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Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Cora Novarro war bereits seit zwei Jahren Patientin von Dr. Daniel Norden, aber sie war für ihn immer noch ein rätselhaftes Wesen, und das war äußerst ungewöhnlich, denn Kontaktschwierigkeiten gab es zwischen ihnen nicht, und es war mit der Zeit auch ein Vertrauensverhältnis entstanden, das Cora eigentlich leichter durchschaubar hätte machen müssen. Aber da waren Schleier, die so manches verhüllten und undurchdringlich schienen. Doch schon seit einigen Tagen wußte Cora auch, daß sie nicht mehr lange leben wurde. Dr. Norden wußte es bereits seit einem Jahr, als sie sich in der Behnisch-Klinik einer Darmoperation hatte unterziehen müssen. Er hatte versucht, es ihr behutsam und sehr vorsichtig zu erklären, aber so oft er auch einen Anlauf unternommen hatte, hatte sie abgewinkt. Sie fühle sich blendend und würde fortan nur noch solide leben, hatte sie erklärt, und sie war ihren guten Vorsätzen auch treu geblieben. Sie rauchte nicht mehr, sie trank überhaupt keinen Alkohol mehr und hatte ihre Ernährung völlig umgestellt. Fast schien es, als würde sie tatsächlich die tödliche Krankheit besiegen. Selbst der Arzt ließ sich täuschen durch ihre unbekümmert scheinende Gelassenheit. Von einer Reise nach Südtirol zurückgekehrt in ihr schönes Haus am Kanal hatte sich ihn zu sich gerufen. Auch das war ungewöhnlich und für ihn ein Zeichen, daß es ihr nicht gutgehen konnte, da sie sonst gewiß in die Praxis gekommen wäre, wollte sie doch nicht als Schwerkranke betrachtet werden. Für den erfahrenen Dr. Norden war es bei diesem Besuch klargeworden, daß Cora sich nun auch nicht mehr selbst täuschte, und sie sagte auch sehr ruhig, daß sie sich schon längst bewußt sei, daß es keine Gesundung für sie geben würde. Sie sei jedoch dankbar, daß ihr genügend Zeit geblieben wäre, das Resümee ihres Lebens zu überdenken und noch das tun zu können, was sie aus Feigheit bisher vor sich her geschoben hätte. Viel Zeit würde ihr allerdings nicht mehr bleiben, das wußte er, das wußte auch sie. Dr. Norden besuchte sie jeden Tag, und ihre Schmerzen wurden mit Injektionen und Infusionen gelindert. An diesem Freitag, an dem er erst am späten Nachmittag kam, schien sie wieder einmal eine gute Phase zu haben.
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Cora Novarro war bereits seit zwei Jahren Patientin von Dr. Daniel Norden, aber sie war für ihn immer noch ein rätselhaftes Wesen, und das war äußerst ungewöhnlich, denn Kontaktschwierigkeiten gab es zwischen ihnen nicht, und es war mit der Zeit auch ein Vertrauensverhältnis entstanden, das Cora eigentlich leichter durchschaubar hätte machen müssen. Aber da waren Schleier, die so manches verhüllten und undurchdringlich schienen. Doch schon seit einigen Tagen wußte Cora auch, daß sie nicht mehr lange leben wurde. Dr. Norden wußte es bereits seit einem Jahr, als sie sich in der Behnisch-Klinik einer Darmoperation hatte unterziehen müssen.
Er hatte versucht, es ihr behutsam und sehr vorsichtig zu erklären, aber so oft er auch einen Anlauf unternommen hatte, hatte sie abgewinkt. Sie fühle sich blendend und würde fortan nur noch solide leben, hatte sie erklärt, und sie war ihren guten Vorsätzen auch treu geblieben. Sie rauchte nicht mehr, sie trank überhaupt keinen Alkohol mehr und hatte ihre Ernährung völlig umgestellt. Fast schien es, als würde sie tatsächlich die tödliche Krankheit besiegen. Selbst der Arzt ließ sich täuschen durch ihre unbekümmert scheinende Gelassenheit.
