Der Kopf des Professors - Thomas Berscheid - E-Book

Der Kopf des Professors E-Book

Thomas Berscheid

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Beschreibung

An der Kölner Universität passieren merkwürdige Dinge. Erst gehen Videos und Bücher verloren. Der König der Fachschaft Germanistik setzt den Royalen Investigator Marc Koster ein, um Nachforschungen anzustellen. Dann stirbt ein Professor unter Umständen, die einen Pathologen an seinem Beruf zweifeln lassen. Eine Mordkommission ermittelt. Doch bald findet sich auch Kommissar Wepper auf dem Krankenbett wieder. Der Royale Investigator kommt einem Professor auf die Spur, der seine Karriere mit Methoden voran treibt, die sich jenseits unserer Vorstellungskraft befinden.

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Berscheid

Thomas Berscheid

Alles auf Anfang

Die Woche danach

Svenjas Reise

Die erste Begegnung

Das Ende des Schweigens

Ein Wochenende mit Folgen

Am Institut geschieht etwas

Die erste Eingebung

Noch eine Leiche

Ein neues Haus

Partnerwechsel

Die zweite Eingebung

Zusammenbruch und Beschattung

Der Einbruch

Die Verbindung

Der Höhepunkt

Epilog

Impressum

Thomas Berscheid

Der Kopf des Professors

Thomas Berscheid

Fantasy Krimi aus dem Berscheid Verlag

Thomas Berscheid

Der Kopf des Professors

Fantasy Krimi

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Thomas Berscheid

Umschlag: © 2024 Copyright by Irma Berscheid-Kimeridze

unter Verwendung von Design und KI-Bild von Canva

Verantwortlich

für den Inhalt: Thomas Berscheid

Johannes-Albers-Str. 10

50767 Köln

[email protected]

www.berscheid-verlag.de

Druck: Veröffentlicht über tolino media

Alles auf Anfang

I.

Marc Koster wachte auf. Es war eine dieser Nächte, in denen er sich fragte, wie er auf seine Matratze gekommen war. War er durch die Kneipen gezogen? Hatte er sich mit wildfremden Rechtsradikalen, ergrauten Juristen oder orthodoxen Moslems geschlagen? War der letzte geschnorrte Joint doch nicht so gut gewesen?

Der Weltmeister wandte sich um. Durch seine IKEA-Jalousie konnte er sehen, dass über dem Belgischen Viertel die Sonne aufgegangen war. Sie versuchte ihn mit einem matten Strahl zu locken, kitzelte ihn an der Nase und den Bartstoppeln. Marc drehte sich wieder um. Ihm fiel ein, mit welchen Gedanken er in der vergangenen Nacht eingeschlafen war. Es war das Gretchen, diesmal ganz in Gummi und Lack verpackt und mit der Reiterpeitsche vor dem Gesicht.

Verdammtes Referat, dachte er und wandte sich wieder zur Wand hin.

Wie schon so oft in dieser Woche fragte er sich, wer die Frau da neben ihm war. Sie hatte grüne Augen, das wusste er, auch wenn sie jetzt geschlossen waren. Und sie hatte graue Haare. Jede Menge davon. Arlene war die Hauskatze der WG. Marc warf einen Blick auf sie. Sollte er aufstehen? Zwei schmale grüne Schlitze sahen ihn an, Arlene gähnte heftig.

„Puh, was hast du letzte Nacht wieder gefangen?“ fragte er sie. Arlenes Mundgeruch hätte Tote zum Leben auferweckt. Sie streckte sich, das Bett zitterte leicht unter ihren Muskelkontraktionen. Erst vorne alles wegstrecken, dann die Hinterläufe und den grauen Schwanz. Zeit zum Frühstück.

Marc öffnete ihr die Tür, sie hopste auf die Spüle. Eine übertrieben aufgekratzte Moderatorin bei Radio Köln versuchte gerade müden Friseurinnen beim Start in den Tag mit einem stilsicheren Frauenwitz über Männer und Ordnung zu helfen. Marc schaltete um auf SWR3, wo der Bayer vom Dienst gerade den letzten Witz der Morningshow machte.

