Schweigen ist nicht Gold - Thomas Berscheid - E-Book

Schweigen ist nicht Gold E-Book

Thomas Berscheid

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Beschreibung

Der Zivildienstleistende Heinrich Sobeck ist genervt: Alle paar Tage fährt er den gelähmten Rentner Helmut Herrmann aus der psychiatrischen Klinik zum Arzt, der ihn dabei wüst beleidigt und beschimpft. Wütend und neugierig schnüffelt Heinrich in Herrmanns Krankenakte. Heinrich schleicht sich in Herrmanns Zimmer und findet einen Ausweis der deutschen Wehrmacht. Im NS-Dokumentationszentrum in Köln erfährt Heinrich, dass Herrmann an der Erschießung von Zivilisten in der Ukraine beteiligt war. Bei einer neuen Fahrt zum Arzt beschimpft Herrmann den Zivi Heinrich erneut. Dem platzt der Kragen. Ohne sich um die lauten Proteste des Fahrgastes zu kümmern, fährt Heinrich in einen Wald. Er lädt den Rollstuhl auf einer Lichtung aus. Der alte Mann protestiert, Heinrich macht ihn mit ein paar Ohrfeigen gefügig. Heinrich fragt Herrmann, was das für ein Gefühl gewesen sei, als er die Kinder in der Ukraine erschossen habe. Doch was dann passiert, hatte Heinrich nicht erwartet. Der alte Mann im Rollstuhl bricht zusammen und weint wie ein kleines Kind. Heinrich ist irritiert, schämt sich unendlich für das, was er gerade getan hat. Ratlos raucht er eine Zigarette. Als Herrmann eine Bewegung mit den Fingern in seine Richtung macht, gibt Heinrich ihm eine Zigarette ab. Auf der nächsten Fahrt zum Arzt bittet Herrmann Heinrich wieder in den Wald zu fahren. Der alte Mann berichtet, er habe einen Jungen erschießen müssen, der seinem Bruder geähnelt habe. Dessen Augen verfolgen ihn seit 50 Jahren. Er habe Heinrich beschimpft, weil der nicht wie er selber in den Krieg musste. Heinrich wird von seinen Vorgesetzten zur Rede gestellt, warum er nicht zum Arzt gefahren sei. Mitten im Streit kommt Herrmann ins Zimmer. Er kann wieder gehen. Heinrich beginnt ein Studium der Geschichte. Er überredet Herrmann, ihm für ein Referat seine eigene Geschichte aufzuschreiben. Beim Besuch ehemaliger Zwangsarbeiter in der Kölner Messe stellt Heinrich das Referat vor. Er lernt den ukrainischen Journalisten Victor Danilenko kennen. Heinrich fährt in die Ukraine und macht Bilder in mehreren Dörfern. Heinrich besucht Herrmann und zeigt ihm die Bilder. Heinrich überredet ihn zu einer Reise in die Ukraine. Dort treffen sie einen Zeitzeugen wieder…

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Berscheid

Thomas Berscheid

Schweigen ist nicht Gold

Thomas Berscheid

Schweigen ist nicht Gold

Thomas Berscheid

Roman

Thomas Berscheid

Schweigen ist nicht Gold

Roman

Berscheid Verlag

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Thomas Berscheid

Umschlag: © 2024 Copyright by Irma Berscheid-Kimeridze unter Verwendung von Design und KI-Bild von canva.com

Verantwortlich

für den Inhalt: Thomas Berscheid

Johannes-Albers-Str. 10

50767 Köln

[email protected]

www.berscheid-verlag.de

Druck: Veröffentlicht über tolino media

Schweigen ist nicht Gold

Prolog

Er fühlte, dass er kurz vor dem Einnicken war. Das Buch fiel ihm aus der Hand. Er nahm die Lesebrille ab, und dann war er auch schon eingeschlafen. Er brauchte an nichts zu denken. Die süße Ohnmacht des Schlafes umfing ihn.

