Die Niederrheingruppe - Thomas Berscheid - E-Book

Die Niederrheingruppe E-Book

Thomas Berscheid

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Journalist Heinrich Sobeck gerät in eine Polizeiaktion und fotografiert als einziger Zeuge die Festnahme von drei Jugendlichen durch ein Sondereinsatzkommando. Kurz darauf verkündet der Innenminister des Landes NRW dass er eine Gruppe islamistischer Terroristen am Niederrhein gesprengt habe. Während seine Partei mitten im Wahlkampf feiert, recherchiert Heinrich, wer die Terroristen waren. Ihm kommen Zweifel an der Geschichte des Ministers: Einer der Terroristen war vor kurzem noch beliebter kategorischer Messdiener? Heinrich gräbt weiter in dem Fall. Plötzlich hat er einen Schatten. Und als sein Freund, der Polizist Erik Funken, vom Dienst suspendiert wird, wissen beide, dass sie mächtige Feinde haben...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Thomas Berscheid

Thomas Berscheid

Die Niederrheingruppe

Thomas Berscheid

Die Niederrheingruppe

Thomas Berscheid

Krimi

Thomas Berscheid

Die Niederrheingruppe

Kriminalroman

Krimi

Berscheid Verlag

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Thomas Berscheid

Umschlag: © 2024 Copyright by Irma Berscheid-Kimeridze unter Verwendung von Design und KI-Bild von canva.com

Verantwortlich

für den Inhalt: Thomas Berscheid

Johannes-Albers-Str. 10

50767 Köln

[email protected]

www.berscheid-verlag.de

Druck: Veröffentlicht über tolino media

Die Niederrheingruppe

Ein Knall

Kevin ging in den Garten des Hauses am Poelvennsee, das er mit seinen drei Freunden angemietet hatte. Eines der drei Fohlen, dass gerade seinen Hunger auf der angrenzenden Weide stillte, blickte interessiert zu ihm herüber. Kevin war es gleichgültig. Ihm war es wichtig, dass ihn kein Mensch hier beobachten konnte. Niemand durfte wissen, was sie hier zusammen bauten.

Und er wollte sicher sein, dass er schnell weglaufen konnte, wenn wieder etwas schief ging. So wie damals in der Chemie, als das Fahrrad von Reusbach in Bruchteilen von Sekunden zu einem Stück Altmetall zusammen schmolz.

Daniel hatte ihm noch geholfen, den Tisch mit der Schraubzwinge auf den Rasen zu stellen. Dann war er mit seinem Roller in die Venloer Heide gefahren. Kevin wollte später mit dem wichtigsten Gegenstand des Tages nachkommen. Er stellte den Klappkasten mit den Zutaten auf den Tisch.

Kevin nahm die Eisenröhre mit den sauber zugefeilten Enden und spannte sie von oben in den Schraubstock, kurbelte sie mit der Hand zusammen, bis sie fest saß. Dann drehte er mit zwei Händen an der Kurbel, bis sich die Zwinge beschwerte.

Er nahm die Porzellanschale mit dem grauen Pulver, dass er am Nachmittag zusammen gemischt hatte. Füllte vorsichtig einen Löffel nach dem anderen in die Eisenröhre. Zum Schluss nahm er zwei Kabel. Er griff sein Taschenmesser und machte ein Ende jedes Kabels blank. Dann steckte er die Kabel so weit in das Pulver, bis sie fest darin saßen.

Er trat einen Schritt zurück und atmete tief durch. Er arbeitete immer sehr konzentriert, und er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich noch einmal umzusehen, ob ihn jemand stören konnte. Das Fohlen zeigte sich nicht interessiert. Viel wichtiger war ihm jetzt, dass es Wasser gab. Der Besitzer des Pferdehofs am anderen Ende der Straße, dem dieses Haus gehörte, füllte die Tränke mit Wasser auf. Schmitz wusste, was die Jungs hier taten. Er hatte Kevin davon erzählt, wie er in seiner Kindheit mit Blindgängern in der Venloer Heide gespielt hatte. Und hatte ihm zur Auflage gemacht, nicht im Haus zu arbeiten.

Der letzte Schritt stand an. Der gefährlichste von allen. Kevin nahm ein Handtuch und wickelte es um das freie Ende der Eisenröhre. Spannte sie nun von der Seite in den Schraubstock. Wenn nun etwas schief ging, wenn es einen Funken gab, dann brauchte er sich um die Rente keine Gedanken mehr zu machen. Er packte die Stahlstange an der Kurbel mit beiden Händen an. Eine Spur von Schweiß hatte sich auf seinen Handflächen gebildet. Und das lag nicht an der Hitze, die sich über den Niederrhein gelegt hatte. Ganz langsam drehte er das Ende der Eisenröhre zusammen.

So etwas wie in München beim Oktoberfest durfte ihnen nicht passieren.

Kaspers hielt sich auf der rechten Spur des Rings in Kempen. Links von ihm tauchte die Burg auf. Rechts passierte er die Post. Die Ampel an der Thomasstraße stand auf grün. Aber er hatte kaum Augen dafür. Mehr interessierte ihn das weiße Gebäude rechts hinter der Kreuzung. Er setzte den Blinker rechts und fuhr auf den Parkplatz der Villa Horten.

Hinter der massiven Holztür am Eingang sah alles normal aus. Ein Haus wie jedes andere, in dem gerade gebaut wurde. Das Schild am Eingang deutete auf die Kanzlei eines Rechtsanwaltes hin. Aber zu dem wollte der Abteilungsleiter der Polizei im Kreis Viersen heute nicht. Es hatte ihn schon genug Zeit und Überredungskunst gekostet, dass die Angestellten das gesamte Archiv aus dem Keller heraus geräumt hatten. Er drückte die Klinke der Kellertür herunter. Von unten waren dumpfe Schläge zu hören. Er stieg die Treppe herunter. Hier wurde Mauerwerk aufgestemmt.