„Was hab ich für Schlampen in der Nachbarschaft“, dachte Marc laut beim Anblick der Generationen von Tellern, die sich dort stapelten. Der Pilz auf den Puddingresten aus der letzten Woche genoss ebenfalls die zarte herbstliche Sonne, die durch das Fenster in die Küche drang. Marc warf einen Blick in den Kühlschrank. Der gähnte ähnlich wie Arlene, die schnurrte, als er ihr die gute H-Milch von Aldi eingoss. Nichts für ihn dabei. Er fingerte die Schmidteinander-Tasse, für die er stundenlang beim WDR zur Sendung angestanden hatte, aus dem Stapel, ohne die Tofureste der letzten BWLer Lerngruppe seiner Mitbewohnerin mehr als einen Millimeter zu verschieben, goss sich den Rest der Milch ein, die Arlene übrig gelassen hatte. Warf einen Blick in den Brotkasten für 19,99 DM von Lidl aus dem letzten Sommerschlussverkauf. Das Endstück eines Eifeler Landbrotes, auf dem sich kleine grüne Flecken bildeten. Einen Moment dachte Marc daran, dass er im Gewölbekeller des Hauses in der Maastrichter Straße eine Prima Zucht für Blauschimmelkäse aufmachen könnte. Er klappte den Kasten wieder zu. Auf der Strecke zur Uni konnte er sich bestimmt noch einen Sesamkringel von gestern aus der Döner-Bude im Nachbarhaus schnorren.

Er warf den Ledertrench über. Heute kamen die Neuen. Im Spiegel sah er älter aus als die Mitte 20, die er jetzt war.

II.

Der Beginn des Wintersemesters an der Kölner Universität zeigte jedes Jahr wiederkehrende Regeln. Eine dieser Regeln war die mit dem ersten Tag des Semesters einsetzende chronische Überfüllung der Bahn von der Innenstadt Richtung Universität. Weil er früh genug einstieg, hatte Marc das Glück, den Sitzplatz eines Schäferhundes übernehmen zu können. An den Fenstern des überfüllten Wagens kondensierte das Wasser, melancholische Tropfen liefen am Glas herunter. Marc streifte mit dem Ärmel seines Ledermantels das Kondenswasser vom Fenster und sah nach draußen. Die Feuchtigkeit waberte durch die Bahn, er blickte auf den vergangenen Sommer zurück. Was hatte er sich nicht alles vorgenommen... Arbeiten, bis das Geld für den Urlaub reicht, dann irgendwo in den Süden. Was war passiert? Er hatte mit Mühe einen Platz in einem Seminar ergattert und sich voll in das Thema hinein gekniet, „Der sadomasochistische Ansatz des Gretchens in Goethes Faust“. Woche um Woche war vergangen, die Bücher füllten den kärglichen Raum in Marcs kleiner Bude aus, je näher der Abgabetermin rückte. Kurz vor Ende der Ferien streikte der Computer, er musste Nachtschichten einlegen, um die Arbeit rechtzeitig abgeben zu können, bei diesem neuen Professor, den sie ihnen vor die Nase gesetzt hatten.

An der Haltestelle „Universität“ leerte sich die kurz nach dem II. Weltkrieg gebaute Bahn explosionsartig, das Fahrgestell seufzte erleichtert auf. Eine Welle junger Menschen strebte dem Hauptgebäude zu, Marc setzte sich von der Masse ab und ging an der Bibliothek vorbei zum Philosophikum. Der Teich zwischen dem Betonblock und der Inneren Kanalstraße war leer, der erste Frost hatte sich angemeldet. Ein Obdachloser schlief im Gebüsch daneben seinen Rausch aus. Auch eine dieser Gestalten, die zum Lokalkolorit der Uni zählen, sagte Marc zu sich. Alles wiederholte sich, es war als ob ein Film zweimal im Jahr zurück gespult wurde und von vorne begann. Die Akteure waren jedes mal andere, hatten aber das gleiche Erscheinungsbild. Der Ort der Handlung blieb stets derselbe, der Platz vor dem Hauptgebäude der Uni, die großen Hallen, durch die sich die Massen der Studenten wälzten.

Marc schritt gemessenen Schrittes an den Auslagen der diversen Listen vorbei, mehr Tempo war bei der Masse der Menschen in der Halle nicht drin, und strebte der Fachschaft der Germanisten zu. Er wusste, dort erwarteten ihn freundliche Gestalten, denen das Wiedersehen mit ihm ein Lächeln auf das Gesicht zaubern werde. Er wusste auch, dass ihn dort die Kaffeemaschine erwartete, mit einem Kaffee, der ihn außer der Arbeit des Einschenkens keinen weiteren Einsatz kosten würde.

III.