Von einer Reise nach Südtirol zurückgekehrt in ihr schönes Haus am Kanal hatte sich ihn zu sich gerufen. Auch das war ungewöhnlich und für ihn ein Zeichen, daß es ihr nicht gutgehen konnte, da sie sonst gewiß in die Praxis gekommen wäre, wollte sie doch nicht als Schwerkranke betrachtet werden. Für den erfahrenen Dr. Norden war es bei diesem Besuch klargeworden, daß Cora sich nun auch nicht mehr selbst täuschte, und sie sagte auch sehr ruhig, daß sie sich schon längst bewußt sei, daß es keine Gesundung für sie geben würde. Sie sei jedoch dankbar, daß ihr genügend Zeit geblieben wäre, das Resümee ihres Lebens zu überdenken und noch das tun zu können, was sie aus Feigheit bisher vor sich her geschoben hätte.
Viel Zeit würde ihr allerdings nicht mehr bleiben, das wußte er, das wußte auch sie. Dr. Norden besuchte sie jeden Tag, und ihre Schmerzen wurden mit Injektionen und Infusionen gelindert.
An diesem Freitag, an dem er erst am späten Nachmittag kam, schien sie wieder einmal eine gute Phase zu haben.
»Ich bekomme morgen Besuch von meiner Freundin Sophie und ihrer Tochter Antonia«, erzählte sie ihm lebhaft, und ihre Augen leuchtete dabei wie ehemals.
Dr. Norden ahnte, daß sie eine bildhübsche Frau gewesen sein mußte, obgleich er nie ein Foto aus früheren Jahren zu sehen bekam. Und auch als Kranke hatte sie noch eine ganz besondere Ausstrahlung.
»Ich werde doch ein paar gute Tage haben, lieber Dr. Norden?« fragte sie flehend, als er gesagt hatte, daß er sich freue, wenn sie liebe Gesellschaft hätte, denn ihre Haushälterin Mathilde war sehr schwerhörig und auch schwerfällig geworden, und für die geistreiche und noch immer vielseitig interessierte Cora gewiß nicht die richtige Gesellschaft, wenn nun auch die einzige.
Dr. Norden konnte immer wieder staunen, wie rege der Geist dieser kranken Frau war, die doch schon so nahe dem Jenseits war.
»Heute bin ich sehr zufrieden«, erklärte er, »und warum sollte es nicht auch anhalten?«
»Wir wollen uns nichts vormachen, und jetzt werde ich Sie auch nicht mehr täuschen«, erklärte Cora. »Nur die beiden Tage möchte ich mit Anstand überleben.«
»Mit Abstand überleben«, eine seltsame Formulierung, die ihn leicht frösteln ließ, aber dann kam ihm auch in den Sinn, daß Cora nie über eine Freundin gesprochen hatte, nie über zwischenmenschliche Beziehungen.
»Wann werden Ihre Gäste eintreffen?« fragte er beiläufig.
»Morgen mittag. Sie kommen mit dem Flugzeug von Hamburg, so gegen dreizehn Uhr.«
»Dann werde ich morgen gegen elf Uhr kommen und Ihnen eine Injektion geben«, erklärte er.
»Das wollen Sie tun, obgleich Samstag ist?«
»Es ist selbstverständlich.«
Sie sah ihn an mit einem Blick, der ihm durch und durch ging. »Ich bin dankbar, Sie gefunden zu haben«, sagte sie leise. »Ich habe eine Aversion gegen Ärzte gehabt über viele Jahre hinweg, aber Sie haben alles wiedergutgemacht.«
»Sie hatten eine schlechte Erfahrung gemacht?« fragte er.
»Mehrere. Es soll vergessen sein.« Sie hatte die Augen geschlossen. »Es wird ja ohnehin bald alles vorbei sein.«
Sie sagte es ruhig, fast gleichmütig. Und Dr. Norden wußte, daß sie mit sich im reinen war und ihre innere Ruhe gefunden hatte.
