Weiberroman - Matthias Politycki - E-Book

Weiberroman E-Book

Matthias Politycki

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Beschreibung

Der Roman, in dem sich eine ganze Generation wiedererkannte. Der "Weiberroman", eine witzig-melancholische Liebeserklärung an die siebziger und achtziger Jahre und ein "präzises Sittengemälde seiner Zeit" (Tages-Anzeiger), ist endlich wieder lieferbar. In den Liebesgeschichten von Gregor Schattschneider porträtiert Matthias Politycki seine Generation. Sofort nach Erscheinen im Sommer 1997 wählten die Kritiker den Weiberroman auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Es entbrannte eine regelrechte Debatte um die darin porträtierte Generation, die sich damit zum ersten Mal dezidiert von den 68ern absetzte - und das Buch wurde zum Bestseller. Politycki begründete damit seinen Ruf als "eminenter Humorist" (Reinhard Baumgart in der Zeit) und "Akrobat der Erinnerung" (Verena Auffermann in der Süddeutschen Zeitung).

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Seitenzahl: 603

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Matthias Politycki

Weiberroman

Historisch-kritische Gesamtausgabe

Hoffmann und Campe Verlag

IKristina

Ihr habt recht, es gibt eine Reihe weiblicher Vornamen, die nicht nur in den Ohren klingen, sondern im ganzen Kopf – bei manch einem wird da sogar der gesamte Körper zum Resonanzraum. Aber ihr werdet wohl auch zugeben, daß es bloß einen einz’gen Namen gibt, in dem die Schneekristalle glitzern, obwohl die Welt rundum ganz grün ist und die Wege darin grau: Vorausgesetzt, er hat ein K am Anfang! Wie das vom Gaumen knistert bis zur Zungenspitze, kalt und fremd: Kri-sti-na –

Als sie das erste Mal in unsrer Photo AG auftauchte,

zehn Tage vor Gregors Geburtstag und zehn Minuten zu spät, um die Abstimmung noch mitzubekommen, nach nassen Fliegerstiefeln roch’s und nassen Parkas –, als sie das erste Mal in unserm Dienstagabend auftauchte, hatten wir jede Menge Krokusse dabei, Palmkätzchen, Forsythien, in Hochglanz oder Seidenmatt, trotzdem diskutierten wir mal wieder darüber, daß die Tecklenburger endlich ihr eignes Jugendzentrum bekommen sollten: In unsrer Gruppe war zwar – außer Ecki, der neben der Metallgießerei wohnte, und außer Vögler, dessen Vater voriges Jahr ein Heuerhaus[1] in Ringel gekauft hatte –, also bei uns war zwar jeder aus Lengerich, aber in der Schach AG, direkt nebenan, da saßen zwei aus Tecklenburg, und wenn das so weiterging …

»Am Samstag kicken die ja auch schon mit!«,[2] suchte sich sogar Lutti an der Diskussion zu beteiligen, und obwohl er selber bloß Verteidiger spielen durfte, linker Außenverteidiger (was beinahe das letzte war, wenn’s nicht noch die Rolle des Torwarts gegeben hätte), wurde sein Votum ausgiebig beklopft; draußen bollerte der Milchmann durch die Dämmerung, die Dämmerung jaulte hinterher, und dann war’s ziemlich still: Da kam sie rein.[3]

Schwebte vielmehr über der Schwelle,

ein tonloser Ton, der hin und her schwang, hin und her – wahrscheinlich hatte sie erwartet, daß hier alle vier Wände verklebt waren mit schwarzweißgefleckten Kühen und Schattenrissen von Telegraphenmasten, mit den langen Linien abgestoppelter Weizenfelder, hatte erwartet, daß mit Photopapier hier hantiert wurde und Kanistern voll Entwicklerflüssigkeit, hatte erwartet, daß zumindest über Photos geredet wurde; und steuerte schließlich, während ihr unser aller Feindschaft entgegenfieberte, steuerte ohne jedwedes Begrüßungsgenicke auf den Stuhl zu, der am weitesten weg war vom Geschehen; der AG-Leiter grinste dazu, und man sah seinen Goldzahn:

Also, das sei sie, die Neue. Aus Wechte. Ob wir dies endlose »Ausdiskutieren« nicht bleiben lassen und ihr, gewissermaßen zur Einstimmung, unsre Palmkätzchen zeigen wollten?

Das war so ziemlich das letzte, was wir wollten, denn »die Weiber«, die – wie soll man sagen – : bekämpften wir. : verachteten wir.

Wenigstens hatten wir noch mit neun zu sechs bei jeder Abstimmung das Sagen, und das, obwohl auf Arne kein Verlaß mehr war, seit er seinen »Blaufilter«, wie er’s nannte, meist schon nachmittags aufschraubte und unsre zehnte Stimme versoff.[4] Auf eine Neue, obendrein eine aus der Walachei, waren wir nicht gerade scharf.

»Wo liegt denn Wechte überhaupt?« fragte Ecki über die aufbrodelnde Unruhe hinweg und schlug, als Jüngster war er vertraut im Umgang mit der Narrenkappe, schlug gleich selber sein abrupt aufschrillendes Gekecker an, um es, einen Moment später und ohne jedes Nachglucksen, jäh abzuwürgen. Denn daß Wechte jenseits der Demarkationslinie lag, die von der Autobahn ins Ostwestfälische geschnitten wurde,[5] schlimmer noch, daß dessen weitverstreute Gehöfte lediglich ein bis zwei Kilometer von Tecklenburg selbst entfernt waren: das wußten wir natürlich alle.

Sagte sie was,

sagte sie irgendwas an jenem vergraupelten Aprilabend? Wahrscheinlich saß sie nur im Eck, taxierte unsre Hinterköpfe und Eckis langes spitzes trauriges Gesicht (denn als Pausenclown war er der einzige, der sich umblicken durfte und das auch ungeniert ausnutzte), saß im Winkel, wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger, taxierte unsre Rückansichten – Vöglers angeschmuddelte Wildlederjacke, seinen angeschmuddelten Hut, unter dem’s kräuselschwarz hervorquoll. Oder Luttis kariertes Holzfällerhemd, das um den Brustkorb diese Querfalten zog, die wertvolle Punkte brachten; vielleicht fiel ihr sogar auf, daß Max seine Hände, lasch und weiß und kraftlos, ständig zwischen den Kniekehlen rumhängen ließ, weil er sowieso einer der Größten war und sein Notendurchschnitt einer der schlechtesten und weil –

    – nein, von der geheimen Hierarchie in unsrer AG konnte sie noch nichts wissen, und während wieder so getan wurde, als ginge’s um Brennweiten und Blendenvorwahl, flammten draußen die Straßenlampen auf und warfen einen müden Schimmer übern Teer.

Sagte sie was, sagte sie irgendwas an jenem vergraupelten Aprilabend? Wahrscheinlich saß sie nur die Zeit ab, hin & her kippelnd, den grünen Geschmack aus einem Wrigley’s-Streifen herauskauend, wahrscheinlich verschwebte sie um halb acht, ohne weiter gestört zu haben; Gregor[6] trottete mit Max zum Brunnen am Rathausplatz, wo sich ihre Heimwege trennten. Tat sich noch ein wenig wichtig über die Chancen der Borussia beim Rückspiel gegen die Bayern,[7] tat sich noch ein wenig wichtiger über die Nachteile des Naßabspielens von Platten, dann war’s nicht länger hinauszuzögern: Aus dem Torbogen des Römers schlingerte bereits die Silhouette von Herrn Kohnhorst; in wenigen Minuten würde Frau Rethemeier mit ihrem schnaufenden, schleckenden Bernhardiner daraus hervorkommen und Gregor im Vorbeigehen zwingen – »Ist er nicht lieb?!« –, ihn am Halsansatz zu kraulen.

Rundum leuchteten die Fenster so selbstverständlich, als wäre nichts passiert heut abend, gar nichts.

Inzwischen kannte Gregor

seinen Heimweg sehr genau. Vor zwei Jahren, als er, arglos träumend, seine ersten Schritte in die neue Stadt gesetzt,[8] war er öfter, als ihm lieb sein konnte, in einen Hinterhalt geraten – kaum an jede zweite Gartentür hatte man ein Schild geschraubt, und an manch eine bloß ein derart winziges, das man erst entdeckte, wenn’s zu spät war: Was diese Kerle nur alle von ihm wollten? Ob sie sich deshalb auf ihn stürzten, weil ihnen die andern, die vorbeikamen, zu groß waren?

Obwohl Gregor der Zweitkleinste geblieben, auch jetzt noch, in der 11 b, hielten sich die Überraschungserfolge der Kerle mittlerweile in Grenzen, und wenn man des öfteren die Straßenseiten wechselte, konnte man einigermaßen unbehelligt zu den Burwiesen gelangen. Insbesondere der Weg bis zu W&H[9] war reine Routinesache, weil’s hier noch so gut wie keine Vorgärten gab; erst in der Ringeler Straße lauerte sie einem, an gewissen neuralgischen Punkten, gern hinterm Zaun auf. Niemals war’s Gregor deshalb eilig, das hätte die Herrschaften irgendwie herbeigelockt, hätte ihnen verraten, daß man sie ernst nahm – oh nein, man mußte sich Zeit lassen, viel Zeit, mußte gegebenenfalls sogar stehenbleiben, in möglichst lautes Gelächter ausbrechen über ihr Getue; und wenn man von ihnen doch mal bei einer Unaufmerksamkeit erwischt wurde, durfte man wenigstens keinen schnellen Schritt zur Seite machen.

