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"Alle Geschichten kommen aus Samarkand." Die Welt ist aus den Fugen geraten, und wo einst die Seidenstraße entlang führte, ist 2026 das Epizentrum der Erschütterung. Alexander Kaufner, Gebirgsjäger und Grenzgänger, reist in das sagenumwobene Samarkand und begibt sich auf die Suche nach einer geheimnisvollen Kultstätte. Doch können Sieg oder Niederlage, Krieg oder Frieden tatsächlich von einem Haufen heiliger Knochen abhängen? Zusammen mit seinem Bergführer Odina, der ihm durch einen Schwur verpflichtet ist, und beschützt durch das wunderliche Mädchen Shochi, das die Zukunft träumen kann, durchstreift Kaufner die gewaltige Bergwelt Zentralasiens. Und gerät dabei zusehends in einen Wettlauf auf Leben und Tod, nicht zuletzt mit sich selbst. Dieses bildmächtige Epos ist Abenteuerroman, Liebesroman und Untergangsroman zugleich, es erzählt von der Konfrontation mit der Fremde, in der die großen existenziellen Fragen neu gestellt werden.
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Seitenzahl: 544
Matthias Politycki
Samarkand Samarkand
Roman
Hoffmann und Campe Verlag
Ist auch der Pfad unendlich,
brich auf und tritt ihn an!
Bloß in die Ferne blicken
schickt sich nicht für den Mann.
Wag dran dein Herz, dein Leben,
bewältige den Pfad!
Wie tierhaft ist ein Leben
nur in des Körpers Bann!
Dschalaluddin Rumi
Als die Dämmerung einsetzte und die Deutschen zu rennen anfingen, auf daß sie noch rechtzeitig nach Hause kamen, rief der Muezzin vom Turm der St.-Johannis-Kirche zum Gebet. Wie immer antworteten die Russen von der anderen Alsterseite mit Maschinengewehrsalven, kurz darauf mit russischem Hardrock. Sie hatten die Minarette der Blauen Moschee, in der sie ihr Hauptquartier eingerichtet, mit solch gewaltigen Boxen bestückt, daß die Musik über der zugefrorenen Alster stand, ohne zu verzerren. Vom Gesang des Muezzins war nichts mehr zu hören, stattdessen das Gedröhn der Geschütze, die nun von türkischer Seite abgefeuert wurden. Auch wenn keine einzige Rakete in den Himmel steigen würde, sobald um Mitternacht das ’27er-Jahr anbrach, gehörig knallen würde es, das stand fest. Dazu hatte es in den letzten Tagen zu viele Provokationen gegeben, die Selbstmordanschläge rund um Weihnachten im russisch kontrollierten Ostteil, die Rachefeldzüge der Todesschwadronen durch den Westteil. Ohnehin wurde nach Einbruch der Dunkelheit auf jeden geschossen, den Milizen, Jugendbanden oder Scharfschützen entdecken konnten. An den Demarkationslinien der geteilten Stadt rüstete man selbst heute zum Häuserkampf, Straßen und Plätze leergefegt. Nur auf der Krugkoppelbrücke, wo nachts immer der Deutschenstrich war, herrschte bis zum Morgengrauen Waffenstillstand, Freischärler wie reguläre Soldaten kamen von beiden Seiten. Kaufner war öfters dort gewesen, solange er noch eine Hoffnung gehabt und gesucht hatte, sogar bis zum Anbruch der Ausgangssperre gesucht hatte, obwohl er sich damit beim Heimweg in Lebensgefahr gebracht. Überall Straßensperren, Kontrollpunkte, glücklicherweise kannte er fast alle, die auf Dächern, in Hauseingängen, hinter Barrikaden oder Müllcontainern ihr Terrain bewachten. Der Krieg war zum Alltag geworden, man hätte sich damit arrangieren können, wenn man es gekonnt hätte. So ging es nun schon seit eineinhalb Jahren; wenn nicht bald einmal jemand aufstand und ein Ende machte, würde es immer so weitergehen.
Überm Gegenhang kreisten die Adler. Doch das wäre noch kein Hinweis gewesen, in diesen Gebirgen kreisten sie immer. Selbst daß der Esel zunehmend scheute, endgültig bockte, als er die Hängebrücke erreichte, erlebte Kaufner nicht das erste Mal. Die Brücken hatten ihm selber schon manches abgefordert; diese hier – am Ende der Schlucht, wo der Weg eine Spitzkehre machte – bestand bloß aus zwei straffen Stahlseilen, übers talwärts schießende Wasser gespannt, und einigen Brettern, die in loser Folge quer darüberlagen.
Niemals zuvor hatte Kaufner solch wütende Wasser gesehen wie in diesen gottverlaßnen Tadschikengebirgen. Auch heute hatte er sie brüllen hören, lange bevor die Schlucht erreicht war, ein gleichmäßig dunkles Donnern. Spätestens mit Eintritt in die Schlucht wäre es ihm früher bang geworden, bang vor dem schieren Element, wie’s voll Haß hinabstürzte, weil die Berge in diesem Land viel zu steil aneinandergefügt und die Schluchten viel zu eng waren, die Felsbrocken viel zu groß, die sich an ihrem Grund verkeilt. Kaufner, mit seinen achtundfünfzig Jahren ohnehin einer, den so schnell nichts mehr schrecken konnte, hatte sich daran gewöhnt, er kannte die Sturzbäche seit Monaten, die Brücken, die sofort zu schwingen begannen, wenn man sie betrat.
Der Esel bockte nahezu bei jeder dieser Brücken, bei Bächen und Flüssen nicht minder, wenn er hineinsollte, um einen Übergang zu suchen. Eiskalt waren die Wasser und brutal, man brauchte kein Esel zu sein, um davor Respekt zu haben. Odina schlug ihn mit dem Stock, dann mit der flachen Hand, beschwor ihn, »Paa-tschup!«, beschimpfte ihn, »Jech!«, umfaßte ihn plötzlich mit festem Griff von hinten, drückte sich an ihn, preßte ihn mit den Hüften ein paar Zentimeter voran, ließ ab, wischte sich die Stirn. Verrutschte das Gepäck, »Tschee!«, zog die Gurte fester, »Schusch!«, immer auf den Esel einredend.
Kaufner, der zu dem Jungen aufgeschlossen hatte, nützte die Gelegenheit, den Rucksack abzuwerfen. Verfluchter Weg! Der kaum mehr war als eine Abfolge an Wegmarken im Fels, ein Schäferpfad, von vertrockneten Schafsköteln markiert und vertrockneten Gräsern und Disteln. Seit Stunden waren sie die Schlucht bergauf geklettert, auf Tadschikisch hieß sie angeblich Das Tal, in dem nichts ist, nicht mal zu Mittag hatten sie ordentlich gerastet, weil … es anders nicht ging, hier oben konnte jeden Tag der Winter einbrechen, sie hatten keine Zeit zu verlieren. Wenn nur der Berg nicht so steil gewesen wäre, an dem sie sich hinaufarbeiten mußten, immer mit einem Bein überm Abgrund, tief unten das graue Band des Baches. Bloß nicht jetzt noch in die Tiefe sehen. Schau auf die Staubfahne, wie sie übern Gegenhang zieht. Schau auf den Kobrafelsen, den ihr gerade passiert habt. Der Junge hat recht, er ähnelt tatsächlich einem Kobrakopf. Und jetzt schaff dir den Staub aus dem Schlund.
Als Kaufner sich anschickte, seinen Hals freizuräuspern, sah er Odina und den Esel, zu völliger Reglosigkeit erstarrt, dem Hineinlauschen in die Bergwelt ergeben. Kaufner vergaß das Kratzen im Hals. Doch zu vernehmen war nur die anhaltende Wut des Wassers, wie es sich die Klamm hinabstürzte. Kaufner kniff die Augen zusammen, plötzlich wurde ihm alles wichtig in dieser eintönig öden Felslandschaft, und sah auf die gegenüberliegende Wand, in der, vereinzelt von verdorrten Stauden markiert, der Pfad weiterlief, bald an Höhe gewinnend. Das Tal, in dem nichts ist …
Bis Odina plötzlich ein kaum vernehmbares »Der Kirgise!« aufzischen ließ, mit der halb erhobenen Hand jedweden Mucks Kaufners untersagend, sich nach endlosen Sekunden mit einem kaum gehauchten »Allah …« aus der Anspannung lösend. Im nächsten Moment hatte er das Halfter des Esels gepackt, zerrte ihn weg von der Brücke. Schob drückte zog ihn den Pfad zurück und dann steil hangaufwärts, hinter den Kobrafelsen, wo er ihn sogleich zu Boden warf, »Nechtarat chot-chot«. Kaufner, der kaum hinterhergekommen und in der Eile des abduckenden Zusammenrückens dann noch fast unters Gepäck geraten, konnte ihm mit Mühe »Der Kirgise?« zuflüstern: »Meinst du den Januzak, von dem du öfter –?«
Odina, nun blitzte selbst ihm einmal die Angst aus den Augen. Er bedeutete Kaufner, nein, befahl ihm mit einem Blick zu schweigen. Kaufner hatte Zeit, die Graffiti zu betrachten, die in arabischer, kyrillischer, lateinischer Schrift in die umliegenden Felsen eingemeißelt waren. Bis es auch er endlich hören konnte, da pfiff sich einer ein Liedchen, während er irgendwo auf der anderen Seite der Schlucht den Weg bergab kam.
Aber der war doch noch weit weg? Warum beflüsterte Odina denn jetzt schon den Esel, »Chche!«, drückte ihn erneut zu Boden? Kaufner hockte, lauschte, starrte. Verfluchte Schlucht! So schmal, daß für ein vernünftiges Versteck einfach kein Platz war. Mochte man auch nur mehr fünfzig Kilometer von Samarkand entfernt sein, so würde doch das, was gleich passieren mußte, nicht in tausend Jahren dort unten bekannt werden.
