Das letzte Rad - Thomas Berscheid - E-Book

Das letzte Rad E-Book

Thomas Berscheid

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Beschreibung

Heinrich Sobeck hat Stress mit Studium und Freundin. Er will am Niederrhein ein paar Wochen entspannen. Am ersten Abend auf dem Land trifft er sich auf ein Bier mit einem Freund aus der Schulzeit, der gerade Polizist geworden ist. Sie reden über die gute alte Zeit auf dem Rennrad und die Radrennen. Der Abend endet damit, dass Heinrichs geliebtes Rennrad geklaut wird. Heinrich macht sich auf die Suche nach seinem Rad und findet eine Bande, die mit dem Verkauf geklauter Teile Geld macht. Was er nicht weiß: Seine Gegenspieler nutzen die Räder als Drogenkuriere. Und während Heinrich der Bande auf der Spur ist, eskaliert ein Drogenkrieg an der Grenze zwischen Venlo und Kempen.

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Berscheid

Thomas Berscheid

Das letzte Rad

Thomas Berscheid

Das letzte Rad

Thomas Berscheid

Krimi

Thomas Berscheid

Das letzte Rad

Kriminalroman

Krimi

Berscheid Verlag

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Thomas Berscheid

Umschlag: © 2024 Copyright by Irma Berscheid-Kimeridze unter Verwendung von Design und KI-Bild von canva.com

Verantwortlich

für den Inhalt: Thomas Berscheid

Johannes-Albers-Str. 10

50767 Köln

[email protected]

www.berscheid-verlag.de

Druck: Veröffentlicht über tolino media

Das letzte Rad

Prolog – Blanke Nerven

I.

„Du kommst hier nicht rein!“

Meine Botschaft war unmissverständlich.

„Ey, mach ma halblang!“ blaffte mich der Typ an.

„Keine Chance“, gab ich zurück. „Der Chef will nicht schon wieder Blut sehen.“ Stresstypen hatten im Rockhouse nichts mehr verloren. Vor einem Monat war der Laden ein ganzes Wochenende dicht. Ein Stresstyp hatte einen Stammbesucher abgestochen wie ein Schwein. Und der Besitzer des Messers hatte eine Sonnenbrille auf, ebenso wie der Typ mir gegenüber. Zu braun gebrannt. Hemd eine Spur zu weit offen. Typ Zuhälter. Sonnenbrille kurz nach Sonnenuntergang, cool und blöd. Und die beiden Jungen offenbar slawischer Herkunft hinter ihm sahen mir auch zu sehr nach Macho aus.

„Hasse ’n Problem, Mann?“, fragte mich der Träger der Sonnenbrille. Deutlicher Akzent aus dem Ruhrgebiet.

„Gunnar, lass wechseln die Laden“, sagte einer der beiden jungen Typen hinter ihm.

„Du blockierst den Eingang“, gab ich zurück. „Mach einfach die Tür frei. Keine Diskussion.“

Es schien, als ob mich der Typ fixierte. Genau konnte ich das wegen der Sonnenbrille nicht sehen.

„Da musse mich schon reinlassen“, drohte mir der Stresstyp. Eine ziemlich aufgedonnerte Frau keifte ihn von der Seite an. Der Typ lies sich nicht beeindrucken.

Es wurde langsam ungemütlich hier draußen. Der Eingang war dicht, ein Streßtyp vor der Tür, noch zwei andere potentielle Schläger dabei, und ich war allein hier vor dem Rockhouse als einziger Türsteher.

Ich klopfte auf das Mikro.

„Hier oben braut sich was zusammen“, sagte ich zu Manni. „Komm endlich vom Klo runter!“

„Halt die Stellung“, antwortete Manni knackend in meinen Kopfhörer. „Bin gleich bei dir, Sobeck.“

„Alter, häss do he Freibier?“ quatschte mich ein Besoffener von der Seite an.

„Eintritt 15 Mark“, wendete ich mich dem Typ mit der deutlichen Schnapsfahne zu.

Das war seine Chance. Wahrscheinlich dachte sich der Streßtyp das gerade. Er stürmte auf mich zu und wollte mich am Kragen packen. Dachte, ich sei abgelenkt. Na gut, das war ich auch. Aber nicht genug.

