Ein Mann von 40 Jahren - Matthias Politycki - E-Book

Ein Mann von 40 Jahren E-Book

Matthias Politycki

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Beschreibung

"Kein Grund zur Panik, die Pubertät hört bei euch Männern ja nicht mal mit vierzig wirklich auf." Mit diesem Satz gratuliert Mascha ihrem (Fast-)Freund Gregor Schattschneider zu dessen vierzigstem Geburtstag, den er, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, mit Freunden in einer Bar begeht, und Mascha ahnt in diesem Moment noch nicht, wie wahr dieser Satz werden soll. Die Frage, wie es in Schattschneiders Leben weitergeht und ob das Leben für ihn überhaupt noch etwas zu bieten hat, rumort in ihm. Als ihn die Einladung zu Mariettas Salon erreicht, allein der Name klingt in seinen Ohren wie eine schon lange nicht mehr vernommene Verheißung, gerät sein Leben erst sacht, dann mit Vehemenz aus den Fugen. Ein Roman über die alten Hoffnungen und allerneuesten Verzweiflungen der Vierzigjährigen. Mit Sinn für Komik, einer genauen Beobachtungsgabe für Stile, Moden, Ticks geht Matthias Politycki in seinem spannenden und literarisch auf das Feinste gebauten Roman diesem Lebensgefühl nach: Auch wenn der Selbstvereitelungs-Spezialist Gregor Schattschneider es nie und nimmer zugeben würde, muß er, so unglücklich er sich auch in seinem neuen Lebensjahrzehnt wieder verliebt, zu seinem Glück gezwungen werden. Aber zu welchem und von wem?

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Matthias Politycki

Ein Mann von vierzig Jahren

Roman

Hoffmann und Campe Verlag

Marietta

Oh ja, Sie haben recht: Namen gibt’s, die sind fatal, sind unberechenbar und stolz und schlank, sind voller Eigensinn und Willen. Wohl aber werden Sie auch zugestehen, daß es bloß einen einz’gen Namen gibt, der grün ist, ganz grün und ganz grau und ganz blau ist, obwohl Sie ihn mit beiden Händen fast umgreifen könnten: einen einz’gen Namen, der alles heißen könnte und dann doch nichts heißt als: Marietta –

»Kein Grund zur Panik«, legte ihm Mascha ihr linkes Bein über die Schulter und winkte der Tresenschlampe, damit sie gleich, »wie es sich gehört, du Stoffel«, mit ihm anstoßen konnte: »Kein Grund zur Panik, Grischa, die Pubertät hört bei euch Männern ja nicht mal mit vierzig wirklich auf.«[1]

»Von wegen ›naughty forty‹«, winkte Max mit seinem Bierglas vom andern Ende der Couch eine Art Herzlichen-Glückwunsch, ohne dabei mit dem Blick von der Bühne abzugleiten: Gregor werde’s jetzt ja selber sehen, daß man mit vierzig so langsam in ein Alter reingerate, wo man eher vor dem ■■■■■ fliehe, vor dem ■■■■■■■■■■■■■■, als es, naja, als ihn anzustreben.

Während die Tresenschlampe mit aller vorwurfsvollen Umständlichkeit Pikkolos herbeischlurfte, während die Tresenschlampe ihr Mitternachtslächeln aufsetzte und nicht wußte, ob sie Gregor gratulieren oder Mascha berüffeln sollte, weil die in ihrer russischunorthodoxen Art mal wieder die Spielregeln auf den Kopf stellte. Gregor lächelte zurück und war im übrigen sehr damit beschäftigt, der Wölbung von Maschas Unterschenkel hinterherzuspüren und dabei so zu tun, als sei’s ihm lästig, das langsame Hin & Her an seinem Hals, als bemühe er sich vergeblich, das Bein, die Wölbung, das Glänzen der Wölbung zu ignorieren, ja, als sei ihm alles im Moment lästig: Mascha, die zum Glück bald runterrutschen würde von der Sofalehne, weil sie als nächste auf die Bühne mußte; Erykah, die ihm von ebendort, breitbeinig wippend, breitbeinig kreisend, aufs allerwerteste gratulierte und, zwischen ihren bronzebraun schimmernden Beinen hindurch zwischen ihren bronzebraun schimmernden Kniekehlen: die Lippen zum Kußmund zusammenrollte. Die Lippen auseinander- und eine rosafarbene Kaugummiblase daraus hervorstülpte, die (wie oft hatte man das schon gesehen!) ganz langsam größer sich dehnte – ganz langsam noch größer sich dehnte – noch größer – und –

    – platzte, die Blase: Alles lästig, die leuchtenden Lippen von Erykah, ihre leuchtenden Zähne, das »Ho-ho« aus der Nachbarkoje, das schräge Licht, die schräge HipHop-Version von Staying Alive, der Dunst, die vielen dicken Leiber rundum, nicht zu vergessen: Max, der den gesamten Abend dazu nutzte, vom DAX zu schwärmen und seiner »Performance«, von »Blue Chips« (»Mann, triple-A, sag ich dir!«) und ihrem »Kurs-Gewinn-Verhältnis« – lästig, das alles, oberlästig und nicht mal annähernd so, bemühte sich Gregor auszustrahlen, wie ein 22. April zu sein hatte, jedenfalls kurz nach Mitternacht.

 

Am wenigsten lästig, natürlich, war Erykah: Je mehr Wäschestücke sie sich vom Körper zog, desto unberührbarer wurde sie, eine rituelle Verzögerung sämtlicher Bewegungen, eine autoerotische Eskalation der Langsamkeit – man hätte sie prügeln wollen, so herrlich langsam wippte sie dahin. Ja, Erykah, deutlich für jeden im Raum zu spüren, verzauberte sich selbst, wunschlos befriedigt von ihrem eignen Anblick, den ihr die Spiegel rundum zuwarfen, eine sakrale Nacktheit, die einem nichts andres übrigließ als festen Arsches zu sitzen und zu hoffen, daß sie immer dort oben bleiben würde, auf der Bühne, und zu hoffen, daß sie dort endlich verschwinden würde, so daß man sein Bierglas wieder ergreifen und die Demütigung vergessen konnte.

Aber genau das tat sie nicht, kniete sich vielmehr an den Bühnenrand und, unterm allgemeinen Anfeuerungsgejapse, beugte sich zu einem runter, der bislang bloß als kahlgeschorner Hinterkopf existiert hatte, als dünner, langgestreckter Hals, um den sich ein FC Bayern-Schal schlang. Beugte sich runter – wie oft hatte man das schon gesehen! – beugte sich runter, der Schalträger wagte’s nicht, sich zu rühren, beugte sich rüber zu ihm und: klebte ihm ihren Kaugummi auf die … bereitwillig rausgestreckte Zungenspitze.

 

Immer hatte sich Gregor bemüht, seinen Geburtstag unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu verbringen oder jedenfalls: allein mit der Frau zu verbringen, um die’s gerade ging: sei’s mit Lou, mit Katarina, mit Eva, die zwar immer besonders nett sein wollten, freilich meist alles verdorben hatten, weil sie derlei gern zum Anlaß nahmen, um über »den weiteren Verlauf unsrer Beziehung« zu diskutieren; sei’s mit – seit jenem verrückten 22. April ’94, kaum daß er ihr die allererste »Hausmarke« ausgegeben hatte – sei’s mit Mascha, die auch den April des darauffolgenden und den April dieses Jahres nur zum Anlaß genommen, ihren Unterschenkel über seinen Hals zu streicheln, hin & her, als ob’s mit ihr immer so weitergehen und man selber höchstens damit beschäftigt sein würde, sehr desinteressiert dreinzusehen.

Diesmal jedoch, dunkles Wetter draußen und drinnen erst wenige Minuten nach Mitternacht, diesmal hatte sich’s nicht verhindern lassen, daß auch Max mit in der Koje saß, sein bester, sein einziger Freund aus Lengericher – sein definitiver Ex-Freund aus Wiener Tagen – Max Schmedt auf der Günne, ein sogenannter guter Bekannter inzwischen wieder oder gar so was wie ein Fastfreund: dem’s an der Zeit jetzt schien, seinen Pferdeschwanz in die Hand zu nehmen, rasch und kräftig dran runterzustreichen, mit vorwurfsvollem Blick ein paar Haare aus der Hand zu zählen und, den Haaren vorwurfsvoll hinterhersinnierend, mit seiner »Geburtstagsüberraschung« rauszuplatzen:

 

Ein Kinderspiel sei’s übrigens nicht gerade gewesen, zischte er an Maschas Unterschenkel vorbei und in Gregors Ohr hinein: nicht gerade ein Kinderspiel, aber als er ihr erzählt habe, daß Gregor »ein begnadeter Klappentexter« sei, da habe Marietta ihren Widerstand aufgegeben, »noch einen von Eckarts alten Schulfreunden« einzuladen.

Klappentexter? So was gibt’s wirklich? habe sie ihn, Max, gefragt, und: Ob das nicht der sei, mit dem sich ihr lieber Mann zerstritten, mit dem er kein Wort mehr gesprochen seit Jahren?

Wieso Schulfreund? fragte sich Gregor: Den ham wir damals doch immer bloß verprügelt?[2] und verfolgte mit einem Auge das Bühnengeschehen, verfolgte, wie Erykah Anstalten traf, sich ihres letzten Slips zu entledigen – zunächst würde sie ihn ein paarmal über ihre Hüftknochen schieben und wieder zurück, als sei sie unschlüssig, und dann, als habe sie’s plötzlich sehr eilig, mit einem einzigen Sekundenschwung bis zur Stiefelspitze runter und, noch in derselben Bewegung, hinter die Bühne.

Wo er doch dermaßen oft gemault habe, er würde auch mal gerne! zischelte Max: Nun, an diesem Donnerstag, da dürfe er also, da sei’s soweit. Und fuhr ihm, nicht ohne Mascha zu beschielen, ob sie was mitbekam, fuhr ihm mitsamt einem kleinen Briefumschlag in die Sakkotasche – Gregor unterdrückte ein: Na, ob das wirklich ’ne Eintrittskarte in ein andres Leben ist? –, nicht ohne den Stoff beim Zurückziehen der Hand mit seiner langen knochigen Neugier zu befingern, nicht ohne seine Überraschung, seine Enttäuschung, seine Empörung, seine Verachtung erst augenbrauenbuschig hoch- und dann an der Nasenwurzel zusammenzuziehen:

Fast hätte er’s ja vergessen zu sagen – Gregor tue sicher gut dran, sich um ein »angemessneres Outfit« zu kümmern.