Verfluchter Berg! Bereits Tage zuvor war von den Ausschreitungen zu hören gewesen. Wäre das Serafschantal nicht über Nacht von den Tadschiken abgeriegelt worden, Odina und er hätten sich den Weg über die grüne Grenze sparen können. Angeblich hatten die Usbeken angefangen, in Wirklichkeit waren wahrscheinlich ein paar betrunkene Tadschiken auf ihren Pick-ups ins nächstgelegene Usbekendorf gefahren und hatten auf jeden gefeuert, dessen Augen ihnen nicht rund genug aussahen. Verdammter Arierwahn! Ausgerechnet hier, in diesem vergeßnen Weltwinkel, wurde’s nach ein paar Wodkas stets stramm völkisch, und als Deutscher war man zwangsläufig mit von der Partie, von jedem dahergelaufenen Bauern gleich als Bruder vereinnahmt – wenn Kaufner das geahnt hätte, als er den Auftrag angenommen! Junge arbeitslose Tadschiken, denen der Reichtum, der angebliche Reichtum usbekischer Händler seit je ein Dorn im Auge war, und ihretwegen mußte er jetzt … Aber egal, die Einzelheiten würde man drüben erfahren.
Immerhin hatte der Junge einen Ausweg gewußt, quer übers Turkestangebirge und durch eines der wenigen Schlupflöcher zwischen beiden Staaten – »Hundert Prozent sicher, Herr, die Schmuggler benützen ihn auch« –, deren Grenzverlauf ansonsten mit Bodenminen gesichert war. Immerhin hatten sie das Mausoleum, von dem er seit Tagen gesprochen, gestern abend erreicht; bevor sie heute aufgebrochen waren, hatte Kaufner noch einen Blick in die Krypta geworfen, während Odina draußen sein Taschentuch zerrissen und eine der Hälften in die Zweige des Wunschbaums geknüpft hatte, wo bereits allerhand bunte Fetzen im Wind –
Daß er sich nur so vergessen hatte können! Kaufner fuhr auf, lugte hinterm Felsen hervor. Und hätte sich beinah verschluckt vor Schreck. So nah schon? Wie kommt der denn so schnell den Berg runter? Gut, daß der Abgrund noch zwischen uns ist. Schad, daß er sich so vermummt hat. Bis auf den Sehschlitz in helle Tücher eingewickelt, genau so, wie er immer beschrieben wird. Und hüpft über die Felsen! Als wär’ er bei sich zu Hause.
Alle im Gebirge hatten diesen wiegenden Gang, alle, die hier aufgewachsen oder im Lauf der Jahre gelernt hatten, die Kraft der Berge Schritt für Schritt zu ihrer eigenen zu machen. Bereits am Gang konnte man erkennen, ob man sich auf eine gefährliche Begegnung einzurichten hatte oder ob ein Anfänger unterwegs war, der viel Staub aufwirbelte und mit sich selbst und seinem Durst beschäftigt war. Der Kirgise gehörte zu denen, die über den Fels gingen, als wär’s ein flauschiger Teppich, schon allein dadurch bestätigte er die Gerüchte, die über ihn kursierten.
Kaufner hatte einiges über die gehört, die durchs Gebirge streiften wie er, auch vom Gesetz der Berge, das keine Indizienbeweise kennt. Der Kirgise, angeblich war er Albino und mußte sich vor der Sonne verhüllen, angeblich war sein Gesicht entstellt und er mußte sich deshalb verhüllen, angeblich führte er noch nicht mal einen Kampfnamen, angeblich war er keiner von denen, die aus Überzeugung hierherkamen, sondern Söldner der Russen, der Chinesen, des Kalifen, angeblich war er unverwundbar, verrückt, schnitt Zeichen ins Gesicht seiner Opfer, trank ihr Blut, solange es noch warm war, angeblich direkt aus der geöffneten Ader, Januzak, der Kirgise.
Schon hatte er, immerfort pfeifend, die Hängebrücke passiert, jetzt war er wirklich nur noch wenige Meter vom Kobrafelsen entfernt. Odina drückte dem Esel mit beiden Händen die Nüstern zu. Kaufner hörte ganz von selber auf zu atmen.
Dann war der Kirgise vorbei. Auch von hinten eine überraschend schmale, ja, schmächtige Person. Beinah zierlich, man hätte ihn für eine Frau halten können. Odina lockerte seinen Griff, Kaufner atmete etwas übertrieben tief ein. Spürte prompt wieder den Staub in der Luftröhre, der Reiz wurde stärker, je heftiger er ihn unterdrückte, wurde unerträglich. Er mühte sich, wenigstens so viel wie möglich nach innen zu husten, eine Art Implosion. Aber laut genug, daß der Kirgise, er war ja gerade erst zehn oder zwanzig Schritt entfernt, auf der Stelle umkehrte und vor ihnen aufwuchs.
Odina rappelte sich empor, preßte die Handflächen aneinander, neigte den Kopf, fast berührte er mit seinem Kinn die Fingerspitzen. Dabei hatte der Kirgise nicht mal eine Waffe in der Hand.
Allerdings eine unangenehm hohe Stimme, als er das Schweigen schließlich mit ein paar scharfen Silben zerschnitt. Odina setzte, allein vom Ton seiner Ausführungen zu urteilen, setzte zu einer Rechtfertigung an, die sich wortreich um Wohlklang mühte; doch weshalb mußte er sich überhaupt entschuldigen? Eine Weile ging es zwischen den beiden hin und her, vielleicht auf Kirgisisch, dann trat Januzak auf Kaufner zu, der sich die ganze Zeit über im Abseits gehalten hatte. Trat unangenehm nah heran und fixierte ihn von unten. Von seinem Gesicht sah man kaum mehr als die zwei schwarzen Augäpfel, beständig ruckend, mit der Zeit verfestigten sie sich zu einem leblosen Blick aus schmal geschlitzten Augen, so vollkommen leer wie der eines Menschen, der allzuviel gesehen hatte, um an einem Kaufner noch Bedeutendes entdecken zu können. Kaufner schlug den Blick zu Boden.
Der Kirgise, so schmal er auch war, stand breitbeinig bebend. Nachdem er den Fremden, der ihn um Haupteslänge überragte und aussah wie einer, der für den Westen hier herumstreunte, nachdem er ihn lang genug fixiert hatte, fauchte er etwas in seiner Sprache, man verstand ihn nicht und verstand ihn allzu gut. Dann holte er sich geräuschvoll den Schleim aus dem Hals, aus der Nase, kaute ihn zurecht, zog sich den Mundschutz ruckartig nach unten – ein dünner weißer Spitzbart, zum Zopf geflochten, wurde kurz sichtbar – und spuckte in die rechte Hand. Präsentierte den Schleim, ein glasiges Glitzern, im offnen Handteller wie ein kostbar Gut, schnaubte Kaufner einige weitere Worte zu, in klarem Befehlston nun, und als der nicht begriff, fuhr er ihm mit der Linken in den Haarschopf und riß ihn mit erschreckender Kraft nach unten, in seine Hand hinein, wo es für Kaufner dunkel wurde, naß und ekelhaft.
Jedenfalls im Rückblick. Momentan war er dermaßen verdattert, daß er sich willenlos auch wieder emporziehen ließ. Der Kirgise, sein Opfer weiterhin an den Haaren stramm fixierend, besah sich die Rechte, entdeckte darin beträchtliche Reste des Schleimbatzens, äußerte seine Empörung durch ein Bellen, das Kaufner mühelos verstand, schon führte er dessen Kopf erneut nach unten, ganz langsam diesmal, damit Kaufner Gelegenheit zum Nachdenken bekam. Und erst nach einer Sekunde Pause, die er ihm in unmittelbarer Nähe der Handfläche gönnte, ließ er ihn wieder in der Rechten verschwinden, drehte seinen Kopf ein paarmal nach links und nach rechts, ließ ihm Zeit.
Kaufner durfte froh sein, daß ihn der Kirgise nicht solcherart ersticken wollte; als er ihn diesmal aus seiner Spucke entlassen und nach oben gezogen hatte, preßte Kaufner zwar Augen und Lippen zusammen, hatte den Schleim aber artig geschluckt. Januzak grunzte auf, ließ sofort los.
In tiefer Schande stand Kaufner, Augen und Mund weiterhin geschlossen. Stand in sprachloses Entsetzen gekleidet da, ansonsten völlig nackt, so fühlte es sich an. Hörte, wie der Kirgise einige abschließende Ermahnungen an Odina richtete und sich davonmachte; erst als ihn der Junge sanft rüttelte, schlug er die Augen auf. Sah Januzak hinterher, der pfeifend seiner Wege ging, als wär’ nichts gewesen, gar nichts. Mit jedem Schritt seines Peinigers verwandelte sich die Demütigung in tiefen – noch tieferen – tiefsten Haß. Den Rest des Tages würde Kaufner damit beschäftigt sein, sich den Mund zu spülen, die Lippen zu wischen. Obwohl er natürlich wußte, daß er sich von seinem Makel so nicht würde reinwaschen können.
Kaufner, hartgesotten als Paßgänger der Gebirgsjäger, nicht zimperlich dann auch als Botengänger der Freien Festen: hier und heute, vier-, fünftausend Kilometer und eineinhalb Jahre von seinen Auftraggebern entfernt, hatte er zum ersten Mal derb einstecken müssen. Hatte es ihm sein Führungsoffizier nicht vorausgesagt? Kaufner, da unten werden Sie begreifen, warum wir trotzdem untergehen. Wenn Sie Ihre Grenzen nicht überschreiten, sind Sie der Falsche für uns, dann kommen Sie nie wieder runter von diesen Bergen. Oh, Kaufner war der Richtige, sie würden noch Augen machen. Erst recht, wenn er dann nebenbei auch – Kaufners Entschluß stand fest, ehe er ihn klaren Kopfes denken konnte –, erst recht, wenn er den Kirgisen so lange durch die Berge gejagt haben würde, bis er Rache an ihm genommen und sich von seinem Makel reingewaschen hatte.