Von draußen drang der zarte Duft der Blüten durch das Fenster, die er zu Beginn des Frühjahrs gepflanzt hatte. Sanft wog der Duft durch seine Nase, das erblühende Leben kündete von der Zeit des Frühlings, der Zeit der Wiedergeburt. Vor seinem inneren Auge erschien der Sommer, er schmeckte den Staub zwischen den Lippen.

Der Soldat roch den Geruch des Staubs, in den das Blut floss. Der Staub, der sich mit der ausgetretenen Hirnmasse mischte, die aus den Schädeln heraus quoll, in die der Soldat gerade Kugeln gejagt hatte. Da war er wieder, der gebrochene Blick dieser älteren Frau, die zu ihm aufsah. Und der Junge neben ihr, auf den er gerade schießen musste.

Der Offizier ging die Reihe der toten Zivilisten durch, trat ihnen mit dem Lederstiefel kräftig in die Seite, setzte denjenigen den Fangschuss, die sich noch bewegten, die sich vor Schmerz krümmten, die stöhnten, die stoßweise atmeten. Ein Mädchen hob kurz die Hand. Der Offizier schoss ihr ein Loch in die Stirn. Der Schädel des Mädchens platzte nach hinten weg, eine blutige Masse ergoss sich in den Staub vor der Mauer. Die Hand sank zu Boden.

Der Soldat sah auf den Jungen. Sah diese Augen nicht mehr, die ihn gerade noch angesehen hatten. Jetzt lagen sie unten, blickten zu Boden. Er strich sich über die Stirn, nahm seine Mütze ab, der Helm lag auf seinem Platz im Kübelwagen.

Neben dem Soldat brach ein Kamerad zusammen. Er hatte auch den Helm abgenommen, weil die Sonne zu heiß auf seinen Schädel herunter brannte. Der Kamerad hatte nun nur noch einen halben Kopf.

Schüsse hallten durch das Dorf. Die Partisanen kamen zurück.

Der Offizier brüllte Kommandos. Der Soldat sprang auf. Jetzt hatte er selber Todesangst. Er feuerte eine Salve in die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Dann sprang er in den Kübelwagen. Eine Kugel schlug neben ihm durch das Blech.

Er stieß einen kurzen Schrei aus, als er aus dem Schlaf erwachte.

1.

Geraubte Jugend

Die Sonne des Frühlings brannte auf Heinrich Sobecks Gesicht herunter. Die Blüten des Baumes im Park auf der anderen Seite der Straße verströmten einen betörenden Duft, der von der Dieselfahne des Busses übertüncht wurde, der Schüler und Rentner aus der Kleinstadt brachte.

Heinrich nahm den Geruch der Dieselfahne nicht wahr. Er roch auch die Blüten nicht. Er steckte sich eine Gauloise zwischen die Lippen. Klappte das Benzinfeuerzeug auf, drehte am Reibrad. Ein Funke, eine Flamme. Er nahm einen tiefen Zug, steckte das Feuerzeug in die Tasche seiner Jeansjacke, lehnte sich gegen den Kadett mit dem großen Kasten hinter dem Fahrersitz und der hydraulischen Rampe, den er hierher gefahren hatte.

Der alte Herrmann in seinem Rollstuhl musste zum Orthopäden. Jeden Dienstag und jeden Donnerstag die gleiche Runde. Als Heinrich letzte Woche die erste Tour übernahm, war er nicht vorbereitet. Hatte der alte Mann Heinrich doch die Frage gestellt, wo er denn gedient habe. Hatte ihn dann gefragt, in welcher Einheit er sei. Und dann angefangen, Heinrich Worte an den Kopf zu werfen, die er nicht erwartet hatte.

Heinrich trat die Zigarette auf dem Pflaster aus. Der Herrmann war bald fertig. Er setzte den Finger auf die Klingel. Der Summer ließ ihn durch die massive Holztür eintreten. Der stechende Geruch von Desinfektionsmitteln und Bohnerwachs umfing ihn, während das alte Parkett aus der Zeit nach dem Krieg unter seinen Turnschuhen knarzte. Vor der Rezeption aus der Zeit der ersten Mondlandung saß Herrmann in seinem Rollstuhl. Er würdigte Heinrich keines Blickes.