Angemessneres Outfit? wiederholte der, und die Welt drehte sich, jedenfalls auf der Bühne, drehte sich einen letzten Augenblick lang um die eigne Achse, verbeugte sich und war braun. Ehe Gregor dann freilich dagegenhalten konnte, ob’s etwa angemessner sei, »wie ein abgewichster Immobilienhai!« rumzulaufen, »wie ein verkrachter Börsenspekulant!«, »wie ein! wie ein –!«: klingelte das Max-Handy, wer weiß, an welchem Ende des Dow Jones der Bulle oder der Bär los war.

Herr Schmedt auf der Günne ließ seine Lieblingswörter los (»Shareholder Value«, »Outsourcing«, »Joint Venture«); Mascha fragte, was sie da die ganze Zeit über betuschelt hätten; Gregors Hand rutschte in Richtung Sakkotasche:

Och, nichts Wichtiges. Max habe nur eben beschlossen, ihm morgen ein Sakko zu spendieren.

Gute Idee! schlug Mascha ihre Hände zusammen: Ob er ihm nicht eine anständige Hose dazuspendieren könne?

Es war nicht leicht, vierzig zu werden.

 

Wenigstens war Mascha jetzt dran, im Aufstehen ratterte sie ein paar ihrer wundervollen russischen Rs Richtung Gregor, zupfte ein wenig am Straßbesatz ihrer Kostümierung, deren sie sich gleich entledigen würde – auf zweitbeste Art, denn an Erykah und ihr wippendes Weltbürgertum kam keine ran, jedenfalls keine im »Gasthof zur Nonne«, auch eine Mascha nicht. Obwohl die ja immerhin mal Kunstturnerin gewesen war, damals in Kasachstan, in einem früheren Leben, bevor sie vor drei? vier? fünf? Jahren mit einem halben Dutzend Koffer westwärts gezogen – anfangs in der Hoffnung, ihr Medizinstudium an irgendeinem Ort beenden zu können, wo man nicht ständig Schlange stehen mußte für Dinge, die schmeckten oder sich so weich anfühlten wie Seide, und sehr bald in der Hoffnung, sich mit ihren Handständen und Grätschsprüngen und Flicflacs zumindest auf halbwegs legale Weise »über Wasser« hier zu halten.

Obwohl sie natürlich vom Strippen keine Ahnung hatte.

 

Keine Ahnung davon, wann eine Bewegung weich, wann sie hart sein mußte, wann sie rund oder eckig, langsam oder schnell auszufallen hatte, keine Ahnung! Statt dessen war sie Russin, obendrein eine, die sich immer wieder auf erstaunliche Weise die Glieder verrenken konnte; und daß sie sich währenddessen, quasi nebenbei, auch die Wäsche vom Leib wischte, durfte allenfalls als Zugeständnis an die Gepflogenheiten in der »Nonne« gewertet werden. Oh nein, eine Stripteasetänzerin im eigentlichen Sinne sei sie nicht, würde sie anschließend jedem erzählen, der einen Pikkolo dafür zu zahlen bereit war: jedem, der vom »Hofbräuhaus« ganz eigentlich schon auf dem Weg nach Hause gewesen oder ins Hotel oder zumindest zum Taxistand, dann aber doch erst mal die Treppenstufen rauf genommen hatte, vorbei an den rotumrüschten Schaukästen mit den vergilbten Herzchen, hinauf zur »Nonne«, zu Erykah mit ihrem »Hintern, auf dem könnste glatt ’nen G7-Gipfel abhalten« (Max), zumindest »locker an Doppler abstöin« (Poldi),[3] hinauf zur Tresenschlampe, zu Ulla und Helga, die sich von ihren bevorzugt skandinavischen Beisitzern gern als Dreiviertel-Exoten hofieren ließen, und eben: hinauf zu Mascha, die wirklich aus irgendeiner dreiviertelexotischen Vergangenheit kam, mit deren serieller Wieder-und-Wiederaufbereitung sie all diejenigen, die sich in einer der Seitenkojen verloren und einen Fünfzigmarkschein in sie investiert hatten, dann meisterhaft davon abzulenken verstand, daß es in einem »Gasthof zur Nonne« auch um was Handfesteres hätte gehen können als den real nicht mehr existierenden Sozialismus.

Oh nein, ein Animiermädchen im eigentlichen Sinne oder gar eine Animierdame war sie nicht – Mascha, die sich heute, »zur Feier des Tages« und weil sie ihre Haare ebensowenig leiden konnte wie Gregor, die sich heute gegelt hatte und ausnahmsweise nicht ganz so harmlos aussah, Mascha, mit der Gregor nun schon auf den Tag genau zwei Jahre zusammen nein gewiß nicht: »zusammen« war, sondern höchstens: auf Widerruf »liiert«.

Allerhöchstens – obwohl das inzwischen nicht mal mehr Gregor so richtig glauben konnte.

 

»Global Player! Strong buy!«belehrte Max sein Handy, während er sich mit der andern, der handyfreien Hand mehrere Vögel zeigte und dann sehr schnell auf einen Taschenrechner eintippte, der jede Zahl mit einem kurzen hellen endgültigen Piepston quittierte.

Der rote Samtvorhang zur Nachbarkoje wurde vorsichtig beiseite geschoben; ein dänischer? schwedischer? Blick fiel auf Max, auf Gregor, auf Max; der Vorhang wurde vorsichtig zurückgeschoben.

 

Sicherlich kein ganz ungeeigneter Moment, sich des Briefumschlags zu versichern, sich der Sakkotasche zu versichern, an ihr herumzureiben mit Daumen und Zeigefinger und schließlich den Daumen, den Zeigefinger zu beschnüffeln; bevor sich Gregor allerdings an andern Stellen seines Sakkos zu schaffen und einige weitere olfaktorische Erfahrungen machte, leerte er Maschas Geburtstagssektschale. Und vergaß, während er schnell ein paar Schluck Bier hinterherschickte, vergaß, daß er heut eigentlich böse zu sein hatte, weil schon wieder 22. April war, ein Montag, vergraupelt-Glättegefahr-und-die-weiteren-Aussichten: keine.

Hatte man nämlich lang genug in der »Nonne« gesessen und ein paar Paulaner über und in sich ergehen lassen, dann war das alles gar nicht mehr so unbefriedigend: das Geproste Gepruste aus den Nachbarkojen, das beständige Herumgeschlurfe der Tresenschlampe in ihren Netzstrümpfen und Hauspantoffeln, das schräge Gekreisel der Lichtkegel, durch die der Dunst zur Decke kringelte, die vielen dicken Leiber rundum, insbesondre wenn die Frau, mit der man liiert – nein, seine Freundin war Mascha natürlich nicht – gerade auf zwölf Zentimeter hohen Plateau-Turnschuhen über eine Bühne tanzte, die sich beständig unter ihr wegzudrehen drohte (»’n nettes Bonsai-Bäumchen, haste gar nicht verdient«), wenn sie gerade mit Händen und Füßen und Kniekehlen und Halswirbeln ihre Verpiß dich-Nummer abzog und dabei, den Text Zeile für Zeile mitflüsternd (»Ich weiß genau, du vermißt mich«),[4] Gregor in seiner Stammkoje fixierte – ein Blick, der bis in die Steppen Asiens zu reichen schien, dorthin, wo Mascha herkam und in ihren eigentlichsten Momenten noch immer war (»Quatsch, typischer Grischa-Quatsch! das ist Millionenstadt, echte Millionenstadt, nicht so was Münchenmäßiges wie hier!«) –, dann war »das alles« gar nicht mehr so unbefriedigend, insbesondre wenn diese Frau, mit der man sich in einer knappen Stunde ja tatsächlich verpissen würde, wenn sie wild jetzt in die Welt hineingrätschte und runterrutschte zum Spagat: auch wenn ihr heute bloß ein paar versprengte Mitternachtsschweden, -dänen und FC Bayern-Fans zusahen, mit und ohne Schal, die sicher viel lieber »’n ordentliches klassisches Gestrapse« (Max) von ihr gesehen hätten, etwelches Beckenkreiseln wie bei Erykah, etwelches »Gspaßlaberlwackln« (Poldi)[5] wie bei Helga, die sich als nächste auf die Bühne heben würde – aber was zählte das alles: Mascha war zwar nur Mascha war immerhin Mascha, und wenn sie einem von der Bühne aus zublinzelte, dann … war’s vielleicht gar nicht so schwer, vierzig zu werden.

 

Was dagegen schon ein bißchen zählte, war Gregors Fastfreund Max – seine andauernde Kommentierung des Bühnengeschehens (»Wetten, die ist unrasiert!«) und sein Pferdeschwanz (aschblond) und sein Anzug (kariert) und der breite, der annähernd handbreite Schlips mit den breiten, annähernd handbreiten Schmetterlingen und der Taschenrechner und das Linksrechtsgeschlenker der Hände

»Sag mal, kannst du dein dauerndes Rumgefummel –« und das Gepiepse des Taschenrechners

»Sag mal, kannst du nicht irgendwann –« und die schwarzen Schuhe mit den weißen Spitzen und das Handy

»Mensch, Max, du nervst!« das zigarettenschachtelkleine Handy mit seinem munter intonierenden Macarena,[6] wenn’s einen Anruf und folglich einen Grund zu vermelden gab, es zu doppelter Zigarettenschachtelgröße zu entfalten –

»Nicht mal ’nen Strip kann man mit dir in Ruhe ansehn!«

    – oh ja, das zählte schon ein bißchen. Wie hätte’s Gregor aber auch ahnen können, damals, als ihn Eckart mit einer Stelle als Computer-Hiwi hierhergelockt hatte, daß er’s ausgerechnet und umgehend wieder mit Max zu tun bekommen würde! Mit Max, den er vor fast zwanzig Jahren abgeschafft hatte aus seinem Leben, »für immer« abgeschafft hatte, der sich indessen, hase-und-igel-mäßig, bereits am Tage von Gregors Ankunft ins Gregorleben zurückzudrängeln gesucht: weil er inzwischen mit Eckart fastbefreundet war.