Gregor teilte seine Gegner ein in »klein«, »groß« und »sehr groß«, und obwohl er ganz genau wußte, welche Doppelhaushälfte zu hassen und welche zu lieben war, ereilte’s ihn dann doch noch: ausgerechnet an der Mauer, die um den Bauernhof von Schultebeyring lief,[10] ausgerechnet auf einem Streckenabschnitt, der als todsicher bislang galt, kurz vor der Straße nach Osnabrück, etwa dort, wo »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt« auf die Mauer gesprayt war, dort also! sprang einer dieser Kerle aus dem Nichts und, natürlich, direkt auf ihn zu: Durchs Dunkel klang sein Gekläff eher »groß« als »klein«.

Dann kam die Wiese, in deren letzten grauen Schneeresten eine Menge verdächtiger Spuren und Pißflecken zu beachten waren.

Und dann kam die Hauptsache.

Denn Gregors Eltern hatten tatsächlich

das Kunststück fertiggebracht, ihr Reihenhaus genau zwischen zwei von den Kerlen zu plazieren: Rechts wohnte Percy, die Hauptsache, und obwohl der alte Van der Paaschen sogar dann noch, wenn er seinem Riesenschnauzer nichts mehr entgegenzustemmen vermochte und der, in gewaltig schwarzen Sprüngen, über die Waschbetonplatten setzte oder den frisch ausgesäten Rasen oder die Krüppelkiefern oder, dies war dann allerdings das sichre Ende, übers freie Feld – obwohl der alte Van der Paaschen selbst in solch apokalyptischen Szenarien seinen Stock in den Himmel stieß und lauthals beteuerte, er habe alles bestens im Griff (»Der tut nichts! Der tut nichts!«), wußte’s jeder in der Burwiesen-Siedlung bald besser. Sobald der Ball, zumeist beim Kicken auf die Garagentore, trotz umfänglicher Vorsichtsmaßnahmen in Percys Revier geriet, war der Nachmittag unweigerlich gelaufen; lediglich ein einziges Mal hatte’s Erps gewagt, über den Zaun zu steigen und –

    – dann war ihm Percy sogar noch hinterhergesprungen und –

    – dem Gregor blitzartig klargeworden, daß es nicht jedem Ball gleich nachzuklettern lohnte und daß man das zumindest erst mal die andern machen ließ.

Von der Hauptsache freilich

war heute nichts zu sehen, zu hören, und so wandte sich Gregor nach links, wo hinter dem Gartentor der Strübbes schon Dr. Arnold tobte: Als Mops zwar fiel er unter »klein«, war aber ein persönlicher Feind, unberechenbar, schnell, hartnäckig, und weil der Zaun hier nicht höher als zwei Handspannen maß, mußte man aufpassen, daß der Heimweg nicht noch auf den letzten drei Metern in eine Niederlage mündete: Gregor bellte zurück, stürzte auf den trennenden Maschendraht zu, bellte, raffte ein paar Steinchen zusammen, bellte und ließ sie in einer breitgestreuten Salve durch die Nacht prasseln, dorthin, wo sie am lautesten war.

»Aus dir mach ich Schaschlik!« drohte er, als die Haustür bereits aufging: »mit Mayo und Ketchup!«[11]

Doch leider gab’s

bloß Kartoffelpfannkuchen mit Apfelmus mit Schwarzbrot – und mit einer kleinen Szene, in deren Anfangsphase sich seine Mutter mal wieder »tief enttäuscht« zeigte über Gregor, weil der die neue Jeans verhökert hatte gegen ein widerlich violettes Hemd mit Rüschen und extrem spitzem Kragen: und so lange gurrte und buhlte, bis sie jählings drohte, forderte. Während Gregors Vater wortlos, mienenlos seine Zeit zergabelte und sich zurücksehnte ins Wohnzimmer, an die Bilanzen, die zwar keine beßre Laune, aber wenigstens nicht solchen Lärm machten.

Ein Hemd! Was er sich wohl dabei gedacht habe, der Gregor Schattschneider, so was einfach in die Schmutzwäsche zu werfen, ob er seine Mutter denn für blind halte? Und ob er ihr jetzt auch noch weismachen wolle, daß es jemand anderem als diesem Erpenbeck gehöre, diesem verlotterten Stefan Erpenbeck?[12]

Ja, in der Tat, das wolle er: Dem gehöre’s nämlich nicht mehr! Erps und er hätten getauscht.

Das war’s aber nicht, was man von Gregor zu hören wünschte, schließlich habe er die Hose zu Weihnachten erst bekommen; und daß man mit einer Lee überall belächelt wurde, das wollte der Mutter ganz & gar nicht in den Kopf:

Wieso denn dann ein Stefan Erpenbeck an der Hose Interesse habe?

Naja. Bei Erps sei’s schon wieder ein Markenzeichen, der trage doch nur die falschen Klamotten.

»Gregor!« war’s soweit, und da half kein Augen-Verdrehen, kein Luft-Ausschnauben, kein Mit-den-Schultern-Zucken, »Gregor, ich möchte, daß du den Tausch rückgängig machst, verstehn wir uns!«

Gregor jedenfalls verstand; und weil er wußte, daß seine Mutter selbst diese Lautstärke noch mühelos erhöhen konnte, und weil auch sein Vater das wußte und sich bereits verdrückt hatte: verdrückte sich Gregor jetzt ebenfalls.

Und verfluchte,

während er einen stoischen Blick auf die Englisch-Hausaufgaben warf, die morgen während der Religionsstunde zu bewerkstelligen waren, und verfluchte, während er seine Fußballschuhe wienerte, und verfluchte – seinen Vater: Seit der von der Raiffeisenkasse zur Spardaka[13] gewechselt war, blockierte er, abgesehen von Donnerstagen, an denen er sich »zum Sparen« im Schützenverein traf,[14] blockierte er mit seiner notorischen Rauf-und-runter-Rechnerei Abend für Abend das Wohnzimmer. So daß Gregor fast jede wichtige Sendung verpaßte und sich selbst von einem Ecki oder Charli Belehrungen gefallen lassen mußte, wie viele Schüsse im »Aktuellen Sport-Studio« rein und wie viele danebengegangen waren.[15] Oder wie lange Kuli überzogen hatte.[16]

Als er den Spiegel nach dem Zähneputzen behauchte, wußte er nichts hineinzuschreiben. Dann tauchte aus den Schlieren sukzessive dieses Gesicht wieder auf, mißtrauisch sich selbst beäugend, das freilich den Fehler nicht finden konnte. Den Fehler, der alles so flau, so verwackelt, so irgendwie vergeblich aussehen ließ und der ganz sicher auch dafür verantwortlich war, daß ihn die Frau an der Kasse, als er vorgestern in beiläufigster Manier eine Karte für »Spiel mir das Lied vom Tod«[17] verlangt hatte, daß ihn die Frau glatt – – – Und sich dann sogar den Ausweis zeigen ließ (»Tatsächlich, fast sechzehn!«); kein Mensch würde einen Max nach dem Ausweis fragen! Nicht mal einen Lutti oder Erps, obwohl die doch gerade erst fünfzehn geworden waren.

Und wenn man sich den Rest geben wollte, mußte man bloß noch auf die Schultern blicken, aus denen die Schlüsselbeinknochen so elend hervorspitzten, auf die Brustwarzen, die so mutlos auf den Rippen herumrutschten, und: dann war’s wirklich zum Davonlaufen.

Nachdem er sein Zimmer nach Insekten und Mördern

durchsucht hatte – rein gewohnheitsmäßig, denn eigentlich bemühte er sich seit über einem Jahr, das für überflüssig zu halten –, legte Gregor die neue Pink Floyd auf, die er von Erps zusätzlich rausgehandelt hatte für seine Hose, legte sich selber ins Bett, drehte das Licht ab und konzentrierte sich auf das grüne Leuchtband an der Decke. Konzentrierte sich, und als die Gitarre (oder war das der Synthesizer?) ganz hell und leicht die ersten Töne in sein Zimmer fallen ließ, als wäre man inmitten einer riesigen Tropfsteinhöhle, da schien der Tag doch noch eine Wendung ins Positive zu nehmen. Aber bevor die Gitarre (oder wäre er das jetzt gewesen, der Synthesizer?) zu krächzen und zu kreischen begann wie ein Schwarm hungriger Raben, war Gregor schon eingeschlafen: ohne an der Schnur zuvor gezogen zu haben, die er um den Stecker seines Mister Hit[18] geknotet hatte. Der Tonarm knackte eine ganze Nacht lang in der Auslaufrille vor sich hin.

Das sollte Gregor so schnell nicht wieder passieren.

Mit einer Katastrophe

begann der Nachmittag danach: Das Schild »Pst! Soundcheck!« hing an der Türklinke, das Mikrophon stand auf einem Stapel »Reader’s Digest« und also exakt auf Höhe des Lautsprechers, sogar der Moderator hatte sein Wort gegeben, jedes Lied auszuspielen bis zum letzten Ton: da schrillte das Telephon unten los und, einen Gitarrenlauf später, die ganze Welt. Gregor duckte sich und hoffte, daß der Sänger von Led Zeppelin halbwegs dagegenhalten würde mit seinen Schreien; aber als er’s treppauf muttern hörte, wußte er, daß er Stairway To Heaven auch diesmal nicht komplett aufs Band kriegen würde. Und als dann alles so geschehen war, wie’s irgendwie immer geschah, wenn der WDR mal was andres als deutsche Schlager spielte, da spürte er einen ordentlichen Haß auf Max, der ihm zur Begrüßung nichts Wichtigeres mitzuteilen wußte, als daß ihn Kötte soeben angerufen hatte, Kötte! Und davor schon Vögler, Erps, Charli, Lutti.

Das Telephon stand gleich neben dem Treppenabsatz: auf einer Vitrine, die in sämtlichen Etagen von winzigen gläsernen Katzen, Hunden, Rehen, Hirschen, aber auch von Löwen, Bären, Büffeln bevölkert war; und obwohl’s Gregor liebte, so nebenbei ein wenig Aufregung in die Murano-Herden zu bringen – seine Mutter ordnete streng nach »Brehms Tierleben«, Gregor hingegen nach dem Farbkreis –, obwohl er schon nach dem erstbesten blaugrünen Rehkitz gegriffen hatte, schwieg er sich dann doch lieber bis zur Wohnzimmertür, schwieg sich ins Wohnzimmer hinein. Denn in der Küche klebte man mittlerweile Rabattmarken in kleine Rabattmarkenheftchen und war dabei sehr drauf bedacht, sich einen Spalt zum Flurgeschehen offenzuhalten.