„Ich mach dich platt!“ brüllte mir der Typ ins Gesicht und schlug mit der Rechten in die Richtung seiner Worte.

Ich nahm meinen linken Arm nach oben. Seine Faust traf mich an der Schläfe und nicht aufs Kinn, wie er wahrscheinlich beabsichtigt hatte. Bei mir knallten gleich einige Sicherungen durch. Mit der rechten packte ich den Typ an der Schulter und nahm seinen Schwung auf. Er drehte sich in Richtung der Tür und schnellte nach hinten in den Eingang hinein. Ich wollte den beiden anderen Typen keine Angriffsfläche bieten. Außerdem standen da noch ein paar Kollegen.

Dann hatte ich ihn an der Mauer. Der Typ wollte irgendwas aus seiner Hosentasche ziehen. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr zu verlieren. Ich drückte seinen rechten Arm weg und sprang ihm mit dem Knie in die Magengrube. Einmal. Zweimal. Dreimal. Endlich ließ der Widerstand nach. Etwas metallisches fiel zu Boden. Manni kam angestürmt, nahm den Typ von der Wand und warf ihn auf den Boden, setzte ihm mit der Gewalt seiner 130 Kilo Lebendgewicht das Knie auf den Rücken. Ich donnerte die Tür ins Schloß.

Meine Hand fuhr an die Schläfe. Ich packte in Blut. Der Typ hatte mich schlimmer erwischt, als ich zuerst gedacht hatte.

„Den mach ich alle!“ brüllte ich diesmal, voll mit Adrenalin bis in die Haarspitzen.

„Ruhig, Sobeck!“ rief Manni zurück und wehrte meinen Versuch ab, dem Typ auf dem Boden mit der Hand den Schädel zu spalten. Er legte ihm eine Plastikschlaufe um die Handgelenke. Ich nahm das Messer auf, dass mir der Typ in die Nieren bohren wollte. „Nimm den linken Arm“, kommandierte Manni.

Wir hoben den Typ vom Boden auf. „Du hältst die Schnauze“, wurde Manni ihm gegenüber deutlich. „Bei der kleinsten Bewegung schmeiß ich dich in den nächsten Hochofen.“

Manni bekam eine Landung Speichel ins Gesicht. Ich donnerte dem Typ meine Linke in die Nierengegend. Er zuckte zusammen. „Beim nächsten Mal sind deine Eier dran!“ sagte ich.

Offensichtlich hatte der Typ Angst um seine Familienjuwelen. Er sagte jedenfalls nichts mehr, bis Manni seine früheren Kollegen begrüßen konnte. Ich warf einen Blick in seinen Ausweis. Der Typ hatte einen polnisch klingenden Namen.

Und ich wusste jetzt noch nicht, dass ich ihn wenige Wochen später noch einmal sehen sollte.

II.

„Halt still!“ kommandierte Hansi mich herum. „Ist nur ein Kratzer. Hansaplast wirkt da Wunder.“

„Was ist dir über die Leber gelaufen?“ fragte Manni von seinem Stuhl in der Ecke des Hinterzimmers. „Letzte Woche hättest du so eine Sache mit einem Arschrunzeln abgefertigt.“

„Letzte Woche hatte ich auch noch eine Freundin“, gab ich verbittert zurück, sauer auf mich selbst und den Schimanski, der in mir ausgebrochen war. „Die Woche war Scheiße, und ich bin wütend auf mich selber.“

„Immerhin darfst du jetzt bald Lehrer werden“, zog Manni mich auf.

„Deswegen bin ich ja so mies drauf“, gab ich zurück. „Selber solche Kotzbrocken werden wie meine Eltern? Keine Chance. Ich hab’s verpeilt.“

„Stillhalten!“ kommandierte Hansi erneut und drückte ein Pflaster auf die Stelle, die der Streßtyp getroffen hatte. Zum Glück hatte er nicht den Hörstöpsel getroffen, sonst hätte ich jetzt wahrscheinlich für den Rest meines Lebens ein implantiertes Hörgerät.