„Fertig?“ fragte Heinrich die ältere Sprechstundenhilfe hinter der Rezeption. Sie trug wie immer ihre angegrauten Haare zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden und versteckte ihre Krähenfüße hinter einer Brille, die in ihrer Jugend einmal in Mode gewesen war, zum gleichen Zeitpunkt, als die Theke eingebaut wurde.

„Hier sind die Papiere für Dr. Buske“, sagte sie und reichte Heinrich das Protokoll für den Arzt in der Klinik. Aber nur soweit, dass Heinrich sich über die Theke beugen musste, um das Blatt erreichen zu können.

„Wenn Sie das nächste Mal kommen“, giftete die Sprechstundenhilfe, „dann stellen Sie den Wagen...“

„Sie haben mir keine Vorschriften zu machen“, schnitt Heinrich ihr mitten im Satz das Wort ab und drehte sich von ihr weg. „Schönen Tag noch“, schob er nach, ohne sie anzusehen.

Die Sprechstundenhilfe schnappte nach Luft, ließ den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen auf- und zuklappen. Sie nahm die Brille ab und starrte ihm hinterher. Dann fand sie endlich wieder Worte. Rief ihm empört hinterher, dass ihr so etwas noch nie untergekommen sei. Heinrich hörte nicht mehr hin, hielt die schwere Holztür mit dem Fuß auf und schob den Rollstuhl auf die Rampe.

„Herr Herrmann, es geht zurück nach Hause“, sagte er zu dem alten Mann im Rollstuhl, während er ihn zur Rückseite des Kadett schob.

„Du fasst mich nicht an!“ keifte der Mann ihn an. Heinrich ignorierte den Spruch. Er rollte den Mann in den Kadett mit Hochdach.

„Sie können mich anschreien soviel Sie wollen“, sagte er und schnallte den Rollstuhl fest. „Das geht mir am Gesäß vorbei.“

„So einen wie dich hätten wir...“ Den Rest hörte Heinrich nicht mehr. Die Hecktür schloss geräuschdicht.

* * * * *

Wortlos schob Heinrich den Rollstuhl mit Herrmann auf die Station zurück. Der alte Mann spulte seine Geschichte von den Drückebergern ab, die sie am nächsten Baum aufgeknüpft hätten. Vier Soldaten, die ihren Befehlen nicht folgen wollten und die ihr Leben an einem Ast mit einem Schild vor der Brust beendeten. Kramer, Heinrichs Abteilungsleiter in der Pflege, nahm den Mann entgegen. Heinrich war froh, ihn los zu sein. Er ging ins Schwesternzimmer, zog die Jeansjacke aus, streifte den Kittel der Klinik über. Setzte sich an den Schreibtisch, schrieb eine neue Zeile ins Fahrtenbuch und hängte den Schlüssel in den Holzkasten.

Sollte er sich das noch einmal bieten lassen? Es waren ohnehin die letzten Wochen. Ein ruhiger Job mit alten Leuten, die nicht mehr wussten, wo und wer sie waren, die noch in der Zeit lebten, als Willy Brandt seinen Kniefall in Polen machte. Die nicht merkten, wenn das Essen von Vorgestern an anderer Stelle aus dem Körper herauskam. Eigentlich konnte ihm dieser Mann egal sein.

Oder doch nicht? Der Herrmann war etwas Besonderes. Körperlich sehr gut beieinander, trotzdem gelähmt. Und dann immer mies drauf, immer aggressiv. Heinrich fragte sich, was dahinter steckte.

Der Notfallsummer röhrte durch den Flur. Schwester Gerda drückte fluchend ihre halb zu Ende gerauchte Selbstgedrehte in den Aschenbecher. Sie stellte den Alarm ab, rief Heinrich zu, dass sei bei einem epileptischen Anfall sei.