Bevor Gregor bei Kötte anrief,

zog er das Telephonkabel um den Gummibaum herum, so daß er vom Schreibtisch seines Vaters (auf dem die Vorschlagsbände des Bertelsmann Leserings in lückenloser Reihe standen, als würde’s hier je um was andres gehen als Zahlenreihen), so daß er vom Schreibtisch und folglich von der Wohnzimmertür noch ein paar entscheidende Schritte weiter weg gelangte, etwa auf Höhe der Anrichte mit den Sonntagstellern und der riesigen Asbach-Uralt-Flasche obenauf: die mittels Deichsel und zweier metallener Speichenräder als eine Art Einspänner getarnt war, es fehlte allenfalls eins der Murano-Pferde vom Flur. Als er sich mit Lutti, Charli, Erps und Vögler beraten hatte, war das Kabel bis hinter zur Terrassentür gespannt, Gregor blickte raus über den winzigen Teich, der auf die Frühlingsfische wartete, über den Rest an Rasen, den der Winter übrig gelassen, über die Thujahecke und das wilde Buschwerk dahinter, die vereinzelt emporkahlenden Baumkronen. Wäre das Kabel nur nicht so kurz gewesen!

Fest stand zumindest,

daß sie eine Stupsnase hatte voll von Sommersprossen, kleine, grüne, funkelflinke Augen und abgebißne Fingernägel, fest stand, daß sie blond war und ständig Katjes kaute, fest stand, daß sie graue Augen hatte, eine schmale, steile Nase und, das war ja wohl das letzte, lange rosarot lackierte Fingernägel. Fest stand, daß sie ununterbrochen Brausestangen zerlutschte, daß sie ganz weiße Haut hatte und ganz kleine Finger.

Ein Muttermal an der linken Schläfe.

An der rechten Schläfe.

Und kornblumenblaue Augen.

Und: daß sie Levi’s-Jeans trug.

»Mensch, Max!« bezischelte Gregor den Hörer, als er ein zweites Mal mit ihm die Angelegenheit besprach, was insofern nicht unheikel war, als sie ja – außer Ecki – gar niemand offiziell zur Kenntnis genommen: »Sie hat braune Haare, stinknormale braune Haare. Und was die Jeans betrifft –«

»Sie ist blond!« beharrte Max und legte auf.

»Apropos Jeans«, betrat Gregors Mutter das Wohnzimmer, »hast du inzwischen mit diesem Erpenbeck gesprochen, mit diesem verlotterten Stefan Erpenbeck?«

So kam’s,

daß Gregor den Rest der Woche darüber nachdachte, ob die Neue vielleicht doch ein bißchen blond war und wie er’s Erps plausibel machen konnte, daß er sein Rüschenhemd plötzlich nicht mehr wollte. Erps war zwar nicht gerade der Kötte der AG, aber – trotz seiner geradezu gregorianischen Zwergwüchsigkeit – so was wie dessen inoffizieller Stellvertreter: Auf seiner Oberlippe versuchte sich bereits der rötlich aufstoppelnde Schimmer eines Schnurrbarts; fast über die gesamte Länge seiner Stirn zogen sich dicke dunkelrote Narben, von denen jeder was andres zu berichten wußte; letzten Herbst hatte er, und auf die Nachfragen der Nachbarkinder war er währenddessen mit keinem Wort eingegangen, hatte er die Gitter von den Kellerkästen beidseits der Erpenbeckschen Haustür abgedeckt, hatte sich im Gebüsch versteckt und derart glaubwürdig nach Hilfe geschrien: daß seine Mutter aus dem Haus geeifert kam, über den Treppenabsatz hinaus gleich im Schwung hinein ins erstbeste Loch hinunter. Und sich ein Bein dabei gebrochen hatte. Seither galt Erps als der unbestrittne Beherrscher der Burwiesen, und ausgerechnet dem sollte Gregor klarmachen, daß er …

    … sich so allein gelassen fühlte mit seinem Problem! Max war und blieb komisch, wich aus, und von den andern Klassenkameraden konnte Gregor sowieso niemand um Rat fragen, die diskutierten im Religionsunterricht ständig über »antiautoritäre Erziehung« und »bewußtseinserweiternde Drogen« und »Ostpolitik« – wobei sich Gregor immer weit, weit weg wünschte, wenngleich er nicht wußte wohin, und es für angeraten hielt, den Mund zu halten. Und erst mal die andern machen zu lassen.

Die hatten ja auch leicht reden, die waren ja alle schon irgendwo »dran gewesen«, die hatten’s geschafft.

Ob die Neue vielleicht doch ein bißchen blond und blauäugig und warum so was plötzlich von solcher Wichtigkeit war? Als die Pausenglocke ging, merkte Gregor, daß er die ganze Stunde über Kilroys[19] gemalt hatte, anstatt die Englisch-Hausaufgaben zu erledigen:

Am nächsten Dienstag, Punkt achtzehn Uhr,

nach nassen Fliegerstiefeln roch’s und nassen Parkas, war unsre komplette AG eingelaufen: Kötte, der mit den Kiefern malmte und sich bei jedem beklagte, daß er eigentlich für seine Führerscheinprüfung lernen müßte; Arne, der aus dem Maul stank und zweimal zum Pinkeln rausmußte; Charli, der wieder sein violett gefärbtes Meerschwein mitgebracht hatte; und der Rest sowieso – die Weiber mal nicht mitgerechnet.

»Uch«, sagte die Neue, »wie süß«, und Charli hielt ihr seine Schulter dermaßen zum Streicheln hin, daß wir ihn am liebsten auf der Stelle in den Boden geschlagen hätten, »ungespitzt«. Ausgerechnet Charli! Der dauernd durch seine Brillengläser die Welt bestaunte mit riesigen, mausmakihaft aufgerißnen Augen, Charli, der unsre alten Sachen auftragen mußte, weil seine Mutter gerade mal genug Kindergeld kriegte, um ihn und seine drei Geschwister »durchzufüttern«, Charli, der sich verlegen jetzt die Reste eines Bubble-Gum-Abziehbildes vom Handgelenk zupfte – ausgerechnet Charli.

»Lila«, grapschte Katrin als nächste nach dem Meerschwein, und wir hielten den Atem so fest an, daß man das Rauschen der Schneeflocken hörte, das Glitzern des Teers, das ferne Geseufze der Gullis: »So süß wie dein grünes ist es aber nicht.«

Als die Neue darüber auch noch lachte – auf ihren Zähnen blitzte’s unmißverständlich: Sie hatte! eine Spange –, da war’s ausgemacht, daß es ab heute verteufelt viel zu betuscheln gab für die beiden und zu bekichern. Charli schaute mit seinen Augen und wußte nicht, ob er mitkichern sollte.

Keine Frage übrigens, daß die Neue braun war, nicht blond, und ihre Jeans: von Mustang! Weiber hatten eben keine Ahnung.

»Sie fällt nicht unter Weiber,

sie ist ein Mädchen«, entschied Kötte ganz lapidar, als wir uns um den Stadtbrunnen scharten. Während der AG-Sitzung war ein halber Zentimeter Schnee gefallen, und es wollte uns scheinen, daß selbst Lengerich dadurch eine gewisse Würde bekam.

»Sie ist ja auch nicht braun, sondern blond«, suchte sich Erps zu belustigen, und obwohl er sich gerade eine Zigarette angesteckt hatte, war er ohne jede Chance: Kötte, den konnte keiner, der griff sich sogar einen Erps mit links und ließ ihn erst wieder los, als dem bedeutend mehr als seine Narben rot angelaufen war. Ja, Kötte! Da nützte’s auch nichts, daß Erps, wortlos weiße Wolken aus sich herausschnaubend, auf Handspannenbreite vor ihm verharrte und den bösen Blick hatte, Erps ging ihm gerade mal zu den Schultern, und dann wäre erst noch dieser Backenbart gekommen, der bereits im Kragenausschnitt begann und sich, ein dichtes schwarzes Fell, bis zu einer unablässig malmenden Kinnlade emporkräuselte – ja, Kötte! Ein dampfender Bulle, flokatihaft bepelzt wahrscheinlich selbst am Rücken, den konnte keiner;[20] Erps spuckte verächtlich in den Brunnen und klopfte sich eine neue Zigarette aus der Packung.

»Ob blond, ob braun«, versuchte jemand, witzig zu sein: Zwar trüge sie Mustang-Jeans, das ließe sich nicht leugnen; aber ordentlich ausgewaschen seien sie, und über den Schlag könne man nicht meckern.

Gregor rieb sich die Ohren, die ihm Fräulein Inge trotz aller Beschwichtigungsversuche wieder freigelegt hatte – sie nahm ihn genausowenig ernst wie die Kinokassenfrau –, doch auch wenn er sich die Haare gerauft hätte, war’s sein Freund Max, den er da hören mußte:

»Und ihre Boots, die sind echt von Clarks.«

Ob man sie das nächste Mal nicht einfach mal grüßen solle?

