Mintgrün - Thomas Berscheid - E-Book

Mintgrün E-Book

Thomas Berscheid

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Beschreibung

Marlies Schmitz führt einen Friseursalon in Köln-Niehl. Das Geschäft läuft nicht gut. Immerhin hat sie einen Kunden, der sich bei ihr einmal die Woche die Haare schneiden lässt: Rosintzky. Dumm nur, dass Marlies an Heuschnupfen leidet. Und genau als Rosintzky sich von ihr den Nacken mit dem Rasiermesser freischneiden lässt, zuckt ihre Hand. In Sekundenschnelle ist Rosintzky verblutet. Wohin mit der Leiche? Marlies versucht mit Hilfe ihrer Tochter den Ex-Kunden irgendwie loszuwerden. Was Marlies nicht wusste: Es gibt einen Grund, warum ihre Tochter niemals im Salon war, wenn Rosintzky auftauchte. Und als sie nach dem perfekten Ort zur Ablage der Leiche suchen, stellen sie fest: Es gibt eine Reihe weiterer Personen, die noch eine Rechnung mit Rosintzky offen hatten. Mintgrün: Ein Friseursalon in dieser Farbe war immer schon der Traum von Marlies. Der Krimi ist eine bitterböse Geschichte über Machos, vor der Pleite stehende Unternehmerinnen, verlassene Ehemänner und starke Frauen, die ihr Leben endlich in die eigene Hand nehmen. Denn Friseurinnen können nicht nur Haare abschneiden.

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Berscheid

Thomas Berscheid

Mintgrün

Thomas Berscheid

Mintgrün

Thomas Berscheid

Krimi

Thomas Berscheid

Mintgrün

Kriminalroman

Krimi

Berscheid Verlag

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Thomas Berscheid

Umschlag: © 2024 Copyright by Irma Berscheid-Kimeridze unter Verwendung von Design und KI-Bild von ki-bild-erstellen.de

Verantwortlich

für den Inhalt: Thomas Berscheid

Johannes-Albers-Str. 10

50767 Köln

[email protected]

www.berscheid-verlag.de

Druck: Veröffentlicht über tolino media

Mintgrün

Gut durchgebraten neben dem Bahndamm

Eine laue Sommernacht lag über Köln. Fast den ganzen Tag über hatte die Sonne auf die Stadt geschienen. Genauso wie sich die Bienen und die Kaninchen nach der Zeit der Kälte, des Hungerns und des Sterbens auf die Suche nach neuem, frischen Gras machten, so waren die Menschen aus den geheizten Wohnungen und Büros gestürmt. Sie hatten sich in die Sonne gelegt, hatten sich am Rhein mit dem ersten Eis des Jahres ans Ufer gesetzt. Manche hatten sich auch ein Kölsch unter freiem Himmel gegönnt.

So auch Timo und Igor. Die beiden Kollegen waren nach dem harten Alltag bei ihrem Buchhalter in die Altstadt gefahren, hatten am Rheinufer ein paar Kölsch gekippt und waren im Irish Pub versackt. Sie hatten zwar ein paar Frauen angebaggert, dabei aber eine Ladung Körbe kassiert.

Nun saßen beide in der letzten Bahn der Linie 12 Richtung Niehl, um nach Hause zu fahren. Natürlich waren die Erlebnisse der letzten Stunden wichtiges Thema zwischen beiden. Sie konnten laut reden, sie störten Niemanden, denn seit die Bahn aus Nippes heraus war, hatten sie die den letzten Waggon für sich alleine. Durch das gekippte Fenster oberhalb ihrer Sitzgruppe strich ein leichter Fahrtwind über ihre Haare.

„Die Kellnerin“, lallte Timo, „hast du die gesehen?“

Er machte mit beiden Händen eine Bewegung unterhalb der vom Bier geformten Wölbungen an seiner Brust.

„Alles Silikon“, lallte Igor. „Die hat sich bestimmt aufblasen lassen.“

„Blasen, jawoll!“ lachte Timo dreckig auf.

Der Fahrer der Bahn am anderen Ende des Zuges bekam von der intellektuell hochstehenden Unterhaltung der beiden Kollegen nichts mit. Im Gegensatz zu vielen Fahrgästen war er nicht nur stocknüchtern, er fuhr auch sehr konzentriert. Denn der Zug der KVB verließ nun den zivilisierten Bereich in Longerich und bog vor einer blau leuchtenden Tankstelle in Richtung Niehl ab. Hier führte die Strecke durch ein Waldstück, in dem die Scheinwerfer der Bahn die einzige Lichtquelle waren. Und auch diese hatten Mühe, die Schatten der Bäume und Sträucher rechts und links des Einschnittes für die Bahn aufzuhellen. Der Fahrer wusste, dass er hier genau hinsehen sollte. Denn manch ein Verzweifelter warf sich hier gerne vor die Bahn.