Die Polizei hatte eine Anzeige aufgenommen, die Personalien aufgeschrieben und unser Chef ein Hausverbot verhängt. Der Typ, der mich angegriffen hatte, warf mir noch ein paar Morddrohungen entgegen, als die Polizisten ihn abführten. Die Designerbrille stopfte ich ihm in die Jacke. 500 Mark ordentlich zertreten.

„In Duisburg scheint das normal zu sein“, kommentierte Manni das Protokoll der Anzeige.

„Das ist Niederrhein“, sagte ich. „Und Niederrhein macht aggressiv.“

„Und du solltest für heute Feierabend machen“, sagte Hansi. „Die Rush Hour hier ist vorbei. Du bekommst den ganzen Abend bezahlt.“

„Und mit dem Geld solltest du mal Urlaub machen“, setzte Manni nach.

Wie liebevoll die beiden doch sein konnten. Hansi und Manni. Eineiige Zwillinge, beide wegen übermäßiger Gewalt aus dem Polizeidienst entlassen und jetzt Chefs mehrerer Dutzend Security-Leute, zu denen ich auch gehörte. Sie pflegten mich wie ihren Augapfel. Ein Mitarbeiter hatte sie einmal mit den Mädels aus den Pferderomanen von Blyton verglichen. Er kam nach zwei Wochen wieder aus dem Krankenhaus.

„Sind jetzt eh Ferien, die ganzen Asozialen sind auf Mallorca“, meinte Hansi.

III.

Hatte ich also Urlaub. Und was sollte ich jetzt damit anfangen? Ich zog die Dienstjacke mit dem Aufdruck von HA und EM Security wieder an. Als ich im Hinterhof die Panzerketten von meinem Dale abmachte, dachte ich, dass sie gar nicht so Unrecht hatten. Einen Urlaub hatte ich dringend nötig, und dafür gab es mehrere Gründe, nicht nur den Streß mit den Germanisten an der Kölner Uni. Ich steckte das Licht auf den Lenker und den Blinker an den Hintern. Rüber zum Mediapark, in den Viva gerade gezogen war. Dann an Saturn vorbei und die Krefelder Straße runter ab nach Nippes in die Sechzigstraße. Ich nahm das Rad mit auf die Bude. Da war ja jetzt kein weibliches Wesen mehr, dass über meinen Alurenner meckern konnte.

Der Anrufbeantworter blinkte. Zuerst erkannte ich die Stimme nicht. Wir hatten uns auch seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Frank. Mein alter Schulfreund und Trainingspartner. Ob ich nicht Lust hätte, ihm in Grefrath beim Aufbau eines Fahrradhandels zu helfen. Manchmal konnte das Leben doch genau zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Überraschungen bringen.

Und meine Mutter kommandierte mich dazu ab, in Grefrath die Blumen zu gießen. Unterrichtston. Ich hatte also sturmfreie Bude. Den akustischen Müll, die Vorwürfe und wüsten Beschimpfungen von Tanja ignorierte ich. Es war erst kurz nach Mitternacht. Ich wählte die Nummer, die Frank auf dem Band hinterlassen hatte.

Es brauchte nicht lange, wir wurden uns schnell einig. Am Montag ging es an den Niederrhein. Musste ich heute nur noch bei der Mitwohnzentrale anrufen.

Auf der Flucht

I.

Ihre Augen starrten mich an. Ihre Lippen öffneten sich. Versuchten einen Laut herauszubringen. Sinnlos. Meine rechte Hand legte sich um ihren Hals. Auf der anderen Seite die Mauer. Entkommen zwecklos.

Ein Krachen. Der vierte wollte nicht raus. Der fünfte nicht rein.

Nur ein Krächzen kam noch zwischen ihren aufgeworfenen Lippen hervor. Sie sah sehr erotisch aus, mit ihren weit aufgerissenen Augen, in denen sich die Todesangst spiegelte.

Auskuppeln. Zwischengas. Einkuppeln. Der fünfte kratzte jetzt also auch. Scheißkarre. Opel. Aber billig.

„Niemals“, herrschte ich sie mit gefletschten Zähnen an, „nie wieder in deinem Leben wirst du mich zum impotenten Affen machen. Denn dein Leben ist gleich zu Ende. Hier sind wir ganz allein. Dir kommt keiner zu Hilfe.“

Ich drückte zu.