Max! Was nur war in ihn gefahren,

in sein abschüssiges Schulterzucken, das schlenkernde Hin & Her der Hände, die verschlurfte Art, auf der Stelle zu treten: Max Schmedt auf der Günne,[21] Gregors bester, Gregors einziger Freund, jetzt behauchte er seine achteckigen Brillengläser, und auch das tat er mit gewohnter Schludrigkeit; doch als er die Brille dann putzte, wieso glimmerte da solch ein grundloses Gegriene an seinen Mundwinkeln, Max! Was war bloß in ihn, was war in uns alle gefahren? Die wir mit unsern Stiefelspitzen gegen den Brunnenrand stießen, linksrechts linksrechts, weil uns fror, und die wir uns partout nicht davonmachen wollten in die behaglich beheizte Einsamkeit unsrer Doppelhaushälften, die wohltemperierte Ausweglosigkeit unsrer Flachdachbungalows, obwohl uns fror? Aus dem Torbogen des Römers schlingerte Herr Kohnhorst; aus dem Torbogen des Römers stolzierte stramm Frau Rethemeier, vor Aufregung verhaspelte sich Gregor mit seiner Zigarette und mußte husten; aus dem Torbogen des Römers tauchte Herr Huckriede auf, tauchte Frau Lutterbeck auf, die sogar zwei, drei resignierte Halbsätze lang stehenblieb, um Lutti ins Gewissen zu reden; danach strichen nur noch ein paar W&H-Türken herum,[22] die’s neuerdings hier gab.

Wenn wir wenigstens über Fußball geredet hätten,

schließlich sollte unsre Saison demnächst beginnen, und so wie der Wind meist runterpfiff vom Teutoburger Wald, würde am Freitag sicher alles wieder weggetaut sein: Viel hatte sich Gregor vorgenommen für dieses Jahr, viel – mußte er sich doch nicht mehr mit Ecki im Tor abwechseln, seit Rick, der Tiger, einfach mal so und ohne daß er sonst irgendwas mit irgendeiner AG zu tun hatte, am Spielfeldrand aufgetaucht war und gleich die passenden Handschuhe vorweisen konnte. Immerhin war Gregor vor dem Anpfiff nie verhauen worden: im Gegensatz zu Ecki, der jedesmal, bloß ein bißchen und bloß zum Aufwärmen, herhalten mußte – Ecki spielte ja auch noch heimlich Autoquartett, schleppte am Weltspartag ja auch noch seine prall gefüllte Büchse zur Spardaka (wofür er stets auf dieselbe geodreieckige, radiergummimäßige Weise belohnt wurde), konnte ja auch, wenn er verprügelt wurde, so herrlich rumfluchen, weil sein Vater ein Originalbazi war aus dem Voralpenland,[23] Ecki war ja auch erst vierzehn.

Nach dem Spiel, da durfte er zeigen, daß er doch schon ein ganzer Kerl war: Wenn wir nämlich alle außer Vogler in den Rewe-Laden reinstürmten und wie wild die Micky Maus-Hefte durcheinanderwühlten und die Wundertüten, als wären wir gerade erst eingeschult worden, und uns über den Geschmack der Luftschokolade stritten und den der rosa und der weißen Schokolinsen, so daß es dem Dieckmann an der Kasse eng und enger wurde, bis ihm die Stirn schillerte, während Kötte durch ein rückwärtiges Fenster die Fanta-Flaschen warf. Zwar wunderte sich der Dieckmann immer, wieso wir nur ein paar Päckchen Brausepulver kauften oder eine Tüte Treets, und irgendwann kam er uns auch auf die Schliche und vernagelte das Fenster, aber bis dahin hatte’s noch einige Ostverträge Zeit, sagen wir, bis ’73.[24]

Ostverträge, über die der Religions-, der Geschichts-, der Deutsch-, der Sozialkundelehrer ständig mit uns diskutieren wollten, ständig.

Zum Freitag zwingend dazu gehörte das anschließende Wettrülpsen – mannschaftsweise lagerten wir um unsre Flaschen, die Photo AG (Borussia Mönchengladbach), die Schach AG (Borussia Dortmund), dazwischen diejenigen, die nirgendwo richtig dazugehörten, und: gaben erneut alles, was wir hatten. Denn der Freitag, der gehörte uns, zumindest der Freitag, und einmal, Gregor glaubte, daß es gestern erst gewesen, so frisch brüllte ihm der Ton durchs Blut, einmal hatte Kötte einen Schrei abgelassen, von ganz unten, durch zwei, drei halbverdaute Koteletts hindurch und – praaah! – an die frische Luft, daß es ein Echo gegeben hatte von wer-weiß-wo, und danach war’s dermaßen still gewesen hinter all den frischbeschnippelten Vorgartenhecken, hinter all den geraffelten, gerüschelten Gardinen mit all den frischbetüterten Geldbäumen, Kakteen, Azaleen: dermaßen still, daß sogar die aus der Schach AG klatschen mußten.

Seither übte sich Gregor bei jeder Gelegenheit in der Erzeugung eines glaubwürdigen Tons; aber er mußte sich’s immer aufs neue eingestehen, daß er bereits an den Ausgangsbedingungen scheiterte, an der Literflasche Fanta. Davon schaffte er in einem Zuge bestenfalls zwei Drittel.

Tatsächlich

begann die Saison am Wochenende wieder, und obwohl auf unsrer Seite, neben Rick, noch zwei aus Tecklenburg mitmachten, die keine Ahnung davon haben konnten, was uns alle so aus dem Tritt gebracht, schlidderten wir von Anfang an in ein Debakel hinein, das am Ende sogar zweistellig ausfiel. Zwar rülpsten wir dann wie die Weltmeister, um wenigstens auf diese Weise kundzutun, was wirklich in uns steckte; doch tief in unserm verbocktesten Innern, unter zwei, drei hastig verputzten Kohlrouladen, Königsberger Klopsen, ahnten wir, daß es damit zukünftig nicht mehr getan sein würde. Und daß es unwiederbringlich auch vorbei war mit manch andrem, das uns ein Pochen in die Schläfe gesetzt:

Vorbei

mit den nächtlich atmenden Rohbauten, in denen man, größerer Offenbarungen ermangelnd (plötzliche Penner, plötzliche Leichen), auf eine verfeindete Clique lauerte …

Vorbei

mit dem Mörderspiel und seinen Fahrradjagden quer durch die Stadt, durchs Gekeife der Aktentaschenträger, Kinderwagenschieber, Einkaufskorbschlepper:[25] Was wußten die schon, wo das Spiel endete und der Ernst begann, der mörderische Ernst begann, was wußten die schon, welche Schmerzen die kleine Narbe an Gregors Kinn bereitete, was wußten die schon! Weil er trotz dieses Sturzes eine stramme Ohrfeige kassiert hatte – von Frau Rethemeier, ihrer Putzfrau, deren verdammter Bernhardiner ihm irgendwie unter die Räder geraten war …

Vergessen

auch Franz Hünerkopf, der während der Schulpausen ganze Rudel zum nächsten Telephonhäuschen getrieben hatte: Kaum war man in den Gelben Seiten[26] auf seinen Namen gestoßen (»eine glänzende Nummer für Karosserie und Lack«), hatten die mit der tiefsten Stimme darin gewetteifert, ihn unter allen erdenklichen Vorwänden ins Gespräch zu ziehen, bis er sein Mißtrauen vergaß und reif war für die Schlußpointe:

»Guten Tag, hier Windmöller & Hölscher, Zentrale Auslieferung (unterdrücktes Gegickel im Hintergrund). Also wir würden übermorgen liefern, ist das recht?

Was meinen Sie mit Sie-wissen-von-nichts; wollen Sie mich –

Aber sicher, Ihr Auftrag liegt –

Nein, kein Irrtum möglich, tut mir –

Aber Sie sind doch ein – (unterdrücktes Gegackel)?

Was heißt hier Übler-Scherz? Die XL-2500 ist unser bestes Stück, Sie wissen schon (großes kreischendes Gegockel): vollautomatische Verpackung von Hühnerköpfen – hallo?«

Schade nur, daß Gregor zwar meist als Texter der Gespräche fungierte, als Drehbuchautor gewissermaßen, daß das Schulterklopfen aber immer derjenige erntete, der die Sache dann tatsächlich durchgezogen hatte.

Nicht vergessen,

wenigstens vorerst, war der »Kater« mit seinem abgewienerten Billardtisch;[27] in geschäftiger Humorlosigkeit widmeten wir uns weiterhin jeden Sonntag den vollen und den halben Wahrheiten, auf dem Tresen hortete Arne die Altbierbowle[28] und die Markstücke, um die’s ging, der Rest war Klinkerboden, waren Sperrmüll-Sofas, bekerzte Holztische, der Rest waren die, die uns zuguckten: uns! die wir in geübter Lässigkeit den Fuß hin und her gleiten ließen hin und her am dicken Ende des Queues und so dessen dünnes, speckiges Ende in einen blauen Kreidewürfel hineindrehten, die wir pausenlos in die Knie gingen und geheime Punkte auf der Bande bepeilten, die wir den Queue hin und her gleiten ließen hin und her zwischen den Knöchelkuppen hin und her … und die wir viel lieber eine Keule gehabt hätten in diesem Kaff, das uns seit einem knappen Monat noch trostloser erschien, außer am Dienstag.

Aber halt,

seit Kötte, weiß der Teufel, wie er an ihn rangekommen war, mit einem uralten Benz herumdieselte, gab’s auch wieder den Freitag. Und wenn wir, in unsern Glanzzeiten sechs bis sieben Mann hoch – der siebte, sofern er sich genug zusammenschnorren konnte: Charli samt lila Meerschwein,[29] im Gepäckraum, wo er spätestens nach zwei, drei Kilometern das Singen anfing: »Our friends are all aboard«, bis die ganze Mannschaft einfiel: »We all live in a yellow submarine, yellow submarine, yellow submarine« –, wenn wir die obligatorische Weinflasche leergekreist und in Osnabrück die eine oder andre rote Ampel überfahren hatten, dann waren wir plötzlich wieder wer und die Welt so rund, als hätte – als könnte – als würde – als wäre nie was gewesen. Denn Kötte wußte auch, wo das Leben so spielte: im »Blauen Bengel«, und bereits der Treppenaufgang zum ersten Stock flimmerte mit Lichterketten, lockte mit Photos, auf denen die Hauptsache versteckt war unter kleinen Herzchen. Lockte mit Photos, an denen man freilich achtlos vorbeiflanieren mußte, wollte man nicht Gefahr laufen, als Anfänger dazustehen:

Ob er den Abend etwa hier unten verbringen wolle? mokierten wir uns über Gregor, der von so was noch keine Ahnung hatte, der noch nie an irgendwas Weiblichem drangewesen war außer an Frau Schattschneider, und stupsten ihn voran – wobei Max, wie’s schien, am lautesten lachte –, stupsten ihn treppauf, zur Eingangstür, vor der uns ein silbern schillernder Kragen erwartete, dessen Spitzen bis dorthin reichten, wo bei andern die Schlüsselbeinknochen rausragten: stupsten ihn bis zur Eingangstür, vor der uns André erwartete, sein Sprüchlein vom Erstgedeck runterspulte, und schon rüpelten wir rein »in die gute Stube«.

