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Wenn in einem kleinen südsauerländischen Dorf bei 800 Einwohnern fünfzig zum Teil über Jahrhunderte übliche Beinamen heute noch gebraucht werden, zeigt dies, wie differenziert und gleichzeitig geschichtsbewusst ein Dorfsystem sich aufgestellt hat. Der Autor, der selbst in diesem Dorf aufgewachsen ist, hat die Beinamen gesammelt und stellt in diesem Buch sowohl eine historische Analyse, die in einigen Fällen bis in das 15. Jahrhundert zurückgeht, als auch sprachwissenschaftliche Untersuchungen vor. Dabei greift er auch auf die Besonderheiten des örtlichen Dialekts zurück und weist auf, dass gängige Erklärungen zur Bildung der Familien- und Beinamen für das Niederdeutsch des Wendschen Platt nicht greifen. Die Recherchen ergaben auch ungewöhnliche Einblicke, wie die historische Namensbildung bei Bei- und Familienamen auch auf Nennungen des niedrigen Adels oder des Ostjudentums zurückgreift und damit Sprachfossilien für weitere Forschungen anbietet. Ein spannendes Lesebuch und zugleich wissenschaftlich fundiert.
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Seitenzahl: 216
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Walter Wolf, Jahrgang 1951, Studium der Pädagogik, Soziologie, Psychologie und Katholischen Theologie; bis zum Ruhestand Bildungsarbeiter und Leiter von Bildungshäusern; 50 Jahre ehrenamtlich im sozialen, verbandlichen und kirchlichen Bereich, zuletzt als Geschäftsführer und Referent im Heimatverein für das Drolshagener Land.
Veröffentlichungen vor allem zu innovativen konzeptionellen Themen. Diverse Fachartikel zu regionalen, politischen und historischen Themen. Zuletzt „HeimatNeuDenken“ (BoD 2021), „Pemberdayaan – Eine Lebensgeschichte“ (BoD 2021), „Höëwingen – Frühe Geschichte eines Dorfes“ (BoD 2021), „Das Wendsche Platt – Eine Ermittlungsreise“ (BoD 2021); „Der Junge vom Dorf“ (BoD 2022). Diverse Fachartikel in den Heimatstimmen für den Kreis Olpe, u.a. „Plattdeutsch – eine vollwertige Sprache“, „Wie der Wald mir in die Seele scheint“. Derzeit in Arbeit: Systematik des Wendschen Platts. Referententätigkeit im Heimatverein für das Drolshagener Land.
Ein Wort zuvor…
Einführung
Systematik der Familien- und Beinamen
Gründe für die Bildung von Beinamen
Die Bildung der Beinamen
Wortbildung und Grammatik der Beinamen
Die Ableitungen der Familien- und Beinamen
Ableitung aus Rufnamen
Ableitung aus Berufsnamen
Ableitung aus Übernamen
Ableitung aus Ortsnamen
Ableitung aus Wohnstätte
Ableitung aus Spitznamen oder Eigenschaften
Grammatikalische Eigenheiten
Die Besonderheit des Genitiv-s
Die Familiennamen in den Kirchenakten
Grammatik der Beinamen im Wendschen Platt
Die Schlüsselfrage im Wendschen Platt
Beinamen in Altenhof und Girkhausen
Ableitungen aus Wohnstättennamen
Ableitungen aus Rufnamen
Ableitungen von Berufsbezeichnungen
Ableitungen von Herkunftsbezeichnungen
Ableitungen von Körper / Charaktermerkmalen
Ableitungen von Familiennamen, die aus dem Dorf verschwunden sind
Beinamen in Altenhof
Familien- und Beinamen in Girkhausen
Besonderheiten bei Familiennamen
Busenhagens
Hees
Klurs
Pampuses - Pampeses
Familiennamen in Altenhof /Girkhausen
Fazit
Namensregister
Erläuterungen – Worterklärungen
Literaturverzeichnis
Dieses Buch ist noch nicht fertig. Warum?