Sie reichte ihm ihre Hand, eine wunderschöne, feingliedrige Hand. »Dann bis morgen«, sagte sie mit einem Lächeln, das alle Anmut in ihr blasses Gesicht zurückbrachte.
Dreiundvierzig Jahre war Cora Novarro, und zum Sterben verdammt. Dr. Norden haderte wieder einmal mit dem unerbittlichen Schicksal, als er heimwärts fuhr.
Seine Frau Fee und seine Kinder warteten schon auf ihn. Fröhliches Leben herrschte im Hause Norden, aber er dachte noch an diese einsame, rätselhafte Frau. War sie immer so allein gewesen?
An Geld mangelte es ihr bestimmt nicht. Ob sie je einen Beruf ausgeübt hatte, war nie erwähnt worden. In den zwei Jahren, die er sie kannte, war sie viel auf Reisen gewesen. Das Haus, in dem sie lebte, hatte vorher einem Kunsthändler gehört. Mehr wußte Daniel Norden darüber auch nicht.
»Du denkst sicher wieder über Cora Novarro nach«, bemerkte Fee beiläufig, als die Kinder zu Bett gebracht waren.
»Du kannst Gedanken lesen«, stellte er fest.
»Das klappt aber eigentlich nur bei dir«, erwiderte Fee mit ihrem bezaubernden Lächeln, »und außerdem weiß ich ja, wer dich in den letzten Tagen am meisten beschäftigt. Wäre es nicht besser, sie würde in die Klinik gebracht? Sie kennt doch die Behnischs, und die alte Mathilde kann sich doch nicht so um sie kümmern, wie es nötig ist.«
»Ich kann nur staunen, wie sie noch allein zurechtkommt, obgleich sie sich manchmal kaum noch auf den Beinen halten kann. Aber morgen bekommt sie Besuch aus Hamburg.«
Überrascht blickte Fee auf. »Tatsächlich? Es gibt also doch noch Menschen, die sich um sie kümmern.«
»Ich weiß nicht, ob das nicht mehrere tun würden und sie es einfach nicht will«, sagte Daniel gedankenvoll. »Sie ist die eigenartigste Patientin, die ich je hatte. Ich kenne sie und weiß doch nichts von ihr.«
»Und wer besucht sie?« fragte Fee.
»Ihre Freundin Sophie und deren Tochter Antonia. Das hat sie mir gesagt, und es hat mich gewundert.«
»Es könnte ja so sein, daß sie meint, daß du genügend um die Ohren hast, und sie dich nicht auch noch mit ihren Privatangelegenheiten unterhalten und dir die Zeit rauben will, wie es doch so viele andere tun, die mit jedem kleinen Wehwehchen kommen.«
»Sie sind allesamt einsam, wenn sie kommen, Feelein, und es ist ihnen gar nicht bewußt, daß andere mich bedeutend nötiger brauchen.«
Fee warf ihm einen Seitenblick zu. »Du bist viel zu nachsichtig, Schatz. Andere Ärzte haben nicht so viel Geduld.«
Er lächelte. »Jedenfalls hat mir Cora Novarro heute gesagt, daß sie gegen Ärzte eine Aversion hatte und ich vieles gutgemacht hätte. Das ist doch auch was wert.«
»Sie hat dich aber früher nie über Gebühr beansprucht.«
»Und deshalb bekommt sie morgen vormittag auch eine Injektion, damit sie für ihren Besuch einigermaßen frisch ist. Darauf legt sie nämlich großen Wert.«
»Und wieviel Zeit bleibt ihr noch?«
»Es kann ganz plötzlich zu Ende gehen«, erwiderte Daniel leise. »Und ich habe das Gefühl, daß sie den Zeitpunkt selbst bestimmen will.«
»Guter Gott, du hast Ideen«, murmelte Fee.
»Sie will noch etwas zu Ende führen, was sie aus Feigheit vor sich her schob.«
»Vergangenheitsbewältigung?« fragte Fee nachdenklich.