„Guten Morgen, die Herren“, warf Kaspers in den Raum. Die Köpfe von drei Männern fuhren herum. Ein Ingenieur tastete mit der Hand das Loch ab, dass ein Maurer gerade geschlagen hatte.

„Wie ist der Stand der Dinge?“ fragte Kaspers den dritten Mann.

„Das werden sie uns erst in ein paar Tagen sagen“, sagte Erik Funken, der vor kurzem frisch gebackene Leiter der Mordkommission im Kreis Viersen. „Wir haben nach Spuren auf dem Boden gesucht. Der Estrich ist in einem Stück verlegt worden, sagt er.“

Erik Funken deutetet auf den Bauingenieur.

„Den müssten wir erst abtragen, um etwas im Fundament sehen zu können.“

„Und die Statik?“ fragte Kaspers.

„Die prüft er gerade“, antwortete Erik und nickte mit dem Kopf in Richtung des Bauingenieurs. „Sieht schlecht aus. Wir müssen wahrscheinlich Stützen einziehen. Erst dann können wir graben.“

Kaspers seufzte.

„Ich hätte es mir denken können“, sagte er dann. „Der Fall liegt 20 Jahre in der Kiste, und dann dieser anonyme Brief... Wenn ich das richtig sehe, kann sich das noch Monate hinziehen.“

„Dafür kommen wir endlich einen Schritt weiter“, warf Erik ein.

„Vielleicht“, entgegnete Kaspers. „Ich lasse den Wagen hier stehen. Bin noch mal bei den Kollegen neben der Feuerwache nach dem Rechten sehen. Wenn in der Zwischenzeit neue Erkenntnisse auftauchen sollten...“ Er wandte sich zum Gehen.

Erik nickte ihm zu.

„War das Ihr Chef?“ fragte ihn der Bauingenieur.

„Er hat den Brief bekommen“, antwortete Erik.

Tobias fluchte. Er versuchte, mit dem Stativ für seine Videokamera einen stabilen Stand auf dem sandigen Waldboden der Venloer Heide zu bekommen. Es klappte nicht. Die Kamera wackelte hin und her. Zwei Beine standen stabil, aber das dritte versank immer wieder im sandigen Untergrund. Und die Kamera war nicht billig.

Er ging ein Stück in den Wald hinein, suchte den Boden ab. Hier lagen genug Trümmer herum, aus der Zeit, als dies mit 18 Quadratkilometern der größte Flughafen in Deutschland war. Und dann fand er Ziegelsteine, die genau passten. Er legte einen unter das dritte Standbein des Stativ und beschwerte die beiden anderen Beine mit den Trümmern. Dann setzte er die Kamera auf das Stativ. Die Druckwelle würde die Konstruktion nicht umwerfen.

Tobias warf einen Blick durch den Sucher. Jan fegte gerade mit dem Fuß Sträucher und Sand beiseite. Er ging zu seinem Roller, der unter einer Eiche abgestellt war, einen Lappen für die Linse holen. Ein anderer Jugendlicher schob gerade sein Mountain Bike neben den Roller.

Kevin warf einen Blick auf den Birkenhof. Das Lokal war noch geschlossen. Kein Besucher würde heute Abend vom Stuhl fallen. Es war Mitte der Woche. Der Parkplatz, auf dem am Wochenende Reisemobile aus dem Ruhrgebiet standen, war leer.

Er stellte sein Mountain Bike an der Eiche am Rand des Parkplatzes ab. Beide Räder waren gefedert. Er hatte die Dämpfer noch am Haus am Poelvennsee auf ganz weich eingestellt. War über den glatten Asphalt bis zur Heerstraße gefahren, hatte das Rad dann bis zum Birkenhof geschoben. War jedem Schlagloch auf dem unbefestigten Weg ausgewichen. Er wollte jede Erschütterung vermeiden.

Daniel hielt das Rad am Rahmen fest, damit es sich keinen Millimeter bewegen oder gar umfallen konnte. Kevin griff mit beiden Händen behutsam in die Tasche hinten am Gepäckträger. Ein Polster aus Schaumstoff schirmte den Gegenstand darin gegen Erschütterungen ab. Er drückte langsam die Polster beiseite. Der Gegenstand war rund und in ein Handtuch gewickelt. Kevin hob den zylindrischen Gegenstand langsam aus der Tasche, wickelte das Handtuch ab. Die Eisenröhre kam zum Vorschein.

Nun trug Kevin die Eisenröhre vorsichtig auf beiden Händen in den Wald hinein. Daniel blieb an der Eiche und stand Schmiere. Kevin blickte auf seine Schuhe. Das Gestrüpp aus Brombeersträuchern bildete nette Fallstricke. Und die Fliegen, die sich interessiert auf seine Nase setzten, musste er ignorieren.

Jan trat einen Schritt zurück, als Kevin die Eisenröhre auf den frei gemachten Platz ablegte. Er reichte Kevin das Kabel. Kevin isolierte mit dem Taschenmesser die beiden Kabel ab, die aus der Röhre kamen. Steckte sie dann mit einer Lüsterklemme mit den Enden eines anderen Kabels zusammen. Fingerte den Schraubendreher aus seinem Taschenmesser und drehte die Kabel fest. Legte das Kabel behutsam auf dem sandigen Waldboden ab.

„Bist du soweit?“ fragte Kevin.

„Bereit zum Schuss“, antwortete Tobias.

„Dann pack' mit an“, forderte Jan den Kameramann auf.

Sie hoben den Rest einer Backsteinmauer hoch und legten ihn auf die Röhre. Nur das Kabel zeigte an, dass etwas unter dem Mauerrest lag.

Kevin ging zur Heerstraße und sah sich um.

„Und?“ fragte Kevin.