Heinrich war jetzt alleine im Schwesternzimmer. Alleine mit den Schlüsseln. Alleine mit dem auf Papier festgehaltenen Wissen über die Patienten, die hier auf den Fluren ihr Leben fristeten. Heinrich wusste, dass er selbst an einer psychischen Krankheit litt: Neugier. Er hielt den Atem an, blickte hinaus auf den Flur, in den Spiegel, der die Übersicht bis zum Fenster am Ende erlaubte. Hinten leuchtete das grüne Licht über der Tür der Patientin mit Epilepsie. Schwester Gerda war ausgelastet. Vor der Tür des Schwesternzimmers war Ruhe. Heinrich nahm ein Taschentuch aus seinem Kittel und zog die Schublade aus dem Schrank mit den Krankenakten heraus. Er blätterte das Register durch. Holte die Akte aus dem Register mit „H“.

„Na, wer sind wir denn?“ fragte Heinrich sich leise und las sich den Inhalt der Akte vor. „Helmut Herrmann. Geboren 25. April 1923 in Rheydt. War Lehrer und ging vor 10 Jahren in Pension. Ist im Winter auf der Kellertreppe gestürzt, hat sich dabei einen Oberschenkel angebrochen. Konnte nach dem Verheilen des Bruchs nicht mehr gehen. Hang zu Depressionen und latenter Aggressivität der Familie gegenüber. Lähmung beider Beine ohne organischen Befund. Einweisung in die Psychiatrie. Also hier.“

Vom Flur näherten sich energische Schritte.

„Oh, oh, Kramer...“ sagte Heinrich zu sich. Er klappte hektisch die Akte zusammen, legte sie ins Hängeregister zurück und warf den Schrank zu. Keine Sekunde zu früh. Kramer riss die Tür auf.

„Nichts zu tun, Sobeck?“ fragte der Abteilungsleiter.

„Betten machen“, antwortete Heinrich mit leicht debilem Unterton.

„Dann mach zu.“

„Wo soll ich anfangen? Heute irgend jemand abgängig?“

„Kein Exitus heute. Mach den Herrmann als ersten. Der schreit sonst wieder. Ist gerade in der Wanne.“

„Warum muss ich immer den alten Nazi machen?“

„Weil du am besten mit dem Mann zurecht kommst.“

„Oder weil ich das Maul halten soll“, gab Heinrich zornig zurück. „Ich sag nur ein Wort: Küchenmesser!“

Kramers Gesicht verfärbte sich blutrot.

„Das interessiert keinen Menschen“, presste er zwischen den Lippen hervor.

Heinrich drückte wütend die Klinke zum Zimmer von Herrmann herunter. Eigentlich war dies eins von den angenehmen Zimmern, denn es roch nicht nach vergorenem Urin und Ausdünstungen von Menschen, deren Nieren den Dienst quittiert hatten.

Das ganze Zimmer strahlte Selbstkontrolle und militärische Disziplin aus. Die Stoffhose lag exakt auf Bügelfalte geknickt über dem Stuhl. Auf dem Nachttisch waren zwei Bücher, die Lampe und ein Wasserglas im rechten Winkel zueinander angeordnet. Zwei Bleistifte, ein Kugelschreiber und ein Bogen Briefpapier auf dem Schreibtisch lagen in Reih und Glied wie auf dem Kasernenhof.

Heinrich ging an die Tür. Er hielt den Atem an und lauschte, drückte ein Ohr an die stabile Füllung neben der Klinke. Von draußen war kein Geräusch zu hören. Er schob den Stuhl mit der Hose unter die Klinke der Tür.

Der Schrank war nicht abgeschlossen. Heinrich warf einen Blick auf die Regale. Militärische Ordnung der Kleidung. Unterhemden und Hose, Pullover und Hemden stapelten sich wie mit dem Lot aufeinander gelegt, gefaltet auf die Größe eines DIN A4 Blattes. Heinrich ging mit den Fingern dazwischen. Was sollte er hier finden? Ein Päckchen Heroin? Eine Schnapsflasche? Extacy? Herrmann war nicht der Typ dafür. Dann schon eher eine versteckte Pistole. In den anderen Zimmern fanden sie Joghurt, der kurz vor der Explosion stand, weil er seit Monaten überlagert war. Aber danach suchte er nicht.