„Ich weiß nicht, was du dir von diesem Studium erwartest. Wenn du irgend etwas Sinnvolles machen willst, dann gib' der Uni einen Tritt in den Hintern.“ Brigit zog an der Zigarette, während sie die junge Frau ihr gegenüber näher ansah. „Wenn du Lehrerin werden willst, dann kannst du hier ein paar schöne Jahre verbringen, bevor dich die Kinder zerreißen. Aber ich sage dir das auf den Kopf zu, als Magister fährst du in zehn Jahren Taxi.“

Die Frau wird hier nicht lange bleiben, dachte Brigit, zu oberflächlich und ohne den Willen, sich durch das Studium durchzubeissen. Einige Jahre an der Uni hatten sie gelehrt, Menschen einschätzen zu lernen. Die junge Frau ihr gegenüber nahm eine Zeitschrift mit Tipps für Erstsemester mit und verließ schweigend und desillusioniert den Raum. Brigit sah Marc hereinkommen, stand vom Schreibtisch auf und zog das Kostüm glatt.

„Hast du mal 'ne Lulle für mich?“ Marc führte eine imaginäre Zigarette dem Mund entgegen.

„Nur eine? Du kommst deinem Ruf nicht nach.“ Sie hielt ihm die Packung hin.

Sein Blick wanderte durch den Raum und stellte bewundernd fest, dass auch dieses Jahr wieder eine Menge Studentinnen unter den Erstsemestern waren. Es war nicht Marcs Art, Komplimente zu machen, aber es kam genau zweimal im Jahr vor, dass er so etwas wie Charme versprühte, nämlich immer zu Beginn des Semesters. Und jedesmal endeten die hoffnungsvollen Anfänge zarter Bande zu weiblichen Geschöpfen im Nirwana des Singledaseins. “Wo is'n der Koffeinspender?“ Mit der Zigarette im Mundwinkel sprach er recht undeutlich, sah aber verdammt nach Macho aus.

„Die hat's hinter sich.“ Brigit deutete mit einem dezenten Lächeln in die Richtung des Waschbeckens, neben dem die traurigen Überreste einer an Verkalkung dahingeschiedenen Kaffeemaschine ihre Gebeine dem Neonlicht entgegenstreckten.

„Verdammt“, sagte Marc, „das Einzige, was mich am Leben erhält, ist kaputt. Es liegt ein Fluch über diesem Raum.“

Brigit ging zum Kühlschrank und zauberte eine Flasche Reissdorf hervor.

„Hier. Das haben uns die Autonomen übrig gelassen.“ Sie reichte Marc die Flasche.

„Echtes Punk-Bier? Das authentische mit dem 'Hass’ 'mal 'ne Mark' beim Öffnen?“ Er sah Brigit erwartungsvoll an, schnappte sich den Schlüsselbund eines Studenten und hebelte den Deckel ab. Tatsächlich, es kam das Zischen mit den Worten „Ey, Alter...“ Die wohlerzogene Arzttochter schnappte ihm die Flasche vom Rachen weg und stürzte den goldenen Gerstensaft die Kehle hinunter. Der Weltmeister der Schnorrer blieb mit erwartungsvoll geöffnetem Mund, aus dem kein Wort drang, stehen und sah mit großen Augen zu, wie die wohlerzogene Arzttochter seine Verhaltensweisen übernahm. Ein großer Schluck, ein exorbitanter Rülpser, und sie gab ihm die Flasche zurück.

„Kann ich auch!“ Ein breites Grinsen fuhr übers Brigits Gesicht. „Mein Magen verlangt sein Recht. Wie wär's mit der Kyffhäuser?“

„Das sag' ich dir, wenn das Bier drin ist.“ Er trank einen großen Schluck. „Ist es schon so weit mit dieser Uni, dass sie nur noch betrunken zu ertragen ist? Müssen wir jetzt in den Hörsälen beobachten, wie sich die jungen Studenten vor jeder Vorlesung den Flachmann geben? Wohin driftet diese Welt?“ Er fuchtelte mit der Flasche vor Brigits Gesicht herum. Ein schwerer Fehler, denn ein älteres Semester schnappte ihm die Flasche aus der Hand und verschwand in der Menge. Marc zeigte dem Kommilitonen den ausgestreckten Mittelfinger und nickte Brigit mit dem Kopf zu, essen zu gehen.

Die Erfahrung der Jahre hatte es Marc und Brigit gelehrt, in der ersten Woche einen weiten Bogen um die Zentralmensa zu machen. Studenten aus der ehemaligen DDR fühlten sich hier heimisch, denn an keinem anderen Ort als in der Mensa konnte man das Gefühl genießen, in der Schlange zu stehen wie in guten alten Zeiten. Und genau wie damals gab es undefinierbare Gebilde mit Sättigungsbeilage für wenige Mark auf Plastik.