»Es mag sein.«
*
In der vornehmen Villa im Stadtteil Blankenese in Hamburg packte Sophie Westenhold einen Koffer Sie richtete sich auf, als sie leichte Schritte vernahm. In der halboffenen Tür erschien ein zierliches Mädchen mit dunklem Lockenkopf.
»Bist du schon fertig mit Packen, Tonia?« fragte Sophie.
»Nein, warum muß ich eigentlich mit nach München?« fragte Antonia trotzig. »Ich würde lieber mit Daddy segeln.«
»Cora ist deine Patin, und sie ist krank. Ich fürchte sogar, daß sie sehr krank ist, da sie um unseren Besuch gebeten hat.«
Antonia zog einen Schmollmund. »Ja, sie ist meine Patin und hat mich mit Geschenken überhäuft, aber gesehen habe ich sie viermal in meinem Leben.«
Sophie wandte sich wieder ihrem Koffer zu. »Sie war viel auf Reisen, Kleines, und ich denke, wir sollten ihr den Wunsch erfüllen und sie besuchen. Außerdem ist in München Oktoberfest, und das ist doch für dich auch eine hübsche Abwechslung. Du kannst dich mit Dodo und Karlheinz treffen.«
Antonias Gesicht hellte sich auf. »Wenn sie in München sind«, meinte sie skeptisch. »Sie sind am Wochenende doch dauernd auf der Achse. Sie sind noch in den Flitterwochen.«
Sophie lachte leicht auf. »Ein halbes Jahr dauern die aber nicht. Du kannst beruhigt sein, ich habe schon mit Dodo telefoniert. Sie sind in München und gehen gern mit dir aufs Oktoberfest.«
»Daddy könnte doch auch mitkommen«, sagte Antonia eigensinnig.
»Es läßt seine Regatta nicht sausen«, erklärte Sophie, aber sie wußte, daß ihr Mann auch andere Gründe hatte, nicht mit nach München zu fliegen.
Jedenfalls widersprach Antonia nun nicht mehr. Karlheinz Porten war der Sohn eines Geschäftsfreundes von Victor Westenhold, und bei der Hochzeit mit der reizenden Dodo war Antonia Brautjungfer gewesen, und Dodos Bruder Jochen ihr Brautführer. Der Gedanke, vielleicht auch Jochen in München wiederzusehen, machte Antonia diesen Ausflug zusätzlich schmackhaft, denn die kranke Patin zu besuchen, war kein verlockender Gedanke gewesen.
Daß auch ihre geliebte Mami diesem Besuch mit gemischten Gefühlen entgegenblickte, ahnte Antonia freilich nicht.
*
Victor Westenhold brachte »seine Damen«, wie er scherzend sagte, zum Flugplatz. Zum Scherzen war ihm allerdings sonst nicht zumute. Er hatte mit seiner Frau noch bis in die Nacht hinein ernste Gespräche geführt, von denen Antonia nichts wissen sollte. Als er sich von Sophie verabschiedete, und sie ihn ängstlich fragend anblickte, zwang er sich aber zu einem aufmunternden Lächeln.
»Macht mir München nicht zu sehr unsicher«, sagte er.
»Schau du zu, daß du die Regatta gewinnst, Daddy«, sagte Antonia. »Ich wäre gern bei dir.«
Aber dann freute sie sich auch auf München und auf das Wiedersehen mit Dodo und Karlheinz. Zur gleichen Zeit, als sich das Flugzeug in die Lüfte hob, war Dr. Norden bei Cora und gab ihr die Injektion.
Sie geriet schnell in eine fast euphorische Stimmung, und der Arzt hatte schon Bedenken, daß sie durch die Injektion überdreht sein könnte.
Aber sie lehnte sich mit einem Lächeln in ihren Lehnstuhl zurück, in dem er sie schon angetroffen hatte, sorgfältigst gekleidet und frisiert, und sie hatte eigens eine Friseuse kommen lassen, die ihr auch beim Ankleiden geholfen hatte.
Dr. Norden hatte Marina Popp noch an der Haustür getroffen. Erkannte sie auch aus seiner Praxis, aber er hatte bisher von der Verbindung zwischen ihr und Cora keine Ahnung gehabt.