Im Schrank hing ein alter Mantel, ganz an der linken Seite. Die Ärmel sahen abgewetzt aus, der Stoff roch muffig und nach Mottenpulver. Er blickte sich um. Hinter der Tür trappelte ein Mensch flotten Schrittes vorbei. Heinrich atmete tief durch. Er zog den Mantel ein Stück zu sich hin, tastete die Taschen ab. Vielleicht hatte er ja Geld hier versteckt, dachte Heinrich. Alles leer. Er fasste vorsichtig in die Innentasche an der Brust. Leer. Er tastete weiter über den Mantel, über den kratzigen Stoff, der offensichtlich schon so manchen Regenschauer gesehen hatte. Etwas Festes drückte im unteren Drittel des Mantels. Heinrich drehte die Innenseite nach außen, ließ die Finger über das Innenfutter gleiten. Eine Tasche, mehr ein Geheimfach, man musste schon sehr genau danach tasten. Er nestelte einen Knopf auf, ließ die Hand vorsichtig hinein gleiten. Er musste wissen, was Herrmann so heimlich versteckte, zog an einem Pappdeckel.

Heinrich hatte einen Ausweis der deutschen Wehrmacht in der Hand.

* * * * *

Eine junge Frau schellte an der Pforte des Hauses, in dem die alten wirren Menschen untergebracht waren. Heinrich zog seinen Schlüssel an der Stahlkette aus der Tasche, öffnete die beiden Glastüren. Die Frau trug keine Schwesternkluft, sondern war sommerlich leicht gekleidet. Ihre schwarz umrandeten Augen machten einen abgespannten Eindruck, das lange braune Haar war nach hinten zu einem Zopf gebunden. Auf dem Arm trug sie einen Packen Wäsche.

„Ja, bitte?“ fragte Heinrich, als er die Tür aufdrückte.

„Das ist für meinen Großvater“, sagte die junge Frau. „Helmut Herrmann.“

„Kommen Sie rein“, antwortete Heinrich und hielt ihr beide Türen auf.

„Sie könnten mir ruhig was abnehmen“, sagte Elke Herrmann mit leicht zickigem Unterton.

Heinrich übernahm die gebügelten Hemden.

„Ist Ihr Großvater eigentlich immer so mies drauf?“ fragte er auf dem Weg zum Zimmer.

„Was geht Sie das an?“

„Viel, denke ich. Er wirft mir böse Worte an den Kopf. Sehr böse Worte. Ist da etwas in Ihrer Familie?“

„Unsere Familie geht Sie nichts an“, gab Elke tonlos zurück, warf einen abweisenden Blick auf Heinrich und starrte auf die Tür, während er sie mit einer Hand öffnete. Er ließ ihr den Vortritt. Ein leichter Duft von Heu strich in Heinrichs Nase, als sie an ihm vorbeiging.

* * * * *

Heinrich ging in den Wiegetritt und beschleunigte sein Rennrad, um neben seinen Trainingspartner Erik Funken zu kommen.

„Lass uns in den Wald fahren“, brüllte Heinrich nach rechts.

„Willst du wieder kiffen?“ schrie Erik zurück.

„Mit einem Bullen? Niemals!“

Sie fuhren den Radweg weiter, der parallel zur Straße führte, die zwei Dörfer am Niederrhein verband. Ein paar Hundert Meter weiter bogen sie nach links ab, querten die Straße und fuhren auf den Feldweg, der leicht bergan stieg und an einem Waldstück vorbei führte. Oben auf dem Berg bogen sie nach rechts ab und blieben auf einer Lichtung stehen. Die schmalen Reifen der Rennräder versanken im Sand. Heinrich nahm seine Trinkflasche und trank einen Schluck seiner warmen Apfelschorle.

„Sonntag ist Mist zum Fahren“, sagte Erik.

„Wir haben nur das Wochenende“, antwortete Heinrich.

Sie setzten sich auf einen Baumstumpf.