Instinktiv wandte der Fahrer den Kopf zur Seite. Das Licht seiner Scheinwerfer streifte etwas, das wie ein Mann neben den Gleisen aussah. Er nahm Tempo weg, erwartete wieder einen dieser Selbstmörder vor seinen Rädern. Aber der Mann neben den Gleisen blieb stehen, schien sich nicht vor seine Bahn werfen zu wollen. Er schien einen Blaumann zu tragen, mit ein paar glitzernden Streifen, so wie die Kollegen von der KVB. Zudem hatte er eine Lampe in der Hand. Damit leuchtete er auf zwei Gegenstände neben dem Gleis.

Gerade in den Moment, als der Fahrer an dem Mann mit der Taschenlampe vorbeifuhr, als er schon wieder Strom auf die Motoren geben wollte, sah er die beiden Gegenstände genauer, auf die der Mann leuchtete. Der Fahrer brauchte kaum einen Wimpernschlag, um zu erkennen, um was es sich dabei handelte.

Mit einer Vollbremsung brachte der Fahrer die Bahn nach kaum einer Wagenlänge zum Stillstand. Er zögerte einen Moment. Dann griff er in eine Klappe an der Seite neben seinem Armaturenbrett, nahm eine Taschenlampe heraus und ging aus dem Führerhaus. Wohl in seiner Brust war ihm dabei nicht. Lieber hätte er noch eine Waffe oder wenigstens einen Knüppel in der Hand gewusst.

Igor flog krachend mit seinem Schädel gegen Timos Brust. Benommen richtete er sich auf, kratzte sich an der Stelle des Kopfs, die gegen die Jacke seines Kollegen geschlagen hatte.

„Was ist das denn für ein Penner!“ brüllte Igor. „Den werde ich verklagen.“

Timo wollte etwas sagen, sah aus dem Fenster. Er konnte den Fahrer sehen, der gerade an der Bahn entlang ging und den Damm neben dem Gleiskörper ableuchtete. Im ersten Aufleuchten des Lichtstrahls sah er, auf was der Fahrer leuchtete. Er drehte den Kopf zum Gang hin und verteilte die letzten Frikadellen und das Guinness aus dem Pub auf dem Boden der Bahn. Igor stammelte nur noch, als er den Anblick direkt vor dem Fenster sah. Er war mit einem Schlag stocknüchtern.

Der Fahrer leuchtete kurz auf die beiden leblosen Gestalten, die seltsam verkrümmt neben der Bahn lagen. Ein Geruch von einem viel zu lange auf dem Grill gegarten Braten stieg ihm in die Nase und verscheuchte jeglichen Gedanken an eine späte Mahlzeit an der Endhaltestelle. Dann leuchtete er dem Mann ins Gesicht, der wenige Meter neben den beiden Toten stand. Der Blick des fremden Mannes löste sich nicht von den beiden Gestalten neben den Gleisen.

„Was machen Sie hier?“ fragte der Fahrer mit leicht unsicherer Stimme.

„Die... Die haben mich gerade angerufen“, stotterte Kevin. „Die Kabeldiebe... Ich glaube, wir haben einen davon.“

Der Fahrer hatte keinen blassen Schimmer, mit was für einem Kranken er es gerade zu tun hatte.

„Wer hat Sie angerufen?“ fragte er misstrauisch.

„Die Leitstelle“, antwortete Kevin ein wenig gefasster und löste den Blick von den Leichen, blickte den Fahrer an. „Ihre Kollegen. Da hat wieder einer versucht, das Kabel aus dem Trafo zu reißen.“

Der Fahrer richtete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf den Transformator neben dem Bahndamm. Die Tür war aufgebrochen. Ein Kabel hing heraus. Er verlor sein Misstrauen ein wenig.

Kevin leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den Mann, der näher zu ihm lag. Der Mann trug ein Jackett. Sein Hals zeigte eine riesige Wunde. Über allem lag der Geruch von angebranntem Fleisch, so als habe ein halbes Schwein viel zu lange auf dem Grill gelegen.

„Rufen Sie die Leitstelle an“, seufzte Kevin. Dann nannte er den Namen des Mannes vor seinen Füßen. Er hieß Rosintzky.