Oder eigentlich mit dessen Frau.

 

Von der er, abgesehen davon, wenn er seinem Handy was über »Nullkupon-Anleihen« und »Genußscheine« erzählen mußte, über »Break even-Points«, »geschlossne Fonds« und wann man »halten« dürfe oder »geben« –,[7] von der er auch heute nicht ablassen würde, in weiter und weiter sich verschachtelnden Nebensätzen zu schwärmen. Weil Mascha aber mittlerweile ein blaues Tuch um die Hüfte geknotet, weil sie ihre verstreuten Glitzerdinge aufgesammelt und sich damit hinter die Bühne verzogen hatte; und weil sie, vor allem, dort nur noch wenige Minuten bleiben würde, bis sie sich mitsamt ihrem russischen Blick und all ihren russischen Rs wieder zu ihnen setzen würde: weil Max also wirklich kaum mehr Zeit hatte, um seine Schwärmereien ungezischelt an den Mann zu bringen, traf er jetzt ersichtlich Anstalten:

»Halten, du Schisser!« sagte er, klappte sein Handy zu, wandte sich an Gregor, als sei’s er, der ihm so zeitraubend widersprochen, und zeigte sich und ihm ein paar Vögel: »In solchen Fällen muß man halten, du Schisser.«

Worauf er aber nurmehr, Marietta hin, Marietta her, einen scharfen Schnellsatz rausließ über Leute-die-alles-mögliche-im-Leben-verpassen-weil-sie-sich-auf-irgendwelches-Gestrapse-konzentrieren-müssen, worauf er mit seiner VISA-Karte die Tresenschlampe herbeiwedelte und es mit einem Mal furchtbar eilig hatte.

 

Die Lichterkette aus blauen und roten Fischen brannte, wie immer, wenn man Maschas Wohnung betrat; die muranogläserne Wanduhr zeigte, wie immer, auf fünf vor zwölf und, wie immer, war’s dermaßen heiß, daß man sofort ins Schwitzen geriet. Der uralte Geruch von Räucherstäbchen. Silberne Putten an den Wänden. Eine auf die geringsten Schwingungen der Fußbodendielen durch Nicken reagierende Plastikpudeldame. Auf dem Bett ein Flokati-Kissen in Herzform. Blau-rot-gelb ein Trio Lumibären im Eck, sanft vor sich hin leuchtend.[8]Und mittendrin Mascha. Die noch hastig, fast hektisch, fast so, als hätte sie Angst davor, ihre Musik auch wirklich anhören zu müssen, Ich find Schlager toll auflegte,[9] um sich dann hastig – »Nö, das ist Serious Listening, aber kapierst du das nicht!« – um sich dann hektisch badezimmerwärts abzusetzen, beinah so, als sei sie in plötzlicher Panik: was Gregor fast zu einem Kommentar verleitet hätte. Statt dessen machte er sich, wie immer, wenn er auf diese Weise mit einer ihrer Fahrstuhlmelodien allein gelassen war, an der Musiktruhe zu schaffen, an ihrem »Altar«, um dort zwischen Kerzenresten, zusammengebastelten Innereien von Überraschungseiern, dem Teller mit dem Plastikobst und dem goldnen »Schatzkästlein« (sprich: ihrer Vergangenheit, die er nur zu gern, Liebesbrief um Liebesbrief, systematisch aufbereitet hätte), um dort zwischen den aufblasbaren Bilderrahmen (mit Photos von ihrer Mutter, ihrem Bruder), den Plüschtalismanen, Zinnfiguren und den andern kleinen Maschadingen nach musikalischen Alternativen zu suchen: vielleicht in der heimlichen Hoffnung, daß sich wenigstens dort etwas verändert hätte seit seinem letzten Besuch, vielleicht um sich zu vergewissern, daß wenigstens dort alles beim alten geblieben.

Die Lichterkette überm Altar verwandelte das Zimmer beinah in eine Kapelle, es fehlte gerade noch, daß ein paar liturgische Gesänge ertönt wären. Statt dessen ließ sich der Meister mit seinen Orthopädischen Strümpfen vernehmen, und das war seit ein paar Wochen Kult.

 

Ob er das Gelächter Gottesgesehen habe? stand sie plötzlich neben ihm, in einem aralblauen T-Shirt mit dem aralweißen Schriftzug »Anal«, nach Zahnpasta riechend nach Nivea, und trotzdem stimmte irgendwas nicht mit ihr, hinderte sie irgendwas dran, programmgemäß müde zu werden: Ob er ihn gesehen habe?

Nein, nicht den Riesen! der vom Himbeer-Bäschtle laufend Obstler spendiert bekommen, das sei bloß Gottes Rechte Hand gewesen.

Sondern den daneben! der so aussah, als könne er nicht mal ’ne Fliege erschlagen, dabei habe er bereits die »Schwarze Mamba« übernommen und den »Leierkasten« und –

»Das Gelächter Gottes?«

Gregor hätte sich gern ein wenig belustigt, Maschas Augen jedoch waren riesengroß, ihre Finger fuhren über die Dinge, suchten in einem fort nach Wachsresten. Und dann sprudelte’s aus ihr raus, ein Wust an Worten ohne Punkt & Komma –

»Ich dachte zuerst er ist geklaut aber nu-gospodi in einer Woche legt er ihn um das ist klar das ist klar oj-jo-joj albanische Mafia redet nicht lang rum die legen gleich um wo werden wir ein Versteck haben ich flehe dich an du gehst an diesem Tag nicht in die ›Nonne‹ Ehrenwort Grischa versprich mir«

    – und als sie dann mitten im Satz abbrach, wollte sie sich in seinen Armen verkriechen:

Ob sie vielleicht bei ihm einziehen dürfe, ausnahmsweise, wenn’s soweit sei?

Allerspätestens nämlich in einer Woche, am Montag, so war’s ihr beim Rausgehen, zwischen Tür & Angel, zugeflüstert worden, würde der Himbeer-Bäschtle »seinen Kopf kürzer gemacht«, so Helga, und die hatte’s vielleicht von Ulla, und die hatte’s vielleichtvielleicht von der Tresenschlampe oder wer-weiß-woher und selbstverständlich durfte Gregor das nicht weitererzählen, »Bože-moj, Grischa, versprich mir, legen sie uns gleich mit um, wenn du – oj-kak-užasno …«.

Gregor fiel nichts andres ein, als Mascha ganz fest im Arm zu halten, das half fast immer. Da sie aber nicht aufhören wollte, alle möglichen Versprechungen von ihm einzuklagen, wurde ihm langsam klar, daß es himbeerbäschtlemäßig demnächst wohl wirklich sehr zur Sache gehen würde; die Albaner, das wußte man inzwischen selbst in München, neigten nicht zur Heiterkeit, das Bahnhofsviertel gehörte ihnen ja bereits. Deshalb! mußte er jetzt auch hoch & heilig versprechen – oder ob er wenigstens mit ihr abhaue, nach Timbuktu?

Mascha, nach wie vor waren ihre Augen viel zu groß; Gregor fiel nichts andres ein, als sie, zusammengeknuddelt wie sie in seinen Armen lag, zum Bett zu tragen:

»Ich weiß was Besseres«, flüsterte er ihr so leise wie möglich ins Ohr: Wenn’s soweit sei, werde er sie einfach wegheiraten.

 

Trotzdem schlief sie nicht etwa ganz schnell ein, wie immer, sondern ruckartig! riß sich empor aus Gregors Standardumarmung und, als hätte sie nicht eben um das Leben ihres Chefs, ihrer Mitarbeiterinnen und um ihr eignes gefürchtet, wollte’s noch mal wissen:

Ob er eigentlich vorhin sein Geburtstagsgeschenk gesehen habe?

Und dann zeigte sie’s ihm, das kleine blaue »G«, das sie sich – in der Tat! Gregor wäre sehr gern in ein Gelächter Gottes ausgebrochen – knapp übern Knöchel hatte tätowieren lassen: knapp übern Knöchel, wo ihr Bein diesen Schwung bekam, diesen Schenkelschwung, und nun stand da ausgerechnet »Grischa, ich liebe dich, los, du Blödmann, laß uns endlich sieben Kinder kriegen«, bloß sehr viel kürzer.

Gregor tippte mit dem Zeigefinger auf Maschas schwarzen Punkt, den sie selbst nach dem Abschminken extra wieder auftrug, etwa dort, wo bei Cindy Crawford[10] das Muttermal war:

Ob er sich jetzt ein »M« einritzen müsse?

»Grischa, chorošo«, räkelte sich Mascha in seinen Armen, »čto ja tebe vse ravno –«[11]

Die Art, wie sie ihn dabei streichelte, ließ es Gregor angeraten scheinen, sich auf schnellstmögliche Weise schlafend zu stellen.

 

Hätte man mit einer Stripteasetänzerinnichts anderes tun können?

Aber hallo.

Doch erstens war sie ja, sozusagen, gar keine richtige Stripteasetänzerin, jedenfalls keine aus Überzeugung; und zweitens tat man’s wohl deshalb nicht, weil man auf eine sehr befriedigende Weise wußte, daß man’s gestern hätte heute tun können morgen, übermorgen. Und: weil man’s viel aufregender fand, gestreichelt zu werden.[12]

Dreisam leuchteten die Lumibären ihr blau-rot-gelbes Lumibärenlicht. Und Mascha – plötzlich war ihr Gesicht auseinandergelaufen und glänzte ganz harmlos.

 

Denn das war das Schönste an Mascha: daß sie immer sehr zügig einschlief, daß man dann neben ihr liegen und sich vorstellen konnte, was man mit ihr bereden und wie man sie dabei ansehen und ihr vielleicht mal durchs Halsgrübchen streichen und überhaupt! was man alles mit ihr machen würde. Während man ihr beim Atmen zuhörte und, im Höchstfall, ihren Arm auf der Brust spürte, wie er schwer und schwerer wurde, bis man ihn wegschieben mußte, während …

    … der kleine energische Mascha-Arm (wie auch das restliche Maschawesen) still vor sich hin glühte, dampfte, selbst im Schlaf noch nach guter Laune roch, rutschte Gregors Blick: auf den Wecker, der sich seit einigen Monaten als Huhn zu tarnen suchte, viel zu laut freilich dabei vor sich hin brütete, viel zu früh stets losgackerte – sinnigerweise mit einem kräftigen »Kikeriki« – und rutschte weiter: auf die Pflanzen, die gleich dahinter loswucherten, auf die bunt lackierten Omamöbel, die Schneekugeln, die schweigsam darauf herumstanden, und wenn er nicht so angestrengt nachgegrübelt hätte, ob diese ganze Geschichte mit dem Himbeer-Bäschtle vielleicht bloß erfunden worden war, von wem immer, um sich die ewiggleichen Nächte in der »Nonne« ein bißchen aufregender zu gestalten, hätte er sich hier, in dieser Höhle der tausend Dinge, fast ein wenig geborgen gefühlt, gegen seinen Willen, versteht sich, fast ein wenig glücklich.