„Wie ist der Job als Nachwuchsbulle?“ fragte Heinrich. „Kommst du jetzt wieder in die Heimat zurück?“

„Der erste Teil der Polizeischule ist vorbei“, antwortete Erik. „Nächste Woche komme ich auf die Dienststelle in Mönchengladbach. Können wir öfter mal trainieren. Willst du jetzt auch in den Polizeidienst?“

„Lass ma. Ne. Das sind jetzt noch drei Wochen als Zivi. Und die können die Hölle werden.“

„Es ist mir ein Rätsel, wie du die Anerkennung für den Zivildienst bekommen hast. Mit deiner Qualifikation in Karate und deiner Kondition wärst du bei uns reif für ein SEK.“

Heinrich lehnte sich zurück.

„Ich liebe den Kampf“, antwortete er. „Das weißt du ja. Und weil der Personalchef der Klinik mein Sportzeugnis gelesen hat, bin ich dann auch gleich in der Forensik gelandet. Pfleger in der Sicherungsverwahrung.“

Eriks Kopf fuhr herum. „Das hört sich ziemlich illegal an.“

„Das haben sie mir auch gesagt“, zuckte Heinrich mit den Schultern. „Der Personalchef meinte, sie hätten nicht genug Leute für den Job. Durfte keiner erfahren, dass ich da bei den ganz harten Fällen bin. Mehrfache Mörder, nicht therapierbare Kinderschänder, Triebtäter.“

„Du machst Witze.“

„Leider nicht. Es hat dann auch einen bösen Vorfall gegeben, seitdem spiele ich Taxi für Rollstuhlfahrer.“

„Was für ein Vorfall?“

„Darf ich dir nicht sagen. Du könntest auf die Idee kommen, die Klinik anzuzeigen. Genau das habe ich nämlich nicht getan, und deshalb hänge ich da auch mit drin.“

„Dann erzähl' mir so was auch nicht“, raunzte Erik.

Heinrich drückte den letzten Rest seiner lauwarmen Apfelschorle in den Mund.

„Wie geht der Polizeigriff?“ fragte er unvermittelt.

„Was?“ fragte Erik ungläubig zurück.

„Wenn ihr einen Menschen fixiert, wie geht das? Kannst du mir das zeigen?“

„Sobeck, du schaltest jetzt mal alle deine Reflexe ab“, sagte Erik und stand auf. „Ich will nicht schon wieder erklären müssen, warum ich das Wochenende mit einem Anbruch des Nasenbeins beendet habe.“

„Ich tue mein Bestes“, sagte Heinrich und drehte sich mit dem Rücken zu Erik.

„Eben das sollst du nicht tun“, sagte Erik, griff Heinrichs Handgelenk und drehte den Arm nach innen. „Jetzt hör genau zu.“

Heinrichs Wange klatschte auf den Baumstumpf, als Erik ihm jeden Handgriff beschrieb.

* * * * *

Heinrich entspannte die Bremse am Vorderrad, löste den Schnellspanner und stellte beide Räder nebeneinander. Er nahm das stabile Bügelschloss aus dem Rucksack und schloss den Straßenrenner an das Schild mit dem Rauchverbot am Eingang der Schule, die ihn neun Jahre lang geknechtet hatte.

„Guck dir den Spasti an!“ brüllte einer der Jugendlichen in der Rauchverbotszone, eine Zigarette in der Hand. Heinrich ging in aller Seelenruhe zum Eingang.

„He, Penner, haben sie dir...“

Der Jugendliche gab ein gequältes Ächzen von sich, als Heinrich ihm den Arm in den Polizeigriff nahm und seinen Hals von hinten zudrückte.

„Wenn auch nur ein Kratzer am Rad ist“, sagte Heinrich in aller Ruhe, „reiße ich dir erst die Eier ab und lasse sie dich fressen. Haben wir uns verstanden?“

In der Rauchverbotszone war es plötzlich sehr still geworden. Heinrich ging durch die Schwingtür und sprang die Treppe zum Flur des Verwaltungstraktes hoch.

Die Tür zum Lehrerzimmer stand offen. Heinrich klopfte gegen den Türrahmen.

„Sie haben hier nichts zu suchen!“ schnauzte ihn eine Lehrerin an, bei der er ein halbes Jahrzehnt zuvor lateinische Werben deklinieren musste.

---ENDE DER LESEPROBE---