„Zwei Grufties auf Hollandrädern“ sagte Daniel. „Die sind weg. Wir können.“

Sie gingen in den Wald hinein.

Tobias stellte die Kamera an. Dann sprintete er zu einem Bunkerrest, den sie als Deckung nutzten. Er legte sich neben Kevin auf den Bauch. Nur ihre Augen lugten jetzt noch über den Betonsockel.

„Bereit für Little Boy?“ fragte Kevin. Die Hand um dem Piezozünder zitterte leicht.

„Bereit!“ sagte Tobias.

„Gib Feuer!“ antwortete Jan.

„Lass es donnern“, echote Daniel.

Kevin drückte den Knopf mit dem Daumen in das Gehäuse.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerlegte die Rohrbombe den Mauerrest. Die vier Jugendlichen duckten sich hinter den Bunker. Kleine Bruchstücke der Klinker, die Kriegsgefangene hier 70 Jahre zuvor verbaut hatten, prasselten auf sie nieder. Dann folgte eine Staubwolke, die sie mit der Zunge schmecken konnten.

Tobias richtete sich als erster auf. Die Kamera war in eine Staubwolke gehüllt. Aber sie stand. Er rannte zur Kamera.

Das Stativ war etwas nach hinten gerückt. Die Kamera steckte bombenfest auf der Platte. Und sie lief noch, wenn sie auch leicht mit Staub bedeckt war. Er stellte von „Record“ auf „Stop“. Spulte zurück. Klappte den kleinen Bildschirm auf der rechten Seite auf. Sah den grellen Blitz.

„Und?“ fragte Kevin aufgeregt.

„Wir haben sie“, antwortete Tobias.

„Dein Meisterstück“, sagte Daniel und hieb Kevin kräftig auf die Schulter. „Die große Aktion kann beginnen.“

Tobias spulte zurück. Sie drängelten sich zu viert vor dem kleinen Bildschirm.

„Das wird ein richtig fetter Knaller“, sagte Jan. „Damit bomben wir uns für alle Zeiten in die Geschichte.“

„Sag das Mandy nicht“, gab Kevin zurück.

Kaspers sah auf die Uhr. Er hatte noch Zeit. Am Nachmittag ein Treffen, die Nase in eine paar Akten stecken, und dann ab nach Willich. Eine Veranstaltung der Partei. Da gab es ein paar Fässer Bier aus Issum. Das wollte er sich nicht entgehen lassen.

Der Preis dafür war das Treffen mit Hartmann. Könnte unangenehm werden. Könnte ihn aber auch weiterbringen. Auf jeden Fall würde der Innenminister Fragen zu dem Fall stellen. Haben Sie herausgefunden, wer den Brief geschrieben hat, Kaspers? Nein? Warum nicht?

Und wieder und wieder würde er dem Innenminister erklären, warum sie keine Fingerabdrücke und keine DNA-Spuren auf dem Blatt gefunden haben, auf dem in vier Zeilen Täterwissen zu dem Fall stand, der nun rund 20 Jahre zurücklag.

Nicht irgendein Fall.

Sein Fall.

Denn Kaspers war damals gerade eine Stufe nach oben gefallen. Er war Aktenführer. Er koordinierte damals alle Informationen bei der Mordkommission. Er schickte die Leute aus, Zeugen zu befragen. Er hatte die Idee, eine junge Kollegin ähnlich zu kleiden und mit ihr zur gleichen Nachtzeit den Weg zu gehen, den die Studentin damals genommen haben musste. Er dokumentierte, wie sie Gräber auf dem Friedhof in Kempen öffnen ließen, in denen Verstorbene im fraglichen Zeitraum bestattet worden waren.

Und das alles ohne jeden greifbaren Erfolg.

Wie hatten sie die Arbeit der Mordkommission zerrissen! Für die Presse waren sie alle unfähig, diesen einfachen Mordfall aufzuklären. „Was macht die Polizei eigentlich den ganzen Tag?“ fragten sich die Boulevardblätter. „Das will ich nicht noch einmal erleben“, hatte Kaspers sich gesagt, als der Fall neu ins Rollen kam.

Kaspers lief durch die Schulstraße, wo die alten Häuser einen Anziehungspunkt für Touristen darstellten. Er bog rechts in die Tiefstraße ab, blieb dann vor einem Haus stehen. Der „Lichtblick“. So hieß die Kneipe hier früher. Nun eine Wohnung. Hier hatte man sie zuletzt gesehen. Und hier hatte Kaspers selber seine Ermittlungen aufgenommen.

Hartmann würde Fragen stellen. Dessen war sich Kaspers sicher. Aber vielleicht würde er auch auf die Idee mit diesen Videos anspringen, die ein Kollege kürzlich im Internet gefunden hatte.

Tobias klappte die Unterseite der Kamera auf und holte die SD-Karte heraus. Steckte sie in das Lesegerät auf seinem Rechner. Das Gerät blitzte kurz blau auf, dann tauchte auf dem Bildschirm die Frage auf, ob er Videos speichern sollte. Tobias zog das Video auf seine Festplatte.

Es klopfte an die Tür.

„Willst du mit uns Essen?“ fragte seine Mutter vom Flur durch die geschlossene Tür.

„Ich komme später“, antwortete Tobias. „Muss noch eine Physikaufgabe machen.“

Tobias öffnete seine Schnittsoftware. Wen interessierte schon, wie ein ruhig liegendes Mauerstück in der Venloer Heide aussieht. Er schnitt alles bis 3 Sekunden vor dem Knall weg. Die Bewegung der Kamera, wie sie eine Sekunde nach dem Blitz durchgeschüttelt wird, Bruchstücke vorbei fliegen und die Staubwolke vorbeizieht, ließ er drin. Dann ging er auf einen anderen Track. Jan zeigte auf den Mauerrest aus dem Krieg. Einmal vorher und einmal nachher.

