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Es ist schon ein außergewöhnlicher Dialekt, das Wendsche Platt, das ausschließlich in der südsauerländischen Gemeinde Wenden noch als Alltagssprache gesprochen wird. Auf einer Fläche von nur 72 qkm hat sich über Jahrhunderte die niederdeutsche, fränkische Mundart mit eigenständigem Vokabular und Aussprache erhalten. Es ist eine Reliktmundart, die sich deutlich von den Dialekten des angrenzenden Sauerländisch, Ripuarisch, Oberbergisch und Siegerländisch unterscheidet. Es ist eine eindeutig niederdeutsche Sprache, die aber eine hohe Affinität zum mitteldeutschen Moselfränkisch des nordwestlichen Siegerlandes aufweist, mit dem das Wendener Land historisch und kulturell verbunden war. Solide sprachwissenschaftliche Analysen zum Wendschen Platt sind abgesehen von kleinen, eher unsystematischen Aufsätzen nicht publiziert. Und diese enthalten meist mehr Projektionen als Fakten. Der Autor stammt aus dieser Region und ist mit dem Wendschen Platt auch in der alltäglichen Kommunikation vertraut. Dieses kleine Buch ist nicht nur seine Reminiszens an die Sprache seiner Kindheit, sondern auch der Versuch, einen fundierten wissenschaftlichen Diskurs ins Leben zu rufen. Noch gibt es genügend Menschen, die die herbe Schönheit dieser Mundart im Alltag pflegen, vielleicht auch bald mehr, die sich ihrer auch wissenschaftlich annehmen.
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Seitenzahl: 70
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Ich widme dieses kleine Buch Karlheinz Kaufmann in freundschaftlicher Verbundenheit für sein humorvolles und aus tiefer Seele kommendes Engagement für seine, unsere gemeinsame Muttersprache, das Wendsche Platt.
Vorwort
Das Wendsche Platt – ein niederdeutscher und moselfränkischer Dialekt und ein Kulturerbe
Was ist das Wendsche Platt?
Fakten
Indizien: Das Wendsche Platt ist ein niederdeutsches Moselfränkisch
Rückschlüsse: Einzelheiten zum Wendschen Platt als niederdeutsches Moselfränkisch
Abgrenzungen zur Annahme einer „nur“ nieder- fränkischen Mundart
Einige Einzelheiten zum Wendschen Platt
Mej, das wendsch-fränkische Wir und der Bezug zum Siegerländischen
Präzisierungen
Ausgewählte Beispiele einer Spracheinheit – das „Ferndorftaler“
Historische Rückschlüsse
Einige Eigenheiten des Wendschen Platt
Gemeinsamkeiten in Lautgestaltung und Begriffen mit dem „Ferndorftaler“
Ostbergisch – ein benachbarter niederfränkischer Dialekt
Ch
statt
g
–Vergleich zu einer oberbergischen Reliktmundart
Das wendsche „scht“ – ein sprachliches Relikt?
Wendsches Platt – Sprachsystem und Methodisches
Das Wendsche Platt – eine besondere Sprache: Fazit
Literatur
Bei einem kurzen Krankenhausaufenthalt in diesem Jahr hatte ich einen Zimmernachbarn, der sich als ein waschechter Berliner herausstellte, zudem noch aus dem Arbeiterviertel im Wedding. Wir haben viel Amüsantes aus unseren Regionen erzählt, er aus Berlin, ich aus dem Südsauerland. Er selbst sprach – soweit ich das feststellen konnte – ein unverfälschtes Berlinerisch, was mich in den Gesprächen zunehmend mehr bewegte, auch etwas über unser Platt in all den Varietäten zu erzählen. Und da kam es mir gerade recht, dass irgendjemand als Dekoration im Flur ein Plakat positioniert hatte, auf dem Worte aus dem Wendschen Platt grafisch präsentiert wurden. Über einen der Begriffe war ich gestolpert. Das war nicht wendsch. Dort stand „Dungenbüchse“. Als wir beide vor dem Plakat standen, zeigte ich darauf, er las es und fragte: „Wat is det: Dungenbüchse?“ In dem Augenblick kam ein junger Mann vorbei, wie wir mit Corona-Mundschutz, und sagte im Vorbeigehen: „Dungenböasse“. Mehr nicht. Das war der richtige wendsche Ausdruck, und ich sprach ihn gleich in Platt an: „Ukk üttem Wendschen? Wou kümmesche her?“ – Eigentlich hätte ich sagen müssen, wie ich es gelernt hatte: „Wou kümmesche dannich?“ – Er drehte sich um: „Vam Ahlenhoff“, also meinem Herkunftsort, den ich 1975 verlassen hatte. Und schon waren wir im Gespräch, über Gott, die Welt und seine Leute in Altenhof - und in Platt. Und der Berliner staunte…