Gleich vorn die Bar

verschlug uns erst mal jeden Kommentar: eine rotglühende Theke und davor die sieben Halbweltwunder der Stadt, mit hochtoupierten Haaren, gewaltig glitzernden Gehängen, mit breiten Augenlidern und viel, viel Hals, umledert von Gürteln, als deren Schnallen handtellergroße Löwenrachen schnappten; doch ehe wir uns, mit Andrés Hilfe, in Sicherheit bringen konnten an einen der seitlichen Tische, übernahm Kötte die Regie – »Wer sitzt, ist out!« – und zwang uns dazubleiben, die Halbweltwunder rückten ein wenig pikiert mit ihren Hockern, eine fette Frau in Netzstrümpfen und Hauspantoffeln (wir nannten sie bereits beim zweiten Mal die »Tresenschlampe«) schlappte Pils herbei und Korn: Also gut. Es konnte losgehen.

Wenn die kleinen Fernseher nur nicht gewesen wären! Nicht überall gewesen wären, wo man hinblickte – die kleinen fiesen Bildschirme, die unsern Blicken – noch dazu in Farbe! – jeden Fluchtpunkt verstellten und unsern laut tönenden Anfangselan zum Verstummen brachten: weil man dauernd wegschauen wollte, während man doch aufs neue stets hinschaute; und dazu lief, wie zum Hohn, Rex Gildo oder Peggy March, Wencke Myhre … Ach ja, die Musik, Gottseidank! Die fanden wir dermaßen daneben, daß wir wieder unser Thema hatten. Und sobald die silberne Glitzerkugel an der Decke sich zu drehen begann und den kleinen schummrigen Raum zum riesigen Weltall weitete, in dem die Sterne als Lichtflecken über den Teppichboden huschten, sobald die Temptations loszeterten, die Bee Gees und sogar dieser dämliche Franzose, der dem Gejapse seiner Begleiterin meist bloß ein notorisches »Je t’aime« beizustöhnen wußte,[30] sobald der Samtvorhang zur Seite ruckelte und die Tischlampen überall runterdimmten: war der Sound zwar noch immer keinen Deut besser, aber man hatte sowieso Grund genug, die Bildschirme zu ignorieren.

Bereits die Namen der Tänzerinnen

erregten unsre Phantasie. Ja, das war schon was andres als Katrin, Ulli, Astrid und wie-sie-alle-hießen, die Weiber aus der AG! Überdies kamen sie hier, sofern sie nur die Bühne betreten hatten, aus Frankreich, Flensburg, Fernost, und nicht bloß aus Ringel, Wechte, Tecklenburg – jedenfalls verriet uns das André, der den gesamten Rückraum betänzelte samt Mikrophon, die Haare nach hinten gegelt:

»Applaus, meine Herrschaften, für Belinda aus Schweden, eine phantastische Frau: Charme, Grazie, Beine, meine Herrschaften, bitte Applaus für – Belinda.«

Und dann verdolmetschte er uns auch gleich den Rest der Geschichte, erklärte uns, was sich zwischen den dicken roten Vorhängen abspielte[31] und was unsre Augen trotzdem nicht glaubten:

»Komm, zeig’s uns, Belinda. Ja, zeig uns deine Prachtexemplare. Gib’s uns. Gib uns alles, was du hast. Und nun das Höschen. Jawohl, meine Herrschaften, Applaus für Belinda!«

Schon stieg ein wenig Trockennebel auf, schon peitschten uns Ike & Tina Turner ihr Nutbush City Limits um die Ohren, schon fuhr sich eine Kim mit einem Staubwedel zwischen den Beinen herum und blickte dazu ganz empört; schon hängte sich eine Angela ihr Negligé an den Brustwarzen auf, während uns André versicherte, daß »alles an dieser herrlichen Frau vollkommen echt« sei; und obwohl sie noch nicht mal ganz fertig war mit Wippen und Wiegen, ließ ein Sologreis (wir nannten ihn bereits beim zweiten Mal den »Milliardär«) seinen Sektkübel im Stich, krückte davon. Auch die andern, die andern außer uns, riskierten allenfalls mal einen Blick über die Schulter, kumpelten sich ansonsten an die Tresenschlampe ran und verbrüderten sich auf ex: Als ob’s nichts Wichtigeres zu tun gab, als ob sich nicht eine Welt hier auftat jenseits von Boyle-Mariotteschem Gesetz, Ablativ, Abseitsregel und der Aussicht auf vierzig Jahre mittleren Dienst! Gutgut, die blanken Brüste waren geschenkt, davon hatte Gregor schon im Zeitschriftenladen bei den Großeltern genug abgekriegt, dank »Stern«, »Quick« und: dank »Praline«, die seine Großmutter nur mit umgeknickter Titelseite in die Auslage stellte. Aber als ob’s bloß um Brüste momentan ging! Merkte denn keiner, daß alles völlig anders war, als es André darstellte?

»Hast du’s gesehen?« stieß Gregor seinem Nebenmann in die Rippen, und weil Max noch immer dies Grienen im Gesicht hatte und sich aufführte wie ein Stammgast: den hier nichts mehr wirklich anging und der mal mit diesem, mal mit jenem rumquatschen konnte, rumkichern, als sei er beim »Kater«; weil Max seine Kreise noch immer weiträumig um Gregor herum zog, war’s lediglich Lutti, dessen Rippen herhalten mußten:

»Hast du’s gesehen?«

Aber Lutti kapierte nicht

oder wollte nicht kapieren, nickte hastig und stellte ein paar Sätze zusammen, an deren Anfang und Ende von »geilen Möpsen« die Rede war; wo Gregor doch über das Licht sprechen wollte! und den Dunst und die vielen dicken Lippen rundum – nein: über Andrés empörend selbstverständliche Kommentare zu einer Sache, die so schlechthin unselbstverständlich – nein: über das Enthüllungstempo der Tänzerinnen, denen es anfangs nicht langsam genug gehen konnte und am Schluß dann immer irgendwie – nein: darüber, daß man, trotz allem oder gerade deshalb, nie genug – nein.

Was er sich denn so anstelle? war Lutti sichtlich enerviert: »Das Ganze« sei doch bloß fünf Meter weg.

Neinein, echauffierte sich Gregor, das sei viel weiter weg als fünf Meter, als fünfzig Meter, Mensch Lutti, das sei 2000 Lightyears From Home. Wenn’s nämlich nur fünf Meter weg wäre, dann hieße das ja – dann hieße das ja: daß jedes weibliche Wesen, selbst eins aus Lengerich, genauso –?

Aber Lutti kapierte nicht oder wollte nicht kapieren, faselte was von: »gebongt, gebongt«, deshalb seien sie doch hier.

»Lutti, du Dummsuff, denk mal an deine Mutter! Denk mal an unsre Weiber aus der AG, denk an –«

»Tu ich ja, Mann. Jetzt halt deinen Rand, ’s geht weiter.«

»Auch an – auch an die Neue?«

Gregor hatte die letzten Worte fast geschrien, so daß Max und Kötte die Köpfe drehten, die sie heut dermaßen demonstrativ zusammensteckten, und rübergrinsten.

»An die am allermeisten, wenn du mich fragst.«

Bevor ihm Gregor ins Gesicht springen konnte,

drehte sich Lutti demonstrativ der Bühne zu, dorthin, wo sich unter Andrés glatten kurzen Sätzen die Hauptattraktion des Abends zu schaffen machte: eine Thaifrau »auf Europatour, meine Herren, ein Glücksfall für unsre Stadt«, eine Thaifrau, die rauchte – nicht mit dem Mund, versteht sich, und das war schon wieder derart daneben, daß auch Gregor bereitwillig einen der Luftballons aufblies, die André reihum verteilte, daß er damit brav bis zur Bühne mitkam, wo sich die Asiatin inzwischen ■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■■,[32] und während Kötte noch im Auto schwärmte »Wenn die dich auswringt, aber hallo!«

    , saß Gregor eingeklemmt zwischen Erps, der überraschend still war, und Vogler, der wie immer still war, sogar aus dem Kofferraum drang kein einziger Laut. Erschöpft huschten die Scheinwerferkegel über Plakatwände, Vorfahrtsschilder, Feldwege, selten kam ein Fahrzeug entgegen, und Kötte hatte die Cassette mit Shocking Blue eingelegt. Ein Kinderspiel war’s, Erps beim Aussteigen vorzulügen, man habe die neue Pink Floyd zum Geburtstag gekriegt und wenn’s ihm nichts ausmachen würde –

Im Gegenteil, brummelte Erps, mit dieser Lee-Jeans werde man ohnehin nicht ernst genug genommen.

Wieso? fragte sich Gregor, als er den Spiegel behaucht hatte und zusah, wie sein Gesicht langsam wieder darin erschien: Wieso lag Lengerich bloß knappe zwanzig Kilometer von Osnabrück entfernt? Wo’s doch in der einen Stadt solche Frauen gab, die solche Sachen machten, und in der andern? allenfalls ein paar AG-Weiber, die noch nicht mal allein aufs Klo gehen konnten.