Er loggte sich mit seinem Account „SprengMeister_T“ bei YouTube ein. Wählte das frisch gedrehte Video aus der Venloer Heide und lud es auf den Server. Er sah sich das Ergebnis an. Ein schöner Knall und deftige grelle Farben. Eine Minute explosives Vergnügen. Eines von vielen Videos, die er eingestellt hatte.

Dienstag

Heinrich Sobeck drückte auf den großen Knopf mit der Klingel am oberen Ende der Treppe vor dem Polizeipräsidium in Viersen. Der Summer zeigte ihm, dass er herein durfte. An der Theke stand ein Beamter, der jünger war als Heinrich selber. Der Uniformierte musterte Heinrich misstrauisch von oben nach unten.

„Arbeitskleidung“, sagte Heinrich, der in kurzer Fahrradhose und mit passendem T-Shirt in Neongelb vor der Theke stand. „Ist Ihr Pressesprecher, Herr Hermes, zu sprechen?“

Heinrich griff in sein T-Shirt und hielt dem jungen Beamten seinen Presseausweis vor die Nase.

„Ich höre mal nach“, sagte der Polizist und griff zum Hörer.

„Herr Sobeck!“ sagte der Pressesprecher freundlich an der Bürotür. „Haben Sie wieder einen Toten mitgebracht?“

„Unter meinem Wagen klemmt keiner“, antwortete Heinrich. Er folgte der Hand von Hermes, die ihn ins Büro wies.

„Welche Überraschung“, sagte eine Stimme neben dem Schreibtisch des Pressesprechers. Der Mann dazu stand auf. Etwas fülliger als Heinrich, breitere Schultern, mit den Oberschenkeln eines früheren Radsportlers.

„Erik!“ rief Heinrich überrascht aus. „Glückwunsch zur Beförderung! Leiter der Mordkommission in deinem Alter. Respekt.“

„Danke für die Blumen“, antwortete Erik Funken und nahm Heinrichs Hand. „Und jetzt zur Sache: was treibt dich hierhin? Oder soll ich dich gleich vor die Tür setzen?“

„Schön, dass Sie beide zusammen sind“, sagte Heinrich. „Was gibt es Neues von den Grabungen in der Villa Horten?“

„Alles was Sie aus der Presse kennen“, antwortete Hermes und setzte sich. Er warf einen Blick auf Erik.

„Wir haben den Verdacht, dass die Leiche der seit 20 Jahren vermissten Studentin im Fundament der Villa versteckt ist“, berichtete Erik. „Ein Bodenradar hat einen Hohlraum gezeigt. Suchhunde aus den USA, die auf Leichen ausgebildet sind, haben angeschlagen. Jetzt müssen wir sehen, wie wir weiter vorgehen.“

„Was genau will die Polizei jetzt anstellen?“ fragte Heinrich.

„Darüber haben wir nicht entschieden“, antwortete Hermes.

„Ach kommen Sie“, drängte Heinrich.

Hermes schüttelte wortlos den Kopf.

„Warum interessiert dich der Fall?“ fragte Erik. „Machst du was darüber?“

„Ich habe die Berichterstattung im Internet verfolgt“, erklärte Heinrich. „So ein skurriler Mordfall am Niederrhein kommt nicht oft vor.“

„Bist du zum Sport hier?“ hakte Erik nach und zeigte auf Heinrichs Fahrradhose.

„Eine Reportage“, antwortete Heinrich und stand auf.

„Lass mir deine Handynummer da“, sagte Erik. „Ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, wo ich dich erreichen kann.“

„Ist seit Jahren die Gleiche“, sagte Heinrich und wies auf Eriks Rundungen, die sich über dem Gürtel abzeichneten. „Und du solltest auch mal wieder fahren.“

Er zog die Tür auf. Wollte Erik noch etwas sagen, während er durch den Türrahmen ging. Er endete an einem Schulterpolster einer Uniform. Für Bruchteile von Sekunden zuckte der rechte Arm im Reflex, zuzuschlagen.

„Oh, die Presse ist hier!“ sagte der Uniformierte, der gerade frontal mit Heinrich zusammengestoßen war. „Haben Sie einen neuen Fall für uns?“

Kaspers drückte Heinrich sanft in den Raum zurück, um selbst hinein zu können.

„Ich bin kein Lieferant“, antwortete Heinrich und wich einen Schritt zurück. „Sie haben eine Person in diesem Raum in eine höhere Besoldungsstufe geschickt.“

„Die hat er sich verdient“, antwortete Kaspers und warf einen Blick auf Erik, der gerade Heinrichs Nummer ansah.

„Er hat Interesse am Mordfall in der Villa Horten“, sagte Hermes und wies mit einem Finger auf Heinrich.

„Haben Sie etwas entdeckt?“ fragte Kaspers und sah Heinrich fragend an. „Sie schnüffeln ja gerne in unseren Geschichten herum.“

„Diesmal nicht“, antwortete Heinrich. „Schönen Tag zusammen.“

Heinrich schloss die Tür von außen.

„Wenn der wieder hier ist...“ seufzte Erik.

„Lassen Sie Ihre Vorahnung“, sagte Kaspers. „Und jetzt bringen Sie mich bitte auf den aktuellen Stand mit der Villa Horten. Ich habe heute Abend Parteisitzung in Düsseldorf. Die Kollegen werden mich wieder in der Sache löchern.“

Er nahm Platz, wo Heinrich gesessen hatte.

„Das kostet uns eine Menge Geld. Der Anwalt, dem wir das Archiv leer geräumt haben, hat mich gestern angerufen und mir was vorgejammert. Und wir sind bundesweit in den Schlagzeilen. Haben Sie den Bohrtrupp zum Aufstemmen des Bodens bestellt?“

„Die Statiker haben alles abgestützt“, berichtete Erik. „Der Bohrtrupp fängt morgen früh an zu hämmern.“

„Ich hoffe, er weiß das nicht?“ Kaspers wies mit dem Daumen in die Richtung, in die Heinrich gegangen war.