Als ich für mein Buch „Der Junge vom Dorf“ begann, die Bewohner meines Herkunftsortes Altenhof aufzuzählen, stellte ich fest, dass ich sie nur mit den damals geläufigen Beinamen benannte, aber auch präzise erfassen konnte. Zwar kannte ich die offiziellen Familiennamen, aber die Beinamen waren mir auch nach mehr als fünfzig Jahren geläufiger. Da beschloss ich, diese zusammenzustellen, sie nach ihrem Ursprung zu befragen und die Begründung, warum sie gerade so lauten, zu finden. Es kamen über 50 verschiedene Namen zusammen, die es nun genauer zu analysieren galt. Und ich wollte sie „retten“, bevor sie in Vergessenheit gerieten.
Nachdem ich diesen Teil fertig hatte, nahm ich die gleiche Untersuchung auch für die zum Referenzzeitpunkt aktiven 28 Familiennamen vor, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits im Dorf etabliert waren. Als dann in dem Arbeitskreis der Gemeinde Wenden, der sich seit diesem Jahr ebenfalls mit den Beinamen in den Dörfern befasst, die Notwendigkeit erkannt wurde, dass auch von unserem kleinen „Zwillingsdorf“ Girkhausen die Bei- und Familiennamen erfasst werden sollten, habe ich das übernommen. Selbstverständlich, so erkannte ich, gehören diese auch in meine Untersuchung.
Wissen wollte ich auch, wie generell Bei- und Familiennamen entstanden sind und was die ursprüngliche Bedeutung und Funktion war. Daher habe ich einen theoretischen Teil vorgeschaltet, damit der Leser ein System oder eine Blaupause für die danach folgenden Untersuchungen der Namen bekommt.
Die Analyse der Namen habe ich fast ausschließlich über öffentlich zugängliche Dokumente wie die Matrikel der Pfarrgemeinde Wenden oder die Akten des Standesamtes Wenden – soweit sie eben dem Datenschutz entsprechend offenlagen - erarbeitet. Dabei ergab sich eine nicht zu überwindende Schwierigkeit. Für die Matrikel der Pfarrgemeinde hörten die öffentlich einsehbaren Aufzeichnungen 1920 auf, für die Standesamtakten gab es keinen Zugang zu den Geburten, zu den Trauungen nur bis 1900 und das Sterberegister endete 1938. Das waren aber zu wenig Informationen, um ein bis in die Referenzzeit von 1960 reichendes Register, auch über Familienzusammenhänge, zu erstellen. Damit geht einher, dass ich auch keine Vorlage zur Ahnenforschung geben will und kann.
Immer wieder war ich erstaunt, wie viele Informationen und Zusammenhänge erkennbar wurden, wenn ich die Dokumente Mal um Mal neu durchforstete. Und auch, wie hilfreich einzelne Gespräche mit heutigen Altenhofern waren, die mir manche Klärung brachten. Stellvertretend für diese nenne ich hier Rita Peukert, Siegbert Henkel, Bernhard Klein und Mechthild Haandrikmann.
Da ich mich also nahezu nur auf die begrenzt einsehbaren Dokumente und meine eigene Erinnerung verlassen musste, mag vielleicht auch der eine oder andere Fehler, die eine oder andere falsche Zuordnung vorkommen. Ich bitte, dies bereits jetzt zu entschuldigen, wüsste aber gerne, wie es „richtig“ ist.
Und ich habe versucht, meinem Anspruch auf nachvollziehbare und begründbare Fakten zurückzugreifen, gerecht zu werden. Gleichzeitig sollte es kein rein wissenschaftliches Werk werden, sondern für alle lesbar und im Alltag brauchbar. Und ich wollte den Schatz der Erkenntnisse, die meiner Generation noch vorliegen, auch für kommende Zeiten bewahren.