Auf der Kyffhäuser Straße hatte sich die größte Ballung von türkischen, italienischen und griechischen Imbissen angesiedelt, die in Europa zu verzeichnen war. Wer mittags durch diese Straße ging, mit knurrendem Magen vielleicht und dem festen Vorsatz, nichts zu essen, musste entweder ein Masochist, pleite oder willensstark sein. Für mensaunwillige Gestalten wie Brigit und Marc jedoch war diese Straße das wahre Paradies. An der Ecke Heinsbergstraße ließen sie sich frischen Pizzateig backen und extra viel Tzatziki auf das Döner kippen, damit ihnen die Erstsemester für den Rest des Tages nicht mehr zu nahe auf die Pelle rückten.

„Was macht dein Referat?“ Brigit rieb sich das Fett aus dem Mundwinkel. „So wie du aussiehst, hast du deine Matratze länger nicht gesehen.“

„Ich werde einen längeren Winterschlaf halten. Der Rechner war abgestürzt.“

„Gefällt dir das Thema?“

„Absoluter Blödsinn.“ Er rieb sich die Finger an einer Serviette sauber. „Ich finde keine Literatur, ich kriege keine Struktur in die Arbeit, und meine Motivation tendiert gegen Null. Ich sollte den ganzen Driss hinschmeißen.“ Er warf die Serviette weg.

„Was machen deine Frauen? Gut gebaggert?“

„Bring mich nicht zum Kotzen!“

„Du bist also wieder solo?“

„Ja.“ Er drehte sich von ihr weg. Es wäre in den Ferien alles so schön gewesen... Zwei wundervolle Wochen zu zweit in Südfrankreich irgendwo am Mittelmeer oder Wildwasser im Zentralmassiv. Und dann war da plötzlich dieser fremde Typ am Telefon. Damit war ihm klar, warum Jeanne nichts mehr von sich hören ließ. Ein Tritt in den Hintern, einige Flaschen Wein und er war wieder solo.

„Es ist immer dasselbe. Bei jeder Frau geht's schief. Ich sollte mich kastrieren lassen.“ Er ging auf die Straße. „Ich werde nie verstehen, warum ich immer alles falsch mache. Vielleicht bin ich der geborene Looser.“

IV.

Ein Engel hatte das Flehen der Menschen in der gewählten Studentenvertretung erhört und eine Kaffeemaschine in die Fachschaft gebracht. Mit Frohlocken nahmen die Menschen, denen der Kaffeeentzug zu schaffen machte, das Gerät in Betrieb, das eine in der Nähe wohnende Studentin gespendet hatte. Marc begann nach dem Essen müde zu werden, Schlafen war für ihn in den letzten Nächten ein Fremdwort, und er genoss das Gefühl des Koffeins, das in die Blutbahn eintrat. Mit der Kanne gingen Brigit und er in den benachbarten Seminarraum und stellten sich an das Kopfende des Raumes. Ein jüngerer unter den Studenten erklärte den lauschenden Gestalten, was sie bei der Vergabe der ersten Seminare gerade falsch gemacht hatten. Achim hielt einen längeren Monolog, in dem er einen Rundumschlag über den allgemeinen Blödsinn der Welt und den germanistischen Schwachsinn im Besonderen zum Besten gab. Im Stil der preußischen Herrscher redete der König zum gemeinen Volke hernieder, gebot mit einer hochherrschaftlichen Geste Stille, wobei ihm die Rüschen an den weiten Ärmeln seiner Bluse auf den Arm fielen.

Marc stellte sich nach des Königs Rede auf den Tisch und verschränkte die Hände vor dem Rumpfende.

„Ich stehe aufrecht. Ich habe Träume, eine Illusion des Lebens, das vor mir liegt. Ich will studieren, Spaß haben und später einen Job. Und ich bin mir total sicher, dass ich das Richtige mache.“ Stille im Raum. Er musterte die Gestalten, die ihn ungläubig anstarrten, sprang mit einem Satz vom Tisch herunter und ging in die Mitte des Raumes. Um ihn herum entstand eine Traube von Menschen, die ihn beobachteten.