Verdammt, ein Lastwagen. Sattelzug, 18 Meter lang. Bei Tage eigentlich nicht zu übersehen.

Die Seifenblase in meinem Kopf zerplatzte. Ich musste mich auf das Fahren konzentrieren. Und nicht mehr auf die Mordphantasien um meine Ex-Freundin.

Ich versuchte das Fenster herunter zu kurbeln. „Alter“, sagte ich zu meinem Ascona, „das ist vielleicht die letzte Fahrt deines Lebens. Also streng dich an“. Das Fenster versank in der Tür, ich konnte meinen Arm nach draußen legen und mir den Fahrtwind um die Haare wehen lassen.

Aus alter Gewohnheit versuchte ich, in der Mittelkonsole nach der Packung Zigaretten zu greifen. Da lag aber keine Packung. Mir fiel ein, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben hatte. Musste es alles gleichzeitig sein?

Links neben mir tauchten die Bagger vom Tagebau Garzweiler auf. Ich zog auf die linke Spur, kein Wagen hinter mir, ein Donnerstag Nachmittag, auf der A240 Höhe Grevenbroich eine Lücke in der Stauschau auf Eins Live. Nach links rüber auf die A44. Langsam begann sich die Landschaft zu verändern. Neben mir hörte die Rübenpampa auf und wuchsen die ersten Pappeln in die Höhe. Der Niederrhein hatte mich wieder.

Ich rauchte in Gedanken eine Zigarette, während ich im Autobahnkreuz Holz die richtige Spur Richtung Venlo suchte. Die letzten Monate liefen vor meinem inneren Auge ab. Da war dieses blöde Lernen auf die Zwischenprüfung hin. Wochenlang büffeln über altgermanische Sprache. Wer braucht so etwas? Warum kam ich überhaupt auf die Idee, Germanistik zu studieren? Wer braucht einen Lehrer, und wer braucht diesen ganzen wissenschaftlichen Mist später, falls er einen Job bekommt?

Der Ascona schleuderte rüber auf die A61. Die Stoßdämpfer hinten waren hinüber, und ich fragte mich, ob ich unterbewusst zum Selbstmord neigte.

Vor mir tauchte die Abfahrt nach Viersen-Süchteln auf. Angenehme Erinnerungen an den Zivildienst schlichen mir durchs Hirn, an die Psychiatrie, die Forensik. Ich setzte den Blinker, trat auf die Bremse, die Scheibe rechts vorne wimmerte, der dritte Gang kratzte beim Einlegen, Zwischengas geben, mit der Kupplung jonglieren. Alles an diesem Wagen war alt und verschlissen, dabei war er neun Jahre jünger als ich. Baujahr 83. 15 Jahre alt. Viermal um die Erde gelaufen. Rentnerkiste von Niederrhein. War bestimmt die ersten 10 Jahre nur zwischen Haus und Kaisers gependelt. Drei Jahre in der Sechzigstraße in Köln-Nippes hatten den Rost beschleunigt.

Als Lobberich links neben mir lag, bog ich auf die B509 nach Grefrath ab, den Lobbericher Berg hoch. Die Kurve, in der es ein halbes Dutzend Jugendliche zerrissen hatte, war schneller geworden. Und der Baum, an dem der Mazda zerschellt war, stand nicht mehr.

Ich rollte einmal halb um Grefrath herum, bog vor dem Eisstadion nach links ab. Das Waldstück zur Stadionstraße war schmaler geworden, links und rechts schräg gegenüber der evangelischen Kirche standen neue Häuser. Ich bog in die Stichstraße ein, die in das Gelände der Landesgartenschau führte. Da stand der Mirabellenbaum, den ich jetzt geschüttelt hätte, um etwas frisches Obst zu bekommen. Aber da war kein Baum mehr. Die Laterne stand nun frei an der Straße. Der Ascona konnte sich vor der Grage erholen.