Hilfreich war dabei, selbst „Junge vom Dorf“ (gewesen) zu sein, dem Personen, Namen und Zusammenhänge noch vertraut sind. Der Namensforscher Adolph Bach hat diesen Anspruch folgendermaßen formuliert1: „Wer deutsche Personennamen, vor allem Familiennamen, verstehen und sprachlich deuten will, hat nach alledem, um sicher zu fahren, von der Mundart der Sprachlandschaft auszugehen. Ohne sichere Kenntnis der landschaftlichen Gestaltung der dt. Sprache in Vergangenheit und Gegenwart in Wort und Schrift, ohne Vertrautheit mit dem Laut- und Formenbestand, mit dem Wortschatz, seiner Bedeutung und Geographie, mit der Wortbildung der einzelnen deutschen Landschaften kann deutsche Namenskunde wissenschaftlich nicht zuverlässig betrieben werden. Denn ohne die Beherrschung der genannten Gebiete wird der Namensforscher im Sprachlichen stets bedenklichen Irrtümern ausgesetzt bleiben und nicht Wissenschaft zu betreiben, sondern nur auf Abenteuer auszugehen vermögen, bei denen er auf Schritt und Tritt stolpern und scheitern muss“2.
Am Ende habe ich noch einmal eine Zusammenstellung der wichtigen Fachbegriffe und ihre Erläuterungen angefügt sowie ein Glossar zu den Namen erstellt. Wer also einen bestimmten Namen sucht, wird dort schnell den Ort ausmachen können, wo er mehr erfahren kann.
Dieses Buch ist noch nicht fertig. Es sollte von anderen, die sich auch erinnern, die noch Dokumente aus der eigenen Familie (z.B. Familienstammbücher) oder andere Unterlagen besitzen, weitergeführt werden. Vielleicht bildet sich ja auch ein Arbeitskreis, der dies weiterverfolgt. Es wäre an der Zeit, da wir „Alten“ ja die letzte Generation sind, die dazu aus eigener Erfahrung berichten können.
Drolshagen, im September 2023Walter Wolf
1 Die Betonung des „deutsch“ ist der Zeit geschuldet, in der dieser Text entstand. Nicht destotrotz gehört er zu den klassischen Grundlagen der Namensforschung.
2 Bach, Adolf „Deutsche Namenkunde“ Bd I Die deutschen Personennamen; Berlin 1943; Neuauflage 1953 ; S. 24
An unsere Verwirrung als Kind in den fünfziger Jahren kann ich mich heute noch gut erinnern, als jemand zu uns ins Dorf kam und einen Alfes suchte. Alfes? Ja, hatten wir gehört, kannten auch einige Familien die diesen Familiennamen trugen, aber welche waren gemeint? Wir kannten sie nur unter den Beinamen als Clösers, Schächs, Pampuses, Halben, Mëjnards, den langen Rudi. Gemeint war damals der über die Dorfgrenzen hinaus bekannte Fußballer Hubert Alfes, aber den kannten wir nur unter „Hüppes“.
Damit ist die kleine Studie zu den Bei- und Familiennamen in meinem Herkunftsort eröffnet und zeigt gleichzeitig umfassend, um was es geht. Wir kannten den Vornamen Hubert, aber auch den Rufnamen, der typisch Wendsch „Hüppes“ lautete. Wir wussten um den Familiennamen Alfes, und wir kannten die Beinamen, die bei uns – linguistisch nicht korrekt – ebenfalls Rufnamen hießen, also, wie man die Familienmitglieder rief.
Im Folgenden werde ich zunächst die Entstehung der Familien- und Beinamen in einer kurzen Systematik vorstellen, anschließend zunächst die Beinamen, dann die Familiennamen aufführen, wie sie zu einer von mir gewählten Referenzzeit Ende der Fünfzigerjahre in Erinnerung sind. Soweit es geht, werde ich sie in der Systematik, der Herkunft und der Bedeutung erläutern und zum Schluss einige Familien- bzw. Beinamen, die exemplarisch für bestimmte Entwicklungen sind. Die Recherchen zu den beiden Namen „Pampuses“ für meine Oma und „Klur“, dem Namen meines Opas, haben zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen geführt, die aber – so viel darf ich schon sagen – zu wirklichen Überraschungen geführt haben. Der Beiname „Busenhaans“ und der Familienname „Hees“ zeigen weitere Besonderheiten auf.