Und wenn da nicht auch, schwarz und schwer, Maschas Hanteln herumgelegen wären, die ihm seit je sehr bedenklich, vielmehr: beängstigend erschienen, vielmehr: Wenn ihm nicht plötzlich dies Schnarren aufgefallen wäre.

 

Dies beständige Schnarren, das vom andern Ende der Nacht rüberkam, wahrscheinlich aus dem Regal mit den russischen Medizinbüchern, und, so schien’s, die ganze Zeit schon von dort rübergekommen war. Als Gregor sich auf den Weg machte, hob die Plastikpudeldame an zu nicken, und als er das kleine Aquarium entdeckt hatte, nickte sie noch immer. Kaum breiter als eine der Maxkrawatten stand es zwischen den Büchern und hieß »Living Reef«, im Grunde nicht mehr als ein durchsichtiges Behältnis, dessen Rückwand ein buntes Korallenriff darstellte. Das Schnarren hingegen rührte von drei Plastikfischen, die unablässig darin auf und nieder schwammen.

Als Gregor das Gerät abschaltete – da sind ja wohl kleine Magneten drin? dachte er –, schwebten die drei Fische zu Boden und gaben Ruhe.

 

Die Einladung zu Mariettas Salonkonnte er folglich erst am nächsten Morgen lesen, als er, ganz in Schwarz, vor dem Loden-Frey auf Max wartete und dabei noch schnell eine Leberkässemmel einnahm; aber was heißt hier »lesen«: Abgesehen vom Datum – ob das Gelächter Gottes dann bereits zugeschlagen haben würde? – waren lediglich Thema und Adresse angegeben:

»Sind Hochdruckgebiete männlich? Villa Hasenpusch, Feldafing«.

Doch das reichte, reichte vollauf, das war – wenn’s auch nur annähernd stimmte, was man von Marietta die letzten Jahre hatte hören müssen – war vielleicht wirklich die Eintrittskarte in ein ganz andres Leben? Mindestens.

Ihre Schrift sah so aus, als trüge sie eine Brille.

 

Max befingerte die in Serie hängenden Anzügewie einst Plattenhüllen in den Regalen seiner Schulkameraden: rastlos, unbefriedigt, stets in Erwartung des erlösenden Aha-Erlebnisses. Trotzdem ließ er die Schultern noch mehr hängen als sonst, sah ziemlich schluffig aus, nahezu niedergeschlagen; und während Mascha wahrscheinlich längst auf irgendwelchen Ämtern über irgendwelche Verlängerungen von Verlängerungen von verlängerten Aufenthaltsgenehmigungen oder -bewilligungen oder gar -erlaubnissen verhandelte, verschwand Gregor erst mal in einem Ledersessel und harrte der Sakkos, die da kommen sollten.

Bestarrte den roten Läufer zwischen den Verkaufstischen.

Bestarrte die Wände, an denen, in großen Goldbuchstaben, Namen wie Zegna, van Laack, Ralph Lauren standen.

Bestarrte den Verkäufer, der sich, mit eingesticktem Monogramm auf dem Hemd, als bekennender Brioni-Träger präsentierte: und es angebracht fand, sein Revers zu Demonstrationszwecken vorzuklappen – sein Revers, in dessen Knopfloch eine kleine blaue Blume steckte – und auf die winzige Vase zu verweisen, die dahinter angebracht war. Weltweit sei er einer von, na-sagen-wir-mal-großzügig-geschätzt, von vielleicht zehn, die solch eine Brioni-Vase mit sich herumtrügen. Oh ja, da sei Wasser drin, richtiges Wasser.

Erst nach dieser Einführung nahm er sich Gregor vor, lockte ihn an die Gemischtwarenstange und beschloß, daß ein »angemessneres Outfit« mit einem Sakko allein bei ihm nicht zu bewerkstelligen sei:

»Schwarz, kombiniert mit Schwarz, das können Sie später immer noch tragen.«

 

Genau genommen war’s der erste Anzug, mit dem sich Gregor seit seiner Kommunion auseinanderzusetzen hatte, aber daß er darin derart seriös wirkte, sobald er sich vor einem der Spiegel aufbaute, Standbein-Spielbein-und-eine-Hand-ganz-locker-in-der-Hosentasche, das sorgte denn doch für einen leichten Melancholieschub.

Ob »der Herr« denn auch in Zukunft gedenke, Hochwasserhosen zu tragen? frotzelte der Verkäufer, an allerlei Stellen des Anzugs herumzupfend.

Was die ersten vierzig Jahre richtig gewesen, zog Gregor die Hand aus der Tasche: das könne wohl nicht die zweiten vierzig Jahre falsch sein.

Da habe er ja eine nette Sammlung an Schrullen, meinte der Verkäufer und stülpte ihm als nächstes ein grünlich schimmerndes Sakko über, das eigentlich grau sein sollte: »frisch und jugendlich« wirke, »zeitlos«, obendrein »sehr vorteilhaft geschnitten« sei, folglich genau das Passende für einen wie ihn, das mache richtig gute Laune.

Max, der sich zwischenzeitlich mit seinem Handy beschäftigt hatte, riß das Kinn hoch und keuchte sich die Heiterkeit aus dem Hals, beschränkte sich dann wieder auf halbgenuschelte Kleidungskommentierung, Kleidungspreiskommentierung (»Immer 10% liquide bleiben, denk dran«). Streute ansonsten das eine oder andre Detail über Eckart Beinhofer ein – Ecki als Pollunderträger, Ecki als Pfeifenraucher, Ecki als Freund der Lederkrawatte, »jedes für sich schon ein Trennungsgrund« –, streute das eine oder andre Detail über Marietta Beinhofer ein – als Möchtegern-Femme fatale, als Lautlacherin, als eine, die den Salon nur deshalb erfunden habe, um sich einmal pro Monat ihren großen Auftritt zu verschaffen.

Ob’s dabei wenigstens was zu essen gebe? fragte Gregor mehrfach, während er sich in die Umkleidekabine und dort in eine grünlich schillernde Hose hineinbegab, die eigentlich grau sein sollte.

Oh ja, da gebe’s was, versicherte ihm Max durch den Vorhang hindurch: so ’ne Art ukrainisches Sushi, so ’ne Art Trockenfisch mit viel Salz drauf. Und ohne Reis drunter. Naja, als Trinkbeilage. Am besten, man esse vorher, dann komme man nicht in Versuchung.

Perfekt, der Herr! lobte sich der Verkäufer, als Gregor aus der Kabine raustrat. Der grinste möglichst grimmig in den Spiegel, Standbein-Spielbein-beide-Hände-lässig-im-Hosenbund, und kam sich wie ein Tanzlehrer vor.

»Leider teuer«, kommentierte Max.

Indem sie sich allerdings vor der Kasse einfanden, zog er nicht etwa eine seiner Plastikkarten, sondern vorwurfsvoll an seinem Pferdeschwanz und, Gregor wollte ihm schon ein Wär-aber-nicht-nötig-gewesen auf die Schulter tätscheln, mußte zugeben, daß seine Lieblingsaktie über Nacht einen Schwächeanfall erlitten, daß er sich zu einem Stützungskauf hatte hinreißen lassen und ihm nun jede Motivation fehle, Gregor (der diese Nacht schließlich keinen Pfennig verloren hatte) auch noch ein Sakko zu spendieren.

Wenn er ihm freilich einen Rat mit auf den Weg geben dürfe: »Laß deine ewigen Burlingtonsocken verschwinden. Du bist ja kein Student mehr.«

 

Kaum zu Hause angekommen, widmete sich Gregor erst mal der Sockenbeschnüfflung, insbesondre derjenigen der Burlingtonsocke.

Wie leer seine Wohnung immer war, wenn man von Mascha kam und all ihrem Krimskrams, wie angenehm geordnet und »super unbewohnbar, Grischa, wie hältst du eigentlich hier aus?«

Gut hielt er’s aus, sehr gut sogar, man brauchte bloß mit der nackten Hand unterm Regal mit den Handbüchern rumzufahren oder hinter der Yucca-Palme, schon hatte man eine schöne fette Wollmaus zusammengewischt: die man dann beschimpfen konnte.

 

Den ganzen restlichen Tagbemühte sich Gregor, Papier aus seinem Zimmer zu schaffen – zumindest von der linken Seite des Schreibtischs auf die rechte. Wenn wirklich in einer Woche Köpfe rollen sollten, waren bis dahin noch eine Menge Klarsichtfolien zu füllen.

Wahrscheinlich war er nicht zuletzt deshalb so erfolgreich in seinem Beruf, weil er jedes Buch von vornherein ablehnte, weil er’s nicht wie ein Stückchen Weltliteratur besang, sondern wie ein notwendiges Übel: weil er also nicht versuchte, beim Lügen ein bißchen Wahrheit zu sagen, sondern klappentextete um des Klappentextens willen. Und: weil er im Lauf der Jahre hunderte von Lobeshymnen, nach diversen Genres sortiert, im Ordner »Phrasendreschmaschine« als eine Art Notfundus für schlechte Tage abgespeichert hatte.

Was man nicht im Kopf hat, zuckte er auch heute schließlich mit den Schultern, das muß man auf der Festplatte haben: und bootete seinen Mäc mit einem Einliterrülps, den er vor Jahren eigenhälsig eingespeichert hatte.