Im Moment, da er sich nun endlich regte und kräftig ausspuckte, stand er freilich nach wie vor am Kobrafelsen, Odina schüttelte ihn:
»Du warst bereits tot, Herr, hundert Prozent tot! Er hat dich nur aus Gnade noch mal ins Leben entkommen lassen.«
»Tot?« würgte Kaufner, wollte sich übergeben, spuckte aber bloß ein weiteres Mal aus.
»Er hat dich verschont, du warst ihm den Griff nicht wert, mit dem er dich hätte erdrosseln können. Du trägst das Mal noch nicht.«
»Welches Mal?«
»Das Mal derer …« Odina tat so, als suchte er nach passenden Vokabeln, offensichtlich wollte er darüber nichts Genaueres sagen: »Januzak weiß, daß du dasselbe suchst wie er. Aber er hat dir auch angesehen, daß du nichts –, daß du ein Anfänger bist.«
»Er sucht dasselbe?« schluckte Kaufner den Rest an Ekel herunter: »Woher weißt du überhaupt, was wir, ich meine, was ich, was er –«
»Jeder weiß es, Herr. Ihr sucht alle dasselbe.«
Und wieder die Hängebrücke, diesmal scheute der Esel nicht. Kaufner hingegen, seit einigen Jahren nicht mehr ganz schwindelfrei, nun auch noch zwischen Zorn, Abscheu, Argwohn hin und her gerissen, auf seine Weise schon, anstelle der Bretter sah er nur Zwischenräume. Schließlich wollte er’s auf allen vieren versuchen, doch da kam der Junge zurück und reichte ihm die Hand, zog ihn hinüber, die Welt schwankte beträchtlich.
Bis zum Einbruch der Dämmerung ging Odina mit dem Esel vor ihm her, wie immer weit schneller, als es für Kaufner zuträglich, dessen aktive Teilnahme an Kletter-, Durchschlage- und sonstigen Geländeübungen Jahrzehnte hinter ihm lag. Er begann, seinen Haß Schritt für Schritt auf Odina zu richten, ja, bald schien’s ihm, daß der Junge an allem, was vorgefallen, die Schuld trug. Hatte er ihn nicht permanent in die Irre geführt, wo’s anscheinend erst hier, im Turkestanrücken, richtig zur Sache ging? Oder warum sonst wäre der Kirgise überhaupt aufgetaucht, einer der berühmtesten, der berüchtigtsten unter den Paßgängern, so einer wußte doch am ehesten, wo zu finden war, was … angeblich alle suchten. Aber nein, Odina hatte ihn ins Serafschan-, ins Hissor-, ins Fangebirge geführt, über fünftausend Meter hohe Pässe und gletscherbedeckte Gipfel, am liebsten wäre er wahrscheinlich mit Kaufner bis in den Pamir gewandert, ins Wakhantal womöglich, woher er stammte, und von dort gleich in den Hindukusch und nach Afghanistan hinüber, so weit wie möglich weg von Samarkand, ins Sichere. Odina! Einen ganzen Sommer lang, so schien es plötzlich, hatte er ihn an der Nase herumgeführt.
Und auf all seinen scheinheilig gewählten Um- und Ab- und Irrwegen war er in diesem Gang vor Kaufner hergeschlendert und -geschlappt, dem wiegenden Gang, solang es flach blieb, immer eine Spur zu langsam, als wolle er damit provozieren, und dann in plötzlichem Tempo, sobald es bergan ging, als wolle er nun erst recht provozieren. Wie Kaufner sie schon immer gehaßt hatte, die Schlappen, in denen der Junge leicht über die Geröllfelder glitt, wo er selber trotz seiner Wanderschuhe viel zu oft den Tritt verlor, abrutschte, sich um ein Haar den Knöchel verstauchte. Wie er sie heute noch haßte, Odinas nackte Hacken in diesen Schlappen! Und wie er’s auch haßte, wenn Odina beim Gehen eines seiner Lieder sang, er, der in den Bauernhäusern der Täler wie den Schäferhütten der Hochebenen ein gefeierter Sänger war, mit seinen achtzehn oder neunzehn Jahren bereits eine Berühmtheit, wenigstens im tadschikischen Teil des Gebirges. Nein, Kaufner hatte Odinas Gesang, jetzt gestand er’s sich mit Inbrunst ein, hatte ihn nie gemocht, die monoton hin und her schwingenden, sich endlos wiederholenden Melodien. Und erst recht nicht, wenn sie plötzlich abrissen und Odina umdrehte, um seinem Herrn – wie er ihn trotz aller Ermahnungen nannte – an einer schwierigen Stelle im Fels die Hand entgegenzustrecken: Alles in Ordnung, Herr? Eines Tages würde er ihn abknallen, während er da so scheinheilig vor ihm herging, ohne Vorankündigung würde er ihn einfach übern Haufen schießen, nicht mal einen Grund würde er ihm zuvor nennen, er hatte’s nicht anders verdient.
Was hast du da gerade gedacht? Meinst du nicht vielmehr den Kirgisen? Ohne den Jungen wärst du in diesen Bergen schon ein paarmal gestorben. Er hat alle Freundschaft verdient, die du geben kannst, reiß dich zusammen.
Dennoch beobachtete ihn Kaufner voll Mißmut und Mißtrauen, wie er, weit voraus, an einem verkohlten Baum innehielt, sich verneigte, wieder aufrichtete, wie er seine Unterarme anwinkelte und die Handteller zum Himmel hin öffnete, in dieser Stellung verharrte. Der Pfad hatte sich nach einer Weile fast rechtwinklig von der Schlucht abgewandt, in beträchtlicher Höhe bereits, und dann am unteren Rand eines Geröllfelds entlanggeführt. Nun stand da, allein auf weiter Flur, ein vom Blitz gespaltener Baum. In seinen schwarz schillernden Ästen hingen ein paar Stoffetzen; die wenigen, die diesen Weg gingen, ließen ihre Sorgen und Wünsche anscheinend auch hier, am magischen Ort, zurück. Kaufner schloß zu Odina auf, sah ihn wie einen Verräter scheel an, schwieg. Odina strich sich mit beiden Händen langsam der Länge nach übers Gesicht, damit war das Gebet beendet, und blickte übers Geröllfeld, das in trostloser Endlosigkeit rechter Hand hangaufwärts führte. Als ob es dort etwas zu entdecken gegeben hätte. Selbst der Esel stand ratlos. Nachdem der Junge die verbliebene Hälfte seines Taschentuchs an einen Zweig geknotet hatte, kein Wort mit seinem Herrn wechselnd, er schien die Feindseligkeit zu bemerken, die mit einem Mal zwischen ihnen lag, nachdem der Junge den Esel mit einem kurzen »A-chrrr« angeherrscht hatte, ging es weiter.
Und sogleich, im gewohnten Abstand hinterherfolgend, überließ sich Kaufner wieder seinen wüst hin und her schießenden Spekulationen, zunächst über Januzak und wie er ihn zur Strecke bringen würde. Dann über Odina, als ob er durch den heutigen Zwischenfall in völlig anderes Licht geraten, als ob alles, was Kaufner je mit ihm erlebt, neu zu überdenken wäre.
»Führ mich zu den Gräbern«, hatte er ihm gesagt, da sie sich am vereinbarten Tag getroffen, mehr nicht.
»Zu allen, Herr?«
Welch eine merkwürdige Replik. Warum hatte Odina denn nicht gefragt, zu welchen? Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war Kaufner dermaßen direkt geworden, nun ja, es war ihm herausgerutscht, in Zukunft würde er vorsichtiger sein. An der ausweichenden Nachfrage des Jungen hatte er sofort gespürt, daß er ein stillschweigendes Tabu gebrochen. Immerhin hatte er, auch das fiel ihm nun wieder ein, immerhin hatte er einen Teil seines forsch erteilten Auftrags schnell zurückgenommen:
»Zu allen, die du für wichtig hältst«, das war doch sicher in Odinas Sinn gewesen, »wo immer sie liegen mögen«.
Der Junge hatte gelächelt, genickt. Erst jetzt, Monate später, begriff Kaufner die Szene, begriff sie in ihrer ganzen Abgründigkeit. Ohne weitere Worte zu wechseln, waren sie losgezogen, an Gräbern hatte es im Gebirge nicht gemangelt. In keinem der Gebirge, die sie durchstreift. Natürlich hatte Kaufner nie mit dem Jungen darüber gesprochen, welches Grab er suchte und warum. Hatte mit niemandem darüber gesprochen. Trotzdem mußte der Junge geahnt haben, ach was, er hatte ganz genau gewußt, um welches Grab es Kaufner ging. Und gerade deshalb alles darangesetzt, nicht hierher, in den Turkestanrücken, zu geraten, wo es höchstwahrscheinlich lag. Vielleicht war auch ihm der Weg dorthin verboten, wer weiß, sonst hätte Januzak sicher anders reagiert. Dies Grab war ja wohl das bestgehütete Versteck in der gesamten islamischen Welt, wenn man den Informationen von Kaufners Führungsoffizier Glauben schenken durfte. Die letzten Hoffnungen des Westens hingen daran, es zu finden. Wahrscheinlich war der Kirgise gar kein Paßgänger, sondern, im Gegenteil, gehörte zu denjenigen, die das Grab bewachten?
Ruhig, Kaufner, ruhig. Und eins nach dem andern.