»Ein nettes Mädchen, das Fräulein Popp«, stellte Daniel Norden beiläufig fest, während er die Injektion aufzog.
»Recht tüchtig und zuvorkommend«, nickte Cora. »Sie kennen Marina?«
»Ab und zu braucht sie auch mal den Dr. Norden.«
»Das hat sie mir noch nicht erzählt. Ich ihr allerdings auch nicht, daß Sie mein Hausarzt sind. Sie sagen ihr aber nicht, was mir fehlt.«
»Wie käme ich dazu!«
»Sie erfährt es noch früh genug, wenn ich tot bin«, sagte Cora, und es klang so gleichmütig, daß ihm wieder ein Frösteln durch den Körper kroch.
»Sie sollten jetzt nicht so denken, sondern sich auf Ihren Besuch freuen«, sagte er.
»Es wird auch ein Abschied sein. Aber Sie sollen wissen, daß es eine bessere Freundin als Sophie Westenhold nicht gibt, und wenn sie Fragen an Sie stellen sollte, lieber Dr. Norden, können Sie ihr alles sagen.«
»Ich wüßte nicht viel zu sagen, liebe Frau Novarro. Sie sind für mich nach immer ein Buch mit sieben Siegeln.«
Ein flüchtiges Lächeln zuckte um ihre blassen Lippen. »Würden Sie alles über mich wissen, könnten Sie jetzt sagen, daß diese Krankheit die Strafe ist für mein flatterhaftes Leben.«
Er blickte sie ernst an. »Ich würde das nicht sagen«, erwiderte er. »Dazu weiß ich viel zuwenig über Sie.«
»Soll ich beichten?« fragte sie mit einem Anflug von Humor.
»Ich bin doch kein Beichtvater.«
»Manchmal sind das Ärzte auch, doch manche schwingen sich auch zum Richter auf.«
Er betrachtete sie forschend. »Was ich wiederum verurteile.«
Ihr Blick schweifte gedankenvoll in die Ferne. »Wenn ich damals einen Arzt wie Sie gefunden hätte, wäre wohl manches anders gekommen«, sagte sie leise. »Vielleicht bleibt mir noch Zeit, nachträglich Ihre Meinung einzuholen, aber für heute will ich Sie nicht länger festhalten. Das Wochenende sollte Ihrer Familie gehören, ganz ausschließlich, und nicht von den Reminiszenzen einer schuldbeladenen Frau belastet werden.«
»Sie hätten mir längst vertrauen können«, sagte er leise.
»Oh, ich vertraue Ihnen längst, aber ich sagte doch schon, daß ich aus Feigheit vieles verdrängte.«
»Ich kann nicht glauben, daß Sie feige sind.«
Cora blickte ihn voll an. »In einer Angelegenheit ganz bestimmt, aber jetzt habe ich wenigstens den Mut, dies zuzugeben.«
Mehr wollte sie nicht sagen. Dr. Norden spürte es. Er verabschiedete sich und sagte eindringlich, daß sie ihn jederzeit rufen könne, sollte sie sich nicht wohl fühlen.
Cora blickte ihm sinnend nach, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Alles wäre anders gekommen, wenn ich solchen Mann gefunden hätte, ging ihr durch den Sinn. Einmal hatte sie an die große Liebe geglaubt, einmal – nein, sie wollte daran jetzt nicht denken.
Sie wartete und blickte immer wieder auf die Uhr. Für sie war ja jede Stunde, sogar jede Minute kostbar.
*
Das wußte freilich Sophie Westenhold nicht. Die Maschine war planmäßig gelandet, und auf dem Flughafen herrschte turbulente Betriebsamkeit. Ferienflüge in sonnige Gefilde am laufenden Band wurden gestartet, Flugzeuge brachten Oktoberfestbesucher von weither. Und es war herrliches Spätsommerwetter, wie sie es in Hamburg selten im Hochsommer hatten.
Auf ein Taxi mußte sie auch warten, bis sie sich nach draußen vorgekämpft hatten.