O.k., und neuerdings auch ein Mädchen.

Was freilich ebenso viele Fragezeichen aufwarf,

war Max. War Max, der dies Grienen nicht mehr rausbekam aus seinem Geschau. Aus seinem achteckig vernickelten Geschau, aber auch aus seiner Halsgrube nicht, den zarten Handgelenken nicht, den zarten Fingern – sogar sein Rücken griente und griente: Gregor schüttelte sich, sobald er an all das dachte, was an Max neuerdings aus der Fasson geriet, und er dachte oft daran. Besonders dann, wenn Max ihn wieder mal eine Spur beiläufiger, wieder mal eine Spur achtloser gegrüßt hatte, morgens, beim Betreten des Klassenzimmers, wortlos riß er seit ein paar Tagen nur noch das Kinn kurz nach oben, die Augenbrauen kurz nach oben und: drehte sofort sich dem Nächstbesten zu; und auch sonst, in der Pause, nach Schulschluß, immer gab’s irgendwen, dem sich’s zuzudrehen galt, der wichtiger war als – – –

Ja, dann war dies Rumgegriene besonders widerlich.

Am Dienstagabend, als man,

selbst Arne ließ neuerdings kein einziges AG-Treffen aus, als man mit vereinten Kräften so tat, als ginge’s um Schärfentiefe, um Frosch- und Zentralperspektive, war Max zunächst kein bißchen weniger vergrient als sonst, maulte dann aber plötzlich los, er habe’s gründlich satt. Ja: satt! ständig nur das zu photographieren, was gerade blühe: Kirschbäume, Kastanien, Maiglöckchen, den Löwenzahn auf der Burwiese; wenn das so weiterginge, werde auch 1972 vorüberrauschen, ohne daß man eine einzige Personenaufnahme gemacht habe.

Jedem bis auf den AG-Leiter war sein Hintergedanke sofort klar, der Vorschlag kam mit deutlicher Mehrheit durch. Das große Los fiel dann allerdings nicht auf Max, sondern auf Vogler, der sein Schicksal mit Fassung trug und sich auch anschließend, am Brunnen, nicht aus der Ruhe bringen ließ: Nein, Cosmo’s Factory besitze er selbst, nein, er stehe nicht auf Procol Harum, sondern auf Hendrix, nein, sogar eine Platte von Taste interessiere ihn nicht, er habe sie alle drei längst auf Band. Und damit das ganz klar sei: Jeder habe gesehen, daß die Zettel gleich groß gewesen waren, die Zettel mit den Weibernamen, und wenn’s nun mal seine Aufgabe sei, die Neue zu photographieren, dann sei’s eben nicht die von Max oder Erps oder Lutti. Und über Musik, dies nebenbei, wisse er sowieso besser Bescheid als wir alle zusammen.

Ungewöhnlich viele Worte waren das, die Vogler da an uns verschwendet hatte; spätestens jetzt drückte er sich den Hut in die Stirn und besprang sein Rad. Was verflucht ins, naja, nicht gerade ins Auge gehen konnte, wie Gregor wußte, der sich eine Zeitlang darin versucht hatte, Vöglers Technik zu kopieren, also nicht etwa, wie jeder Postbote, den linken Fuß aufs Pedal zu stellen und dann in aller Gemütsruhe das rechte Bein übern Sattel zu schwingen, oh nein: Ein paar Schritte Anlauf mußten genügen – ein beherzter Sprung und – wahrscheinlich lag’s an Vöglers hochgezognem Easy Rider-Lenker, wahrscheinlich lag’s an seinem Bananen-Sattel, wahrscheinlich. Und nun fuhr er die Bahnhofstraße runter, fuhr ringelwärts und in den nächsten Tagen dann nach – dann zu –

Aber irgendwie wollte’s Max noch nicht fassen.

Aber irgendwie wollte’s Max noch nicht fassen,

oder wieso blieb er stehen und stehen und stehen, statt sich in die Altstadt zu verziehen, Richtung Aldruper Damm, statt sich in seinem Kellerloch zu vergraben, um das ihn Gregor so beneidete?

Unterm Lichtkegel einer Straßenlaterne waren ein paar Mädchen sehr damit beschäftigt, ihre Gummitwistfiguren rechtzeitig der Reihe nach runterzuhüpfen; ein Knirps lehnte, kaum den Sicherheitsabstand wahrend und beide Hände tief in den Hosentaschen, lehnte am Schaufenster vom Salon Inge[33] und tat desinteressiert.

Aus dem Torbogen des Römers schlingerte Herr Kohnhorst, die Turmuhr schlug, die Mädchen kreischten auf, der Knirps flüchtete Richtung Rathaus, blieb stehen, ließ sich vergnügt beschimpfen.

Bloß am Brunnen kam man nicht von der Stelle, Max nicht und Gregor erst recht nicht, Gregor nicht und Max erst recht nicht – seitdem sich Erps verabschiedet hatte, gab’s eigentlich keinerlei Vorwand mehr, noch zu bleiben: Bloß am Brunnen trat man auf der Stelle. Rauchte, warf die Kippen ins Wasser, zu all den schwarz schimmernden Flaschen am Grunde des Beckens.

Zu all den schwarz schimmernden Bonbonpapieren, Sunkist-Tüten, Brotresten, zerknüllten Zeitungsseiten.

Von irgendwoher trillerte sich ein Sopran durch die Nacht, der Knirps verdrückte sich in den Schatten des Ahornbaums, der Rest der Welt war mit Bausparen beschäftigt oder mit Gummitwist oder mit der Erzeugung eines ganz leisen, ganz zarten Rauschens – der Brunnen, die Blätter, der gestirnte Himmel und ab & zu ein Auto –, da klackerte, strammen Schritts, Frau Rethemeier in die Stille samt schnaufendem, schlabberndem Bernhardiner: Als ob er nur darauf gewartet hätte, verschluckte sich Gregor. Als ob er nur darauf gewartet hätte, beklopfte ihm den Rücken: Max.

Max Schmedt auf der Günne.

Über was er sich denn am Freitag, im »Blauen Bengel«, die ganze Zeit betuschelt hätte? nützte Gregor die Gelegenheit, sobald er den Bernhardiner vorsichtig fertiggestreichelt hatte, der Sopran sang sich deutlich näher, der Knirps stand reglos im Schatten, Max schlenkerte sich:

Och, über nichts Bestimmtes. Eigentlich. Über die Neue, zum Beispiel.

Und wieso er das mit jedem getan habe außer mit ihm, mit – nunja: seinem Freund?

Weil der so was noch nicht wirklich kapiere. Der sei eben ein Jahr jünger als er, als Max, und das merke man.

Wie denn, woran denn? wollte Gregor aufbegehren, vom Römer aber kam Frau Lutterbeck, und Max zuckte seine schrägen Schultern.

Kam Herr Huckriede.

Kam eine fremde Person, in fremden Koloraturen schimpfend, wahrscheinlich die Frau eines dieser W&H-Türken, und die kleinen Mädchen deuteten, schrill durcheinanderschnatternd, auf den Schatten des Ahornbaums. Augenblicklich wurde’s dort lebendig, Gregor schnippte die Kippe gegen die Armeejacke seines, nunja: seines Freundes, von wo sie runterfiel auf den Gehsteig und liegenblieb als roter Punkt, den keiner schwarzzutreten wagte:

»Sag mal, Max, bist du eigentlich noch zu retten?«

»Nein«, sagte Max nach einer ordentlichen Weile, und dann sagte er nichts mehr.

Dafür

handelte er. Trotzdem kam ihm Lutti, der schließlich keinerlei Handicap hatte durch höhere Schulbildung, kam ihm zuvor.

»Halt dich fest, sie hat genau die gleiche Pizza gegessen wie ich!« triumphierte Max dermaßen durchdringend aus dem Telephonhörer, daß Gregor fast das blaue Rehkitz fallen ließ, mit dem er seine Ordnungsmaßnahmen, seine Umordnungsmaßnahmen stets begann: »Das ist doch ein ganz unzweideutiges Zeichen, oder?«

Als aber alle Blautiere beieinanderstanden, der Größe nach sortiert: eine Giraffe, ein Pfau, ein Wildschwein, ein Rehkitz, jede Menge Gazellen, Löwen, Elephanten; gerade als Gregor sich den Grüntieren zuwandte, stellte sich heraus, daß sie nicht Lambrusco getrunken hatte (wie Max), sondern Chianti – eine klare Distanzierungsmaßnahme! – und daß sie um halb zehn bereits nach Hause wollte.

»Nein: mußte!« wehrte sich Max: Weiber müßten nun mal um zehn zu Hause sein, Gregor werde das Spielchen schon noch kennenlernen; und obwohl ihn der daran erinnerte, daß die Neue offiziell nicht unter »Weiber« fiel (die man sonst so kenne), sondern unter »Mädchen« (die man überhaupt nicht kenne) und daß demnach alles anders bei ihr sei, bekundete Max in unbeirrt prasselnden Sätzen sein Glück. Wohingegen man an den Burwiesen auf gezischelte Andeutungen, Abkürzungen, Chiffren angewiesen blieb. Als Gregors Mutter im Vorbeigehen zwei, drei Murano-Mäuse zurückscheuchte in ihr angestammtes Revier, als sie auf dem Rückweg auch noch ein paar falsch plazierte Katzen entdeckte, war’s höchste Zeit, das Telephonkabel zu entknäulen. Und sich gummibaumwärts zu verziehen, Richtung Asbach Uralt und bis vor die weit geöffnete Terrassentür, durch die der Juni hereinflutete; war’s höchste Zeit, Max daran zu erinnern, daß die Neue letzthin nicht etwa ihn, Max, sondern Gregor zuerst gegrüßt und sich dann auffallend lang unterhalten hatte mit? Lutti.