Wer ist Lotte, Ella oder – jetzt wird es klar - „Bunte“? Oder Asta oder Purzel? Das erste sind Namen unserer Kühe, mit den anderen wurden Hunde zu meiner Kinderzeit im Dorf gerufen und damit die Tiere von anderen unterschieden. Nun kommt die Benennung von Menschen nicht von den Tieren her, sondern umgekehrt, aber es liegen die gleichen Beweggründe vor: ein Mensch, ein Mann, eine Frau, ein Kind bekommen einen Namen, damit sie unverwechselbar, oder, vielleicht auch praktischer gesehen, ansprechbar sind und man weiß, über wen man gerade spricht. Wir können davon ausgehen, dass Menschen, seit sie sprechen können, einen Namen haben und Namen geben, es gehört zum Menschsein einfach hinzu. In der Bibel im Buch Jesaja heißt es: „Siehe, ich habe deinen Namen in meine Hand geschrieben“, womit die Einzigartigkeit der Person über den Namen ihren religiösen Ausdruck bekommt. Mit seinem Namen ist jemand identifizierbar, unverwechselbar, individuell - solange es nicht zu viele Menschen mit dem gleichen Namen gibt. Hätte man um 1700 einen Heinrich gerufen, und es gab in der Zahl der Kinder einige mit demselben Namen (heute könnten es auch Paul oder Kevin sein), weiß das Kind nicht, dass es gemeint ist – oder weiß es, aber reagiert nicht. Es gibt ja noch mehr Heinrichs. Damit sind wir mitten in der Geschichte.
Seit dem 8. Jahrhundert sind im deutschen Sprachraum erste biblische, zunächst alttestamentliche Rufnamen in Gebrauch, verbunden mit der Taufe auch als Taufname erkennbar. Später auch die neutestamentlichen Namen, die für unsere Region dominant wurden. Wer sich die Kirchenbücher der St. Severinus Gemeinde Wenden anschaut, wird feststellen, dass es vom 17. bis 19. Jahrhundert bei den Männern überwiegend Johannes, Heinrich, Joseph und Peter gibt, immer wieder auch mit einem zweiten Namen als Johann Heinrich, Heinrich Johann oder Josef Peter. Bei den Frauen sind es Anna, Elisabeth, Maria, Catherina und die Varianten dieser Namen. Zudem werden den Kindern auch die Namen der Mütter und Väter, aber häufig auch der Taufpaten gegeben. Selten sind es andere Namen wie Xaver, Timotheus, oder Dionysius, in anderen Fällen, wie ein Mann aus Büchen, der die Vornamen Caspar Melchior hat und dann den polnischen Nachnamen Przybylski, den der Pfarrer im Kirchenbuch regelmäßig korrigieren muss. Bei den Frauen kommen auch Namen wie Luckele oder Merge4 vor, und wie in einem Fall, den ich später genauer ausführe, auch die Übertragung eines Frauennamens auf das Kind, das dann Lückele Hannes Arns, nach seinen Eltern benannt wird. Dieser Mann wird später noch Bedeutung gewinnen.
Es ist nun festzustellen, dass mit der Übernahme der biblischen Namen eine Engführung erfolgt, sodass es innerhalb eines Dorfes oder einer Gemeinde eben viele Johannes gibt, und da gerade im ländlichen Bereich die Mobilität nicht sehr groß war – für das Mittelalter geht man insgesamt von 15% aus, die sich aus der unmittelbaren Umgebung herausbewegen, während 85% regional gebunden bleiben - verdichten sich bestimmte Familiennamen, in meinem Herkunftsort zum Beispiel Rademacher oder Wurm. Was sagt man vom Wendschen? „Hä kläabet mim Äas an der Frase“. Das muss ich nicht übersetzen.
