir das Tuch von der Stirn und wickelte es sehr sorgfältig neu darum herum. Irgendetwas stimmte hier nicht. Auch wenn sie schon wieder alle lachten.

»Wer zuletzt lacht, hat die längste Leitung«, rief mir der Tscharli zu. Samson schulterte das Toilettenzelt und, indem er auf den Tscharli deutete, rief mir seinerseits zu: »My brooo-ther from another mooo-ther.«

Ich stand auf und rief, so laut ich konnte – gar nichts.

*

Zügig ging es bergab, die Träger weit voraus und wir schweigend hinterher. Offenbar hatten Hamza und John beschlossen, den Abstieg gemeinsam zu machen. Somit würde ich den Tscharli noch bis morgen mittag oder nachmittag zu ertragen haben, je nachdem, wie schnell wir vom Berg runterkamen. Ich beschloß, ihn so weit wie möglich zu ignorieren, so weit wie möglich zu überhören, an ihm vorbei- und durch ihn hindurchzusehen, das mochte er am allerwenigsten. In Deutschland hätte ich ja auch kein Wort mit ihm und seinesgleichen geredet, warum sollte ich es hier tun? Selbst wenn zwischen all dem Idiotischen und Degoutanten, das er von sich gab, ab und zu ein seltsamer Tiefsinn aufblitzte. Selbst wenn hinter seiner forciert fröhlichen Fassade immer mal wieder ein besonders trauriger Tropf zum Vorschein kam.