Wenn sie jetzt noch gelebt hätte, wäre Pudy angelaufen gekommen. Sie hatte mich immer kommen hören, kein Wunder bei den Löchern im Auspuff, war mit hoch erhobenem Schwanz zu mir hergelaufen und hatte mich mit Köpfchengeben und einem freundlichen Maunzen begrüßt. Das war jetzt zwei Jahre her. Sie war nicht mehr. Schlaganfall. Eingeschläfert, es muss ein trauriges Bild gewesen sein. Meine Schwester heulte mir am Telefon an dem Abend ordentlich was vor.

Das wichtigste war im Kofferraum. Keine Tasche, kein Koffer, nicht einmal ein Beutel. Ein Rahmen, zwei Laufräder. Ich nahm den Straßenrenner heraus, stellte ihn auf Lenker und Sattel, setzte beide Laufräder ein, spannte die Bremse. Teure japanische Technik.

Mit dem Rad in der rechten und der Sporttasche in der linken Hand ging ich zur Küchentür und sperrte auf. Ein Zettel auf dem Küchentisch. Eine detaillierte Anweisung meiner Mutter, was zu Essen in der Kühltruhe war und welche Blumen ich in welchem Rhythmus gießen musste. Ich beschloss, den Zettel morgen zu lesen. Daneben legte ich das Handy ab, das ich mir kurz zuvor gekauft hatte. Ein Blick in die Tiefkühltruhe, ich brauchte heute nicht mehr einkaufen zu gehen. Dann ein Blick unter das Regal, ein Kasten Wasser, und, wichtiger noch, ein Kasten Diebels. Sehr gut. Vater hatte meinen Wunsch beherzigt. Eine Flasche fehlte. Sie hatte einen Platz im Kühlschrank. Ich genoss das Zischen und gurgelte die halbe Flasche hinunter. Ungewohnt, das erste Alt, wenn man drei Jahre lang fast nur Kölsch getrunken hatte. Ich war zu Hause. Aber war das jetzt meine Heimat?

II.

Frank war nicht wiederzuerkennen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, auf der Fete zum Ende meines Zivildienstes hier im Dorf, hatte er ein Ziegenbärtchen, eine Hip-Hopper-Jeans und ein zerschlissenes Beasty Boys T-Shirt an. Jetzt stand mir ein Anzug von Armani gegenüber.

„Du siehst richtig nach Geschäftsmann aus“, sagte ich. „Hast du jetzt das Geld gepachtet?“

„Pure Fassade“, antwortete er. „Ich hatte gerade einen Dealer zu Gast.“

„Lohnt sich das Geschäft? Woher hast du die Knete?“

„Hat mir die Sparkasse gepumpt. Wenn die den Namen meiner Firma hören, spitzen die ihre Ohren. Außerdem hat der Elektrohändler Pleite gemacht, der hier früher drin war. Die wollten ganz einfach ihr Geld in Sicherheit wissen.“

Frank zog sich ins Büro zurück, hängte den Anzug auf den Bügel und kam wie gewohnt in Jeans und T-Shirt zum Vorschein.

„Jetzt komm“, sagte er. „Ich zeige dir mein neues Reich.“

Er ging vor mir her, schleppte mich durch einige Türen und in eine große Halle. Über uns wölbte sich ein Betondach, knapp isoliert, Neonleuchten baumelten herunter und tauchten den Boden in ein kaltes Licht. Und das bei knapp 30 Grad draußen vor der Tür. An der Wand stapelten sich zertrümmerte Möbel, die aus der Konkursmasse übrig geblieben waren.

„Hier soll das Lager entstehen,“ erklärte Frank. „Jede Menge Regale, bis in vier Meter Höhe. Darin alle Ersatzteile, die wir in Deutschland haben, schön geordnet nach Bremsen, Antrieb, Lager und so weiter. Deine Aufgabe wäre es, die Regale aufzustellen und einzuräumen. Und bei der EDV mitzuhelfen.“

„Und wie lange soll das gehen?“ fragte ich.

„Bis September“, antwortete Frank. „Im Oktober, wenn IFMA und Eurocycle vorbei sind, soll der Betrieb laufen. Nimmst du ein Bier?“

Wir gingen in sein Büro. Er nahm zwei Flaschen Weißbier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und reichte mir eine davon. Ich verneinte die Frage nach einem Glas. Gut, dass ich mit dem Rad hierher gefahren war und nicht mit dem Wagen. Er legte die Beine auf den Schreibtisch.