„Jetzt bin ich ein paar Jahre älter. Ich habe meine Zwischenprüfung hinter mir. Es hat sich alles nicht so entwickelt, wie ich mir das in den ersten Jahren vorgestellt hatte. Die ganzen Illusionen, die ich hatte,“ er breitete die Hände in der Luft aus, „sind verflogen wie der Rauch einer Zigarette in einem Herbststurm. Aber ein Ziel liegt noch vor mir. Ich will das Studium zu Ende bringen.“ Marc ging langsam in Richtung der Tür, drehte sich neben dieser um und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

„Es ist soweit. Ich habe die Prüfungen hinter mir und bin fertig. Ich bin wirklich fertig. Das war nichts mir dem Job als Lehrer.“ Er ging mit dem Rücken an der Wand in die Knie und sank zu Boden, ließ seine Stimme aus der Tiefe eines Grabes sprechen. „Alles das, wofür ich zehn Jahre und mehr meines Lebens gearbeitet habe, ist verloren. Alle meine Träume von einem Job, alle Illusionen, die ich von dem geilen Leben als Student hatte, sind zerplatzt wie Seifenblasen.“ Und nach einer Kunstpause, in der er mehrere Studenten musterte, fügte er langsam, aber deutlich hinzu: „Ich könnte jeder von Euch sein. Jeder Einzelne von Euch wird das mitmachen.“

Er stand auf, nach kurzem Zögern applaudierte ihm die Menge, während er zum Pult zurückging.

„Macht der immer so ein Theater?“ Eine junge Studentin wandte sich an Brigit.

„Das ist jedes Mal das große Rätselraten bei uns. Wir schließen inzwischen Wetten ab, was er macht, um Euch zu demotivieren.“ Ein Lächeln fuhr über ihr Gesicht. „Und heute hat er den Vogel abgeschossen.“

V.

Eine Wolke fruchtigen Parfums wallte Marcs Nase entgegen, als er die Tür seiner WG öffnete. ‚Lisa hat wieder literweise von diesem billigen Zeug über sich gekippt‘, dachte er. Seine Mitbewohnerin hatte vor wenigen Minuten den Flur verlassen und war um die Ecke in die Bank gegangen, in der sie das Geld für die Miete verdiente. Er hing den Ledermantel an der Garderobe auf und ging in die Küche, einen Kaffee kochen.

Der Berg von ungespültem Geschirr auf der Spüle türmte sich wieder ein Stück höher, die Mahlzeiten der letzten Tage ließen sich gerade noch identifizieren. Der Schimmel aus dem Pudding hatte sich inzwischen über seinen eigenen Teller ausgedehnt und Freundschaft mit den Resten der Spaghetti Carbonara geschlossen, die Lisa sich Anfang der vergangenen Woche mitgebracht hatte. ‚Sie hat wieder nicht gespült‘, begann es in seinem Kopf zu arbeiten, ‚wir werden ein ernsthaftes Wort darüber wechseln müssen‘. So geht das nicht weiter, dachte er, er war genauso im Stress wie sie, da konnte sie auch ihren Pflichten nachkommen. Er würde sie heute Abend mit dem Brotmesser in der Hand daran erinnern.

Mit spitzen Fingern zog er seine Schmidteinander-Tasse aus dem Stapel und spülte sie sauber. Er setzte Kaffee auf, nahm den Stadtanzeiger zur Hand und blätterte unmotiviert in selbigem herum. Der Kaffee war fertig, er goss den Becher voll. Die Katze der WG verlangte nach ihrem Recht, Arlene strich ihm um die Beine. Er klemmte Tasse und Tier unter den Arm und verschwand in seinem Zimmer. Mit Arlene auf dem Schoß versuchte er die Literatur für das verdammte Referat zu ordnen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Es war nicht das schnurrende Fellbündel auf dem Oberschenkel, es war der Stress der letzten Tage, die Nachtschichten, der Mangel an Luft, Bewegung und Sonnenlicht, der ihn niederrang. Auch der Kaffee konnte ihm nicht helfen, er wurde müde. Arlene flog fauchend aus der Tür, Marc küsste die Matratze und schlief sofort ein.

VI.

Ein Geräusch aus dem Flur weckte Marc auf. Nach einer erholsamen Tiefschlafphase schlug er die Augen auf und schwebte in die Wirklichkeit zurück. Diese Minuten des Liegens ließen ihn die letzten Tage, Wochen, Monate vor Augen schweben. Er glitt zurück in den Sommer, zurück in die Sonne und die angenehme Stimmung im Volksgarten, als er den Grill aufgebaut hatte, seinen Geburtstag zu feiern. Jeanne hatte ihn pünktlich um Mitternacht abgeknutscht und ihm ihr Geschenk offenbart. Es war eine Love Story der Superlative. Einer Supernova gleich ging sie zu Ende.