Warum schreibe ich dieses kleine Buch? Zum einen bin ich bei meinen Recherchen über die frühe Geschichte meines Herkunftsortes „Höëwingen“, also Altenhof, darauf gestoßen, dass das Wendsche Platt ein wichtiger historischer Indikator für die weitgehend schriftlose Zeit im Wendener Land ist, zum anderen habe ich festgestellt, dass es nur wenig wirklich bedeutsame Veröffentlichungen über diese besondere Sprache gibt, auch wenn gerade in den letzten Jahren viel in Wendschem Platt geschrieben wurde. Vor allem ist hier Karlheinz Kaufmann aus Hillmicke zu nennen, der in seiner humorvoll-kauzigen Art, aber auch mit einem weiten, solidarischen Herz präzise über Gegenwart und Vergangenheit im Wendschen spricht und schreibt. Hingegen sind die eher sprachwissenschaftlichen Beiträge dünn gesät. Und dann häufig von Personen verfasst, die z.B. sich aus der Ferne des Münsterlandes über die Wendsche Sprache auslassen, mit der Folge, dass sie dabei auch viel Falsches oder falsch Hergeleitetes verbreiten. Abgesehen von Werner Beckmann habe ich keinen Sprachforscher gefunden, der sich wirklich ernsthaft der Sprache der Wendschen angenommen hat.
Als ich dann in den Heimatstimmen von 1939 eine Rezension von Norbert Scheele fand, der darauf hinwies, dass die „Mundart des Amtes Wenden … gegenüber der platten Sprache des übrigen Kreises Olpe scharf absticht“ und daher eigentlich eine besondere Untersuchung „ueber die singende und klingende Mundart des Amtes Wenden“ erstellt werden müsse, war mein Entschluss gefasst: ich versuche es. Und dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Wendsche Platt als eine Reliktmundart „niederdeutsches Moselfränkisch“ ist, ein Begriff, den es noch nicht gibt und der auch nur ein Arbeitstitel ist. Ich weiß, dass dies zunächst eine steile These ist, die ich aber im Laufe meiner Ausführungen m.E. genügend unterfüttere. Sprachwissenschaftler könnten sich dieser These annehmen und – ähnlich wie für das niederfränkische Oberbergische als Ostbergisch – einen eigenen Namen finden, der die Besonderheit dieses Ausnahmedialekts analytisch und empathisch zum Ausdruck bringt.
Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Klassenkameraden und Ko-abiturienten von vor 50 Jahren Stephan Niederschlag aus Möllmicke, einem wendschen Muttersprachler wie er im Buche steht, auch wenn es dieses Buch noch nicht gibt, für seine Unterstützung.
Drolshagen, im Herbst 2021
Walter Wolf
In unserer Abschlussklasse zum Abitur vor 50 Jahren gab es immer wieder einen scherzhaften Disput zwischen Raimund Quieter, katholischer Religionslehrer und Ur-Wendscher1, der auch mit den wendschen Jungs in unserer Klasse Platt sprach, und Bodo Thieme, evangelischer Religionslehrer, aus Berlin stammend. Als dieser eines Morgens in ein solches Gespräch kam, merkte er scherzhaft an: „Was sprechen Sie denn hier für eine unkultivierte Sprache?“ – Raimund Quieter schmunzelte und sagte zu uns: „Dä veaschteaht uk nix, me müchte’n mitm Kopp em Finschtern rütthaalen un dann losslooten.“ – Ob Bodo Thieme es verstanden hatte, weiß ich nicht, jedenfalls zog er grinsend und Kopf schüttelnd davon.