 

»In wunderbarem Gespürfür Figuren und Orte?« schaute Gregor hilfesuchend rüber zu seinen Regalheiligtümern, »die er für uns mit leichter Hand skizziert?« aber die Regalheiligtümer taten so, als sähen sie ihn nicht, »zieht er uns auch mit seinem neuen großen Roman ›Die Niemandsschwuchtel‹ unmerklich in einen Strudel scheinbarer Zufälligkeiten?« und selbst als er teppichwärts zu einer seiner Kleinen Konzentrationsrunden aufbrach, »die uns mit ihren überraschenden Wendungen bis zur letzten Zeile in Atem halten?« drehte sich allenfalls der Gartenzwerg heimlich nach ihm um, der seit Gregors 39. Geburtstag vom Fensterbrett runterpinkelte, »das Werk eines Meisters?« drehte sich allenfalls Evas Kaktus heimlich nach ihm um, Kristinas Stoffrabe, Tanias Silberstiefelette.

 

»Was steht ihr hier so dämlich rumund schaut mich an?« schimpfte Gregor, indem er mit einem Überraschungsschritt zur Mitte des Teppichs die Kleine Konzentrationsrunde abbrach: »Los, haut rein und baut ein Floß!«

Das saß.

Hatten die Stiefelette, der Rabe, der Kaktus, der Zwerg, hatten der Bleistiftspitzer, der Scanner, das Q-Tip-Stäbchen, die Stapel mit den aktuellen Druckfahnen, hatten sie alle bislang bloß rumgestanden und getan, als würden sie nicht dazugehören: so standen sie jetzt alle rum, die Vitaminpillenschachtel, das Handbuch der treffenden Ausdrücke, der Stapel mit den Verlagsprospekten, und gehörten dazu.

Ein Floß freilich bauten sie für ihn nicht.

 

Gregor hatte sich nämlich angewöhnt, und daß er seit Jahren allein wohnte, mochte da eine gewisse Rolle gespielt haben, nicht nur mit sich selber laut zu reden, sondern auch: mit den Dingen, die ihn umgaben; und je länger er mit ihnen zusammen wohnte, um so genauer glaubte er, sie zu kennen, ja irgendwann sogar: zu wissen, was in ihrem tiefsten Innern vorging. Denn wenn er sie nicht gerade zur Rede stellen mußte, liebte Gregor die Dinge, und die Dinge liebten ihn – schließlich hatten sie’s sehr gut bei ihm, weit besser als bei allen andern.

Jedenfalls glaubte das Gregor. Stand er mittags vor dem »Adria« – landauf, landab pries man das Gutgemüse, aber eine schöne fette Schinkenpizza auf der Hand lag ihm weltanschaulich einfach näher –, saß er anschließend im »Venezia« und nahm seinen Espresso zu sich, mußte er oft Dinge mit ansehen, die ihm schier den Schweiß auf die Gregorstirn oder, zuallermindest, die Schamesröte ins Gesicht treiben wollten, so sehr litt er mit ihnen, wenn man sie auf die falsche Weise betrachtete, auf die falsche Weise ergriff, verrückte, verzehrte, vergaß.

Ein Mann, der seinen Kaffee wie einen Schnaps kippte: sich beide Backen voll laufen ließ und den Kopf nach hinten warf, anstatt ordnungsgemäß zu schlucken, und dann auch noch die Tasse achtlos absetzte, so daß sie nicht in die Vertiefung der Untertasse zurückgelangen konnte – das tat Gregor weh, das wollte wiedergutgemacht werden.

Natürlich wußte er ganz genau, daß er mit seiner Liebe ein wenig übertrieb, aber das taten die andern mit ihrer Lieblosigkeit nicht minder; und solang es ihm ein Bedürfnis war, sah er keinen Grund, sich gegenüber den Dingen danebenzubenehmen:

»Na gut, ich seh schon: Ihr habt heut keine Lust.«

 

Doch auch Selbstbeschnüfflungwollte nicht recht weiterhelfen; und während sich Gregor einen Cappuccino-Beutel mit heißem Leitungswasser aufgoß, verwünschte er die gesamte Leopoldstraße 48, keiner in diesem verdammten Haus drehte die Anlage auf, keiner verprügelte seine Frau, kein kastrierter Italiener, der seine Arien übte, nicht mal Horst und Ingo kreischten durch ihre Wohnung, irgendeine Wagnerszene nachspielend, nicht mal das.

 

Wenigstens der Hundsnurscher fluchte programmgemäß, wie jeden Montag oder Dienstag abend, wenn er mit einem Kasten Augustiner Edelstoff in den fünften Stock keuchte:

»Gäh weida, Saubazi, sakrischa!«

Die Flüche galten seinem Kerl, der in Gregors Augen ganz offensichtlich zur Familie der Mopsartigen gerechnet werden mußte – »Dees feid no, du Aff!« – und die Gelegenheit nutzte, um seine Lieblingstürstöcke zu besuchen: »Gemma, gemma!«

Der Kerl, der trotz seines hohen Alters nicht zur Folgsamkeit neigte, hatte jedoch alle Zeit der Welt – »Kruzefümfal!« –, nicht minder keuchend schleppte er sich treppenstufenweise aufwärts, und weil er darüber hinaus mit der Absonderung übler Darmwinde beschäftigt war, die er so leise und geschickt in die Welt hineinzugeleiten wußte, daß selbst sein Herrchen davon überrascht wurde – »Pfui Daifi! Oide Sau, oide!« –, hatte sich’s Gregor zur Gewohnheit gemacht, von seinem Schreibtischstuhl aus Anteil zu nehmen.

Nur einmal, als er, von einer Großen Konzentrationsrunde heimkehrend, den Fehler begangen, in das Gefluche des Hundsnurschers einzufallen, hatte er sich das Vergnügen gründlich verdorben, denn das war dem Hundsnurscher gar nicht recht gewesen, wie da plötzlich auch jemand andrer als er selber den Saubazi beschimpfte, und wenn dem die Verdauung Probleme bereitete, mein-Gott, dann lag’s halt daran, daß er wieder mal zuviel von der Toblerone stibitzt hatte oder der Toffifee oder, »Heagodssau«, von den Schnapseiern.

Und im übrigen war der Saubazi natürlich kein Mops, wo wären wir denn da hingekommen, sondern mindestens eine Art Mopsdackel und somit ein nicht ganz reinrassiges Zamperl – »Sakradi, du oide Furztromme, vareck!«

 

Verrecken freilich wollte der Saubaziauch heute nicht, soweit war an diesem Montag alles in bester Ordnung; als dann aber der Bierkasten zu Boden schepperte und es ganz still draußen wurde für ein paar Sekunden, als ein halblautes »Ja Kruzitürkn, wos is nocha dees?« folgte, ein dreiviertellautes »Jetz schaugts eich dees oo«, da mußte sich Gregor hinter seine Wohnungstür begeben; und als nebenan, beim Schlammerl Horsti, die Klingel gedrückt – »Aussa! Kemmts aussa, ihr Saukrippin« – und gar nicht mehr losgelassen wurde: war’s natürlich angebracht, die Tür zu öffnen.

Und da stand er denn, brustwarzenhoch, der Hundsnurscher, sein kleiner runder Glatzkopf schimmerte noch eine Spur roter als sonst, sein ranziges Rasierwasser roch noch eine Spur ranziger:

»Scheiß drauf, Saubazi, scheiß drauf!«

Aber der Saubazi dachte nicht dran, seinem Herrchen zu gehorchen, das, entschlossen schnaufend, mit seinen beiden Fäusten daranging, die Tür des Horstis zu betrommeln:

»Kruzitürknnooans, wieso mogstn du jetz ausgerechnet ned aufm Schlammerl sein Fuaßabstreifa auffescheißn, sog?!«

Herr Bruno Hundsnurscher, Inhaber des »Flaschenspezi« und seit über einem Vierteljahrhundert jemand, der im Haus von jedermann gegrüßt wurde – selbst nach dem Tod seiner Frau hatte ihn Gregor nicht so fassungslos gesehen. »A Sauarei« sei das, »a glatte Provokazion«, während er auf den neuen Fußabstreifer zeigte, der vor der Horstwohnung lag, bunt und borstig, während er auf dessen Schriftzug zeigte, ein buntes borstiges »Fuck in«, während er noch immer trommelte, klingelte, bis der Horsti und der Ingo von innen losprusten mußten, »Neamands dahoam!«, und dann doch rauskamen.

Als erstes natürlich der Horsti, ein ehemaliger Bodybuilder mit Dreitagebart, der sich schon für seinen Abendauftritt im »Crazy Horst« gerüstet hatte – einer der letzten Schwulen vermutlich, die nicht von Calvin Klein durchgestylt waren und nach Cool Water rochen. Trotz seiner glänzendschwarzen Lederhose wirkte er so vertrauenerweckend, daß er sich überall ungeniert als Sackkratzer betätigen durfte, selbst Gregor wäre dabei nie auf die Idee gekommen, sich zu schämen oder wegzuschauen.

Hinter dem Horsti: der Ingo, in einem seiner nachgeschneiderten Ludwig II.-Gehröcke, sich mit großer einladender Geste gleich neben die geöffnete Tür stellend, »Fuck in, fuck in!«, und in seinem Hermelinpelzkragen herumkraulend.

 

Der Saubazi aber, erst in seinem übernächsten Leben ein Kampfhund, bewedelte die beiden eifrig mit seinem Stummelschwanz, anstatt sich an ihrem Abstreifer zu vergehen, versuchte gar, am Ingo hochzujapsen – »Bist narrisch, Bazi?« –, was ihm aufgrund seines Körpergewichts freilich kaum gelang.

Woraufhin der Horsti, dem bislang bloß die Kiefer malmten, zur Sache kommen wollte; unter dem schmalen schwarzen Halsband, das er sich letzthin quer über die Gurgel hatte tätowieren lassen, klopfte das Blut:

Wie denn seiner, des Hundsnurschers, Meinung nach ein ordentlicher Fußabstreifer auszusehen habe?

Der Hundsnurscher, auf den Löwen deutend, der vor seiner Tür ruhte, genaugenommen, auf die Silhouette des Löwen – der eigentliche Löwenleib war bereits völlig weggetreten und das »Haxn abkrazn« kaum noch zu entziffern:

So.

Ob der nicht »scho a bissl arg dahaut« sei? trat der Horsti einen Schritt auf ihn zu.