Odina mochte vielleicht ahnen, was Kaufner suchte. Aber warum er es tat und was er zu tun gedachte, sobald er es gefunden, das konnte der Junge nicht wissen. Oder doch? Was wußte so einer überhaupt? Ein dahergelaufener Tadschikenjunge aus dem Pamir, der jede Arbeit annahm, um seine Familie zu ernähren. Ein verläßlicher Gefährte, gewiß, selbst im Blankeis und mitten im Fluß. Das mußte man ihm lassen. Einer, der besser Russisch konnte als Kaufner, obwohl der’s in der Schule gelernt hatte und der Junge sicher nicht. Mußte man ihm gleichfalls lassen. Und dann hatte er auch noch diesen Blick, diesen Odina-Blick mit großen braunen Augen, dem man nichts Böses zutrauen konnte. Bis heute. Nicht mal sein eignes Geburtsjahr wußte er, was wollte so einer schon wissen? Wie einfältig er im Hamam gestanden und sich gedehnt hatte, im … Wann genau war das gewesen?
Irgendwann während der Neujahrsnacht 26/27 war es auch im Hamburger Schanzenviertel richtig losgegangen. Zunächst mit ein paar Mitternachtsraketen der Mutigsten, die es gewagt hatten, die Ausgangssperre zu mißachten. Bald mit den Schwarzvermummten, die von überall her zusammengeströmt waren, mit Sprechchören und aufmarschierenden Polizeibataillons, eine Weile hätte man es fast für eine Demonstration halten können, wie man sie noch von den Anfangstagen des Krieges kannte. Kaufner hatte von seinem Balkon aus zusehen können, wie da und dort auf der Straße Feuer entfacht und Bier getrunken wurde, als handetle es sich lediglich um ein ungenehmigtes Straßenfest, wie dann aber immer öfter mit Flaschen geworfen und die Polizei verhöhnt wurde. Gegen Morgen hatten die Schwarzvermummten plötzlich das Feuer eröffnet. Und gleich mit schweren Waffen, hatten mit Panzerfäusten der Reihe nach die Mannschaftswagen der Polizei in die Luft gejagt, wie’s normale Demonstranten nie vermocht hätten. Tagelang hatte Kaufner seine Wohnung nicht mehr verlassen können, bis Straßenzug um Straßenzug von der Obrigkeit zurückerobert worden. Als schließlich das gesamte Schanzenviertel in Flammen gestanden und auch er zwangsevakuiert worden war, da, ja, da erst hatte er sich endgültig entschlossen. Und schon im April desselben Jahres, ja, im April ’27 bist du hier angekommen. Den ersten Sommer über hast du geglaubt, du würdest es ohne schaffen. Ging aber nicht ohne. Im Winter hast du dann jemanden gesucht, der mit dir geht, und im Januar, war’s im Januar? Ja, kommt hin, vor einem Dreivierteljahr.
Da war Odina also erst siebzehn oder achtzehn gewesen, ein Knabe. Wie ein Strichjunge stand er unter all den andern, nackt, und machte seine Dehnübungen, so arglos, daß es geradezu ekelhaft war. Wenn Talib nicht seine Massage unterbrochen, wenn er nicht zu Kaufner gekommen und gemeint hätte, der sei genau der Richtige für ihn, nach so einem hätte er sich doch erkundigt, Kaufner hätte den Jungen niemals angesprochen. Und dann servierte Talib auch gleich noch Tee, ein vierschrötiger Riese, permanent verkatert und entsprechend wortkarg, heute hingegen redselig wie kein zweiter. Schon saß Kaufner mit ihm und dem Jungen in einer Nische, es war schummrig wie immer, dampfte und pladderte wie immer. Trotzdem war alles anders als sonst. Und das nur der Gesellschaft eines Tadschikenjungen wegen, der sich gerade mal halbherzig mit seinem Handtuch bedeckt. Hatten die anderen nicht zu ihnen gestarrt, gegrinst gar? Ob Odina vielleicht mit ihnen unter einer Decke steckte?
Zumindest mit Talib, im Rückblick war sich Kaufner jetzt fast sicher. Talib war’s ja auch gewesen, der permanent für den Jungen geredet hatte. Gut, als ehemaliger Ringer hatte er hier sowieso das Sagen, fast jeden hatte er bereits in der Mangel gehabt, zehntausend Som pro Massage, danach war man froh, überlebt zu haben. Einem wie Talib würde keiner widersprechen. In Kaufners Erinnerung nahm er die Züge des Kirgisen an oder vielmehr umgekehrt, schließlich hatten beide die gleichen schwarzen Schlitzaugen. Seltsamerweise war Kaufner damals nur die Peinlichkeit der Szene klar gewesen, nicht im entferntesten die Durchtriebenheit, mit der sich Talib darauf beschränkte, die Schönheit der umliegenden Gebirge zu rühmen und beiläufig einzustreuen, daß man als Fremder selbstredend einen erfahrenen Bergführer brauche, um nicht an diesem oder jenem berühmten Felsen vorbeizulaufen. Mit wachsender Unlust erinnerte er sich, wie ihm Talib, immer mal wieder sein nasses Handtuch auf den Betonsockel klatschend, die Vorzüge des Jungen gerühmt. Und auch geradewegs die Summe genannt hatte, die für einen ganzen Sommer in Odinas Begleitung zu zahlen war – woher wollte er die wissen, wenn er derartige Vermittlungsgespräche nicht öfter geführt hatte? Das Bakschisch für ihn selber kam dann noch obendrauf, und an Feilschen war bei ihm nicht zu denken.
Hatte der eine oder andre der Männer nicht verstohlen gelacht? Schon im Judenviertel von Samarkand hatte sich Kaufner verraten, als er sich mit aller Diskretion nach einem erkundigt, der mit ihm in die Berge gehen könne; und obendrein zum Gespött gemacht, als ihm einer gefunden, unter der nackten Glühlampe einer Nebennische, am Männerbadetag im Januar.
Nur merkwürdig, daß ihm darüber erst nach einem Dreivierteljahr ein Licht aufging.
»Er wird dir alles zeigen«, hatte Talib mit einem Funkeln in den Augen versprochen, das Kaufner am liebsten gar nicht gesehen hätte. Ein abgekartetes Spiel, warum sonst wäre Odina, den Kaufner zuvor kein einziges Mal hier gesehen, überhaupt aufgetaucht? Es reichte offenbar aus, einen Eseltreiber zu suchen, schon wußte jeder Bescheid.
Erst im Rückblick kam Kaufner jetzt auf die Idee, Talib könnte für irgendwen arbeiten, vielleicht gar für die Deutschländer oder irgendeine der Freien Festen, die sich noch hielten. Immerhin war der Westen, zumindest auf dem Papier, mit Usbekistan verbündet. Möglicherweise arbeiteten sie also für dieselbe Sache, war Talib sogar daran interessiert, daß Kaufner das Grab finden würde? Wie sonst hätte er reden können, als ob er bestens im Bilde war über Kaufners Absichten, nämlich ohne sie etwa direkt an- oder gar auszusprechen? Als hätte man von Hamburg aus gleich auch Masseur und Eseltreiber vor Ort für Kaufner angeworben.
Dann holte Talib die Wodkaflasche, es wurde ernst. Kaufner hatte ihn öfter beobachtet, wenn er seine Nebengeschäfte betrieb (wiewohl man das, was er verhökerte, ansonsten nie zu Gesicht bekam), von einem glänzenden Schweißfilm bedeckt, mit seinem nassen Handtuch durch die Luft schnalzend oder auf den Bauch seines Gesprächspartners. Wer weiß, in wessen Dienste er den Jungen schon verschachert hatte und zu welchem Zweck; Kaufner saß da und hörte so gleichmütig zu, wie er’s vermochte. Auch der Junge saß vor allem da, zeigte mit keiner Miene, was er etwa von Talib dachte.
Von seiner Sorte gebe’s viele, pries ihn der Masseur, sie kämen von weit her, weil sie in ihren Tälern keine Arbeit mehr fänden. Doch keiner sei unter ihnen, der Odina gleichkomme. »Er wird seinen Mund halten und im Herbst verschwinden, wenn er dich sicher wieder hier abgeliefert hat, bei mir.«
Talib beugte sich vertraulich näher, man roch, daß er dem Wässerchen bereits kräftig zugesprochen hatte, sogar sein Schweiß stank nach Alkohol: »Und im übrigen nimmt er kein Opium und ist auch nicht infiziert.«
Talibs dröhnendes Gelächter, in diesen unterirdischen Gewölben nicht ohne Effekt, der Speck auf seinen Bauchmuskeln zitterte.
»Warum sollte ich ausgerechnet dich nehmen?« hatte Kaufner eine einzige Frage direkt an den Jungen gestellt. Und ehe sich Talib dazwischendrängen konnte, hatte der geantwortet:
Weil er vom Stamme der Wakhis sei, den Wächtern der Seidenstraße seit Jahrhunderten. »Was immer wir tun, Herr, unser Rücken bleibt dabei gerade.«
Schon wollte ihm Talib obenhin das Wort abschneiden: Nun ja, Odinas Stamm habe selbst für Bewohner des Pamirs einen extrem strengen Ehrenkodex … Aber der Junge ließ sich nicht beirren und, weiterhin direkt an Kaufner gewandt, fuhr ganz ruhig fort:
»Wenn dich einer von uns in die Berge führt, bist du sein Gast. Stößt dir was zu, glaub mir, muß er’s sühnen, indem er sich das Gleiche zufügt.«
Eine bessere Lebensversicherung konnte es im Gebirge nicht geben. Womit der Handel geschlossen war.
Und dann hat er sich ja tatsächlich als ein erfahrner Eseltreiber erwiesen, der Junge. Als Berggänger sowieso. Nein, so einer arbeitet nicht gleichzeitig für die Gegenseite. Ein Bergführer kann kein Schlitzohr sein.
Oder doch?
Wenn er seine Familie anders nicht ernähren kann?