Pressesprecher und Leiter der Mordkommission schüttelten den Kopf.

Heinrich ging über die Lindenstraße zur Tiefgarage. Das Stadtpanorama von Viersen glich dem jeder anderen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Überall Plakate mit glatt rasierten Gesichtern und nichtssagenden Sprüchen. „Sicherheit!“ stand unter einem dieser uniformen Gesichter. Der Innenminister versuchte sich als Mann für Recht und Ordnung zu profilieren.

„Bin ich froh, wenn das vorbei ist!“ sagte Heinrich zu sich und fischte den Schlüssel zu seinem Seat aus der Satteltasche, die er sich über die Schulter gelegt hatte.

Kevin stellte die Glasflaschen mit den violetten Kristallen und dem glänzenden Pulver auf den Tisch im Garten. Ein Baum, dessen Äste fast bis auf den Tisch herunter ragten, gab ihm Schatten. Er packte auch den Mörser und die Porzellanschale zum Ansetzen der Mischung aus seiner stabilen Fahrradtasche. Dann setzte er sich auf einen der beiden Plastikstühle, die an den Tisch gekippt standen.

Der bärtige Apotheker in Grefrath hatte ihn merkwürdig angesehen. Wofür er denn zwei Kilogramm Kaliumpermanganat brauche. Er müsse einen ganzen Swimming Pool reinigen, sagte Kevin, ohne mit dem Bärtchen zu zucken. Der Apotheker sah ihn misstrauisch an und gab die Bestellung heraus, ohne weitere Fragen zu stellen. Am Abend waren die Kristalle dann in der Apotheke.

Kevin griff erneut in die Tasche. Verdammt. Die Briefwaage hatte er vergessen. Er stand auf, rückte die Gläser in den Schatten. Ging zum Haus zurück. In der Ferne hörte er das Aufheulen eines Motors, ein Auto schien in hoher Geschwindigkeit näher zu kommen. Eine der Stuten auf der Koppel hinter dem Haus blickte interessiert auf.

„Wie weit bist du mit den Röhren?“ fragte Kevin.

„Hab erst zwei fertig“, sagte Jan und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Acht zu beiden Seiten offene Eisenröhren lagen noch vor ihm auf dem Boden. Am Wohnzimmertisch klemmte der Schraubstock. Das Metall hatte es in sich.

„Wir sollten verdammt vorsichtig sein, wenn wir die anderen Enden zumachen“, sagte Jan und deutete auf die Röhre, die im Schraubstock steckte. „Die sind härter als die Röhren, die wir vorher benutzt haben.“

„Ich mach das schon“, antwortete Kevin.

Er warf einen Blick auf Daniel. Er zog isolierte Kupferkabel von einer Rolle und längte sie jeweils auf eine Länge von fünf Metern ab. Isolierte sie dann an beiden Enden jeweils auf einen knappen Zentimeter ab. Das eine Ende kam in die Bombe, das andere in die Klemme. Von dort aus ging es zum Trafo, der die Spannung bereitstellte. Es sollte knallen. Richtig knallen. Sie wollten ein Zeichen setzen, dass man nicht so schnell vergessen würde.

Kevin ging zum Fenster. Die Pferde wurden unruhig. Eine der Stuten stellte sich vor ihr Fohlen und wieherte. Die Pferdemutter war nervös. Etwas störte sie. Wenn Schmitz mit dem Wasser kam, waren die Pferde nicht so aufgeregt.

Kevin sah einen Schatten vor dem Fenster auftauchen.

Und dann knallte es richtig.

Heinrich stieg aus seinem Seat aus. Langsam machte sich an seinem verlängerten Rücken bemerkbar, dass er seit dem Morgen in einer Fahrradhose unterwegs war. Auf dem Sattel saß man damit zwar prima. Aber auf einem normalen Sitz waren die Nähte im Weg. Und die schnitten sich nun ein.

Er nahm die Kamera aus dem Wagen. Die Biologische Station an den Krickenbecker Seen war heute wenig besucht. Es war kein Wochenende, keine Schulklasse war zu Besuch. Das Freibad direkt nebenan versprach mehr Freude.

Heinrich ging an der Station auf den Steg, der in den Hinsbecker Bruch hineinragte. Früher gab es hier ein Moor, das dann nach dem Mittelalter trocken gelegt und aus dem Torf abgebaut wurde. Als sich das nicht mehr lohnte, weil die Kohle aus dem Ruhrgebiet billiger war, besser brannte und viel weniger Rauch verursachte, ließ man die entstandenen Löcher voll laufen. So waren vier Seen entstanden, die am Wochenende Ausflüglern aus dem Ruhrgebiet und den nahen Niederlanden eine Möglichkeit zum Stehen im Stau und zum Auslauf boten.

Der See lag ruhig da. Ein paar Kinder plantschten im Wasser. Heinrich bereute erneut, die kurze Hose angezogen zu haben. Er blies einer Mücke, die gerade aus seinem Oberschenkel Blut zapfen wollte, das Lebenslicht aus. Dann warf er einen letzten Blick auf den See. Vielleicht trieb eine Leiche vorbei. Er hatte Pech.

Kurt Beuchel stieg gerade aus dem Auto aus, als Heinrich zum Holzhaus der Station zurück kam. Als Beuchel noch Lehrer war, hatte er Heinrich Geschichte beigebracht. Dann kam ein neuer Direktor ins Thomaeum in Kempen, mit dem sich Beuchel nicht mehr verstand. Dr. Reuver. Beuchel kündigte und brachte nun Erwachsenen bei der VHS in Viersen Geschichte bei.

„Sie sind schon in Arbeitskleidung?“ fragte Beuchel.