In dieser kleinen Episode werden mehrere Sachverhalte deutlich, die den Stellenwert des Wendschen und seinen Charakter näherbringen. Zum einen ist es eine eigene Sprache, die wie vielfach der Dialekt die Dialektsprecher als eine Gemeinschaft über Sprache verbindet. Zum anderen auch die oft von Hochdeutsch Sprechenden und lange Zeit auch von den Plattsprechenden angenommene Minderwertigkeit der plattdeutschen Mundart. Nicht zuletzt wird so auch oft ein Stadt-Land Gegensatz hergestellt.2
1 So werden Menschen aus dem Wendener Land genannt. Was hochdeutsch und in Schriftsprache „Wendener“ heißt, wird dort „wendsch“ genannt. Ein alteingesessener Einheimischer würde sich nie als „Wendener“ bezeichnen, sondern eben als „Wendscher“. Die Ortschaft „Wenden“ heißt im Platt „Wengen“, dementsprechend ist eine aus Wenden stammende Person ein „Wengener“.
2 Auf die Bestrebungen Preußens, das Niederdeutsche als minderwertig zu unterdrücken, kann ich hier nicht eingehen. Dabei ist es durchaus möglich, sowohl Alltägliches, Belletristisches als auch Wissenschaftliches im Platt auszudrücken, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Zum einen gibt es im Platt bedeutend weniger Substantivierungen, die daher adäquat über Prozessbeschreibungen zu formulieren sind. Zum anderen muss man wie in der hochdeutschen (Dach-) Sprache auch bereit sein, Fachbegriffe aus anderen Sprachen (klassisch aus dem Latein, später auch französische und jiddische, neuerdings eher englische Begriffe) zu übernehmen. Das Platt hat immer schon neue Erscheinungen in den Sprachkontext aufgenommen, wie das klassische Beispiel der baumbestandenen Straße, der Chaussee, zeigt, die im Wendschen einfach „die Schussee“ war. Der seinerzeit in der deutschen Hochsprache benutzte Begriff der „Kunststraße“ wurde nicht übernommen. Konsequent nennt Peter Bürger seine im Internet verfügbaren sauerländischen Texte „daunlots“. Der Newsletter des Vereins zur Förderung von Dorfgemeinschaftsaufgaben in Altenhof e.V. wird “Höëwinger Tijdung” genannt, ohne einen Anglizismus zu benutzen.
Schon an anderer Stelle habe ich aufgrund generell fehlender schriftlicher Dokumente in den Schritten Fakten, Indizien, Rückschlüsse und Vermutungen die Herkunft, den Charakter mit allen Eigenarten und die Verbindungen des Wendschen Platt erarbeitet. Bei diesem Dialekt handelt es sich um eine ausschließlich im Bereich der Gemeinde Wenden gesprochene Mundart, die sich von den benachbarten Dialekten auffällig und ausdrücklich unterscheidet.
Betrachtet wird der Dialekt als ein Sprachsystem, das, allgemein gesprochen, aus einer bestimmten Menge an sprachlichen Einheiten und Regeln besteht. Dazu gehört der Wortschatz, das Lautsystem und die Grammatik. Bei der folgenden Analyse wird ein besonderer Wert auf die Herkunft der Sprache gelegt, die in den Zusammenhang mit Elementen der kulturhistorischen Entwicklung der Region gebracht wird. Dabei wird auch auf die an den Grenzen und innerhalb der Gemeinde verlaufenden Isoglossen3 zurückgegriffen.
Zu den Fakten gehört zunächst einmal, dass das Wendsche Platt eine niederdeutsche Mundart ist, die die zweite Lautverschiebung nicht vollzogen hat. Dies hat es mit den weiter nördlich gesprochenen Dialekten des Olper und Drolshagener Platt gemeinsam. Anders als diese ist es jedoch keine Westfälische Mundart, da kein Einheitsplural festzustellen ist. Dieser besagt, dass im Westfälischen die Verbformen im Plural, also wir, ihr, sie, gleich sind. So sagt der Drolshagener: „fi makent, i makent, sei makent“ während es im Wendschen heißt: „mej maken, ej maket, se maken“. Insofern liegt das Wendsche Platt außerhalb, genauer südlich der Westfälischen Linie.
Das Wendener Land liegt nördlich der Benrather Linie