Für die Chinesen zumindest arbeitet er nicht. Die haßt er, die haben schon die Bergwerke in seinem Land unter Kontrolle, die Tunnel, die Hauptstraßen, die haben alles bestens vorbereitet. Für den Kalifen? Für den Wahren Weg, das Fundament oder sonst irgendwelche Kämpfer des Heiligen Kampfes? Aber der Gottesstaat interessiert die Tadschiken ja nicht. Die wollen am liebsten für jedes Tal ’nen eignen Fürsten. Für die Panslawische Allianz? Egal, der Junge weiß nicht, woher du kommst, er weiß nicht, wohin du gehst. Nie hat er nach deinen wahren Absichten gefragt.
Mehrfach mußte sich Kaufner ermahnen, sich nicht länger in die Tasche zu lügen. Schießlich war’s seit ein paar Stunden heraus, daß Odina gar nicht hätte fragen müssen, daß er auch so gewußt, welches Grab Kaufner suchte, und also direkt zum Tal, in dem nichts ist mit ihm hätte aufbrechen können. Aufbrechen müssen. Kaufner hatte zu handeln. Der Kirgise mochte ihn gedemütigt haben – im Moment war er keine unmittelbare Bedrohung mehr, Kaufner verbot sich jeden weiteren Gedanken an ihn, vorerst. Odina hingegen, er mochte ihn mit seinen Worten gerettet haben – war vielleicht eine noch größere Bedrohung als Januzak.
Und nur auf Sichtweite entfernt. Der Weg war recht einfach und blieb es. Rechter Hand erhob sich der Bergrücken, an dem sie entlanggingen, linker Hand kam immer mehr der Ebene zum Vorschein, in die sie morgen hinabsteigen würden: Usbekistan. Dicke Wolken gingen tief darüber hin, es blitzte da und dort; dicht daneben war der Himmel hellblau, das Sonnenlicht fiel in breiten Streifen herab. Wäre man besserer Stimmung gewesen, man hätte es als malerisch empfinden können.
Wie immer, wenn Kaufner am Lagerplatz eintraf, den der Junge für die Nacht bestimmt, war der Esel bereits entladen und hatte sich, nach Futter suchend, davongemacht. Der Junge war dabei, Kaufners Zelt aufzubauen; als nächstes würde er das Abendessen kochen. Erst wenn alles erledigt war, was zu seinen Pflichten gehörte, würde er neben dem Feuer die Satteldecke und darüber seinen zerschlissenen Schlafsack ausbreiten. Doch während Kaufner normalerweise erst einmal sein Gepäck ins Zelt schaffte und die Dinge für den nächsten Tag richtete, kam er heute abend direkt auf Odina zu und baute sich vor ihm auf:
»Warum hast du mich so lang in die Irre geführt?«
»Weil ich wollte, daß du weiterlebst«, kam die Antwort überraschend schnell: »Wäre ich gleich mit dir hierhergekommen –« Der Junge hatte offensichtlich nicht den Anflug eines schlechten Gewissens. Oder er spielte seine Rolle sehr gut: »Herr, in diesem Gebirge gibt es keine Wanderer. Wer hier unterwegs ist, der ist Schmuggler oder einer vom Heiligen Kampf oder – einer von euch.« »Aber auf keinen Fall ein Anfänger wie du! Die würden ja sofort –«
»Willst du mich beleidigen? Ich bin doch kein Anfänger!« Kaufner verspürte große Lust, Odina eine Ohrfeige zu versetzen, besann sich allerdings: »Welches Zeichen meinst du eigentlich, an dem sich die Fortgeschrittnen erkennen oder wie ihr sie nennt?«
Odina verzurrte in aller Ruhe das Zelt, schlug einen Hering ein. Sortierte Äste und Zweige, die er am letzten Rastplatz gesammelt und in seinem Rucksack verstaut, arrangierte sie, die kleinsten davon zu einem Häufchen zusammenschiebend, über dem sich die dickeren Äste kreuzten. In wenigen Minuten würde er ein Feuer gemacht haben, darauf zunächst Tee, dann einen Topf voll Nudeln. Die Antwort auf Kaufners Frage blieb er schuldig, sagte stattdessen schließlich:
»Einem Januzak begegnet man nur einmal. Er ist alt oder jung, keiner weiß es. Aber er kann den Hals eines Menschen mit einer einzigen Hand zudrücken. Und er tut es auch.«
»Sag mal, du hast ja noch mehr Angst vor ihm gehabt als ich?«
Odinas Antwort blieb erneut aus. War’s nur sein Stolz, der ihm verbot, zuzugeben, daß er am Kobrafelsen gezittert hatte? Seine Angst konnte nicht gespielt gewesen sein, mit Januzak steckte er gewiß nicht unter einer Decke.
»Das Gesetz der Berge …« hob der Junge schließlich gereizt an, indem er ein Streichholz entfachte, »es hätte unser letzter Tag sein können.«
»Unser beider?« stichelte Kaufner, Odina sprang von seinen sorgsam angeordneten Zweigen auf, das brennende Zündholz zwischen den Fingern, sagte indes nichts. Man hörte die Berge atmen. Der Himmel war dunkelgrau, in wenigen Minuten würde’s Nacht sein.
»Ich kenne euer ›Gesetz der Berge‹«, ließ Kaufner nicht ab, Odina zu bedrängen. »Was ich davon halte, weißt du. Was hat es denn zu plötzlichen Begegnungen mit Kirgisen zu sagen?«
Kaufners abschätziger Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht, ungeachtet des brennenden Streicholzes warf sich Odina in die Brust: »Wir gehen mit unserm Herrn, und wenn wir ihn nicht sicher durchs Gebirge bringen, gehen wir mit ihm auch in den Tod. So will es das Gesetz.«
»Das verlangt es tatsächlich?« Einen Atemzug lang war Kaufner verblüfft. Im nächsten fragte er sich, ob Odina vielleicht ein wenig verrückt war. Wie laut er auf ihn einredete! Während er gestikulierte, verlosch das Zündholz, er hatte sich gewiß die Finger verbrannt:
»Herr, ich bin aus dem Pamir! Wir haben viel höhere Gebirge als hier, unsere Ehre gilt uns viel mehr als unser Leben. Aber das versteht ihr nicht.«
Mit »ihr« meinte er »ihr aus dem Westen«, so viel war im Verlauf der gemeinsamen Wanderungen klargeworden, wobei der Westen für Odina schon in Samarkand begann, eine verweichlichte Stadt in seinen Augen mit verweichlichten Bewohnern, Schergen wechselnder Herren, unzuverlässig, verächtlich.
»Sieh mal einer an, das verstehen wir nicht«, Kaufner verschränkte die Arme vor der Brust: »Du willst mir also sagen: Wenn mich Januzak getötet hätte, hätte er danach auch dich –?«
»Nein, das hätte er nicht, er kennt das Gesetz.« Odina zögerte, tat so, als fände er keinen passenden Begriff auf Russisch.
»Du hättest es selber tun müssen?« gab sich Kaufner mit einem Mal verständnisvoll, um das Lauernde in seiner Frage zu überspielen: »Das Gesetz der Berge?«
»Und keiner von uns, der es jemals mißachtet hätte.«
Jetzt erst besann sich Odina des Zündholzes, warf es verärgert zu Boden. Ohne einen Blick auf seine Finger zu werfen, wandte er sich dem zu, was es vor Einbruch der Dunkelheit zu erledigen gab. Während des Essens richtete er überraschenderweise noch einmal das Wort an Kaufner, lenkte dessen Augenmerk nach Westen, in die Ebene, die sich zwischen den Ausläufern des Turkestangebirges auftat:
Was am Horizont so leuchte, sei Samarkand. Der Abglanz von Samarkand. Wenn man sich beeile, werde man die Stadtgrenzen morgen nacht erreichen; sofern man erst mal »unten« sei, ließe sich ja auch im Dunkeln weitergehen. Im übrigen: Die Grenze liege längst hinter ihnen. Der restliche Weg ein Kinderspiel. Im Grunde könne man die Augen schließen, man finde ganz von selber hinab, alle Wege führten nach Samarkand.
Es sollte eine ganze Nacht dauern, bis Kaufner begriffen hatte, warum Odina das überhaupt noch gesagt hatte.
Alle Wege führen nach Samarkand, so ähnlich hatte es Kaufner schon gehört, als er vor eineinhalb Jahren in Taschkent angekommen war. »Deutsch?« hatte ihn der Fahrer des Sammeltaxis vor dem Flughafen gezielt angesprochen. Um dann, kaum waren sie auf der Autobahn, hartnäckig Neuigkeiten von der Westfront zu erfragen, wie er sie nannte, ob es Deutschland überhaupt noch gebe? Nun, das sollte ein Witz sein, immerhin kämpften die Deutschländer weiterhin an sämtlichen Frontabschnitten, der Taxifahrer war vom usbekischen Staatsfernsehen bestens informiert. Genau genommen wollte er seine Einschätzung der Lage selber geben, angetrieben durch immer neue rhetorische Fragen an seinen deutschen Fahrgast. Die drei Männer auf der Rückbank waren damit beschäftigt, Taschen und Tüten festzuhalten, die nicht mehr in den Kofferraum gepaßt hatten. Einmal überholten sie einen galoppierenden Reiter, ein andermal kam ihnen ein Moskwitsch als Geisterfahrer entgegen: Dort, wo ansonsten die Rückbank war, war ein Kalb, es streckte den Kopf aus dem Seitenfenster heraus.