„Das spart mir das Umziehen“, antwortete Heinrich. „Gehen wir rein.“

Sie gingen durch die großen verglasten Windfang in die Station. Beuchel unterhielt sich kurz mit dem jungen Mann im Wollpullover, der hinter der Theke saß. Er sah sich die Bilder an, die das Leben der Mauersegler und Fledermäuse darstellen. Das Gebäude in einem der Sichtkästen kannte er. Es war der Kölner Dom.

„Was wollen Sie denn jetzt genau wissen?“ fragte Beuchel und trat neben Heinrich. Er wusste, dass er seinen ehemaligen Schüler nicht von hinten ansprechen sollte.

„Ich mache eine Reportage über Radtourismus am Niederrhein“, erklärte Heinrich. „Ist eine Auftragsarbeit für die Touristikagentur. Die wollen die neuen Routen an den Kanälen auf der Webseite und in einem Flyer haben. Ich soll Texte und Bilder liefern.“

Er hielt die Kamera in die Höhe.

„Über den Nordkanal bin ich zwar schon 500 Mal gefahren“, erklärte er weiter. „Aber ich weiß erst seit einer Woche, dass Napoleon den bauen wollte. Und dass die Spanier schon 200 Jahre vorher hier gebuddelt haben.“

„Dann kommen Sie mal mit“, sagte Beuchel und winkte Heinrich zu einem der Modelle, die die Landschaft der Krickenbecker Seen zeigten. Er erzählte Heinrich, dass Napoleon 1808 den Bau des Kanals befohlen hatte, um die Niederlande und Schutzzölle zu umgehen. 1810 änderte sich dann die politische Lage, Napoleon ließ auch die Niederlande mit seinem Machtbereich fusionieren und der Kanal, inzwischen zu einem Drittel fertiggestellt, war nicht mehr nötig. Die fertigen Abschnitte wurden dann für den Transport von Kohle und später Menschen genutzt, aber das lohnte sich mit dem Siegeszug der Eisenbahn auch nicht mehr.

„Viel sieht man davon aber heute nicht mehr“, dachte Heinrich laut. Er hatte mehr erwartet.

„Das stimmt leider“, pflichtete Beuchel ihm bei. „Seitdem sind 200 Jahre vergangen. Aber die Schleuse Louisenburg und der Abschnitt im Bereich der Seen hier, da haben Sie noch den Kanal. Und der Verlauf ist auch sichtbar gemacht.“

„Ich weiß“, sagte Heinrich. „Hab mich bei der Touristikagentur in Viersen kundig gemacht. Diese Stäbe in weiß und orange nach Süchteln raus.“

„Und weiße Markierungen hier auf den Wegen im Naturschutzgebiet“, fügte Beuchel hinzu.

„Das haben sie mir nicht gesagt“, sagte Heinrich und deutete mit dem Finger auf Beuchel.

„Wenn Sie noch Fragen haben“, sagte der ehemalige Lehrer, „Ich habe ein Handy. Die Nummer kann ich Ihnen gleich geben. Und es freut mich, dass Sie damals was gelernt haben.“

Heinrich ließ seinen Straßenrenner mit den breiten Reifen und dem dicken Unterrohr an dem Weg zum Strandbad Poelvennsee langsam ausrollen. Er sog die würzige Luft der Kiefern um ihn herum ein. Ein leichter Windhauch strich an seiner Wange vorbei. Er trieb die weißen Flocken der Fruchtstände von den Pappeln durch die Luft, so dass es so aussah, als würde es an einem warmen Tag am Niederrhein schneien. Stille lag über der Straße zum Freibad Poelvennsee, nur unterbrochen von dem Surren der Reifen der Lastwagen, die auf der Bundesstraße 221 die Abkürzung zwischen den Autobahnen 61 und 40 nahmen.

Er stellte den Alurenner sanft an die Rinde eines Baums, nahm die Digitalkamera aus seiner verschweißten Tasche. Mit einem Dreiklang sagte ihm die Canon, dass sie bereit für scharfe Bilder sei.

Heinrich kniff ein Auge zu und nutzte den Sucher, um sich ins Bild zu finden. Er bannte mehrere Aufnahmen von Straßenschluchten des Niederrheins auf die SD-Karte, glatt asphaltierte Wege mit einem Blätterdach, dass sich darüber schloss. Ganz weit hinten tauchte ein halbes Dutzend Rentner auf, die mit ihren Rädern langsam auf Heinrich zukamen. Er zog den Zoom seiner Spiegelreflex weit auf.

Eine schnell näher kommende Hupe ließ Heinrich bis ins Mark zusammenfahren. Er drehte sich um. Ein BMW hielt genau auf ihn zu. Das Dröhnen des Motors und die beständig gedrückte Hupe sagten Heinrich, dass er eher auf der Motorhaube enden würde als dass der Fahrer auch nur ans Bremsen dachte. Heinrich machte einen Satz zur Seite, rollte sich über die Schulter ab und hielt den Arm schützend vor die Kamera.

„Penner!“ fluchte er dem Wagen hinterher. Noch in der Bewegung drückte er auf den Auslöser und gab Dauerfeuer. Er erwischte den BMW von der Seite und bannte drei Bilder pro Sekunde auf den Speicherchip. Als Heinrich wieder auf den Beinen war, sah er, dass die Rentner erschreckt auf die Seite fuhren.

„Dabei steht da 50“, fluchte Heinrich weiter. Er warf einen Blick auf den Wagen, der gerade im Autobahntempo in der Kurve Richtung Strandbad verschwand. Etwas war ungewöhnlich bei dem Wagen. Da war ein Höcker auf dem Dach. Heinrich klickte sich ein Dutzend Bilder auf dem Chip zurück, ging dann von Vollbild auf Zoomansicht.

Der BMW hatte eines dieser praktischen Blaulichter auf dem Dach, die man mit einem Magnetfuß dort festnageln konnte.