„Wie viel bekomme ich?“ fragte ich.

„Siebzehn die Stunde“, rechnete er mir vor. „40 Stunden die Woche. Überstunden ohne Aufschlag. Und wie es aussieht, werde ich jemanden brauchen, der auch sein Hirn einsetzen muss, wenn es darum geht, die Händler hier am Niederrhein einzuschleimen.“

„Im Schleimen bin ich Weltmeister“, entgegnete ich. „Das mache ich mit Vergnügen“.

„Was macht dein Studium?“ fragte Frank.

Ich erzählte ihm von meiner Motivationskrise, von der fast durchgefallenen Prüfung und von dem privaten Ärger, der sich darum rankte.

„Und jetzt willst du dich auf dem Lande erholen?“ resümierte er meine Ausführungen.

„Erst mal abschalten,“ sagte ich, „erst mal etwas Abstand gewinnen. Und etwas für die Kondition tun. Ich hab’ meinen Straßenrenner mitgebracht.“

„Das Dale?“ fragte Frank.

„Das Dale.“ Ich nickte. „Der Renner mit den dicken Rohren.“

„Du siehst nicht so aus, als hättest du in den letzten Jahren keinen Sport gemacht“, sagte er. „Deine Schultern sind breiter geworden.“

„Stimmt.“ Mir gingen die Mundwinkel leicht in die Höhe. „Hab zwar erst als Fahrradbote gejobbt, bin aber dann unter die Türsteher gegangen und hab viel Kampfsport trainiert. Die letzten beiden Jahre habe ich meine Brötchen an der Front diverser Diskotheken verdient.“

„Und du bist mit Sicherheit wieder zwischen die Streithähne gegangen?“ Frank erinnerte sich an die Szenen auf dem Schulhof.

„Natürlich,“ sagte ich lächelnd. „Wie früher, ich bin mitten dazwischen gegangen. Nur kommt heute keiner mehr durch meine Deckung. Ein Kollege hat mir eine ganze Menge Tricks beigebracht. Der war früher Bulle.“

„Ach ja“, fiel es Frank ein. „Wir haben jetzt auch einen Bullen in unserer Mitte. Erik ist fertig mit der Bullenschule.“

Jetzt ging mir ein Strahlen über das Gesicht. Endlich kamen positive Erinnerungen an die Vergangenheit über mich. Frank, Erik und Heinrich. Die drei Biker, die bei den Amateurrennen immer die anderen nass gemacht hatten, wenn sie zusammengearbeitet hatten.

„Wo lebt der jetzt?“ fragte ich.

„Ich glaube, bei seiner Freundin in Kempen“, antwortete Frank. „Er hat in Duisburg angefangen, hat sich aber nach Viersen versetzen lassen und wohnt jetzt mit ihr zusammen. Nummer hab’ ich nicht, aber seine Eltern wissen die bestimmt. Ich bin ja auch erst seit einer Woche hier.“

„Werd’ ihn gleich ‘mal anrufen“, sagte ich. „Mal sehen, ob der noch so ein Dickkopf ist wie früher.“

Meine Flasche wurde leer. „Hab’ ich dir eigentlich schon meine Ich-mach’s-mir-jetzt-selbst-Teile am Rad gezeigt?“ Meine Zunge begann schwer zu werden. Das war das letzte Bier bis zum Abend.

Frank schüttelte den Kopf. Ich schob das Dale in den Montageständer. Vorsichtig, nicht die Rohre einquetschen, Alu ist auch nicht unempfindlicher als Stahl. Mit einem Ruck am Befestigungshebel hob ich das Hinterrad nach oben.

„Hier, mein Meisterstück,“ sagte ich und deutete auf die Schaltung am Hinterrad. „Dura-Ace, selbst rundgefeilt, schwarz lackiert und mit Titanbolzen leichter gemacht. Die Schaltung gibt es auf der Welt kein zweites Mal.“ Ich konnte mir ein kleines stolzes Lächeln nicht verkneifen.