Es wurde grün

Bereits zwei Wochen zuvor hatte der Frühling begonnen, den Winter aus Köln zu vertreiben. Kaum musste man sich nicht mehr mit einem dicken Haarpelz oder einer Mütze vor der Kälte schützen, hatten die ersten Menschen damit begonnen, sich die Haare vom Kopf scheren zu lassen.

So waren auch mehrere Kunden an diesem Tag in den Friseursalon Schmitz in Niehl hinein geschneit und hatten sich ihre Ohren freischneiden lassen. Marlies Schmitz, die Inhaberin des nach ihr benannten Salons, freute sich über das gute Geschäft des Tages. Denn so gut besucht war ihr Salon nicht immer. Eigentlich hatte der Salon eine gute Lage auf der Sebastianstraße in Niehl. Gut, es war der Teil der Straße, der aus dem Viertel herausführte, ein wenig abgelegen vielleicht, aber doch auf der Hauptstraße des Veedels und damit am Puls des Lebens. Doch seitdem der Supermarkt schräg gegenüber dicht gemacht und Ford Stellen gestrichen hatte, war die Zahl der Kunden spürbar geringer geworden. Es gab Tage, an denen hatte Marlies schon am Mittag alle Zeitschriften durchgelesen, die ihr der Lesezirkel einmal die Woche bringen ließ.

Man sah es ihrem Salon an, dass die Geschäfte nicht mehr ganz so gut gingen. Als sie rund ein Jahrzehnt zuvor den Laden übernommen hatte, war die Einrichtung schon nicht mehr ganz in Mode. Nun war sie komplett aus der Zeit gefallen. Selbst einen Retro-Charme konnte Marlies ihrer eigenen Ausstattung nicht mehr abgewinnen. Viele Hölzer waren in dunklem Braun gefärbt, was dem Salon den Hauch eines nebligen Charmes gab. Aber das Holz war nicht mehr neu, hatte Trockenrisse bekommen, der Lack war an vielen Stellen abgeschabt oder einfach vom Alter und der Sonne ausgebleicht. Die Theke hatte ihren Glanz verloren und Spuren der Hände hatten sich in ihr Holz eingegraben. Die Regale, der Raumteiler, die Tische und die Spiegel an der Wand... überall waren die Ecken abgeschlagen. Die Ledersessel hatten sich unter Tausenden von Hintern abgenutzt, das Leder selber war zerknittert und hatte ein feines Spinnennetz aus Rissen. Wenn die Kunden in die Spiegel blickten, dann erschien ihr Ebenbild sauber, aber das Glas milchig wie ein verschwommenes Auge. Wo Marlies in ihrem eigenen Salon auch hinblickte, es hätte einer grundlegenden Renovierung bedurft. Aber dazu hätte sie Geld gebraucht, dass sie nicht hatte.

Wenigstens hatte sie eine Handvoll Stammkunden, die ein wenig Geld in ihre Kassen spülten, damit sie nicht verhungern musste. Einer davon war Herr Rosintzky. Seit wie vielen Jahren kam er eigentlich zu Marlies in den Salon? Sie wusste es nicht mehr. Es war auf jeden Fall eine lange Zeit. Und so kam er immer an einem Mittwoch Nachmittag um vier Uhr, um seine gepflegten Haare noch weiter pflegen zu lassen.

Marlies legte letzte Hand an die Haare von Rosintzky. Ein graues Haar hier, ein Härchen über dem Ohr, den Nacken vom Flaum befreit... Marlies hatte sich auf den Besuch von Rosintzky vorbereitet. Sie trug eine hochgeschlossene Bluse. Im Spiegel konnte sie ja genau sehen, wo er seine Augen hatte. Nun richtete sie sich auf, pendelte mit zwei Fingern den Kopf von Rosintzky genau senkrecht aus und kämmte die obersten Haare nach oben. Sie legte die Schere auf dem Rollwagen ab. Mit einer geübten Bewegung nahm sie das Rasiermesser in die Hand, drehte die sehr scharfe Klinge aus dem Schaft, ohne die Augen darauf zu richten. Sie setzte die Klinge vorsichtig an Rosintzkys Nacken an und rasierte den feinen Flaum aus. Zum Abschluss nahm sie den Spiegel und präsentierte Rosintzky den Anblick seines Hinterkopfes.

„Die Grauen sind alle weg, Herr Rosintzky“, sagte Marlies. „Sind Sie zufrieden?“

„Wie immer, Frau Schmitz!“ antwortete Rosintzky.