Nur Sekunden später klingelte Heinrich die Rentner beiseite und forderte seiner Lunge den letzten Rest Sauerstoff ab, als er auf dem Straßenrenner mit beinahe 50 Sachen dem Wagen hinterher eilte.

Heinrich fegte um die Kurve. Flocken von den Pappeln an seiner Seite wehten ihm um die Ohren. Er nahm den Druck von den Pedalen und ließ rollen. Der BMW stand in ganzer Pracht quer auf der Straße. Das Blaulicht auf dem BMW zuckte. Auch mit dem Rennlenker in seiner Schulterbreite passte Heinrich hier nicht mehr durch, selbst wenn er in die Vegetation ausweichen sollte. Mehr schemenhaft als real nahm er die ebenso unauffälligen Limousinen und den Kleinbus wahr, die ein Stück weiter vor einem weißen Haus standen.

„Was ist hier los?“ fragte Heinrich, als er vor der Beifahrertür des BMW zum Stehen kam.

„Das geht dich nichts an“, sagte der Fahrer des BMW, der den Weg versperrte.

„Ist das eine Übung der Polizei?“ fragte Heinrich mit Blick auf drei Gestalten in Rufweite, die Sturmmasken trugen.

„Die Polizei wird dich gleich festnehmen, wenn du nicht verschwindest“, sagte der sportlich aussehende Mann mit Schnäuzer.

Heinrich überlegte den Bruchteil einer Sekunde, ob er dem Machobart einen Tritt in das Gemächt oder ein deftiges Schimpfwort verpassen sollte. Sein Blick fiel auf die Walter P99, deren Griff auf der linken Seite der Brust unter dem Schnäuzer hing. Er drehte um und fuhr in Richtung Bundesstraße davon.

Vor der Abzweigung des Waldweges hielt Heinrich an, blieb in den Pedalen stehen und sah sich um. Der Zivilbulle sah nicht mehr in seine Richtung. Heinrich ließ den Lenker nach rechts abkippen und fuhr an dem „Durchfahrt verboten!“-Schild vorbei.

Als er in Höhe einer Koppel ankam, lehnte Heinrich sein Cannondale gegen einen Strauch. Er nahm die Kamera aus der Tasche und visierte das weiße Haus an. Im Hinterhof konnte er eine Gestalt mit Sturmmaske erkennen.

Heinrich nahm die Kamera vom Auge. Er klemmte sie zwischen den Beinen fest und zog sein neongelbes T-Shirt aus. Er duckte sich und ging an den Sträuchern entlang. Der Zweig eines Brombeerstrauches schnitt ihm durch das Netzhemd über die Haut. Er fluchte leise in sich hinein, nahm hinter einem Busch Stellung. Eine der drei Stuten, die auf der angrenzenden Koppel standen, unterbrach ihr Mahl und sah zu ihn hin. Drei Fohlen lagen in aller Ruhe im Gras und beachteten ihn nicht.

Er legte die Kamera an den Stamm eines jungen Baumes, um nicht zu sehr zu zittern, visierte das Haus an, drückte im Sekundentakt auf den Auslöser. Die Tür auf der Rückseite des Hauses ging auf. Ein Mann mit Sturmmaske, Schutzweste, Protektoren und MP im Anschlag kam heraus.

Hinter ihm ging ein Jugendlicher. Die Angst war ihm ins Gesicht gebrannt. Er trug einen Kinnbart. Seine Augen glänzten feucht. Er hatte eine kleine blutende Wunde an der Stirn. Ein mächtiger Mann hinter ihm schubste den Jungen brutal aus der Tür, er stolperte, fiel auf den Boden. Abstützen konnte er sich nicht. Wie Heinrich sah, waren die Handgelenke des Jungen mit stabilen Kabelbindern auf den Rücken gefesselt. Der Polizist riss ihn am Oberarm brutal in die Höhe und stieß ihn um das Haus herum.

Zwei weitere Jugendliche erschienen in der Tür und wurden ums Haus geführt. Heinrich konnte durch das Teleobjektiv jeden Pickel im Gesicht der jungen Männer erkennen. Dann sah er nur noch Männer in weißen Overalls im Haus. Einer von ihnen hatte eine kleine Videokamera in der Hand.

Das nächste, was Heinrich vernahm, war das Geräusch der Schiebetür eines Autos, die zugeschlagen wurde. Dann ein Martinshorn. Die Silhouette des Kleinbusses zog an dem Stück Straße vorbei, das Heinrich einsehen konnte. Er hockte sich ins Gras, verscheuchte eine Mücke von der nackten Schulter und beobachtete weiter, was sich in dem Haus tat. Im Haus waren jetzt nur noch die weißen Overalls, wie sie die Mitarbeiter der Spurensicherung trugen. Heinrich stand auf und zog sich das T-Shirt über. An einer Stelle färbte sich der Stoff rot von den Striemen, die er sich in den Sträuchern gerissen hatte.

Heinrich blickte noch einmal durch die Kamera. In einem der Fenster war ein Mitarbeiter der Spurensicherung zu sehen. Er trug einen Gegenstand in der Hand. Heinrich fiel die Kinnlade herunter, als er auf die dunkle Eisenröhre zoomte.

Als Heinrich am Ende des Weges ankam, wo zwei Bänke Rentner zum Verweilen einluden, warf er einen Blick nach links. Der BMW stand nicht mehr dort. Zwei Limousinen parkten vor dem Haus. Kein Mensch auf der Straße. Er überlegte, ob er sich das Haus noch mal von vorne angesehen sollte.

„Junger Mann, kommen Sie mal her!“ herrschte ihn eine Frauenstimme an.

Heinrich blickte erstaunt nach rechts.

„Ist das Rad schon wieder gestohlen?“ fragte eine Frau in Uniform, die auf ihn zu kam. Heinrich erkannte das Gesicht unter der Schirmmütze. Hilde. Sie hatte vor 10 Jahren den Diebstahls des Rennrads in Viersen aufgenommen, das Heinrich in Teilen später wiedergefunden hatte. Und auf dem er jetzt saß.