Er streckte die Beine aus dem Bett, das kein richtiges Bett war, eine Matratze auf dem Boden, richtete den Körper in die waagrechte und zog die Jeans über. Lisa stand in der Küche und füllte den Kühlschrank. Wie sie so dastanden, er in Flickenjeans und T-Shirt mit dem Baby vom Nirvana-Cover, barfüßig, die schulterlangen ungewaschenen Haare wirr in der Stirn, sie im Kostüm und auf eleganten Pumps, die glatten blonden Haare von einer Spange hinter dem Ohr gehalten, konnten die Gegensätze nicht größer sein. Der nutzlose Slacker neben der Frau auf dem besten Weg zum Yuppie.

„Hast du in diesem Jahr schon einmal zum Spüllappen gegriffen?“ sagte er mit der Stimme eines frisch dem Grab entstiegenen Zombies.

Lisa schreckte zusammen, sie hatte Marc nicht hereinkommen sehen. „Was ist los?“ Sie drehte sich zu ihm um.

„Du vernachlässigst deine Pflichten.“ Er ging zur Spüle. „Seit Wochen geht das jetzt so, dass du reinkommst, kochst und alles dreckig stehen lässt.“

„Marc, ich hab' Ende der Woche Zwischenprüfung. Ich muss lernen.“

„Dann solltest du erst recht spülen. Das entlastet die Nerven.“ Er nahm einen Löffel mit grünem lebendigem Überzug aus der Spüle. „Du glaubst ja gar nicht, auf was für Ideen du beim Spülen kommst. Glaub' mir, es ist das beste, was du in der Pause machen kannst, wenn du keinen Bock mehr zum Lernen hast. Das Wissen, das du nur so in dich reingefressen hast, löst sich plötzlich von dem Papier und wird in deinem Kopf lebendig. Du wirst sehen, du sprühst nur so vor Eingebungen.“

„Schwätzer!“ Sie ging auf ihr Zimmer.

Er befreite eine Tasse aus dem Stapel, spülte sie um und setzte einen Kaffee auf. Arlene strafte ihn mit Verachtung, während er die Zeitung durchblätterte und einen Apfel kleiner machte. Auf SWF3 lief der obligatorische Bericht über miese Studienbedingungen, Steffi Tücking war froh, dass sie jetzt nicht mit einem Studium anfangen muss. Als sie Stiltskin in den Player legte, „Inside“, rannte Marc in sein Zimmer und zog sich das Stück laut 'rein. Lisa wummerte gegen die Tür, Marc ignorierte das Geräusch kurzerhand.

Unter der Dusche sann er darüber nach, wie der Abend verlaufen sollte. Die Aktiven unter den Studenten wollten die Erstsemester um sich scharen, um ihnen die Kneipen des Univiertels zu zeigen. Auch eine von diesen Traditionen, die sich in den Jahren nicht geändert hatten. Beim letzten Mal hatte er Jeanne dabei kennengelernt, er fragte sich, ob ihm die Frau heute über den Weg laufen werde. Wenn ja, was sollte er dann mit ihr anstellen? Wie wäre es mit einer Stange Dynamit zwischen den Zähnen, während sie gefesselt an einer Mauer ihr Schicksal beklagt? Er würde ihr ein Buch von Courths-Mahler zum Vorlesen geben. Sie müsste laut und deutlich sprechen, was ihr schwer fiele, denn sie hätte ja die Stange Dynamit im Mund. Er würde ihr mit dem Feuerzeug vor der Lunte herumfuchteln, die Panik und Todesangst in ihren Augen genießen.

Aber er hat kein Dynamit, dachte er sich. Vielleicht sollte er mit dem Doktorant aus Georgien darüber reden.

VII.

Eine Leere klaffte in der Kyffhäuser, seitdem das „Zarah's Blues“ geschlossen hatte. Vor dem „Dschungel“ standen wieder jede Menge ungemütliche Typen, die „Marotte“ hatten sie schon hinter sich gebracht. Die germanistische Gruppe steuerte dem Barbarossaplatz zu, Brigit schob sie ins „Schmeller's“. Auch eine dieser Kneipen, die sich in der ganzen Zeit, seit Marc und Brigit in Köln ansässig waren, nicht verändert hatten. Was war das Flair alten Holzes und uralter Plakate gegen die Neonherrlichkeit eines Bistros, die Wärme einer verrauchten Kneipe gegen die Nüchternheit eines Raum gewordenen Eiswürfels? Marc machte den Weg entlang der Theke frei zu den Tischen im hinteren Raum der Kneipe. Sie rückten drei Tische zu einer langen Tafel zusammen und ließen sich an dieser nieder. Die Gruppe war auf etwa zwanzig Trinker angewachsen, der Unterschied zwischen den älteren Semestern und den jungen hatte sich verringert. Brigit hatte die solide Kleidung gegen Jeans und Body mit Lederjacke getauscht, zog die Blicke der Typen an der Theke auf sich, ihre Brustwarzen grüßten deutlich sichtbar die männlichen Betrachter. Das war nicht Aachen, wo es zehn mal mehr Männer als Frauen in den Kneipen gab als hier, wo die ganzen Maschinenbauer und Elektrotechniker jeder Frau geile Blicke nachwerfen. Dies war Köln, wo die Uni so prägend für das Stadtbild ist wie die Pilsbrauereien für Düsseldorf und die meisten Männer ohnehin mehr auf Jungs standen.