Woraufhin man wie zufällig andeuten konnte, daß ebenjener Lutti vor einer guten Stunde, inmitten der Mittagsschlafpause, hier angerufen habe, jaja: Lutti Lutterbeck, um sich ganz dringend zu offenbaren.

Max wollte noch schnell,

Max hätte noch gern, aber da war sie bereits in seinem Ohr, die große Glückspause, das zerknisternde Knacken der Leitung, das Hintergrundgezeter mehrerer Vögel, die Stimme des alten Van der Paaschen, das kehlige Geknurr von Percy. Max hätte noch gern, Max wollte noch schnell, aber da war Gregor bereits dabei, an die Demo zu erinnern, die Demo in Osnabrück, zu der sie Kötte hingenötigt hatte – wer weiß, um was es diesmal wieder ging, für oder gegen den Radikalenerlaß, für oder gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR, für oder gegen die RAF,[34] jedenfalls nicht um Altbierbowle und die schwarze Kugel, wie sonst an einem Lengericher Sonntag. Und wie sie dann doch nicht mitgelaufen waren, sondern lieber am Straßenrand standen und zusahen, als die Viererketten vorbeischnarchten, und wie einer die Palästinensertücher gezählt hatte und einer die selbstgekleckerten Peace-Zeichen …

»Aber was hat das mit Lutti zu tun?«

    … und wie jeder ein Wort nennen mußte, das er nie im Leben in den Mund nehmen würde …

»Jajaja, ich hab Dialektik gesagt und Kötte kritisches Bewußtsein und du –«

Er habe Hinterfragen gesagt, und Lutti?

»Habermas?«

Quatsch, das sei Astrid gewesen.[35]

»Hm. Emanzipation?«

Mensch Max, ob er jetzt schon Lutti und Charli verwechsle? Da sei er ja wirklich nicht mehr zu retten! Was denn die Neue genannt habe?

»Die Neue … die Neue … Workshop?«

Ach Max: dem war noch nicht mal aufgefallen, daß Lutti und die Neue sich zu diesem Zeitpunkt verdrückt, daß sie sich erst wieder unters Publikum gemischt hatten, als man Kinderwagen zählte und Rechtschreibfehler auf den Spruchbändern.

»Und? Was ist passiert?«

Nichts, zum Glück. Lutti habe eine Erklärung abgegeben. Und daraufhin eine Abfuhr kassiert, ganz einfach.

»Hätte nie … hätte wirklich nie gedacht, daß Lutti –«

Das war’s ja! Max dachte nicht genug,

hatte keine Ahnung davon, daß inzwischen nichts mehr so war, wie’s mal gewesen, daß alles, alles nur noch pro forma passierte, nur zum Schein, als bloßes Ablenkungsmanöver. Gregor saß in seinem Zimmer und schaute hinaus in die Taiga, die hinter der Thujahecke loswucherte. Am Ende der Welt – das war nicht zu sehen, das wußte er jedoch –, da lauerte das Freibad, und dahinter … lag irgendwo, als wäre nichts geschehen, lag Ringel: wo Vogler heut oder morgen sein Rad schwarz anmalte morgen oder übermorgen eine meterlange Easy Rider-Lehne an seinen Sattel schraubte und … auch in Lengerich rüsteten sie alle heimlich auf: trugen plötzlich Kordjacken statt blauer Nickis, trugen BW-Unterhemden statt Rollkragenpullis, selbst Charli, der ansonsten ja nicht gerade frisch im Kopf war, hatte seinen gestreiften Pullunder gegen ein Secondhand-Sakko ausgetauscht. Gegen ein Secondhand-Sakko, aus dem ihm seine Schwester, angeblich, sogar noch die Schulterpolster raustrennen würde.

Gregor saß und schaute. Wenn man’s genau betrachtete, war man innerhalb der letzten Wochen ziemlich in Rückstand geraten. Ob’s was bringen würde, eine Dreiklanghupe zu montieren? und die Bierdeckel zwischen den Speichen alle wieder abzuschaffen? Ob man ein Terrier werden sollte wie dieser Vogts[36], ob man von Seiten- auf Mittelscheitel umstellen, ob man die Lee-Jeans endlich verschwinden lassen sollte?

Gregor saß und schaute. Hielt sich seine Mallorca-Muschel ans Ohr, durch die das Mittelmeer rollte, rollte, und hätte doch viel lieber einen Riesenrülps hinausgelassen durch die Dämmerung, einen Einliterrülps, der jedermann gezeigt hätte, daß mit ihm zu rechnen war ab jetzt. Jedem Mann und jedem Max und Lutti und Erps und Vogler und –

    – als er den Badezimmerspiegel behauchte, hätte er vielleicht sogar was hineinzuschreiben gewußt, zog’s dann aber vor, über sein Gesicht zu verzweifeln. Zog’s vor, am rechten Nasenflügel beginnend, in immer größer werdenden Spiralbewegungen sich vorarbeitend und keine einzige der roten Pusteln überspringend, zog’s vor, über sein Gesicht zu verzweifeln.

Als er im Bett lag und das Leuchtkreuz bestarrte, beschloß er, daß alles anders werden müsse.

Allerdings nicht von heute

auf morgen. Weil’s nämlich immer noch besser war, nicht zu handeln, als falsch zu handeln. Sollte Lutti doch, sollte seinetwegen selbst Max in die Abseitsfalle stürmen; Gregor würde von der Mittellinie aus zusehen, wie sie sich im Eifer des Gefechts gegenseitig den Ball wegnahmen. Und würde auch sonst, am Dienstag, am Freitag, am Sonntag, so tun, als ginge’s weiterhin um nichts andres als Verabredungen zum Kicken, zum Billard beim »Kater«, zum Kluge-Bemerkungen-Machen im »Blauen Bengel«.

Oder zu unsern Trommelwettbewerben.

Denn Vogler hatte sich nicht etwa damit begnügt, die alte Gitarre von seiner Schwester Jasmin zu kaufen

– man staunte neuerdings ja immer öfter über die Weiber in unsrer AG, wer hätte so was bei denen vermutet? –, sondern sich aus leeren Dash- und Persiltrommeln gleich ein Schlagzeug dazu gebaut; und weil er während der Sommermonate ein kleines Seitenkämmerchen der Scheune bewohnte, fuhren wir regelmäßig mit dem Rad raus nach Ringel, am Lenker Plastiktüten mit unsern Lieblingsplatten.

Ein bißchen Bammel hatte Gregor vor Trommeltagen nach wie vor; zwar war er noch nie letzter geworden – der nämlich stieg ab und mußte bis zum übernächsten Spieltag zwangspausieren –, doch insgeheim bedauerte er’s heftig, daß ihm seine Eltern seit Jahren nichts Sinnvolleres aufgeschwatzt hatten als Klavierunterricht: der bloß große und kleine Arpeggien, quintenzirkelweise Tonleitern und Trillerübungen und schlechte Laune und also überhaupt nichts brachte, was beim Trommeln zu gebrauchen gewesen.

Ein bißchen Bammel hatte Gregor nach wie vor.

»Guten Tag, Frau Vogler«,

blamierte uns Ecki bereits, bevor’s überhaupt richtig losging, und wir bereuten, daß wir seinem Betteln diesmal nachgegeben und ihn mitgenommen hatten.[37] Frau Vogel freilich mußte selber lachen, sieh an, so locker konnte eine Mutter drauf sein, und sie motzte auch nachher kein bißchen, als es in die vollen ging: Summer In The City, Paranoid, Easy Livin’ liefen full speed über Vöglers Anlage – dagegen war Mister Hit nur ein windiger Furz –, und wir trommelten um unser Leben, sogar Charli machte seine Sache nicht so schlecht. Dann kam die Reihe an Max, und der: legte glatt Je t’aime auf!

»He, spiel doch gleich Cat Stevens oder Leonard Cohen!« belferte Ecki, als ob er eine Ahnung von irgendwas gehabt hätte, und an der Wand hingen, in nahtlosen Horizontalen, Vertikalen flächendeckend angepinnt, hingen hundert Poster von unsern Helden. Vielleicht auch bloß neunundneunzig, aber rundum und bis zur Decke rauf zu den Fußbodenbrettern runter.

»Das ist keine Musik«, entschied Kötte, und Lutti versicherte jedem, daß er beinah einen Abgang gekriegt hätte, weil: man auf so was als Mann ja gar nicht trommeln könne!

Er schon, fauchte Max da noch forsch zurück und wollte’s uns beweisen, indem er sich einen Becher Ananasbowle aus dem Eimer schöpfte. Dabei stand das ausschließlich den Juroren zu!

Daß das Gezerre um den Becher mit einem Unglück enden würde, war vorauszusehen; daß indes der ganze Eimer umkippte, brachte selbst einen Vogler in Fahrt, und als wir uns ans Aufwischen machen wollten, geriet er vollends aus dem Takt.

Trotzdem konnte er’s nicht verhindern, daß wir unter seinem Matratzenlager nicht nur Ananassaft hervorwischten, sondern vor allem ein Photo. Ein Photo von der Neuen.

»Soso«, nahm sich der Angelegenheit ausgerechnet Ecki an: »Chamois-Papier, man gönnt sich ja sonst nichts.«

Dabei habe er uns doch erzählt, er hätte den ganzen Film überbelichtet! riß Erps die Sache an sich, fuchtelte hoch über unsern Köpfen damit herum; schließlich hielt Kötte das Bild in der Hand, betrachtete es sehr sorgfältig. Und ließ Vogler wissen, daß er innerhalb einer Woche jedem von uns einen Abzug zu liefern habe – frei Haus und gleiche Größe, gleiches Papier.

An der Wand hingen unsre hundert Helden: vielleicht auch bloß neunundneunzig, aber rundum und rauf und runter.

Das war das letzte Mal, daß wir in Ringel trommelten, und also wird es sicher September gewesen sein.