Marlies nahm eine Tube Gel in die Hand, goss einen ordentlichen Tropfen davon in eine Handfläche. Sie rieb das Gel zwischen beiden Händen, was er sehr genau beobachtete. An was er dabei vielleicht gerade dachte, wollte sie in keinem Fall wissen. Mit den Handflächen rieb sie Rosintzky das Gel ins Haar, modellierte mit den Fingerspitzen ein paar Strähnen. Zum Abschluss ihrer Arbeit zog sie den ausgebleichten Umhang von Rosintzky ab. Ein paar Haare fielen zu Boden. Rosintzky stand auf und ging mit Marlies zur Theke. Sie tippte einen Betrag in die Kasse ein.

„Das macht dann 17 Euro, wie üblich“, sagte Marlies.

Rosintzky legte einen Schein mit 20 Euro auf die Theke.

„Zwei Euro zurück, bitte“, sagte er. „Was macht eigentlich ihr hübsches Töchterchen?“

Marlies öffnete die Kasse und gab das Wechselgeld zurück. Viel Geld war nicht drin.

„Sie hat gerade ihre Prüfung hinter sich“, antwortete Marlies. „Ab und zu hilft Melanie mir, wenn es besonders dicke kommt.“

„Vielleicht sehe ich die Dame ja beim nächsten Mal.“

„Wieder in einer Woche?“

Herr Rosintzky nickte Marlies zu. Sie schlug den Terminkalender auf und blätterte eine Woche weiter. Schrieb seinen Namen in den Kalender. Nur ein anderer Namen war an dem Tag bereits eingetragen.

„Ist notiert“, gab sie zur Antwort. „Einen schönen Abend noch.“

„Ihnen auch“, nickte Rosintzky ihr zu. „Und schöne Grüße an Ihre Tochter.“

Herr Rosintzky ging Richtung Eingangstür. Im Spiegel vor der Tür prüfte er ausgiebig die Frisur und zupfte ein paar gegelte Strähnen beiseite. Erst dann ging er durch die Tür. Das Glockenspiel an der Eingangstür ertönte. Ein paar der Glocken waren bereits so angerostet, dass sie keinen klaren Klang mehr zustande brachten.

Marlies seufzte. Als Rosintzky aus dem Blickwinkel des Schaufensters verschwunden war, machte sie mehrere Knöpfe ihrer Bluse auf, stellte sich vor den Spiegel und zupfte den Sitz des Stoffs über ihrer Brust zurecht, um nicht noch mehr ins Schwitzen zu geraten. Sie ging wieder hinter die Theke, blätterte den Terminkalender auf den aktuellen Tag. Sie ging die Liste des Tages durch, strich Rosintzky aus. Unter ihm fand sich kein weiterer Name.

Es war an der Zeit, etwas Sonne zu genießen. Marlies schnappte sich den Schlüsselbund und ging vor die Tür ihres Salons. Sie sah Rosintzky etwas weiter die Straße hinunter in sein Auto steigen. Eine Frau stürzte an ihr vorbei, touchierte sie leicht an der Schulter. Die Frau hatte leuchtende rote Haare, was Marlies mit ihrem professionellen Blick sofort auffiel, war etwas jünger als sie selber. Sie drehte sich kurz zu Marlies um, stammelte eine Entschuldigung, stolperte mehr weiter als das sie ging. Neben dem Auto von Rosintzky blieb sie stehen. Marlies sah, wie er aus dem Wagen stieg. Die Frau gestikulierte vor ihm, legte eine Hand auf seine Brust. Rosintzky drückte ihre Hand weg, nicht gewaltsam, aber nachdrücklich. Er stieg ein, als gehe ihn das alles nichts an, fuhr weg, ohne der Frau zuzuwinken, ohne ihr einen Mittelfinger entgegen zu strecken. Die Frau mit den roten Haaren sah ihm nach, wischte etwas aus ihrem Gesicht, blickte sich um, sah Marlies kurz an und ging dann außer Sichtweite.

„Ob das eine von seinen Affären war?“ flüsterte Marlies sich zu. Sie warf einen Blick auf ihr Schaufenster, fegte mit der Hand etwas Staub und eine Zigarettenkippe von der Fensterbank, bevor sie in ihren Salon zurückging.

Die Glocke an der Eingangstür ging erneut. Ein neuer Kunde? Marlies blickte zur Tür und setzte ihr kundenspezifisches Lächeln auf. Sie änderte es dann in ihr Lächeln über Neues. Der Bote des Lesezirkels kam mit einem neuen Packen bedrucktem Papier.

„Die Zeitschriften vom letzten Monat“, erklärte der Bote. „Wo soll ich sie hinlegen?“

„Lassen Sie gleich mal hier“, sagte Marlies und klopfte auf die Theke.

Der Bote legte die Zeitschriften vor Marlies ab und holte ein elektronisches Gerät aus einer Tasche. Marlies schrieb ihren Namen auf das Display.