„Das hüte ich wie meinen Augapfel“, sagte Heinrich. „Was ist das für ein Einsatz?“

„Ich weiß nur, dass wir die Straße sperren sollen. Mehr weiß ich auch nicht. Und was machst du hier? Warum kommst du aus dem Feldweg?“

„Ich habe knackige Stuten geschossen“, antwortete Heinrich. „Mehr weiß ich auch nicht.“

Er grüßte kurz und fuhr dann am grün-grauen Passat Variant mit NRW-Kennzeichen vorbei. Ein Stück weiter standen die Rentner und unterhielten sich aufgeregt. Ein Polizeieinsatz stand nicht auf der Tagesplanung. Heinrich hielt neben der Gruppe an. Als er das rechte Bein über den Titansattel hob, warf er einen kurzen Blick zum Streifenwagen. Hilde hatte ihren Sprechfunk am Ohr, die Augen auf Heinrich gerichtet.

Bevor er bei den Rentnern anhielt, sah er einen Opel Vectra, der sich der Sperre nähert. Der Fotoreporter der Redaktion in Kempen. Heute zu spät, um die wirklich spektakulären Bilder schießen zu können.

Heinrich fuhr mit seinem Straßenrenner zur Biologischen Station an den Krickenbecker Seen zurück. Er hätte seinen Seat Diesel quer parken können. Unter der Woche herrschte hier Ruhe. Er stellte sein Cannondale hinter der Tür auf der Beifahrerseite ab, öffnete die Tür vorne und nahm das USB-Kabel aus dem Handschuhfach. Er sah sich die Bilder in größerer Auslösung an. Ein Zirpen meldete, dass alle Bilder im Speicher des Telefons waren.

Heinrich setzte sich auf den Beifahrersitz und ließ die Beine über den Seitenschweller baumeln. Er rief in der Redaktion des Nachrichtenmagazins an, von dem er die meisten Aufträge bekam.

„Heinrich Sobeck, guten Morgen“, meldete er sich bei der Chefin vom Dienst. „Ich habe gerade eine Festnahme beobachtet. Könnte eine Geschichte für Sie sein.“

„Festnahmen haben wir ungefähr 20.000 am Tag“, gab die CvD zurück. „Das ist nichts Besonderes.“

„Meine schon. Ein einsames Haus am Niederrhein, und dann ein fettes Sondereinsatzkommando. Dann noch ein paar Weißkittel von der Spurensicherung. Die haben etwas in der Hand, was wie eine Eisenröhre aussieht. Auf einer Seite zugedrückt. Sieht aus wie eine halbfertige Rohrbombe.“

„Eine Rohrbombe?“ Die CvD dachte nach. „Gibt es Bilder?“

„Ich kann drei oder vier auf den Server laden.“

„Machen Sie das bitte. Was wollten diese Leute?“

„Die Frage stelle ich mir auch seit einer halben Stunde.“

„Dann gehen Sie der Frage mal nach. Ich kaufe Ihre Geschichte.“

Eigentlich wollte Heinrich am Abend wieder in Köln sein, den Ausblick auf die Rheinschiffe genießen, die Beine hochlegen und gemütlich seinen Artikel über das Verschlucken von Insekten auf den Radwegen des Niederrheins schreiben. Oder sich in einem gemütlichen Hotel einquartieren, die verbrannten Kalorien mit so einem exotischen Gericht wie einem Sauerbraten oder einem Pfannkuchen mit Speck auffüllen und in einem Garten an seiner Reportage schreiben. Zahnbürste und Wäsche dafür hatte er bei solchen Aufträgen immer dabei. Aber daraus wurde nun nichts. Er fuhr auf den Innenhof des Hotels am Grefrather Markt. In seiner Fahrradkleidung ging er zur Rezeption. Ein Zimmer mit Aussicht auf den Baum der Grefrather Vereine war frei. Er schleppte die Tasche mit der frischen Wäsche und der Zahnbürste nach oben.

Zeit zum Umziehen hatte Heinrich jetzt allerdings keine. Er klappte sein Laptop hoch, wusch sich kurz das vom Schweiß verkrustete Gesicht und suchte das drahtlose Netz. Langsam schoben sich die Bilder auf den Server der Redaktion. Nicht alle Bilder. Die Aufnahmen der drei Jugendlichen, auf denen jeder Pickel zu sehen war, behielt Heinrich für sich.

Heinrich schrieb einen Absatz zur Festnahme und kopierte ihn in das Redaktionssystem. Er suchte bei Google, ob jemand anders schon diese Geschichte online hatte. Seine Mailbox schob eine Tür von Raumschiff Enterprise beiseite. Die CvD hatte den Artikel freigeschaltet. Die Festnahme war online.

Die beiden Pkw sahen aus wie eine Modenschau der deutschen Premium-Hersteller. Einmal Mercedes, einmal BMW. Dunkel lackiert. Keine Anbauteile. Autos, die im normalen Straßenverkehr einfach verschwinden, weil sie niemandem auffallen. Sie hielten vor einem rot geklinkerten Haus aus den 1960er Jahren in Kamperlings. Gutbürgerliche Wohngegend. Am Nachbarhaus im Meisenweg prangte noch der Maibaum. Auch wenn die Familie nur Söhne hatte. Drei Männer stiegen aus. Die Fahrer blieben sitzen. Sie machten keine Geräusche, sie unterhielten sich nicht auf der Straße. Sie waren alle sehr gut und sehr neutral gekleidet, schwarzer Anzug, schwarze Hose, dazu Schuhe, in denen man gut laufen konnte. Eine Beule an der linken Brust zeigte, dass diese drei Männer alles andere als wehrlos waren.

---ENDE DER LESEPROBE---