Der Hundsnurscher, nur auf den ersten schmalen Blick hätte man ihn mit einem bayuwarischen Urviech verwechseln können, der Hundsnurscher war zwar einer, dem der Kopf einschließlich seines leichten Kropffortsatzes schnell einmal rot anlief, dafür aber hatte er ein kohärentes Weltbild:

Ob die Herrschaften, man sei ja ohnehin bei solchen wie ihnen zu einer Toleranz gezwungen, ob sie denn gar keinen Funken Anstand nicht in sich verspürten, sowas, das sei doch eine Zumutung, moralisch impertinent, und –

Der Ingo verbeugte sich; der Schlammerl Horsti, »A so a Schmarrn«, stand in seiner ganzen Massigkeit herum, sagte nur immer »A so a Schmarrn« und

    – überhaupt: eine Obszönität, das gehöre sich nicht.

Eifrig nickend und mit einem kurzen Bis-morgen-um-dieselbe-Zeit kicherte sich der Ingo in die Wohnung zurück; dem Horsti schwoll die Schlagader so gewaltig an, daß das Halsband drauf & dran war zu zerreißen: Einen Anstand, den habe er mehr als manch andrer hier im Hause, und der Fußabstreifer, der sei ihm von einem seiner Stammgäste vermacht worden, und damit basta-Schluß-Aus-fertig, »weis wuaschd is«.

Das schere ihn einen feuchten Dreck, zeigte sich der Hundsnurscher sichtlich unbeeindruckt: Die Sauerei gehöre weg, dafür werde er sorgen.

Wie er das denn zu tun gedenke, wollte der Schlammerl Horsti wissen und wölbte sich in seiner ganzen Größe direkt vor ihm auf.

»Dees weast nacha scho seng!« meinte der Hundsnurscher noch.

Nichts, gar nichts werde er sehen, verlautbarte der Schlammerl Horsti und wollte schier aus dem Sakko herausplatzen: Das sei nämlich seine eigne Angelegenheit, was er sich vor die Tür lege »und wos ned«.

Der Hundsnurscher, dem Schlammerl tapfer ins Auge schauend: »Machts nua so weida, ihr zwoa –«

Der Schlammerl, man sah ihn bereits, wie er den Hundsnurscher einfach zusammenknüllte und gegen die Wand warf: »Mia zwoa woos?«

Gregor, das Rasierwasser des Hundsnurschers noch deutlicher wahrnehmend: Ääh –

Der Schlammerl, man sah ihn bereits, wie er den Hundsnurscher einfach an den Schultern ergriff und in zwei Teile riß: »Du Kaschpal, du. Hosdu übahaupts as Abitua?«

 

Woraufhin die Sacheentschieden war. Herr Bruno Hundsnurscher, seit einem Vierteljahrhundert Respektsperson des fünften Stockwerks, lupfte sich den Edelstoff vom Boden – »Kumm her, Saubazi, mit dem dischkriern ma do nimma lang!« – und knallte die Tür hinter sich zu.

Um sie gleich noch mal kurz aufzureißen: »Saubreiß, bayrischa!«

Und der Schlammerl? kratzte sich, packte den Abstreifer und – drehte ihn auf die andre Seite: »Fuck off«.

 

Eine sofort eingeleitete Umstrukturierungsmaßnahmein Sachen Sockenbelüftung samt Plazierung eines hartnäckig undurchen Camemberts auf dem Heizkörper – war das eine; das dösige Dahinklicken der Phrasendreschmaschine bei gleichzeitigem Hineinlauschen in den nunmehr vierzigjährigen Gregorkörper, ob irgendwo vielleicht die Vergänglichkeit mitklickte – war das andre: und beides kein Trost dafür, daß der Schlammerl nicht Mörder hatte werden wollen.

Als das Telephon läutete, dachte Gregor kurz, es sei Mascha, die ihm vom Tod des Himbeer-Bäschtles berichten würde, zur Feier des Tages. Aber es war nur seine Mutter, die gratulieren und dann mal wieder hören wollte.

Hatte man als Vierzigjähriger nicht die Pflicht, eine Art Zwischenresümee zu ziehen? und anschließend in eine große Krise zu geraten?

Als das Telephon läutete, dachte er kurz, es sei vielleicht Marietta, die schon ebensoviel von ihm gehört hätte, dem sagenumwobnen Gregor Schattschneider, wie er von ihr und die sich’s nicht nehmen lassen wollte, ihm persönlich kundzutun, wie sehr sie sich freue, ihn nun endlich kennenzulernen. Aber es war nur Tante Eusebia, die gratulieren und dann mal wieder hören wollte.

Also gut, es mußte sein.

 

Schließlich hatte er bloß noch zwei Stunden langGeburtstag. In entschlossner Grimmigkeit stellte sich Gregor vor den Flurspiegel, Standbein-Spielbein-beide-Hände-tief-in-den-Taschen, und fand sich in seinem grünlich schimmernden Anzug, der nach wie vor grau sein wollte, fand sich ziemlich bescheuert.

Egal, es mußte sein.

 

Das Praktische nämlich am »Roxy« war, daß man bereits in dem Moment, da man die Haustür aufmachte, sah, mitunter auch hörte, was dort gerade lief und was nicht: Denn die Haustür befand sich, einige Meter versetzt von der Straße, genau zwischen den Schaufenstern des Maßhemden-Hirtl auf der einen und denen des »Roxy« auf der andern Seite – das Praktische war, daß man das Haus zwar für siebeneinhalb Schritte verlassen, es jedoch nach siebeneinhalb Schritten wieder betreten und also gar nicht anders konnte, als der Versuchung mehrmals wöchentlich zu erliegen.[13]

Zwar hatte das »Roxy« seine besten Zeiten längst gesehen – man war versucht, in jedem dritten der sonnenbebrillten Gäste ein Gelächter Gottes zu vermuten oder eine Rechte Hand –, aber das änderte nichts an seiner idealen Lage: Wenn nicht gerade Drum & Bass- oder Sonstwie-Night war, konnte man hier sehr gut sitzen und bis drei Uhr nachts rüberschauen auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf die neonblauen Schriftzüge der Hypobank, auf die grüngelben vom Body Shop, die roten vom »Single’s Dancing«,[14] und allein blieb man dabei auch nie lange, weil im Verlauf des Abends genug vorbeikamen, die man kannte: der Rosenverkäufer, der Münchenmagazinverkäufer, der Biss-Penner,[15] der Silberfex mit seinem Kästchen Silberfexereien und – mehr als genug, die man nicht kennen wollte.

Zum Beispiel das Turnschuhrudel am Nebentisch: drei Schnauzbartträger, deutliche Erscheinungen allesamt, einer mit Kappe und zwei karierten Hemden übereinander, einer in ärmelloser Daunenjacke, Marke Big Pack, der dritte, sicher ein Münzautomatenaufsteller, in auberginefarbenem Blouson. Wer die wohl reingelassen hatte?

Eine dieser notorischen Halbschönheiten plazierte sich, ziemlich münchenhaft aufgebrezelt, direkt vor Gregor an einem Tischchen auf dem Bürgersteig. Wo unter den orangeroten Markisen die Heizstrahler standen, auf daß man bereits Ende April darunter sitzen und sich dem Glauben hingeben konnte, hier sei die nördlichste Stadt Italiens.

Stur sah sie geradeaus, auf den gegenüberliegenden Straßenrand, wo die Taxis warteten; Gregor, um nicht vom Gefühl ergriffen zu werden, was zu versäumen, oder gar von der Angst, auf keine mehr zu wirken, Gregor feierte Geburtstag: sprach dem Weißbier zu und berätselte die androgyn polierte Oberfläche des Kellners.

 

Die Chinesin mit ihren Fröschen, denen das Feuer aus dem Maul sprang, mit ihren Kloschüsseln und Totenköpfen, aus deren diversen Höhlungen die Stichflammen blau emporschossen, die Chinesin, die ihm noch schnell ein brennendes Ufo zeigte und mit der andern Hand ein nahezu klassisch geformtes Teil aus Plexiglas, das beim Zurückklappen des Deckels grünrot erblinkte (»nur zehne Mak«): die hätte Gregor fast ein wenig erschreckt beim Feiern, seine Handbewegung fiel entsprechend unwirsch aus.

Als aber die drei vom Nebentisch das wilde Winken begannen, unter großem Hallo geschäftig wurden und schließlich das grünrot blinkende Feuerzeug auf acht Mark runterhandelten, begriff Gregor, daß er einen Fehler gemacht hatte. Einen Fehler, der vielleicht nur dadurch wieder wettzumachen war, indem man den dreien nachging.

 

Doch erst vor einem veritablen Trinkfachgeschäftnamens »Schwabinger Sieben«, das vor lauter Musik aus seinem Innersten heraus zu bersten schien, hielten sie inne – ein Türsteher mit Mütze und Ziegenbart, der Blondinen abwimmelte (»Dees is nix füa eich zwoa«)[16] und dem glotzenden Big Pack nebenbei Prügel androhte (»Mogst feng, ha?«), überzeugte sie:

»Da muuv ma eini«, verkündete der Big Pack.

»Da drin, da ess ma jetz a Bia«, bestätigte der im Blouson.

»Weis wuaschd is«, wollte sich Gregor, als sei er einer der ihren, auch gleich am Türsteher vorbeidrücken; der aber, »Momental«, vertrat ihm den Weg und meinte, sich selbst als Downhill-Charly vorstellend:[17]ihn kenne er noch nicht, ob er gar Bayern-Fan sei?

Um Himmelswillen, er werde doch nicht etwa so aussehen?

»A bissal scho«, zögerte der Türsteher beiseite, »leida.«

 

Die »Sieben« war nicht viel mehr alseine Schuhschachtel mit dunkelbraunen Wänden, an denen der ausgeschwitzte Bierdampf runterrann, bevölkert von Stammtrinkern in Flanellhemden, Cowboystiefeln, Parkas, ein Reservat für Paketausfahrer, Pommesbrater und all die andern, denen langsam die Luft ausging: Hier drin waren sie um die 80er-Jahre rumgekommen, und hier drin, da waren sie sich einig, würden sie auch die 90er überleben.

Denn was in der »Sieben« noch immer zählte, war ein durchgängiges Gitarrengesäge, ein dumpf durchs Dreivierteldunkel dahinpulsender Baß, ein stur geradeaus treibendes Schlagzeug, selbst wenn dazwischen, das einzige Zugeständnis ans kommende Jahrtausend, unvermittelt irgendein reingesampeltes Westernthema ertönte, eine Rapzeile, das Traritrara einer alten Schlagermelodie – ob das Grunge sein sollte oder Gothic oder Hardcore oder Crossover oder? was auch immer, hier spielte die Musik, und es blieb einem nichts weiter übrig, als dazu mit dem Kopf zu nicken oder mit irgendeinem andern Körperteil zu zeigen, daß man sein Lätschenbräu[18] nur des Sounds wegen in sich reintrank.