Marc hatte sich neben eine junge Frau gesetzt, die eine ähnlich zerfetzte Jeans trug wie er selber. Sein Blick fiel auf ihre Knie, es waren immer die Augen, mit denen es bei ihm anfing. Jasmin hatte einen Sticker auf der Lederjacke, Marc hatte ihn sofort erkannt.

„Du hast dir nicht die Flinte gegeben?“ Er nickte der kurzhaarigen Kellnerin mit dem schnellen Mundwerk zu, um ein Kölsch zu ordern. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, als der Auftritt in der Sporthalle gecancelt wurde.“

„Und als sie den Kurt mit Erde beschaufelt haben, hat Courtney ihn per Tonband fertig gemacht. Ätzend.“

Sie hatten eine Gemeinsamkeit entdeckt. Nirvana hatte sie beide in den Bann gezogen, die Nachricht von Kurt Cobains Selbstmord in Depressionen gestürzt. Er war nur an den Fingerabdrücken zu identifizieren, die Schrotflinte hatte ganze Arbeit geleistet und den Schädel quer durch den Raum gespritzt.

„Ich hab' mir nicht die Kugel gegeben.“ Jasmin lächelte Marc an, in diesem Moment schien es für ihn nur noch diesen Mund zu geben. Es war immer ein Signal, das ihm den Kick gab, eine Geste, ein Blick, ein Wink. Er schien nur noch aus Augen zu bestehen, die auf diese Frau gerichtet waren, auf diese Augen, auf dieses strahlende Lächeln, diesen einladenden Schoß, diese alles versprechenden Wölbungen in ihrem Pullover. Alles um ihn herum erschien unwirklich, auf einem anderen Stern, Lichtjahre entfernt.

„Mein Freund hält nichts von Grunge, der hat mir da rausgeholfen.“

Klick. Die Lichtjahre brachen zusammen, die anderen Sterne stürzten auf Marc ein. Der Traum brach zusammen wie ein Fertighaus im Orkan, es war vollkommen sinnlos, er hätte sich jegliche Gefühlsregung sparen können. Es war die Routine in diesen Dingen, die seine Mundwinkel nicht absacken ließ. Was war schon eine Frau gegen ein gutes Glas Kölsch?

VIII.

Soundgarden sorgten dafür, dass die Anhänger Whitney Houstons die Tanzfläche im „Ding“ verließen. Rolf war wie in den Jahren zuvor immer noch in diesem Laden, dachte Marc mit einem Blick auf den langhaarigen Deejay. Marc hatte ein paar Wünsche geäußert, Gelegenheit, den Ärger mit dem Referat auf der Tanzfläche zu vergessen. Jasmin war nach Hause gegangen, nach dem Korb war Marc die Lust am Baggern vergangen. Brigit und er hatten sich ein Weizen geholt und prosteten sich zu.

„Du warst scharf auf die Kleine?“ brüllte sie ihm ins Ohr, während sie unter dem Luftkanal am Rande der Tanzfläche standen, vor der Theke des Bistros.

„Hat doch alles keinen Sinn.“ Er trank den Schaum ab. „Weißt du noch, wie das hier in unserer Jugend aussah?“

Sie wusste es. Wo sich nun die Neonröhren beugten, standen zu der Zeit, als sie mit dem Studium anfingen, schwarz angestrichene Weinfässer vor knallroten Holzbänken. Eine Atmosphäre von Dreck und Schweiß hing jeden Abend in der Luft, alles wirkte improvisiert und hatte den Charme des Handgestrickten. Kein Mensch saß heute noch mit Stricknadel in der Vorlesung, eher mit dem Laptop, die Zeiten waren vorbei.