„Danke“, sagte der Bote und steckte das Schreibgerät wieder ein. „Sie entsorgen die Zeitschriften dann?“

„Wie üblich.“

Marlies winkte dem Boten kurz nach. Sie nahm den Stapel Zeitschriften und ging damit zu der Sitzgruppe im rückwärtigen Teil des Salon. Auf dem Tisch dort lagen weitere alte Zeitschriften, deren Schutzumschläge schon arg ramponiert aussahen, nach den ganzen Arztpraxen, in denen man sie schon gelesen hatte. In einem Regal lagen Heftromane mit Kriminalgeschichten. Marlies legte die Illustrierten auf dem Tisch zwischen Sofa und Sesseln ab.

Das Radio lief den ganzen Tag auf dem lokalen Sender. Eine Werbung endete. Marlies hörte die ersten Takte von Major Tom. Sie drehte Tom Schilling lauter auf, tanzte die paar Schritte vom Regal mit dem Radio zum Sofa.

Auch die Sitzgruppe hatte ihre besten Jahre lange hinter sich. Das Leder war abgewetzt und hatte ebenso wie die Sessel im Salon feine Risse. Mitten auf dem Sofa blickten blanke Stellen der Polsterung durch, was Marlies mit ein paar Kissen zu kaschieren versuchte. Der Zustand des Leders war nicht der einzige Grund, warum die Sitzgruppe hinten im Salon stand. Die Chefin des Salon Schmitz verbrachte ihre Nächte auf dem ausklappbaren Sofa.

Marlies setzte sich auf den Teil des Sofas, unter dem die Polsterung noch am besten intakt war. Sie schob die alten Zeitschriften beiseite und nahm eine Frauenzeitschrift aus dem Stapel der neuen Gebrauchten. Flüchtig blätterte sie ein paar Seiten durch, sah sich die aktuellen Trends für die Frisurenmode in diesem Frühjahr an, blätterte dann weiter bis sie zu einem Kurzkrimi gelangte. Sie las den Titel und die ersten Zeilen des Krimis.

„Tödliche Scheidung“, sagte sie zu sich. „Schöner Titel! Heb' ich mir für den langweiligen Abend auf.“

Sie legte die Zeitschrift ins Regal an der Wand zu den anderen Ausgaben mit den Kurzkrimis aus dem wahren Leben einer Hausfrau. In den anderen Fächern des Regals stand eine Armee von Kriminalromanen, die Marlies in den letzten Jahren durchgelesen hatte. Nicht die neuesten Ausgaben und nicht die ersten Plätze der Bestsellerlisten, sondern eher Exemplare früherer Jahre und solche mit Mängeln, aber eine Sammlung menschlicher Lust am Morden.

Die Chefin des Salon Schmitz setzte sich auf das Sofa und schlug eine Zeitschrift für Innenarchitektur mit den neuesten Ideen für das Frühjahr auf. Sie blätterte recht lustlos durch die Bilder. Aber plötzlich blieb sie auf einer Doppelseite hängen. Der Fotograf hatte ein Ladenlokal abgelichtet, das eine Innenarchitektin komplett in einem frischen Grün durchgestylt hatte. In Mintgrün, genau wie es der Titel des Artikels suggerierte. Marlies verschwand gleichsam in den Bildern, zeigten sie doch einen Wirklichkeit gewordenen Traum, den sie seit langem hegte. Sie nahm das Heft quer, hielt es vor die Ansicht des eigenen Salons. Vor ihren Augen erschienen Bilder von frisch mintgrün gestrichenen Wänden, frischen Spiegeln und neuen Sesseln im modernen Design, der Traum eines neuen Salon Schmitz geisterte durch ihren Kopf. Ein lustvolles Stöhnen entrang sich ihrer Brust.

Auf der anderen Seite des Salons klingelte das heisere Glockenspiel. Marlies schreckte hoch und lief zur Theke. Jetzt noch eine späte Kundin? Als sie ihre Tochter Melanie sah, legte sich ihre Aufregung. Mutter und Tochter begrüßen sich mit einem Küsschen.

„Und, war viel los heute?“ fragte Melanie.

„Hätte besser sein können“, zuckte ihre Mutter mit den Schultern. „Der letzte Kunde ist gerade raus. Rosintzky.“

„Na gut, dass ich dem nicht begegnet bin!“

Marlies griff die Zeitschrift mit der Arbeit der Innenarchitektin und zeigte Melanie die Bilder des Ladenlokals.