„Ja, ganz nett.“ Frank machte ein Gesicht, als bekäme er Wollsocken zu Weihnachten geschenkt statt des lange ersehnten Nintendos. „Für einen Amateur wie dich sogar recht gute Arbeit.“

Am liebsten hätte ich ihm den dicken Maulschlüssel quer über den Scheitel gezogen. Aber ich hatte den Schimanski in mir inzwischen unter Kontrolle. Meistens.

„Ich habe keine 3 Jahre Ausbildung hinter mir,“ konterte ich. „Sieh’s ein, so viel besser als ich warst du nie.“ Der alte Konkurrenzkampf zwischen uns.

„Ich sag ja,“ grinste Frank mich an. „Für einen Anfänger gute Arbeit. Sonst hätte ich dich nicht angesprochen, als es um den Job hier ging.“

III.

Mit zwei Flaschen Bier im Blut am frühen Abend auf das Rad, das machte mir richtig Spaß. Ich schob das Bike durch den Dorfkern, oder wie sie das jetzt nannten. Als ich hier zur Grundschule ging, fetzte der ganze Autoverkehr über die Hochstraße, dann kamen die Ortsumgehungen, nun war alles beruhigt, nur die Kiddies mit ihrem 800-Watt-Pioneer-Booster fetzten jetzt noch hier durch. Ein paar Jungs aus dem Alkoholikerheim saßen auf dem Marktplatz und zischten sich eine Zigarette, kein Bier, die hätte ich nicht anhauchen sollen, die wären sofort umgekippt.

Und dann dieses Denkmal. Ich hatte es in der Presse gelesen, damals, als ich in Viersen-Süchteln in der Forensik saß und beim morgendlichen Kaffee den Lokalteil las. Dieser komische Brunnen. Was Lokalpolitiker für Kunst halten. Wenn hier nicht noch ein paar Leute ihre Hunde ausgeführt hätten, dann hätte ich sie besudeln können.

Früher war das hier ja mal eine florierende Gemeinde, als die Textilindustrie Geld in die Kasse brachte. Da konnten sich die Gemeindeväter ihr Eissportzentrum bauen, das Hallenbad, das Freibad, die neue Hauptschule. In diesem Sommer standen hier die Bagger. Ich ging über den Ring und ließ mein Rad an der Mauer der Grevelour stehen. Hangelte mich an einer dieser Stahlplatten hoch, die leere Fensteröffnungen abschlossen. Aber nur bis in zwei Meter Höhe. Ich stellte mich auf die Fensterbrüstung und warf einen Blick ins Innere des Gebäudes. Leere. Die Bagger hatten ganze Arbeit geleistet. Nur die Fassade stand noch. Alles was im Inneren dieses Blocks an Gebäuden stand, war in kleine kompakte Bruchstücke zerlegt und außer Haus geschafft worden. Ich sprang auf den Boden zurück und nahm das Rad. Das mit dem Pegel ging jetzt. Außerdem senkte sich die Sonne Richtung Horizont, was hier auf Dorf dem allgemeinen Erliegen des Lebens gleichkam. Ich fuhr nach Hause.

IV.

Die Leiche sah furchtbar zugerichtet aus. Der Mörder musste mit aller Gewalt zugeschlagen haben. Sein Schädel war zertrümmert. Eine Blutlache hatte sich auf der Straße gebildet. Hirnmasse war ausgetreten und hatte sich mit dem frischen Blut vermischt. Er musste noch Minuten mit dem Tode gerungen haben, bis der Tod wie eine Erlösung über ihn kam.

Neben dem toten Hund hockten ein Mädchen und ein Mann, wahrscheinlich ihr Vater. Sie heulte sich die Seele aus dem Leib. Der Hund hatte keine Chance. Wenige Meter weiter stand der Lkw, der ihn überrollt hatte. Die Stadionstraße war ein gefährliches Pflaster für Haustiere. Die Frau, die den Fahrer gerade akustisch in die Mangel nahm, war bestimmt die Mutter der Kleinen. In seiner Haut würde ich jetzt nicht stecken wollen.

Die Blutlache würde noch wochenlang an den Toten mahnen.

V.