Das Turnschuhrudel aus dem »Roxy«, das dort so sehr gestört hatte, hier fügte sich’s sofort ein in den Rhythmus des Abends, belungerte die Theke, knallte die Gläser aneinander (»Weiba und Weißbia muaß ma – hohoho!«), forderte vom Zapfer eine Runde Rüscherl[19] und verglich seine Schlüsselanhänger: einen Augapfel, eine nackte Frau, die quietschte, sobald man auf sie drückte, einen kleinen Stift, aus dessen Spitze ein Laserstrahl herausfuhr: Mit dem zielten die drei so lange auf den Nietengürtel einer Frau, die sich einem weißen Pulverhäufchen widmete, bis sie … sich mit einem herzlichen Thekengelächter begnügen mußten, »ssauguad«.

Vor allem aber ließen sie ihr Feuerzeug grünrot aufflimmern, was ihnen reihum viele Freunde einbrachte; indessen sich Gregor, sofern er nicht damit beschäftigt war, den Oberkörper zu wippen, dezent gegen die dunkelbraune Schuhschachtelwand drückte.

 

Und die Gelegenheitkam. Der Zapfer nämlich, ein quadratisches Wesen, das sich mit einem T-Shirt bespannt hatte – übern Brustkasten lief ihm in ausgewaschnen Lettern »Wir fordern die 35 Liter-Woche«, übern Rücken der ausgewaschne Zusatz »Bei vollem Glas« –,[20] was zusammen mit seinem blonden Zopf eine Behäbigkeitsinkarnation des Mittleren Südens ergab, der Zapfer nämlich, der nahezu pausenlos »Gedecke« aus Rüscherl und Bier zusammenstellen mußte, spritzte jedesmal ein paar Tropfen Asbach auf die Nase einer kleinen Katze, die sich sofort und zur Erheiterung der Tresensteher wild über die Theke zu drehen begann. Und die Gelegenheit da war:

Denn der Big Pack, freudig erregt, zog sich – und dabei rutschte ihm das Feuerzeug runter – zog sich die Katze direkt vor sein eignes Rüscherl und, nachdem er sie so lang betröpfelt hatte, bis sie gar nicht mehr wußte, in welche Richtung sie sich drehen sollte: warf sie in überraschend hohem Bogen gegen die Schuhschachtelwand, von wo sie auf Gregor runterplumpste, auf Gregor, der mit halbgeschlossnen Augen vor sich hin wippte.

Bevor der die Augen aufbekam und begriff, war die Katze wieder hinterm Tresen, »ssauguad«. Das Feuerzeug freilich blieb am Boden liegen, und als Gregor ein paar Gitarrenriffs lang abgewartet hatte, ob sich irgendwer dran erinnern wollte,

 

riß die Musik plötzlich ab, verkündete man die Sperrstunde. Von der dröhnenden Stille erwachten auch die, die bislang bloß auf den Tischen gelegen. Einer aber, der den ganzen Abend lang Luftgitarre gespielt hatte, schulterte seinen Stuhl und, indem er an dessen vier Beinen abwechselnd wie an Dudelsackpfeifen herumhantierte und gleichzeitig, mit vollen Backen und im tiefen Glauben, sich für diesen Auftritt tatsächlich in einen Dudelsack verwandelt zu haben, eine dazu passende Melodie sich abpreßte – einer jedoch sorgte für eine Zugabe. Selbst ein Gregor wollte ihm danach sein Markstück nicht versagen, wollte beschließen, daß der Abend wohlgeraten und es also nur vernünftig war, bald wiederzukommen.

Obwohl sich der Big Pack jetzt doch noch schnell erinnerte, doch noch schnell bückte und die Gelegenheit vorüber war.

 

Gregors Nachgeburtstagbegann mit der Erkenntnis, daß man als Vierzigjähriger offensichtlich eins weniger vertrug; begann damit, daß man seine grauen Haare im Spiegel betrachtete, genau genommen, den Zuwachs an grauen Haaren; daß man das Hemd handbreit aus dem Gürtel zog, bis es genügend Falten warf; daß man möglichst ungrimmig dreinschaute, möglichst ungefährlich, möglichst rasiert, um wenigstens wie 39 zu wirken; begann mit Benzon & Hedges.[21]

Denn der Dienstag, ein allwöchentlich wiederkehrendes Leitmotiv, war der Tag der Beseitigungsmaschine. Als die beiden Punkt neun klingelten, ein kleiner fröhlicher »Gute Moogen«-Benzon und seine noch kleinere, wortlos gleich draufloshutzelnde Mutter,[22] war das Küchenradio gerade erfüllt von einer Stimme, als hieße die Frau, nein eigentlich, das Mädchen mit dieser Stimme: Kristina.[23]

Ihr philippinisches Grinsen ist heut wieder besonders illegal, dachte Gregor, sich sofort in die Küche zurückziehend (wo das Radio aber bloß noch Abspülmusik spielte), und schon schmatzten und grunzten sich die beiden voran, den frühlingsfrisch duftenden Lockspuren an Bad-, Glas- und Allzweckreinigern hinterher, die Hedges als die Putzmutter und Chefin des Unternehmens gleich nach ihrer Ankunft in alle Richtungen legte. Den Rest des Dienstag vormittags verbrachte sie, schnatternd, an strategischen Punkten der Wohnung, ihren Sohn, der seinerseits unablässig zurückschnatterte, in Ecken & Winkel scheuchend, daß es eine Art hatte.

So daß die beiden fast an jedem Dienstag mittag, zum Abschied, vor Gregor erschienen und mit stummer vorwurfsvoller Gebärde Nachschub forderten, mal fehlte das gelbe, mal das grüne, das blaue Viss, mal die Scheuermilch, mal der Kalk+Rost-Reiniger, die WC-Ente; Gregor fragte sich, ob sie, die des Deutschen ja kaum mächtig waren, den Inhalt ihrer Flaschen je einer ordnungsgemäßen Bestimmung zuführten oder ob sie ihn wahllos in der Wohnung verteilten, weil’s ihnen (und Gregor auch, wie sie wohl spürten) ohnehin nicht so sehr um streifenfreien Glanz ging oder kalkfleckenfreie Wasserhähne: sondern um die gute Laune, die sie bei all dem behielten, wahrscheinlich tranken sie das Zeug sogar, und solang es ihnen schmeckte, hatte Gregor nichts dagegen.

 

Doch als Benzon den kleinen Zwerg zur Strecke brachte, der von Mascha vor Jahresfrist auf der Fensterbank plaziert worden, Gregor hatte noch eine Weile lang Frühstücksradio gehört, ohne daß man ihm den Namen der Frau, nein sicher: des Mädchens mit der Kristina-Stimme verraten hätte, doch als Benzon mit den scherblichen Überresten des ehemals fröhlich vom Fensterbrett runterpinkelnden Gartenzwerges vor ihm stand – das Wort »Sekundenkleber« nahm er mit betrübter Miene zur Kenntnis, »islecht«, »dangesöön« –, da war’s höchste Zeit für einen Lauf.

Höchste Zeit für die ersten Dauerlauf-Meditationen, -Haßreden, -Entschlüsse dieses Jahres, höchste Zeit für eine von den Fußsohlen emporströmende Befriedigung; und dann, nach halber Strecke, für einen Schritt um Schritt um Schritt ihn durchrieselnden Willen, den ganzen Englischen Garten zu umarmen und alles, alles zumindest fastschön zu finden.

Am »Seehaus« saßen sie schon wieder, kaum daß ihnen das Bier nicht mehr in den Maßkrügen gefror, ein buntes Farbband hinterm See, auf dem nur die Schwäne noch fehlten und die Tretboote.

Und nach ganzer Strecke, nach Rückkehr zur Leopoldstr. 48? Selbst die alleinerziehenden Mütter, die sich, wie jeden Tag von 7 Uhr früh bis 7 Uhr abends, samstags bis 14 Uhr, mittels Betätigen des kleinen unscheinbaren Druckknopfes neben dem Eingang Zutritt zum Treppenhaus verschafften und sich dort, auf dem Weg zu einer der Kanzleien oder Praxen oder gar zum »Frisuren-Schachterl«,[24] in einen immerwährenden Kunden-, Patienten- und Parteienverkehr verwandelten, selbst die waren heute bestrebt, ein Aroma der Milde zu verströmen.

Trotzdem zeigte die Waage weiterhin 1,7 kg zuviel.

 

Gregors Wutausbruchhätte sich ohnehin nicht verhindern lassen. Zur Stunde, da er normalerweise die Große Konzentrationsrunde antrat, vom immergleichen Wunsche nach dem perfekten Mandelhörnchen getrieben, einem, das ordentliche Schokoecken hatte, einem, das nicht zu flach und zu rund und zu süß war, nicht zu unsüß, zu unrund, zu dick und dessen Farbe nicht zu hell geraten. Seitdem der Wimmer (»Mein Bäcker für immer«) mit kokosbestäubten Hörnchen ohne Schokoecken experimentierte, war dieser Wunsch nicht mehr so selbstverständlich zu befriedigen; im Grunde hätte man sich rechtzeitig ein Lager an Ersatzhörnchen anlegen müssen, doch weil man das versäumt hatte, geriet man nahezu jeden Nachmittag an einen Punkt, wo man …

 

    … die Große Konzentrationsrunde ausnahmsweiseauch mal ausfallen ließ: weil verabredungsgemäß jetzt der Ingo auf den Plan trat, in einem Kunstlederjäckchen und farblosen Plastikriemchensandalen, aus denen seine behaarten weißen Füße nicht ganz frühlingsfrisch herausdufteten. Da er nichts Vernünftiges trank (»Alkohol tut mir weh«), hatte er sich selbstgebackne Gesundheitskringel mitgebracht. Sofern er sich dann nicht mit Rumbröseln beschäftigte oder, beinah jede Viertelstunde, auf der Toilette tätig war: installierte er nicht nur den ISDN-Anschluß, den sich Gregor zum Geburtstag spendiert hatte, sondern, wie versprochen, auch ein Modem und die Software fürs Internet.