Der Fahrer konzentrierte sich darauf, den Freien Westen zu verhöhnen. Nämlich das, was davon in Mitteleuropa übrig war, im Grunde waren’s ja nur noch die Deutschländer, die ihn mit einer Inbrunst verteidigten, als hätten sie ihn selber aufgebaut oder zumindest schon immer dort gelebt. Deutschländer! Keine Rede mehr von ausländischen Mitbürgern, Einwanderern der vierten oder fünften Generation; seitdem der Krieg offen ausgebrochen, waren die Türken und mit ihnen gleich alle anderen, woher immer sie gekommen waren und obwohl sie sich ursprünglich gar nicht als Deutschländer bezeichnet hatten, endgültig zu den besseren Deutschen geworden. Zu Deutschen nämlich, die Deutschland zu verteidigen überhaupt noch für notwendig befanden und dazu auch in der Lage waren. Gerade in diesen Wochen wieder, da der Freie Westen an sämtlichen Abschnitten der Front, eine Art Frühjahrsoffensive, von der Panslawischen Allianz unter Feuer genommen worden. Überall dort, wo bloß die bunt zusammengewürfelten Truppen der Bundeswehr lagen, hatte es Durchbrüche gegeben; die Deutschländer hingegen, obwohl Milizenverbände, hatten sogar den russischen Eliteeinheiten standgehalten, widerwillig zollte ihnen der Taxifahrer Respekt. Er unterbrach seine Darlegungen nur, wenn er sich einer der Straßensperren näherte. Kaum war der Kontrollpunkt passiert, streifte er den Gurt wieder ab, gab Gas und wollte wissen, ob’s wahr sei, daß die deutsche Regierung …
Es war wahr, Kaufner konnte es bestätigen. Vor wenigen Tagen hatte sie Hilfe von der Türkei angefordert, es war lediglich eine Frage der Zeit, bis reguläre türkische Truppen einmarschieren würden. Zum Wohle Deutschlands, versicherte Kaufner, höchstoffiziell herbeigerufen von Bundeskanzler Yalçin.
Ob die Türken auch gegen ihre Glaubensbrüder in Stellung gehen würden, die in Frankreich vorrückten? Der Taxifahrer traute es ihnen zu, traute ihnen alles zu. Der Faust Gottes allerdings nicht minder, angeblich war Paris bereits gefallen, der Kalif habe Europa von der iberischen Halbinsel bis zur Seine befreit. Befreit! Der Taxifahrer machte kein Hehl daraus, daß ihm das gefiel, er war Usbeke, also kein Freund der Türken: Die hätten sich seit eh und je als Herrenrasse aufgeführt unter den Turkvölkern, keiner diesseits der Roten Wüste wolle mit ihnen gemeinsame Sache machen.
Paris gefallen? Kaufner schreckte möglichst unauffällig zusammen, das hatte man in der Tagesschau so nicht gemeldet. Sicher?
Sicher! Der Taxifahrer beteuerte, Gott sei groß, er zeigte auf seine Gebetskette, die am Rückspiegel baumelte, und gab weiterhin Vollgas, vielleicht sein höchstpersönlicher Beitrag, auf daß man einem baldigen Sieg entgegenfuhr.
Es wurde immer komplizierter. Bald würde man gar nicht mehr wissen, wer genau wo gegen wen kämpfte. Weil ihn der Taxifahrer in seiner Siegessicherheit ärgerte – was bildete er sich ein, Usbekistan war doch mit dem Westen verbündet! Und nicht etwa mit dem Kalifen! –, eröffnete ihm Kaufner, daß der Angriff der Russen mittlerweile an allen Abschnitten der Front zurückgeschlagen und auch in Hamburg wieder die alte Demarkationslinie an der Alster erreicht worden. Das nämlich war der letzte Stand der Kriegshandlungen gewesen, bevor er sich in sein neues Einsatzgebiet abgesetzt hatte. Der Taxifahrer hielt zum ersten Mal den Mund, offensichtlich hatte man die Nachricht hier gar nicht gebracht. Er schüttete sich aus einem Tütchen grünes Pulver unter die Zunge und war fortan beschäftigt, es genußvoll einzuspeicheln. Erst als die letzte Straßensperre am Stadtrand von Samarkand nahte, öffnete er, noch bei voller Fahrt, die Tür spaltbreit und spuckte mehrfach aus.
Kaufner lag im Schlafsack und fühlte, wie die Kälte der Nacht durch die Zeltplane hereinkam. Bis zum Morgengrauen hatte er Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, seine Erinnerungen neu zu sortieren. Am nächsten Morgen würde er einige Entschlüsse gefaßt haben müssen. Was Odina betraf, was die eigene Mission in den Bergen betraf und ob er sie überhaupt fortführen konnte. Wenn der Junge die ganze Zeit gegen ihn gearbeitet hatte, indem er für ihn zu arbeiten vorgab, vielleicht hatten es andere, mit denen es Kaufner seit seiner Ankunft zu tun bekommen, ebenso gehalten?
Nach ein paar Stunden Fahrt war er am Rande der Altstadt von Samarkand gestanden, nach einem kurzen Fußmarsch auch schon mitten darin, vor dem prachtvoll mit Schnitzerei versehenen Flügeltor eines Gebäudes, das ihm als Kontaktadresse genannt worden. Seltsam, ausgerechnet hierher hatte man ihn geschickt, in ein von reichen Russen, Arabern, Chinesen, Pakistanern gut besuchtes Bed & Breakfast namens Atlas Guesthouse. Der besseren Tarnung halber? Dann aber stellte sich heraus, daß es von einer tadschikischen Familie geführt wurde, im Herzen einer usbekischen Stadt! Wenn das nicht von Bedeutung war – Tadschikistan sympathisierte ja mit Großrußland. Die Tadschiken in Usbekistan hingegen offensichtlich mit dem Westen. Anscheinend waren sie hier, was die Usbeken in Tadschikistan waren, eine kleine feine Oberschicht, denen es sichtlich besser ging als der restlichen Bevölkerung.
Natürlich war es Shochi gewesen, die ihm einen der Türflügel aufgestemmt und ihn dann mit einem kaum gehauchten »Allah …« in Empfang genommen hatte. Von Kopf bis Fuß war sie in verschieden gelbstichige, weiße, sandfarbene Tücher eingewickelt:
»Ich hab’ von Ihnen geträumt. Deshalb weiß ich ja, daß Sie heute kommen. Sie sind spät dran.«
Kaufner verschlug’s die Sprache. Er hatte sich einige Monate auf seinen Einsatz vorbereitet; von einem jungen Mädchen erwartet zu werden wäre ihm aber im Traum nicht eingefallen.
Warum er so spät dran sei, insistierte Shochi, er hätte doch vor Stunden eintreffen müssen. Nun habe sie’s endlich gespürt, daß er angekommen, gerade habe sie ihm entgegengehen wollen.
Dies alles auf Russisch, sehr schnell, sehr ungeduldig, selbstbewußt.
»War ich denn für heute angekündigt?«
Kaufner war noch immer völlig überrumpelt. Er versuchte abzuschätzen, ob seine kleine Empfangsdame, vielleicht die Tochter des Hauses, etwa von ihrem Vater eingeweiht worden und also auf die Parole wartete. Man sah von ihr nur die Augen, ein strahlendes Blau, schwer zu durchdringen, ja, unmöglich, ihnen bis auf den Grund zu schauen.
»Wo steckt denn …«, wollte er sie loswerden, doch Shochi ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen:
Sie sei schon dreizehn, er könne auch mit ihr über alles reden, sie wisse Bescheid.
Nein, ihr Vater hatte nicht mit ihr gesprochen. Was der überhaupt wußte, es war auch später nie aus ihm herauszukriegen gewesen. Shochi hatte geträumt, mehrfach geträumt, daß Kaufner an diesem Tag kommen würde, jedenfalls behauptete sie es. Allerdings hatte sie den Traum für sich behalten, Kaufner dürfe niemandem davon erzählen, sonst … sonst gebe es wieder Ärger.
Kaufner wollte verschwörerhaft nicken und die Sache damit abtun. Als sie sich aber danach erkundigte, ob die drei Männer auf der Rückbank des Taxis »wirklich nett« gewesen seien, starrte er sie für einen Moment fassungslos an. War’s denn möglich, selbst solche Details zu träumen? Sein erster Tag im neuen Einsatzgebiet, und ein junges Mädchen brachte ihn bereits aus dem Konzept. Nichtsdestoweniger stand er unter Zugzwang. Er mußte sich seinen Kontaktleuten zu erkennen geben, sonst würden sie ihn für einen Touristen halten. Kaufner entschied sich, die Parole beiläufig in seine Worte einfließen zu lassen, man würde ja sehen, ob Shochi sie erkannte und mit der richtigen Replik darauf reagierte:
Nun gut, vielleicht habe er sich verspätet, als Deutscher könne er ja nicht über Moskau fliegen. »Aber zum Glück führen fast alle Wege nach … Samarkand.«
Shochi mußte die winzige Pause in seinen Worten bemerkt haben, sie zögerte mit einer Antwort. Dann entschied sie sich, den neuen Gast zu ihrem Vater zu führen, damit ihm offiziell ein Empfang bereitet und der Paß abgenommen werden konnte. Federnden Schrittes ging sie vor ihm durch den Hof, eine schwankend schwebende Tuchsäule, unter einem blühenden Baum hindurch und vorbei an Dutzenden von Blumentöpfen, einem leeren Springbrunnen. Bevor sie die Tür zum Büro ihres Vaters aufstieß und dabei ihre Schlappen abstreifte, blickte sie Kaufner noch einmal an:
»Samarkand ist ja schließlich nicht bloß für Touristen interessant.«
Kaufner hatte die in der Luft hängende Losung schon wieder vergessen, nun stand er da, wie vor den Kopf geschlagen. Samarkand Samarkand … Konnte Shochi etwa auch die Parole geträumt haben? Ihr Vater mußte ihn zweimal hereinbitten, man sah ihn im Halbdunkel seines Büros zunächst gar nicht. Oder war das alles gerade nichts als eine zufällige Bemerkung gewesen? Wie kühl es hier drinnen war, wie dunkel! Die braunen Scheiben zum Hof ließen kaum Tageslicht durch, der Raum wurde hauptsächlich von zwei Fernsehern und dem Bildschirm eines Computers beleuchtet, tonloses Geflacker, aus dem langsam ein mannshoher Plastikchristbaum hervortrat, eine Sofagarnitur, die Phototapete auf der rückwärtigen Wand (Dschungel mit Wasserfall), mehrere Lautsprecherboxen, mehrere Spiegel.