„Hier, sieh dir das mal an“, sagte sie dann. „Alles in Mintgrün. So könnte das hier auch aussehen.“

„Ach, Mama. Du träumst schon wieder.“

Melanie machte einen enttäuschten Gesichtsausdruck. Sie ging zu einem der Plätze für Kunden, drückte auf einen Lichtschalter. Das Licht rund um den Spiegel blieb dunkel.

„Schon wieder kaputt“, fluchte Melanie. „Soll ich Kevin Bescheid sagen? Er müsste bald Feierabend machen.“

„Ich kann ihn nicht bezahlen“, seufzte Marlies.

Melanie sagte nichts, warf ihrer Mutter einen bitteren Blick zu. Dann nahm sie ihr Handy ans Ohr.

Marlies ging in die Kaffeeküche des Salons und füllte die Gießkanne auf. Instinktiv nahm sie den Schlüsselbund in die Hand, denn sie wollte sich nicht ausschließen. Mit leiser Stimme redete sie mit dem Efeu, der neben ihrem Schaufenster auf dem Bürgersteig in die Höhe rankte. Goss ein paar Schwall Wasser in den Topf, den man vielleicht als antik bezeichnen konnte, der nach ein paar Umzügen aber dem endgültigen Zerbrechen sehr nahe war. Die andere Seite des Schaufensters begrünte eine Ranke, die Sonne hatte ein paar Knospen zum Vorschein gebracht, ein paar braune Blätter störten den grünen Anblick. Ein Grün, das ihr fast so leuchtend und frisch erschien wie der mintgrüne Salon in der Zeitschrift.

Marlies war so vertieft in die Pflege ihrer Ranke, dass sie den Mann nicht bemerkte, der vor dem Café drei Häuser weiter einen Kaffee getrunken hatte. Er hatte schnell gezahlt, als Rosintzky den Salon verlassen hatte. Nun stand er unschlüssig neben dem Schaufenster. Marlies erschrak ein wenig, als sie ihn sah. Instinktiv griff sie nach dem Schlüsselbund, doch ihr richtig scharfes Rasiermesser wäre nun die bessere Waffe gewesen, um sich zu verteidigen.

„Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte sie mit gespielter Selbstsicherheit in der Stimme.

Der Mann zögerte einen Augenblick. Zeit genug für Marlies, ein paar tiefere Blicke auf den Mann zu werfen. Er mochte in ihrem Alter sein, gepflegtes Äußeres, Anzug vom Herrenausstatter und eine seidene Krawatte. Nicht die Klientel, die man bei einem Überfall als Täter hat und die sie aus ihren Krimis kannte, auch nicht selbstsicher genug wie einer dieser Schutzgelderpresser von der Mafia. Auf dem Kopf hatte er nicht mehr viel Haarwuchs, was ihn als Kunde nicht interessant erscheinen ließ.

„Nein, nein...“ stotterte der Mann, „ich war nur... ich war auf der Suche nach jemandem.“

Er drehte sich um und entfernte sich schnellen Schrittes in Richtung der Bank. Marlies sah ihm kurz nach, schüttelte dann ihre Locken und zupfte ein paar trockene Blätter von der Ranke. Mit einer Handvoll vertrocknetem Grün und einer leeren Gießkanne ging sie zurück in den Laden.

Kevin frickelt etwas zurecht

Vor dem Friseursalon Schmitz war die Straße am frühen Abend ruhig. Ein paar Autofahrer rasten durch die beruhigte Straße, ein paar Gäste der beiden Gasthäuser freuten sich auf das erste Bier im Freien. Die Zeit des Feierabends näherte sich. Neue Kunden waren heute ohnehin nicht mehr zu erwarten. Marlies stellte den Kundenstopper mit ihrem Sommerangebot in den Eingang. Der Efeu auf der Seite des Schaufensters hatte über den langen Tag nun auch ein paar trockene Blätter entwickelt. Ein Anblick, den Marlies störte, also nahm sie erneut Gießkanne und Rasiermesser, um die zweite Pflanze zu bearbeiten. Sie goss Wasser in den Topf, bis Tropfen auf der Blumenerde zurückblieben, drehte die Klinge aus dem Griff und trennte einige braune Blätter sauber von den Trieben. Sie kniete sich zur Seite hin, denn auf dem Bürgersteig war es etwas eng. Dort parkte der Wagen eines Elektrikers.

Als Marlies gerade die ersten Blätter abgeschnitten hatte, bemerkte sie einen Besucher neben sich. Sie roch ihn, bevor sie ihn sah. Eine eindeutig zu identifizierende Mischung aus vergorenem Schweiß, Urin und billigem Bier schwebte um Körner herum. Marlies trat einen Schritt zurück, um nicht mit dem Mann zu kollidieren. Körner grinste sie an, was die tätowierte SS-Rune auf dem Hals noch besser zur Geltung brachte. Ein Kunde war Körner nicht. Trotz der fehlenden Haare auf dem Kopf.