Mit der Zunahme der biblischen Namen und gleichzeitig einer starken Schrumpfung des Rufnamenbestandes wurde es wichtig, Personen mit dem gleichen Namen zu identifizieren. Hinzu kommt die zunehmende Verschriftlichung, die das noch notwendiger machte. So wurden zunächst den Rufnamen Zusätze beigefügt, Beinamen gegeben. Diese verweisen auf den Wohnort einer Person oder die Wohnstätte innerhalb eines Ortes, auf den Rufnamen des Vaters oder der Mutter, den Beruf, die Herkunft oder Körper– bzw. Charaktermerkmal der Person (sogenannte Übernamen). Diese Beinamen sind noch nicht erblich, eigentlich auch keine wirklichen Namen, sondern sogenannte Appelative, Eigenschaftsbeschreibungen einer Person, die erst später zum Familiennamen werden, auch wenn die Eigenschaft oder der Beruf der erstgenannten Person, sei es ein Schneider oder ein kleiner Mann, ein Kurz, für die Nachkommen nicht mehr zutrifft. Aus der Beschreibung einer Eigenschaft oder Herkunft, eines Berufs oder dem Namen des Vaters wird nun ein fester Name, eben der Familienname, der nun erblich wird. Mit dem Familienamen, der immer vom Mann ausgeht, wird die verwandtschaftliche Linie erkennbar festgelegt, aber auch rechtliche Ansprüche und Verpflichtungen vereindeutigt.
Nun kommt der nächste Schritt. Innerhalb eines Dorfes oder der großen Kirchengemeinde, die die Ausdehnung des ehemaligen Amtes Wenden hat, vervielfachen sich die Familiennamen und bei der geringen Varianz der Rufnamen gibt es ebenso viele gleichlautende Namen. Es kommt durch die überwiegende Binnenwanderung zu einer Häufung bestimmter Familiennamen, die unter anderem dazu führen, dass sich der Name Koch beispielsweise bis heute sehr stark auf Hünsborn konzentriert. „In jedem Loch ein Koch“, heißt es dort heute noch. Für Altenhof sind es u.a. die Namen Rademacher, Alfes, Wurm. Um nun aber eine Familie und innerhalb der Sippe Personen identifizieren zu können und sie von anderen gleichgenannten abgrenzen zu können, braucht es ergänzende Informationen. So kommt es zu den Beinamen, die in diesem Schritt wie vordem gebildet werden, also von Rufnamen abgeleitet, von Wohnstätten oder Herkunft, von Beruf oder persönlichen Eigenschaften. Bei den Beinamen im Dorf müssen wir eine weitere Kategorie hinzunehmen, nämlich der durch eine Heirat verschwundene Familienname, der aber in der Alltagssprache immer noch präsent ist und zum Beinamen wird.
Wenn ich nun einen Sprung in die Referenzzeit der späten Fünfzigerjahre mache, wird es deutlich. Zu diesem Zeitpunkt haben fast alle Familien, zum Teil auch die Häuser einen Zusatznamen, einen Beinamen, wenn es diesen Familiennamen öfter im Dorf gibt. Nicht so, wenn dieser Name nur einmal vorkommt. Dies war z.B. mit dem Namen „Klur“ meines Opas der Fall. Klurs hatten keinen Beinamen, gab es doch seit Anfang des 19. Jahrhunderts nur die Klurs, die in dem allen bekannten Haus Nr. 15 der Klurs wohnten. Auch Zugezogene, deren Familiennamen nicht bereits im Dorf gebräuchlich waren, bekamen keine erweiterte Bezeichnung. Schirbaum blieb Schirbaum, Greises blieben Greises, aber auch Schönauers blieben Schönauers. Der Versuch, meinen Vater mit Nachnamen Wolf zeitweise als Klurs Peter zu bezeichnen, lief ins Leere. Wolf gab es nur einmal im Dorf und wir waren nicht so bedeutend, dass man eine Differenz zu anderen hätte aufbauen müssen.
Mit der Hinzufügung der Beinamen wurden die Bezeichnungen dreigliedrig, also individueller Rufname, gleichzeitig Taufname, männlicherseits vererbter Familienname und der zusätzliche Beiname, der nicht vererbbar war, aber ebenfalls zur genaueren Identifizierung der Familie weitergebraucht wurde. Beinamen waren der dominante Teil der Alltagssprache, nach denen man sich im Dorf richtete. Auffällig ist auch, dass der Standesbeamte bei der Gemeinde Wenden zur Identifizierung einzelner Personen auch die Beinamen in den Akten vermerkt. Er fügt diesen in Klammern und einem vorgesetzten Doppelpunkt hinter den Familiennamen an wie z.B. „(:Schäch)“.