Shochis Vater saß am Schreibtisch, vor sich einen Teller Essen, und telephonierte mit zwei Handys, zwischendurch begrüßte er Kaufner mit einem scharf skandierten »Alles Spione!«, auf Deutsch. Wie er auch gleich ein Gelächter darüber anschlug, zitterten die Spitzen seines Schnauzbarts, blitzten die Schneidezähne darunter hervor, selbst seine Streifenkrawatte leuchtete auf.
Nachdem er seine beiden Telephonate beendet und sich erhoben hatte, um Kaufner auf Russisch zu begrüßen, sah er ihn mit gelben Augen an. »Alles Spione!« wiederholte er auf Deutsch und schüttelte ihm so lange die Hand, als hätte er ihn erkannt, durchschaut, enttarnt: »Achtung!«
Ach was, der roch nach Knoblauch und Wodka, vor allem nach Wodka. Auch »Schlagbaum«, »Butterbrot«, »Kamerad« wußte er zu sagen, »Alles kaputt« natürlich und »Führer«; »Heil Hitler« klang bei ihm wie »Geil Gitler«. Sein Vater hatte als Sowjetsoldat in der DDR gedient und dem Sohn Einschlägiges berichtet; nun war er’s selbst, der von den deutschen Frauen schwärmte, es seien die besten, schade, daß seit einigen Jahren keine mehr kämen. Er drehte seine Krawatte um, die Rückseite zeigte eine nackte Frau mit gespreizten Beinen, und wollte Kaufner einvernehmlich anlachen, erinnerte sich aber just in jenem Moment an Shochi, die im Türrahmen stehengeblieben war, verscheuchte sie mit einer Handbewegung.
»Shochida, meine verrückte Tochter. Na ja, man kann’s sich nicht aussuchen.«
Als er aufbrach, die Wodkaflasche zu holen, und dabei vom Klingeln eines dritten Handys aus dem Tritt gebracht wurde, konnte Kaufner seine Gedanken ordnen. Wohin hatte ihn die Freie Feste denn hier geschickt, konnte so einer wirklich sein Kontaktmann sein? Kurz ins Handy hineinbellend, schlingerte der Inhaber des Atlas Guesthouse Richtung Sofagarnitur, geriet dabei in den Christbaum, verhedderte sich in den Zweigen, lachte und fluchte abwechselnd. Er mußte vollkommen betrunken und folglich gar nicht in der Lage gewesen sein, in seinem neuen Gast denjenigen zu erkennen, als der er ihm ja wohl hoffentlich von der Freien Feste angekündigt war; blitzschnell entschied Kaufner, alles bisher Gesagte könne keineswegs schon als offizielle Begrüßung gemeint gewesen sein. Indem Shochis Vater in seinen zerbeulten Hosen zurück- und halbwegs auf Kaufner zuzutappen suchte, um ihm ein kräftig gefülltes Glas in die Hand zu drücken, mußte er sich kurz an einem Plastikadler festhalten, der halbmeterhoch auf seinem Schreibtisch stand:
Man möge ihn heute entschuldigen, er habe Anlaß zu trinken. Sein Sohn, gerade sechzehn geworden, in wenigen Wochen sei er mit der Schule fertig, mache ihm Sorgen. Weil ab Herbst das Berufscollege beginne und es mit dem schönen Leben vorbei sei, habe seine Klasse noch mal einen Klassenausflug gemacht – in die Paradiesische Ecke! Gut, früher oder später würde jeder richtige Mann dort landen, nicht wahr? Aber sein Sohn, offensichtlich ein Schlappschwanz, habe sich die ganze Zeit für seine Klassenkameraden geschämt und draußen auf sie gewartet. »Wie soll jemals ein Mann aus ihm werden?«
Kaufner beschloß, daß es höchste Zeit war, und kippte den Wodka hinunter. Mit Russen zu trinken, hatte er in der NVA gelernt.
»Sie sind also Herr Alisher Khabi… Khabibullaev?«
»Alisher oder Sherali, seit sechsundvierzig Jahren. Sagen Sie einfach Sher. Da fällt mir ein, wir haben uns ja noch gar nicht richtig begrüßt!« Er räusperte sich, zog sich den Schlips gerade und die Augenbrauen nach oben: »Und Sie sind Herr Kaufner. Kaufner, Alexander …«
Er schwankte, mit seinen gelben Augen nahm er den Neuankömmling umso fester ins Visier: »Wir haben Sie erwartet, Herr … Ach was, wir sind ja schon Freunde geworden, ich werde Ali sagen. Was führt Sie nach Samarkand?«
Eine »richtige« Begrüßung, Kaufner hatte sie gar nicht mehr erwartet. Unwillkürlich nahm er Haltung an, streckte dem Patron die Rechte entgegen: »Samarkand, na ja, das ist doch …«
Sher lachte zufrieden auf und griff nach der Hand, um sie anhaltend zu schütteln: »Richtig, Ali, ist Weltkulturerbe. ›Die Perle der Seidenstraße‹! Deshalb kommen sie ja selbst jetzt noch, die Touristen, trotz der … schwierigen Zeiten. Sie werden den ganzen Sommer bei uns wohnen?«
Kaufner lachte sicherheitshalber mit. Anscheinend hatte die Freie Feste bereits alles geregelt. Shers Augen blitzten freilich kein bißchen, um irgendein Einverständnis jenseits der Worte zu signalisieren. Schon ging es an die Formalitäten, zweimal klatschte Sher die Hände flach aneinander; weil nichts passierte, öffnete er eine rückwärtige Tür, »Wir haben Besuch!«, weil immer noch nichts passierte, wankte er hindurch, Kaufner folgte zögernd. Dahinter war, auf den ersten Blick zu erkennen, das eigentliche Büro, am Tisch saß eine füllige Frau mit flaumigem Oberlippenbart, von farbfroher Schlabberseide furios umflossen, und zählte Geldscheine. Als sie endlich aufstand, streckte ihr Kaufner die Hand zum Gruß entgegen, sie lächelte ihm allerdings nur zu, die oberen Schneidezähne blitzten golden auf, und legte kurz ihre Hand aufs Herz: Maysara, Shers Frau. Mit ihrem ersten Satz verlangte sie dem Neuankömmling den Reisepaß ab, klappte ihn mit einem einzigen Griff an der richtigen Stelle auf:
»Gamburg?«
»Gamburg.«
»Hab’ ich im Fernsehen gesehen«, mischte sich Sher ein, »brennt schon wieder.«
»Brennt öfters, ja.«
»Wie eine Kerze von zwei Seiten.« Sher lachte. »Links Türke, rechts Russe.«
Bezahlt sei ja bereits, übernahm erneut Maysara die Regie, morgen werde sie den Herrn beim Ausländerbüro anmelden, um die Formalitäten brauche er sich nicht zu kümmern. Kaufner spürte, daß sie ihn nicht mochte, er mochte sie ebensowenig. Schweigend folgte er ihr hinaus in den Hof, um den herum, ebenerdig, die meisten Zimmer lagen; dasjenige, das man für Kaufner ausgesucht hatte, befand sich hingegen im ersten Stock. Erst als vor der Tür überraschenderweise Shochi wartete – mittlerweile trug sie eine weiße Hose und darüber ein weißes Kleid, jetzt sah man ihr pausbäckiges Mädchengesicht und einen schweren schwarzen Zopf –, wandte sich Maysara erneut an Kaufner: »Entschuldigen Sie bitte«, gleich auch an ihre Tochter: »Du läßt unseren Gast bitte erst mal ankommen und verschwindest«, schon im Aufsperren der Zimmertür seufzend wieder an sich selbst: »Gibt einfach keine Ruhe, wenn sie was interessiert, der reinste Starrsinn. Wer wird so eine bloß heiraten wollen?«
»Ist sie vielleicht nur ein bißchen viel allein?« fragte Kaufner. Ohne ihre Vermummung sah Shochi wie ein normales Mädchen aus, ganz hübsch sogar. Zwischen den oberen Schneidezähnen zeigte sich eine kleine Lücke. Doch davon durfte man sich bei ihr gewiß nicht täuschen lassen.
»Eine Strafe Gottes«, beschied Maysara, ohne Kaufners Frage aufzugreifen: »Haben Sie Kinder?«
Er habe nicht mal mehr eine … eine Frau. Kaufner sah den bedauernden Blick, den Maysara auf ihn richtete, bevor sie verschwand. Er warf sein Gepäck aufs Bett, kein bißchen erstaunt darüber, daß Shochi in der offenen Tür stehenblieb und ihm zusah, an einem ihrer kleinen Ohrstecker drehend.
»Bist du vielleicht auch ein bißchen zu neugierig?« stellte er sich vor ihr auf.