Das Haus meiner Eltern lag direkt neben dem Park der Landesgartenschau von 1971, drei Jahre vor meinem Erscheinen auf der Bildfläche des Lebens. Früher war das hier ein Sumpf, Mitte der 60er Jahre hatten sie den letzten Bauernhof dicht gemacht und alles trockengelegt. Wenn es regnete, stand das Grundwasser sehr schnell im Keller, und im Spätsommer kamen die Insekten aus den Feuchtbiotopen. Ich zog die Rolladen prophylaktisch herunter, um nicht gleich wieder einen Massenmord an den heimischen Mücken begehen zu müssen. Dafür ging ich mit einer Flasche Diebels in der Hand zum Turm.

Eigentlich eine simple Konstruktion: Wir rammen vier Stahlträger im Quadrat in die Erde und hängen wie bei einer Wendeltreppe Plattformen an die Seiten, so dass man alle drei Meter die Aussicht genießen kann und oben in 30 Metern Höhe die Nase über den Baumwipfeln hat. Von oben hatte man bei gutem Wetter eine Aussicht bis auf den Lobbericher Berg. Oder man konnte sich hier die letzten Gedanken de Lebens machen.

Doch in den 80ern rutschte die Gemeinde in die Krise und der Turm vermoderte. Die erste Plattform, unter der ein Kiosk aus Beton war, stand noch an Ort und Stelle. Alles was aus Holz darüber war, hatten fleißige Helfer vom Technischen Hilfswerk im letzten Herbst abgebaut. Der Turm sah jetzt nackt aus. Ich hebelte mit einem Feuerzeug die Flasche auf und trank den Schaum ab. „Wieso habe ich eigentlich ein Feuerzeug dabei?“ fragte ich mich. Ich war doch endlich Nichtraucher. Also legte ich den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Das würde nicht einfach sein, was ich mir da vorgenommen hatte.

In der ersten Etage war erst einmal Schluss. Der Blick auf die Holzplanken war abturnend genug, gelöchert und morsch, wenn Arni Schwarzenegger darauf getreten hätte, wäre er dem Erdmittelpunkt sogleich drei Meter näher gewesen. Das Bier aus Franks Beständen war verdaut, ich war wieder halb nüchtern, und ich hatte mir nun einmal in den Kopf gesetzt, auf diesen Turm zu klettern. Außerdem hatte ich am Nachmittag in der Zeitung gelesen, dass die früheren Polizeistreifen in diesem Park eingestellt worden seien. Ich würde Erik also nicht unter diesen Umständen wiedersehen. So stöpselte ich die Flasche wieder zu und stellte sie auf die Plattform. Ich brauchte jetzt einen klaren Kopf.

Wenn ich jetzt ansatzweise normal gewesen wäre, dann hätte ich den Rückweg angetreten. Aber meine Lehrer hatten schon früh einen latenten Hang zum Suizid bei mir diagnostiziert. Der Schimanski in mir brach durch. Ich sah mir also die in das Fundament gestemmten Doppel-T-Träger an. Sie waren mit Diagonalstreben miteinander verbunden, Tritte und Griffmöglichkeiten gab es genug, ich musste nur aufpassen, dass ich nicht hinunterfiel, alles andere war wie beim Turnen am Reck in der Schule. Also stieg ich auf die Brüstung, setzte einen Fuß auf die Verschraubung und hangelte mich hoch. Vier Meter lagen unter mir, knappe 30 über mir.

Es ging einfacher, als ich zuerst gedacht hatte. Mit den Zwischenstreben hatte ich genug Möglichkeiten, mich nach oben zu bewegen. Und nach kaum fünf Minuten hatte ich die Querverbindung in 20 Metern Höhe erreicht. Ich setzte mich auf den Stahlträger und ließ die Beine ins Freie baumeln.

Etwas Angst hatte ich schon, denn ich wusste, dass ich eigentlich nicht schwindelfrei war. Aber war ich denn ein pubertierender 13-jähriger, der seinen Freunden seinen Mut zeigen musste? Mann, ich war 24, in dem Alter wurden andere zum zweiten Mal Vater! Ich sah die Sonne über dem Lobbericher Berg untergehen, ein glutroter Ball, der sich langsam dem Horizont näherte. Reif für die kitschigste Postkarte, die ich mir vorstellen konnte.

---ENDE DER LESEPROBE---