Zunächst gilt auch für die Bildung der Beinamen die gleiche Systematik, die wir von den Familiennamen her kennen. Dies werde ich nun systematisch aufführen, wobei auch Dopplungen auftreten können5.
Die Familien Weber, die auf dem Fußweg nach Wenden am Dorfrand wohnten, wurden – ich schreibe dies nun so, wie es seinerzeit ausgesprochen wurde – „Wintrhaaner“ genannt, die Leute, die am „Wintrhaan“, hochdeutsch am „Winterhagen“ wohnten. Noch Personen meiner Generation, wie der ein Jahr jüngere und früh verstorbene Willi, war „Wintrhaaner Willi“, nur in der Schule der Willi Weber. Die Familie Schneider am anderen Ende des Dorfes wohnte in der Gemarkung, die im Dorf nur „dä Buukhaan“ – der Buchhagen, also der Buchenwald, genannt wurde. Diese waren die „Buukhaans“. Es gab mehrere Familien Schneider im Dorf, die auch nicht unmittelbar miteinander verwandt waren. Hier also die Abgrenzung zu den anderen.
Auch die „Althusen“, die „aus dem alten Haus“, oder „Inken“, die aus dem schlechten Platz, dem Winkel, kommen, verweisen auf eine Wohnstätte. Ebenfalls gehören ehemals im Dorf häufig vorhandene Namen wie „Butzkamp“6 oder aktuelle wie „Ejkoweses“ (Eichhofs) oder „Holtroweses“ (Holterhofs) in diese Kategorie.
Die männliche Variante der von Rufnamen abgeleiteten Beinamen ist häufig im Dorf zu finden. Hier gibt es „Mertens“, die Leute des Martin, „Lenards“, die des Leonhard, die „Fernands“, die „Henners“, die „Ewalds“, die „Ottoches“, die „Röttches“, die „Clösers“, die „Pejters“, die „Mëjnards“ und die „Stoffels“. Auf Frauennamen gehen „Jennen“ und „Minches“, „Lisenians“ und „Nëjsers“ zurück.
Hier sind „Schusters“ zu finden ebenso wie „Deckers“ oder „Dechers“, aber auch „Scholzen“. Vielleicht auch der Beiname „Bünseler“.
Hier fällt zuerst der Name „Solingers“ auf, aber auch die beiden Familien, die als Beinamen „Valberts“ führten. Und eine Frau wurde mit ihrem Herkunftsort bezeichnet: das „Tikhuser Thrëischen“, verheiratete Kruse, genannt „Röttches“. Auch die „Bröiner“ Familien mit dem polnischen Nachnamen Przybylski, die an der Hardt wohnten, und die schon in den Kirchenbüchern als von „Breune“1, also Brün stammend, benannt wurden.
Gut nachvollziehbar ist der Name der „Krusen“, der „kraushaarigen“, was im Wendschen auch „Krüll“ lauten könnte, wie auch der von „Stramms“7. „Wackers“ sind ebenfalls in dieser Kategorie zu finden, bezieht sich doch der Familienname auf das mittelniederdeutsche „wacker“ als wach, munter frisch.
Manch ein Name ist offiziell aus dem Dorf verschwunden, als Familienname existiert er nur noch in historischen Bezügen und Dokumenten. Aber das Gedächtnis einer Sprache, auch der Alltagssprache, ist ausgeprägt. Und so gibt es die „Süß“, die eigentlich Niklas heißen, und den früheren Namen einer Katharina Süß aus Wildenburg, die 1869 einen Hubert Niklas aus Ottfingen8 geheiratet hat, weitertragen. Das gleiche gilt für Althusen, der Name Althaus, zum Teil auch als „Althusen“ in den Kirchenbüchern geschrieben, für die, die sich Schneider schreiben, für „Ejkoweses“, die heute Siedenstein heißen, und für die „Pampuses“, deren Herkunft ich weiter unten ausführlicher darstelle. Auch „Busenhaans“, die in den Kirchenbüchern als „Busenhagen“ bezeichnet werden und die „Quastens“ (sprich „Quaschtens“) heißen eigentlich Schmidt.