„Das Kölsch ist teurer geworden, und hier hängen nur noch Sportstudenten und BWLer 'rum.“ Er trank einen kräftigen Schluck. „Das ganze Gesocks, mit dem wir nichts zu tun haben. Unsere Zeit ist vorbei, wir haben die Anfänge miterlebt, als das Viertel geboomt hat und du den Wirt noch mit Namen kanntest.“

Wieder wechselte das Musikprogramm, „Smells Like Teen Spirit“. Marc sprang auf die Tanzfläche und sang laut mit. Eigentlich war er dafür ja zu alt, aber... Er schloss die Augen und ließ seinem inneren Blick freien Lauf. Weit in der Ferne sah er Jeanne stehen, von der er sich verabschiedete. Der abgestürzte Rechner flog an ihm vorbei, das Referat verkam zur Bedeutungslosigkeit. Er öffnete die Augen und fand sich alleine wieder, in einem großen Raum mit hoher Decke, in einer Halle, deren Wände verschwammen. Sein Blick fiel zu Boden, doch der Boden war nicht da. Er schwebte über ihm, die Füße in der Luft, getragen von einer Kraft, die er nicht verstand. Plötzlich schaltete jemand das Licht aus.

Brigit hielt Marcs Kopf auf dem Schoß und klopfte ihm leicht auf die Wangen. Er schlug die Augen auf, fühlte eine Schwärze vor Augen, die langsam Brigits Gesicht frei gab. Sein Mund wollte etwas sagen, ging auf und zu wie bei einem Fisch auf dem Trockenen, aber es kamen keine Worte heraus. Ihm gelang ein tiefer Atemzug, die Stimmbänder gehorchten, aber es war zu laut. Niemand verstand ihn.

„Was ist passiert?“ Eine Pause in der Musik, Brigit hörte ihn, beugte sich zu ihm herunter.

„Du bist ohnmächtig geworden, zusammengeklappt wie ein nasser Sack.“

Er richtete sich auf, es gelang ihm auf die Beine zu kommen, aber er hatte Pudding in den Knien. Jemand drückte ihm das Bierglas in die Hand, ein Schluck, und er spürte wie das edle Getränk ihm die Kraft zurückgab. In der Toilette wusch er sich das Gesicht; der Mann, der ihn aus dem Spiegel ansah, war blass um die Nase, die Augen hatten gepflegte schwarze Ränder. Das unstete Leben der letzten Tage hatte ihn unempfindlich für die Bedürfnisse seines Körpers gemacht. Was sind Hunger und Müdigkeit? Diese Gefühle hat er so lange unterdrückt, bis er sie nicht mehr wahrgenommen hatte. Jetzt bekam er die Rechnung dafür. Er trocknete sich mit Klopapier das Gesicht und ging zurück zur Tanzfläche.

Mitternacht war vorbei, die letzten Bahnen fuhren jetzt, das „Ding“ wurde merklich leerer. Als die kleiner gewordene Gruppe von Studenten den Ring entlang ging und an der Herz-Jesu-Kirche vorbei kam, standen dort gerade zwei Mannschaftswagen und kümmerten sich mit Handschellen und Gummiknüppeln um die Punks und Obdachlosen. Marc machte eine abfällige Bemerkung und drängte die Erstsemester weiter zu gehen, die erste Nacht im Studium brauchte nicht im Waidmarkt zu enden. Sie gingen ins „Tag und Nacht“, um einen Absacker zu nehmen. Die Handvoll frischer Germanisten ließ sich in eine Ledersitzgruppe fallen und bestellte eine Runde Milchkaffee. Marc hatte die frische Luft wieder gestärkt, er fühlte sich, als wäre er nie zusammengebrochen. Sein Blick streifte durch das Café, die Einrichtung hatte ihm immer schon ebenso gut gefallen wie die Gäste. Mit Grauen erinnerte er sich an die letzte Nacht im „Venuskeller“, als er am nächsten Morgen aufwachte und Prellungen an Arm und Brust verspürte, weil er seinen Mund nicht halten konnte, als sich ein Zuhälter über eine der Frauen in seiner Gruppe ausließ. Da gefiel ihm ein Ende des Ausgehens wie jetzt schon besser.

Der Kaffee ließ ihn nüchtern werden, mit dem sackenden Spiegel kamen auch die unangenehmen Erinnerungen wieder. Genau mit dieser Kombination von „Ding“ und „T & N“ hatte es mit Jeanne angefangen, genau auf dieser Couch, nur dass jetzt Brigit neben ihm saß. Er verdrängte die Gedanken an Jeanne, sofort sah er das Gesicht des neuen Professors vor sich, der ihn wie ein Teufel angrinste und ihm sagte: „Du schaffst es nicht!

---ENDE DER LESEPROBE---