Shochi schnappte ein paarmal hörbar nach Luft, als ob sie zu sprechen anheben wolle, aber das treffende Wort nicht fände. Kaufner hielt ihren Blick aus. Dann inspizierte er das Bad. Inspizierte sein Zimmer. Zog den Vorhang von der Balkontür. Öffnete sie. Stand im Begriff, auf den Balkon hinauszu-
»Onkel!« Shochi hielt ihn mit ihrem Zuruf auf der Schwelle: »Ich muß Ihnen noch was sagen.«
»Du kannst mich Ali nennen«, blieb Kaufner tatsächlich stehen, »wir sind ja fast schon Freunde.« Die respektvolle Anrede als Onkel schien ihm angesichts der Geheimniskrämerei, die zwischen ihnen herrschte, wie ein Hohn.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß –«
»Hör auf, mich zu siezen«, befahl Kaufner überraschend scharf, was war bloß in ihn gefahren, »dein Vater hat gesagt, ich gehöre ab jetzt zur Familie.«
Shochi stotterte etwas von ihrem Traum, den sie gehabt, mehrfach gehabt, schrecklich viel Blut sei darin vorgekommen. Seitdem sei sie in ständiger Angst gewesen. Angst um …
Kaufner begriff zunächst gar nicht, daß es um ihn ging, daß sie seinetwegen so voller Sorgen gewesen und nach wie vor war. Als sie ihn allerdings zum dritten Mal fragte, ob auf der Anreise wirklich alles gut verlaufen, verjagte er sie mit einer Handbewegung.
Vielleicht hätte er sonst noch selber zu stottern angefangen. Tatsächlich konnte er von Glück sagen, daß seine Reise nicht schon auf der Alsterkrugchaussee ihr Ende gefunden hatte. Nur weil er etwas vergessen und sein Taxi hatte umdrehen müssen, war er einem Heckenschützen entgangen, der dort von einem Abbruchhaus aus, vor allem aber: vor Einbruch der Dämmerung – und also gegen die Regeln, denen selbst dieser Krieg folgte – sein Geschäft des Tötens aufgenommen hatte. Als Kaufners Taxi dann kurz vor dem Tatort umgeleitet wurde, war außer ein paar kreuz und quer auf den Fahrspuren stehenden Autos nichts zu sehen gewesen; immerhin wurde im Radio knapp gemeldet, daß Spezialeinheiten ein Haus umstellt hatten und sich dem Schützen stockwerkweise näherten. Mehr hatte man von dem Ganzen nicht mitbekommen, schon auf dem Flughafen wollte keiner davon überhaupt vernommen haben. So war es fast immer, man hörte die Geschichten des Krieges selten bis an ihr Ende, war auf Gerüchte und Vermutungen angewiesen, der Tagesschau konnte man ohnehin nicht mehr vertrauen. Sicher an der ganzen Sache war nur, es hätte um ein Haar auch Kaufner erwischen können – und seine Auftraggeber hätten es wahrscheinlich nicht mal erfahren. Hingegen Tausende von Kilometern entfernt wollte ausgerechnet jenes seltsame Mädchen davon geträumt haben? Kaufner nahm sich vor, sie zukünftig nicht mehr so schnell zu verjagen. Und … erinnerte sie ihn nicht an ein Kind, das er in Hamburg gekannt?
Einen Moment später, da er auf seinen Balkon hinaustrat, begriff er, warum ihn die Freie Feste hier einquartiert hatte: Hinter den Hausdächern ragte in nächster Nähe das Gur-Emir monumental auf, das »Grab des Gebieters«, ein gewaltiger Anblick. Das konnte kein Zufall sein. Mit ihren glasierten Dachziegeln schimmerte die Kuppel im Nachmittagslicht türkis, auf ihrer Spitze von Grasbüscheln und einem zwiebelförmigen goldenen Aufsatz gekrönt. Jetzt war Kaufner angekommen.
Um sechs Uhr abends, es dämmerte und im Hof zwitscherten die Vögel, flog ein Schwarm weißer und schwarzer Tauben um die Kuppel herum. Mittlerweile leuchtete sie dunkelviolett. Auf den Plastikstühlen im Hof saßen russische Huren mit blondgefärbten Haaren, gelangweilt auf Gelegenheitsfreier unter den Touristen wartend, die von ihren Tagesausflügen zurückkehrten, reiche Araber vor allem, möglicherweise auch auf Einheimische. An den Mauern überall Spiegel, man konnte jede von ihnen sehen, wie sie an ihrem Tee nippte, rauchte, sich puderte, die Lippen nachzog.
Kurz vor Einbruch völliger Dunkelheit rief ein Imam sehr leise zum Gebet, die Kuppel des Mausoleums wurde blau angestrahlt, desgleichen die beiden Minarette, die neben dem Eingangsportal standen. Der Hof unter Kaufners Balkon hatte sich geleert; nur auf der Seite, die dem Eingangstor gegenüberlag und aus einer leicht erhöhten Loggia bestand, saßen einige Jungs, tranken Bier aus der Flasche und rauchten. Sofern sie nicht ihre Hunde beschimpften, spielten sie sich, so laut es ging, russische Rocksongs von ihren Handys vor.
Gegen Morgen hörte man es muhen, das war die Kuh von Vierfinger-Shamsi, der zwei Häuser weiter wohnte, aber das wußte Kaufner damals noch nicht. Wenig später saß er frühstückenderweise unter dem blühenden Baum im Hof – zwischen den russischen Huren, die mit ihren Freiern erschienen waren, und den Mitgliedern einer bengalischen Pilgergruppe. Es konnte losgehen.
Als erstes ging Kaufner natürlich zum Gur-Emir. Seine Erkundungen hatten systematisch zu erfolgen, die Sehenswürdigkeiten der Stadt konnten dabei Anlaß und Vorwand liefern. Erwartungen hatte er keine, schließlich war er auf seinen Einsatz vorbereitet und wußte, daß Timurs Grab leer war, was hätte ihn dort überraschen können? Die prachtvollen Fayencen und Mosaiken wie ein Tourist bewundernd, durchschritt er das Hauptportal. Der Grabbau selbst, in tiefem Kobaltblau und strahlendem Türkis, schimmerte wie ein Palast vor ihm.
Darinnen dann, von einer blaugolden funkelnden Innenkuppel aufs üppigste überwölbt, die Sarkophage: im Zentrum derjenige Timurs, ein schwarzgrüner Block. Umgeben von den Särgen seiner Söhne, Enkel und Lehrer, entweder in Weiß, Grau oder blassem Hellgrün. Drum herum der bunte Pulk an Reisegruppen, Pilgerscharen, Delegationen. Einer Abordnung japanischer Geschäftsleute, alle im schwarzen Anzug, wurde gerade auf Englisch erklärt, um Timurs Sarkophag ziehe sich ein Schriftband des Wortlauts: »Wer meinen Sarg öffnet, bekommt es mit einem Gegner zu tun, noch mächtiger als ich.« Gemeint sei natürlich der echte Sarg, er stehe in der Krypta direkt darunter. Als ihn die Archäologen im Juni 1941 doch einmal geöffnet hätten, sei die Sowjetunion tags drauf von Deutschland angegriffen worden.
Wenn ihr wüßtet, dachte Kaufner. Wahrscheinlich waren Timurs Gebeine schon vor Jahrhunderten weggeschafft worden, an einen sicheren Ort, sie waren einfach zu wichtig. Wer daran glaubte, daß die Seele des Kriegers in ihnen wohnte (und auch der, der nicht daran glaubte, jedoch wußte, daß es seine Soldaten taten), der hütete die Knochen als kostbaren Schatz, weit weg vom Trubel des Gur-Emir. Natürlich hielt man den Kult um das Mausoleum weiterhin aufrecht, einen besseren Schutz für das tatsächliche Grab konnte es ja nicht geben. Jeder, der guten Glaubens hierher kam, um an der Macht Timurs teilzuhaben, lenkte durch sein schieres Staunen und Raunen vom Versteck ab. Wenn ihr alle wüßtet, dachte Kaufner. Wenn ihr wüßtet, daß ich weiß.
Je heller die sieben Sarkophage rund um denjenigen Timurs schimmerten, desto dunkler stand der seine, ein polierter Jadebrocken, wie es in dieser Größe keinen zweiten gab – welch eine Macht noch dem bloßen Stein innewohnte! Kaufner konnte es spüren. Ständig lag ein Flüstern in der Luft, das sich gelegentlich zum Singsang steigerte – die Pilger, die hier aus ganz Zentralasien zusammenkamen, strömten in einer immerwährenden Prozession vorbei, entweder beteten sie selber, oder sie bezahlten einen der Vorbeter, es für sie zu tun. Viele versuchten, sich über die Balustrade zu beugen und zumindest den nächststehenden Sarkophag zu berühren. Als ob ihnen Timur, zweifellos der größte Eroberer im Zeichen des Islam, über die Jahrhunderte auch zum Heiligen geworden.
Erst nach geraumer Zeit konnte sich Kaufner vom Bann lösen, den der Jadebrocken ausstrahlte. Der baumhohe Galgen hinter einem weiteren Sarkophag, der etwas abgesetzt von den restlichen in einer Nische stand – von seiner Spitze hing schwarz ein Pferdeschweif –, war das bereits ein Hinweis? Die unscheinbare Tür, deren Umrisse in all dem alabastergefliesten Prunk erst nach Minuten sichtbar wurden, war das etwa der offiziell geschlossene Abstieg zur Krypta? Nein, dahinter stand lediglich ein Feuerlöscher. Indem sich Kaufner zurück in den Hauptraum wandte, war eine kleine Person vor ihm postiert, die Arme in die Hüften gestemmt, als habe sie ihn gerade auf frischer Tat ertappt. Zwei, drei Mal schnappte sie nach Luft, dann plapperte es aus ihr heraus:
Die hätten wieder ihre Hunde mitgebracht! Sie hasse sie, ihren Bruder, seine Freunde, die Hunde am allermeisten, die seien böse. Da habe sie sich lieber davongemacht. »War ja nicht schwer, Sie zu finden. Und wenn die heute wieder den armen Welpen –«
»Sag mal«, unterbrach Kaufner, »läufst du immer so rum?«
Wie am Vortag war sie bis auf den Sehschlitz komplett in Tücher eingewickelt. Auf den ersten Blick konnte man ihren Aufzug fast für eine verwegene Form von Burka halten, dabei war die Burka in Usbekistan ja verboten.