Oder doch erst

August? Denn Gregor konnte sich später lediglich daran erinnern, daß es so wild gerochen während der Wochen, da er das Photo mit sich rumgetragen, so taigawild gerochen hinterm Haus und besonders im Brombeergestrüpp, an dem er sich fast täglich jetzt die Finger zerstach, und daß sich Herr Dr. Arnold,[38] wie jedes Jahr, darüber ganz schön gemopst hatte.

Aber wo sollte man ein Bild im DIN-A5-Format auch sicher deponieren? Neuerdings fand Frau Rethemeier sogar die LeseringBände und stellte sie zurück ins Wohnzimmer, die hätte am liebsten noch hinterm Einbauschrank gewischt und unterm Teppichboden – ja, ein paar Wochen roch’s wahnsinnig wild rüber über die kleine gepflegte Thujahecke und den kleinen gepflegten Rasen und den kleinen gepflegten Teich und roch bis hoch in den ersten Stock: wo man sich schließlich entschloß, das Photo in einer Plattenhülle verschwinden zu lassen.

Um bei jeder Gelegenheit nachzuschauen, ob’s noch da war! Und ob das Muttermal nun an der linken Schläfe saß oder an der rechten. Ob die Nase wirklich als stupsig gelten mußte – was die Mehrheit ja behauptete. Ob’s mehr oder ob’s weniger Sommersprossen werden würden, wenn man sie nachzählte. Und ob die Haare vielleicht doch als blond gelten konnten, als dunkelblond zumindest.

Obwohl das auf einem Schwarzweißphoto schwer zu entscheiden war, und also wird’s wohl August gewesen sein.

Oder doch bereits

September! Denn seit jener Trommelgeschichte hatte Max endlich begriffen, daß er nicht der einzige war, dem die Hitze im Hirn herumrollte, und daß er in Gregor, wenn schon nicht mehr: einen absolut loyalen Freund hatte, so wenigstens noch: jemand, der beteuerte, »sich aus der Angelegenheit raushalten zu wollen«. Woche für Woche schwangen sich die beiden aufs Rad und fuhren rüber nach Wechte, in der irren Hoffnung auf ein unerhörtes Ereignis, durchstreiften das Terrain und »sammelten Fakten«: über Wiesen, auf denen schwarzweißgefleckte Kühe wohnten; die Silhouetten der Telegraphenmasten und die der Birken am Wechter Mühlbach; die langen Linien abgestoppelter Weizenfelder; die dunkelrot geziegelten Bauernhöfe dazwischen, die hauptsächlich aus steilen Dächern bestanden; über Wiesen, auf denen schwarze und weiße Pferde wohnten; Kartoffelfelder; ab & zu einen Bussard in der Luft; Mais; Pappeln; Futterrübenfelder – meist hatte man gar keine Namen mehr für das, was man alles sah, meist war’s bloß »Feld« und »Busch« und »Baum« und trotzdem! Selbst ohne die Wörter war sie plötzlich wieder sehr da, die Natur, in der’s früher Disteln gegeben hatte, die man köpfen, Schneckenhäuser, die man zertreten, gefällte Baumstämme, auf denen man entlangbalancieren konnte an der Hand des Vaters … Manchmal sogar bis hoch nach Tecklenburg fuhren sie (wo’s eigentlich viel schöner war als in Lengerich, aber das durfte man nicht mal denken), und welchen Weg auch immer sie wählten, er führte in eine Landschaft, durch die allenfalls ein Grüppchen holländischer Touristen tändelte, ein Traktor tackerte, einer dieser Kerle lärmte, wenn man sich zu nah herangewagt hatte an ein Gehöft: vornehmlich an das von Kipp-Oeljeklaus.

Ja, vornehmlich und insbesondere an das.

Zwar war’s von einem kleinen Wäldchen umgeben,

das Gehöft, und bot ausreichend also Deckungsmöglichkeiten, allerdings trieb sich darauf ein besonders widerliches Exemplar herum, dem nichts entging und dessen unvermitteltes Losgeblaffe zumindest »sehr groß« klang, zumindest.

Doch als das unerhörte Ereignis

tatsächlich eines Samstags stattfand, am Steinhügelgrab, die Mittagssirene war gerade fertig, da erschraken sie derart, die Herrschaften Schattschneider und Schmedt auf der Günne, daß sie nur lässig die Hand vom Lenker nehmen und das Kinn leicht hochreißen und: vorbeiziehen konnten –

    – um sich den Rest des Tages darüber zu streiten, wie »das Ganze« zu bewerten war: Hatte sie etwa gelächelt? Und wenn ja (denn bereits in diesem Punkt konnten sie keinen Konsens erzielen), war das ein erfreutes Lächeln gewesen oder vielmehr: ein spöttisches? Hatte sie ihnen vielleicht angesehen, weshalb sie sich hier herumtrieben, jenseits der Demarkationslinie, die von der Autobahn ins Tecklenburger Land geschnitten wurde oder … traf sie gar täglich auf irgendeinen der AG? Zum Beispiel auf Charli? Dessen lila eingefärbten Hamster sie letzthin ebenso ausführlich gestreichelt hatte wie seinerzeit das Meerschwein;[39] oder auf Kötte höchstpersönlich? Der ja vor der letzten AG-Sitzung ganz offen angefragt hatte, und zwar auch in Richtung Weibereck, ob ihn wer begleiten wolle?[40]

Gegen Abend legten sie sich an eine ihrer Lieblingsstellen in eins ihrer Kiefernwäldchen und leerten eine Flasche Chianti, was sonst. Max erzählte vom »Goldenen Schuß«, vom »beat-club« und, wenn Gregor allzulange dazu schwieg, von »Bonanza«;[41] Gregor erzählte von Gregor Samsa und Josef K. und, wenn Max allzulange dazu schwieg, von K., der’s ihm, schon wegen des herrlichen K’s, besonders angetan hatte[42] – wenn sein Vater gewußt hätte, welche Schätze ihm da der Reihe nach von seinem Schreibtisch entwendet wurden!

Dann schauten sie hoch ins schwankende Grün der Baumwipfel, ins Weiß der Wolken, ins Blau des Himmels. Bis das alles zusammengeflossen war in ein schlierendes Grau, ein schummerndes Schwarz, und lau die Nacht dazu emporknisterte.

Völlig! schwarz

waren die Wände von Gregors Zimmer zwar noch lange nicht, sondern bloß stellenweise beschrieben mit Wachsmalstift: Trotzdem schien Frau Schattschneider vor lauter Text gar nicht mehr die weiße Wand dahinter wahrzunehmen, als sie ungebeten reinplatzte und gleich das Licht andrehte – von wegen der Lautstärke (»Vater rechnet!«) und wieso sie immer im Dunkeln tanzen müßten, da könne doch was passieren, und ob man in der zwölften Klasse nichts Beßres im Sinn habe als dies dauernde Gedudel und … was denn mit den schönen! neuen Tapeten los sei?

Ob er’s etwa auch wäre, der an die Fassade von W&H geschrieben habe: »Macht kaputt, was euch kaputt macht«?[43]

Oder etwa Sie, Max?

»Komm, wir geh’n lieber noch einen kippen«, schlug Gregor schnell vor. Wenn seine Mutter gewußt hätte!

Daß er morgen auch die restlichen Poster

runterreißen – ein vollständig plakatiertes Zimmer wie das von Vogler war sowieso nicht hinzukriegen – und daß er dann, schön der Reihe nach, die besten Sätze aus »Reader’s Digest« an die Wand schreiben würde! Und die aus den Lesering-Bänden.

Ach, was wußten schon Mütter! Jedenfalls nichts von Kafka, Hofmannsthal, Brentano, Trakl; nichts von Tangerine Dream, und daß man das alles nur kapierte, wenn man dazu auch mal das Licht ausgeknipst ließ; und nichts, natürlich, vom Tod.

»Findest du’s in Ordnung, daß wir sterben müssen?« fragte Max kurz vor Sperrstunde, während Gregor seine Kilroys auf sämtliche Bierdeckel kritzelte. Wieder war einer dieser Tage fast vorüber – einer dieser immer gleichen Tage, die nachmittags begannen, wenn man rüberfuhr in all die Farben und Gerüche, für die man keinen Namen wußte; einer dieser Tage, an denen man schließlich zurückfuhr und die Jalousien runterließ am Aldruper Damm oder an den Burwiesen: und Musik hörte; einer dieser Tage, die beim »Kater« endeten auf einem alten ausgeleierten Sofa, linksrechts hockten Typen, die grüppchenweise aufs Klo verschwanden oder ins Auto, die den Rest der Zeit dasaßen und sich wechselseitig versicherten, sie täten’s schon »ganz deutlich spüren«, »das Zeug« haue »mächtig rein«, vom Nebenraum klatschten die Billardkugeln rüber, grau war die Luft und süß und voller Klang, und jedesmal nach dem Tod fragte Max. Fand’s ganz & gar unbegreiflich, daß man sterben mußte:

»Ich find’s empörend, eine Frechheit.«

»Unvorstellbar, daß alles plötzlich umsonst war.«

»Daß alles umsonst war, von Anfang an.«

Manchmal müsse er fast heulen, schnippte Gregor die Asche von seiner Zigarette – mit dem Daumen, wie’s Vogler machte –, manchmal, wenn er an den Tod seiner Eltern denke, müsse er fast heulen. Und sich noch ein Alt Schuß[44] bestellen, nur so zur Sicherheit: Klar, im Grunde würden sie bloß Blödsinn reden jeden Tag Blödsinn machen – naja, wie Eltern eben … Aber irgendwie wolle’s ihm nicht in den Kopf, daß sie mal »hopsgehen« müßten. Daß keiner dann mehr beim Rumrocken störe.

Und er selber etwa nicht? wurde Max bierunselig: Ob nicht irgendwann auch mal er selber hopsgehe, er, Gregor? Und es dann gar niemand mehr gebe, mit dem man »Fakten sammeln« und sich beraten könne, ob Kötte vielleicht inzwischen wirklich –