Eine weitere unerwartete Besonderheit weisen „Stohlacken“ auf, die alle Brüser heißen. Hier handelt es sich um einen Beinamen, der, wie mir ein jüngeres Familienmitglied mitteilte, den Namen des Erbauers des „neuen“ Hauses wohl Anfang des 20. Jahrhunderts aufnahm und der den autochthonen Drolshagener Namen „Stahlhacke“ trug. Dieser Name wurde auf die Bewohner übertragen, auch wenn sie in dem älteren, angestammten Haus wohnten.
Solche Familiennamen, deren Mitglieder weitgehend eindeutig zu identifizieren sind, werden auch im Dorf „im Original“ weiter benutzt. Dazu gehören Scheppen (bis auf Pejters), Göbels, Holterhofs („Holtroweses“), Dornseifers, Halben, Solbachs, Webers, Henkels, Schönauers, Schirbaums, Greises, Klurs, Arns‘, Schragen, Blattners, Wilmes, Böhlers (die auch z.T. als „Stahls“ bezeichnet werden), Beckers, Falkenhahns, Peukerts und Wolfs.
Wie bereits erwähnt, wurden zunächst gebräuchliche Beinamen zu festen, vererblichen Familiennamen. Eine vergleichbare Entwicklung ist auch für die Beinamen festzustellen, auch sie werden weitergegeben wie zweite Familiennamen, wenn auch nicht unbedingt schriftlich und mit deren Rechtscharakter. Und vor allem dominieren sie die Alltagssprache. So wird der bis heute gebräuchliche Beiname „Pampus“ am 13. 07. 1710 im Verzeichnis der Trauungen in den Kirchenbüchern der St. Severinus Kirchengemeinde bei einem Johannes Arntz vermerkt9, wie auch beim Tod seines Sohnes der Zusatz „des Pampus sohn“ aufgeführt. Das gleiche gilt für einen Johannes Butzkamb aus Altenhof, für den bei seiner Trauung am 15.05.1695 mit Helena Niclas der Zusatz „der Cläser“ eingetragen ist10. „Cläser“, oder wie in den Fünfzigerjahren „Clösers“, ist ein bekannter Beiname in Altenhof, einer Familie, die sich Alfes schreibt. Diese wiederkehrende Benennung mit dem Beinamen erleichtert es beim heutigen Recherchieren, bei den vielen gleichen Familiennamen auch die Verwandtschaften über Generationen hin zu verfolgen, zeigt aber auch wiederum das Gedächtnis der Alltagssprache, hier des Wendschen Platts. Die Nennung des Beinamens ist schon bedeutend, da sie aussagt: „Eigentlich heißt dieser Mann nicht so, aber seine Umgebung pflegt ihn so zu nennen“11.
Die Bildung von verbindlichen und vererbbaren Familiennamen verzögert sich im ländlichen Bereich, wie sich aus der Aufzeichnung der Taufe einer Margaretha am 26.04.1671 zeigt, bei der der Name des Vaters mit „Jacob von Altenhof“12 festgehalten ist. Das gleiche gilt für einen Mann, dem in den Kirchenbüchern als Familienname „Altenhof“ gegeben wird, der gleichzeitig in Altenhof gewohnt hat. Dieser hat den Zunamen „der Krieger“, sodass er über „Johann der Krieger aus Altenhof“ zu identifizieren ist13. Offensichtlich sind die Beinamen wichtiger, gerade im alltäglichen Umgang.
Bei anderen Eintragungen wie die vom 23.02.1676 wird bei dem einem Heinrich als Familiennamen sein Wohnort Brün angegeben, als Beiname allerdings die Wohnstätte „auf dem Seifen“14. Bei weiteren, wie dem Eintrag vom 05.02.1651 bei der Taufe eines Gerhard, werden alte Ortsnamen benutzt, der in diesem Fall noch „unter den Büchen“ lautet und die Herkunft des Vaters Peter („u.d.Büchen“) mit „von Hüpen“, also vom Nachbarort Huppen, gekennzeichnet wird15. Der Beiname „Höüpen“ war uns als Kinder geläufig, bezeichnete er doch seinerzeit den Kohle- und Landhandel der Brüder Arns aus Gerlingen. Ebenso gab es den Familiennamen „Hüpe“ in Gerlingen und Elben.