„Na, Volksgenossin“, lallte Körner, „den schönen Abend genießen?“

„Ich habe auch den ganzen Tag gearbeitet“, antwortete Marlies.

„Hoffentlich nur Arier mit reinem Blut“, deutete Körner mit dem nackten Finger auf sie. „Ich sehe ja, wer hier reinspaziert.“

Körner macht einen Schritt auf Marlies zu. Sie ging einen weiteren Schritt zurück und stieß gegen die Blume. Dann hob sie die Klinge des Rasiermessers, nur ein kleines Stück, aber genau so weit, dass Körner sie sehen und verstehen konnte. Der besorgte Bürger senkte beide Augen trotz des Pegels von Schnaps in seinem Blut auf das scharfe Messer und wandte sich zum Gehen.

„Na, dann man Heil“, grüßte er.

Körner ging auf die andere Straßenseite, holte den Schlüssel heraus und ging auf die Haustür zu. Marlies klappte das Rasiermesser ein.

Melanie und ihr Freund Kevin hatten im Friseursalon alle Hände voll zu tun. Kevin lag mit angewinkelten Beinen rücklings auf dem Boden, Brust und Kopf unter dem Schrank eines Waschbeckens. Er fingerte mit einem Phasenprüfer an einer Lichtleitung herum, die ein Kollege ungefähr zu Beginn der Regierung Adenauer eingezogen hatte. Es war dunkel im Salon, und es war auch sehr ruhig, denn Kevin hatte den Hauptschalter gedrückt. Nun tastete er neben sich nach einem Werkzeug. Und fand es nicht.

„Ich brauche den roten Kasten aus dem Auto“, sagte er zu der neben ihm knieenden Melanie. „Kannst du den holen?“

„Bin sofort wieder da“, sagte Melanie und stand auf.

Sie ging eiligen Schrittes zur Eingangstür. Dann sah sie, dass Marlies draußen mit Körner redete. Sie stoppte abrupt und blieb so neben der Theke stehen, dass Körner sie nicht sehen konnte.

„Was ist?“ rief Kevin mit gepresster Stimme.

„Mama lässt sich gerade von dem Nazi volltexten“, fluchte sie.

Melanie lugte vorsichtig nach draußen, was sich vor der Tür tat. Sie sah, wie ihre Mutter demonstrativ das Rasiermesser präsentierte.

Kevin fluchte in sich hinein.

„Warte mal“, rief er. „Ich versuche einen anderen Trick.“

Kevin bastelte weiter an der Leitung herum. Wozu war er Handwerker? Immer nur alt gegen neu austauschen, das konnte jeder Amateur. Er war Profi. Mit der kleinen Spitzzange und dem Phasenprüfer bastelte er an den bestehenden Installationen herum. Dann schob er sich unter dem Schrank heraus und stand auf. Er ging in den hinteren Bereich des Friseursalons zum Sicherungskasten, zog die Tür auf und drückte den Hauptschalter herunter. Das Radio spielte nun Musik. Über der Sitzgruppe sprang das Licht an.

„Jetzt versuch mal“, sagte er zu Melanie.

Sie ging zu dem Platz, an den Kevin gerade gearbeitet hatte, und drückte den Schalter neben dem Spiegel. Die Beleuchtung rund um den Spiegel flammte mit dem hellen Klang einer Neonröhre auf.

„Klasse“, freute sie sich. „Wenn wir dich nicht hätten!“

Marlies kam herein. Sie hatte ein paar vertrocknete Blätter in der Hand und warf sie in den Mülleimer neben der Theke. Ihre Miene war düster. Dann sah sie das Licht am Spiegel.

„Das geht ja wieder!“ Ihre Miene hellte sich augenblicklich auf.

„Eure Leitungen sind eine einzige Katastrophe“, klagte Kevin. „Altes Zeug. Das müsste man alles mal raus reißen und neu machen.“

„Tja, wenn ich im Lotto gewinne, vielleicht...“ seufzte Marlies.

Kevin packte sein Werkzeug zusammen. Melanie strich Kevin sanft über den Hals und kam ganz nahe an sein Ohr.

„Heute Abend bekommst du deine Belohnung“, hauchte sie ihm sanft ins Ohr.