Als Gregor seine Netzadresse eintippen durfte – »[email protected]« –, verliebte er sich sofort in diesen neuen Buchstaben, der obendrein Klammeraffe hieß, und konnte sich gar nicht dran sattsehen: »sch@ttschneider« tippte er und »m@sch@«, »helg@«, »ull@« tippte er, »m@riett@« tippte er und »m@riett@s s@lon, noch 2 t@ge, d@nn gehts @b!«

Aber der Ingo wollte zur Probe gleich ein wenig durch die Welt surfen, griff nach der Maus und fummelte in Gregors Systemeinstellungen so lange herum, bis er problemlos ein paar Nachrichtenseiten aus dem Netz heranholen konnte: Nachrichtenseiten, die in bunten Buchstabenketten davon berichten wollten, daß es am einen oder am andern Ende von Jugoslawien mal wieder eng wurde, daß es in Afghanistan oder Tadschikistan oder Tschetschenien oder wer-weiß-an-welchem Ende des ächzenden russischen Imperiums noch immer eng war oder das Chaos herrschte oder wenigstens Krieg.[25] Gregor aber hatte nur Augen für die Seiten, wie sie sich und ihre kleinen farbigen Bildchen in Sekundenschnelle aus der Tiefe des Netzes aufbauten und wie sie sich in Zehntelsekundenschnelle dorthin zurückzogen, hatte nichts als ein vage daherdämmerndes Gefühl, die ganze Welt sei mit einem Mal bloß einen einzigen Mausklick entfernt, ein vage daherflirrendes Gefühl, mit einem Mal überall dabeisein zu dürfen oder gar zu müssen, doch nicht recht zu können: Da wußte er, wohin er sich mit Mascha flüchten würde, sobald der Kopf des Himbeer-Bäschtles rollen würde – in die Weiten des World Wide Web, dort war überall Timbuktu, überall.

Als der Ingo schließlich vom Horsti abgeholt wurde (»Daaling, da Wagna is doch scho ganz bremsig«) und die Maus freigab mit einem lapidaren Könnt-sein-daß-ihm-das-Telephon-Probleme-mache, da winkte Gregor lediglich ab.

Das habe nämlich keine R-Taste, erklärte der Ingo noch, während ihm der Horsti bereits seine große Horstihand auf den Hintern legte.

Eine R-Taste? mokierte sich Gregor: Er wisse wirklich nicht, wozu er plötzlich eine R-Taste brauchen sollte.

Abwarten, sagte der Ingo.

 

Und schon war man wieder in Timbuktu, beim Bejammern der anhaltenden deutschen Fußballschwäche in einem Chatforum des Kicker,[26] beim Betrauern irgendeines italienischen Modemachers, den sie vor seinem Haus erschossen hatten[27] (hier setzte die Wagneroper ein), beim Beglückwünschen irgendeines hanseatischen Multimillionärs, den seine Entführer nicht erschossen hatten[28] (hier begann der Ingo, jenseits der Wand, zu kreischen), und nie konnte man’s erwarten, bis sich die Buchstaben vollständig auf dem Schirm eingefunden hatten, immer wollte man weiter, statt sich an der nächstbesten Stelle festzuklicken, statt womöglich den entscheidenden Rest zu verpassen und … als der Horsti mit einem kurzen Gedröhn den Ingo schlagartig zum Schweigen brachte, war die Reise zu Ende. Ausgerechnet auf der Homepage von Uma Thurman, kaum daß man sich zum ersten Mal entschlossen hatte, einen der Buttons mittels Mauszeiger aufzufordern, die Preview ihres neuen Films zu zeigen: woraufhin sich eine Dialogbox öffnete, die das Fehlen eines RealPlayers auf Gregors Festplatte bedauerte und ihm anbot, mit dem sofortigen Download zu beginnen.

RealPlayer? Daß ihm auch so was fehlte, hatte der Ingo verschwiegen. Ein sofortiger Download – wer weiß, was das alles bedeuten mochte – kam natürlich nicht in Frage. Als Gregor auf dem benachbarten Button herumdrückte – wenigstens die Photos von Uma Thurman wollte er sich nicht entgehen lassen, von nebenan war nurmehr Wagner zu hören –, da belehrte ihn eine neue Dialogbox, sein Browser sei nicht javafähig, was immer das heißen mochte, und also könne man, leider-leider, nichts für ihn tun.

Gar nichts? Gregor begann, wild hin & her zu klicken, das wollte er nicht so einfach gelten lassen, und wenig später, der Hundsnurscher japste sich draußen vom vierten zum fünften Stock, fror ihm der Mauszeiger still & heimlich unter der Hand ein, »Kumm, Saubazi, de Sauarei schaung ma uns doch goa nimma oo«, machte eine Dialogbox ganz unaufgeregt den »Systemfehler 11« dafür verantwortlich, zeigte dazu ein kleines schwarzes Bombensymbol, und fortan ging nichts mehr.

»Sprich mit mir!« beflüsterte Gregor seinen Mäc, faßte ihn an beiden Seiten, um ihn zu schütteln: »Und wenn du mit mir sprichst«, beschwor er ihn, »dann drück dich deutlich aus, du bist doch hier nicht bei dir zu Hause!«

An einem Neustart führte freilich kein Weg vorbei. Als sich Gregor endlich wieder bei AOL eingewählt, von dort nach Timbuktu aufgebrochen und dieselbe Suchmaschine angefahren hatte, deren sich bereits der Ingo bedient (zu dumm, daß man den jetzt nicht einfach rausklingeln konnte): da landete er zwar – wer sagt’s denn – bei Uma Thurman, einen Mausklick später aber auch wieder bei:

»Sprich mit mir!« beschimpfte Gregor seinen Mäc und versetzte ihm kleine flache Schläge, das würde’s ihm schon austreiben, stur geradeaus zu starren, als verstehe er nichts. Oder hatte da jemand hinter seinem Rücken gelacht, der Brieföffner oder der Briefbeschwerer oder Evas Kaktus, der ihm ohnehin seit ein paar Wochen aufgefallen war? Machte sich jemand über ihn lustig?

»Wenn hier einer lacht«, brüllte er den Kaktus an, »dann bin das ich«, brüllte er den Briefbeschwerer an, »und niemand andrer«, brüllte er den Brieföffner an, »kapiert?!«

Genau in diesem kritischen Moment, da er voll damit beschäftigt war, die Dinge wieder unter Kontrolle zu kriegen und als erstes den Kaktus aus seinem Topf rausreißen wollte, der hatte’s lang schon verdient, genau in diesem höchstwichtigen Moment wagte sie’s zu klingeln.

 

Ach-du-große-■■■, mit der wäre er ja bereits vor einer halben Stunde verabredet gewesen, und der Bildschirm starrte ihr mit eingefrorner Miene entgegen, als habe er das die ganze Zeit gewußt.

Mascha, mit funkelblitzendem Blick auf den Kaktus, den Gregor gerade … zurück aufs Fensterbrett stellte:

S uma sošël![29]

Vielmehr: Aha, und ihren Zwerg, den habe er auch schon entsorgt, »interessant«.

Vielmehr: Ob sie ihm zum Abschied noch eine schallern dürfe?

Weiterhin tat der Bildschirm so, als ginge ihn das überhaupt nichts an, und Gregor konnte sich kein bißchen drüber freuen, daß Mascha trotzdem, »hast du das eigentlich gar nicht verdient, duracok«, zwei Eisbecher aus dem »Venezia« mit rübergebracht hatte, im Gegenteil: Die Adidas-Jacke, die er ihr fatalerweise selbst geschenkt hatte, ein Nylon-Relikt aus Lengericher Fußballzeiten, der Schlabberrock und die ockerklobigen Dockers, die sie neuerdings anstelle von Schuhen dazu trug – das konnte ihn, Eisbecher hin, Eisbecher her, gewiß nicht über die Systembombe 11 hinwegtrösten.

Aber statt wenigstens jetzt Ruhe zu geben und darauf zu spekulieren, daß sich Gregor vor lauter Marzipan- und After Eight-Kugeln gleich versöhnen würde mit allem & jedem, wollte sie’s wissen:

Ob’s bereits so weit mit ihm gekommen sei, daß er sich lieber mit ’nem Kaktus treffe als mit ihr –

Gregor, dazwischengrantelnd: Bestimmt nicht, bestimmt nicht, der habe sich sehr schlecht benommen!

    – und mit welcher Schrulle er als nächstes aufzuwarten gedenke?

Gregor, den Rand seines Eisbechers mit dem Löffel beklopfend: Als Vierzigjähriger, da dürfe man schon die eine oder andre Schrulle haben, so was gelte dann nämlich, summa summarum, als Charakter.

Die eine oder andre? Mascha, mit all ihren ratternden Rs brach sie über ihn herein: Ach, Grischa, duracok, er bestehe doch fast aus nichts andrem! Womit er denn grade eben, als er sie versetzt habe, womit er denn da dermaßen lautstark zu Gange gewesen die ganze Zeit?

Wichtigen Dingen habe er sich gewidmet, sehr wichtigen und sehr ernsten, schwierigen, renitenten Dingen.

Was sie folglich durch die Tür gehört habe, sei nicht etwa bloß eine seiner Wollmausbeschimpfungen gewesen, eine seiner Tätlichkeiten gegenüber undurchen Camemberts oder Untertassen oder sonst was Gregormäßiges? Sondern … sondern … jedenfalls was fundamental Wichtiges? Weswegen er sie, Mascha, immerhin heut zum ersten Mal versetzt habe, was sie natürlich nicht persönlich nehmen dürfe, nicht wahr?

Gregor widmete sich dem Auslöffeln seines Eisbechers.

 

Daß er sie ein bißchen beschnüffelte, die Dinge dieser Welt – gut; daß er ihnen Namen gab, die nicht im Duden standen – gut; daß er sie beschimpfte, bestrafte, belobigte, mit ihnen nach allen Regeln des Anstands zusammenlebte – das wäre er ja ohne weiteres bereit gewesen zuzugeben; doch mußte man deshalb gleich als verschrullt gelten?

Schweigend räumte Mascha die Papierschirmchen von ihrem Fruchtbecher, faltete sie zusammen, legte sie, der Größe nach, vor Gregor auf den Tisch.