Auch Berufsbezeichnungen wurden als Beinamen eingetragen wie „der Küster“ für einen Heinrich Arents, der am 06.08.1651 sein Kind taufen lässt16, wie auch zum 13.07.1651 ein Josef Brenner, der den Beinamen „bubulcus“, Ochsenknecht17, erhielt und am 12.5.1698 ein Johann Brüser mit „genannt der Moller “18 zu identifizieren ist.
3 Vgl. Fähndrich (2009), in: in: Familiennamen im Deutschen – Erforschungen und Nachschlagewerke, Hrsg. Hengst, Karlheinz und Krüger, Dietlind Leipziger Universitätsverlag 2009; S. 109
4 Eine Form von Maria, die über die zweisilbige Form der Marja in der damaligen Sprachlogik zu Merge wurde.
5Eine Aufstellung der Beinamen, ihre Herkunft und Bedeutung werde ich an anderer Stelle vornehmen.
6Der am Brunnen (Pütz) in/ bei einer umfriedeten Wiese (Kamp) wohnende.
7 Grimm, Jacob und Wilhelm - Deutsches Wörterbuch - digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, „stramm“-„hochaufgerichtet, gerade, in aufrechter, steifer haltung; abgewandelt zu 'starr, steif, rigidus' Bd. 19 Spalte 829;
8 Matrikel St. Severinus Wenden KB013-02-H vom 1. Januar 1862 bis 1. Januar 1935; H 0028
9 Matrikel St. Severinus Wenden KB002-03-H von 01. Januar 1691 bis 1. Januar 1745; H 0475
10 Im Schatzungsregister wird darauf verwiesen, dass er im Haus des „Claeser“ wohnt. In: Wiemers, Fritz; „Heimatbuch des Amtes Wenden“, Wenden o.J. S 462;
11 Debus, Friedhelm: Die Entstehung der deutschen Familiennamen aus Beinamen; in: Familiennamen im Deutschen – Erforschungen und Nachschlagewerke, Hrsg. Hengst, Karlheinz und Krüger, Dietlind Leipziger Universitätsverlag 2009; S. 95
12 Matrikel St. Severinus Wenden KB001-01-T vom 1. Januar 1647 bis 1. Januar 1690; T 0093;
13 A.a.O. T 0013
14 A.a.O. T 0125
15 A.a.O. T0012
16 A.a.O. T0013
17 A.a.O. T 0013
18 Matrikel, KB001b-03-Rt 0113
Die heutigen Familiennamen waren ursprünglich Beifügungen zu den Rufnamen. Im Folgenden beispielhaft die Entwicklungen. Ich übernehme dabei die Argumentation von Adolph Bach zur Bildung der Familiennamen19 und damit gleichermaßen die der Beinamen. Zur besseren Verständlichkeit vereinfache ich die Argumentation, auch wenn dabei ein Linguist möglicherweise graue Haare bekommen würde.
Gottfried ist der Sohn des Eberhard und wird daher noch mit dem Genitiv als „Gottfried, der Sohn des Eberhard(s)“ oder eben „Gottfried Eberhards Sohn“ genannt. Hier steht der Beiname, der zum Familiennamen wird, im Genitiv als „der Sohn des…“. Aus Eberhards wird ab der folgenden Generation, in der der Sohn des Gottfried, der Johann, nicht mehr der Sohn, sondern der Enkel des Eberhard ist, eine sekundäre Bildung, die „Eberhards“ lautet, bei der „Sohn des“ entfällt. Hier ist es noch immer ein Genitiv, der aber keine Funktion mehr hat, sondern zu einem erstarrten Genitiv und dieser dann wiederum zum Familiennamen wird. Wir haben dies bei den Familiennamen im Wendschen, die von einem Rufnamen abgeleitet wurden wie „Alfes“ oder „Arens“. Dies sind Genitivformen, ohne dass dessen Funktion von Bedeutung wäre. Dieser Genitiv ist also gleichlautend zu einem Nominativ geworden.
In einem weiteren Schritt fällt auch das Genitiv-s