Marlies legte das Rasiermesser auf einem Rollwagen ab. Sie ging in den hinteren Bereich des Salons, warf einen Blick auf die Uhr. Nur noch ein paar Minuten bis acht. Erwartungsvoll nahm sie ihren Lottoschein aus der Schublade. Sie knipste den alten Röhrenfernseher an und schaltete auf das Programm für die Lottoziehung. Eine Werbung für Slipeinlagen für Rentner plärrte durch den Salon. Dann endlich drehten sich die Kugeln. Sie fieberte dem Ergebnis entgegen. Die erste Kugel kam. Ungeduldig blickte Marlies auf die Zahlen, die sie zwar auswendig kannte, die sie aber jedes mal wieder aufs Neue ansah. Es war keine der Zahlen auf ihrer Liste. Die zweite Kugel kam. Auch nicht in der Liste. Mit der dritten Zahl wich die Erwartung dem Gefühl einer Enttäuschung. Als die vierte Kugel gefallen war, wusste sie, dass es auch dieses Mal kein Geld für eine Renovierung, für einen Urlaub oder für ein eigenes Haus geben würde. Enttäuscht legte sie den Lottoschein zurück in die Schublade.

Kevin hatte mittlerweile sein gesamtes Werkzeug in den Wagen seines Chefs geräumt. Melanie gab ihrer Mutter einen kurzen Kuss auf die Wange. Als ihre Tochter draußen war, sperrte Marlies die Welt aus und klappte das alte Sofa vorsichtig zu einem Bett aus.

Kevin versuchte einzuschlafen. Melanie und er hatten ein paar gemeinsame körperliche Übungen hinter sich gebracht. Nun gingen ihre Atemzüge schon gleichmäßig. Aber Kevin hörte Geräusche aus dem Flur, die seinen Blutdruck wieder in die Höhe schnellen ließen.

Ohne Melanie zu stören faltete Kevin sich aus dem schmalen Doppelbett und tapste auf Zehenspitzen in den Flur und zur Tür. Auf der anderen Seite der Tür stampfte ein Tier herum, so schien es ihm. Schwere Tritte auf der Treppe, ein röchelndes Atmen und ein metallisches Scheppern wechselten sich ab. Kevin kniff ein Auge zu und lugte durch den Spion in der Tür. Er versuchte zu erkunden, was draußen los war. Sollten das wieder Einbrecher sein? Die machten ja im Allgemeinen kaum Geräusche, damit sie unbemerkt ihrer Arbeit nachgehen konnten. Kevin brauchte ein paar Augenblicke, bis die Augen das diffuse Licht im Treppenhaus auflösen konnten. Dann erkannte er Körner, der in eine Etage über Melanie eine Wohnung auf Kosten des Staates hatte. Doch bis dahin hatte er offensichtlich noch zu kämpfen, denn schwerfällig schleppte der muskelbepackte Glatzkopf zwei Tüten von Discountern nach oben.

„Was machst du denn da?“ fragte Melanie verschlafen und legte Kevin eine Hand auf seine Schulter.

„Was macht der da?“ fragte er leise und ging von der Tür weg.

Kevin zeigte auf den Spion. Melanie kniff ein Auge zusammen.

„Ach, der alte Nazi wieder“, sagte sie leise. „Das macht der öfter. Wahrscheinlich hat der wieder einen Bierladen überfallen und schleppt jetzt die Flaschen nach oben.“

„Dem werd ich mal die Meinung geigen!“ stieß Kevin wütend aus und riss die Tür auf. Melanie schrie auf und wollte ihn an der Schulter packen, aber Kevin war schneller aus der Tür.

„Was soll der Lärm?“ brüllte Kevin den betrunkenen Körner an.

„Was willste?“ lallte Körner in aggressivem Tonfall.

„Es ist mitten in der Nacht und Sie veranstalten hier einen Höllenlärm!“

„Willste nen Tritt inne Fresse, Penner?“ drohte Körner.

Kevin machte einen Schritt auf Körner zu. Der ließ die Tasche in seiner rechten Hand fallen, holte aus und schlug Kevin aufs Kinn. Zumindest auf eines der beiden Kinne, die er sah. Kevin war allerdings stocknüchtern und wich dem Hieb aus. Dafür traf seine Rechte die Nase von Körner. Der ließ nun auch die zweite Plastiktasche fallen. Ein paar Flaschen Kölsch rollten mit lautem Gepolter die Treppe herunter, eine Flasche süßlichen Gerstensaftes aus der Südstadt barst und verteilte ihren Inhalt über Treppe und Boden. Körner stolperte, vom Schlag seines Gleichgewichtes beraubt, ein paar Stufen in die Tiefe.

---ENDE DER LESEPROBE---