»Gut, daß wir nicht viel Gepäck haben«, sagte Antonia, die sich von dem Trubel jedoch nicht schrecken ließ, während Sophie leise vor sich hin stöhnte und sich mehrmals das Gesicht abtupfte.
Da kam ein Taxi, sie stiegen ein, und Sophie nannte die Adresse, wohin sie gebracht werden wollten.
Der Taxifahrer seufzte erleichtert. »Wenigstens mal raus aus der Stadt«, sagte er, »drinnen herrscht ja das tollste Chaos. Man steht mehr, als man vorwärts kommt.«
»Dann können wir ja froh sein«, sagte Sophie, und sie war auch höchst zufrieden mit der umsichtigen Fahrweise des Chauffeurs.
Sie war noch nicht in dem Haus gewesen, das Cora vor zwei Jahren bezogen hatte, aber als die dort hielten, fragte sie sich, wie vermögend Cora wohl wirklich sein mochte, daß sie sich einen solchen Wohnsitz, den man feudal nennen konnte, leisten konnte. Der Taxifahrer dagegen konnte höchst zufrieden ein reichliches Trinkgeld einstreichen, und dann drückte Antonia auch schon auf die Klingel.
»Ziemlich pompös«, stellte sie fest, »aber auch sehr schön. Womit verdient Cora eigentlich so viel Geld? Sie hat doch keinen reichen Mann geheiratet.«
Wie zum Beispiel ich, ging es Sophie blitzschnell durch den Sinn, aber sie wußte, daß Antonia darauf nicht hatte anspielen wollen, denn sie wußte ja nichts von vergangenen Zeiten.
Schon tat sich die Tür auf. Mathilde deutete eine Verbeugung an. Sophie tätschelte ihr zur Begrüßung die Wange und sagte: »Freut mich, Sie zu sehen, gute Mathilde.« Aber sie wunderte sich, daß nicht auch Cora zur Begrüßung erschien, und mit Beklemmung dachte sie, daß diese wohl doch ernsthaft krank sein müsse.
Auf den ersten Blick sah Cora allerdings nicht so aus, denn ein Lächeln verklärte ihr Gesicht, als Sophie und Antonia eintraten.
»Herzlich willkommen«, sagte sie mit schwingender Stimme, in der aber auch ihre innere Erregung zitterte. »Ich bin noch ein wenig schwach, habt bitte Verständnis. Meine liebe Sophie«, das klang sehr innig, und Sophie küßte die Freundin auf beide Wangen, und dabei bemerkte sie mit tiefem Erschrecken, wie kalt und blutleer diese waren. Darüber konnte auch das Make-up nicht hinwegtäuschen. Ihr wurde die Kehle eng, und ihre Stimme klang rauh, als sie sagte: »Es wurde Zeit für einen Besuch, liebste Cora.«
Antonia konnte sich auch nicht einer unerklärlichen Erschütterung erwehren. Sie war ein sensibles Mädchen, und wenn auch nur wenige Worte gesprochen wurden, so spürte sie doch, welche Melancholie dieses Wiedersehen überschattete.
Nun aber richtete Cora das Wort an sie. »Antonia ist erwachsen geworden«, sagte sie leise, »eine richtige junge Dame.« Sie streckte ihr die Hand entgegen, und Antonia ergriff diese und küßte Cora spontan auf die Wange. Da färbten sich diese hager gewordenen Wangen rosig.
»Es ist lieb, daß du mitgekommen bist, Antonia«, sagte Cora leise. »Mein Gott, du warst noch ein Kind, als ich dich zuletzt sah.«
»Es war zur Konfirmation«, sagte Antonia gedankenverloren. »Du hast mir den wunderschönen Schmuck geschenkt.«
»Trägst du ihn auch?« frage Cora.
»Nur zu festlichen Anlässen. Er ist sehr kostbar. Die Uhr habe ich aber um. Sie geht auf die Sekunde genau.«
»Das will ich auch hoffen«, sagte Cora lächelnd.