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Gerade angesichts der Emotionalisierungen und Instrumentalisierungen ist es notwendig, einen rationalen und diskursfähigen Begriff von Heimat zu finden. Das leistet dieses Buch, indem es Heimat als sozialen Raum definiert, die damit verbundenen soziologischen, philosophischen, politischen und theologischen Implikationen durchleuchtet und so im tiefen Sinne Aufklärung betreibt. Der Autor führt in einem systemischen Verständnis die vielfältigen Aspekte von Heimat zu einem ökologischen Heimatbegriff zusammen, der auch die Fragen nach Sinn und Orientierung in turbulenten Zeiten aufgreift. Zur richtigen Zeit in rechter Zeit. Dieses Buch entstand in der Praxis, auch wenn es mit der Aufforderung, Heimat neu zu denken, theoretisch angelegt ist. Es ist die Frucht einer Zukunftswerkstatt des Heimatvereins für das Drolshagener Land, dessen Geschäftsführer der Autor bis 2020 war und die in dem Buch erweitert dokumentierten Themen auch als gut besuchte Vorträge einem breiteren Publikum vorgestellt hat. Glückwunsch zum ganz hervorragenden Beitrag von Walter Wolf zum Thema Heimat. Das ist eine ganz fundierte Analyse zum Thema, vielleicht das Beste, was ich bisher dazu gelesen habe. M. Arns
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Seitenzahl: 288
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Ein Wort zuvor
Teil 1
Heimat - ein Begriff, über den man reden muss
Heimat - Annäherung an einen Begriff
Heimat ist nicht - Heimat wird erst
Was Heimat ist, kann man nicht ermessen, solange man in ihr weilt
Heimat u.Umwelt als etwas Gewordenes, in denen sich Geschichte vollzieht.
Heimat ist Raum der Kindheit
Heimat der Erwachsenen
Heimat als psychologische Chiffre
Rückgriff auf Piaget und Bronfenbrenner
Gefühle, die Heimat zugrunde liegen
Symbiose und Fluchtmechanismen - Identität und Identifizierung
Wege aus der Symbiose
Sozialpsychologische Grundlagen zu Heimat
Fluchtmechanismen nach Erich Fromm
Philosophischer Zugang zu Heimat
Heimat als Narrativ
Heimat, der „Noch-Nicht-Ort“ bei Bloch
Heimat ist geschichtliche Arbeit
Heimat als Reaktion auf postmoderne Erscheinungsformen
Heimat als sozialer Raum
Sozialer Raum
Heimat als Territorium
Heimat als soziale Beziehung
Heimat als Sozialer Raum – ein erstes Fazit
Weitere Aspekte zu Heimat
Heimat ist Gegenbegriff
Heimat als Resonanzboden für Sinnzusammenhänge
Heimat ist Gestaltungsraum
Entscheidend ist weniger, wo der Ort ist, als vielmehr, dass man einen solchen Ort hat
Zuordnung anderer Heimatbegriffe
Heimat und Sprache
Heimat und Politik
Heimat als politischer Begriff
Der Riss durch die Gesellschaft
Trennung Modernisierungsbefürworter und Modernisierungsskeptiker
Traditionelle Milieus
Junge, moderne Milieus
Spaltung nach Wolfgang Merkel
Die kulturelle Spaltung
Heimat in der Spaltung
Zeitgemäßer politischer Begriff von Heimat
Gesellschaftliche Spaltung in der Stadt und auf dem Land
Ländlicher Raum
Rolle des Raums in postmodernen Veränderungen: Konvergenzen
Soziale Milieus und ihr Heimatbegriff
Was sind Soziale Milieus?
Die Heimatbegriffe der Sozialen Milieus
Die Sinus-Milieus in einer Kleinstadt und die Konsequenzen
Populistische Bestrebungen zu Heimat
Was ist Populismus?
Rechts-Populismus
Gründe für den Populismus
Populistische Elemente im Grundsatzprogramm der AfD
Der Heimat-Begriff im Grundsatzprogramm der AfD
Die heimatfeindliche Ausrichtung der AfD
Was kommt nach dem Populismus
Gibt es auch im Internet Heimat?
Die Welt tendiert zur Komplexität
Zukunft von Heimat
Megatrends zu Heimat
Achtsamkeit
Hygge
Lebensqualität
Wir-Kultur
Co-Living -Zusammenleben
Global Citys
Rural Citys – Ländliche Städte
Progressive Provinz
Digital Creatives
Kollaboration
Bevölkerungswachstum
Generation Global
Global Migration
Glokalisierung
Neo-Nationalismus
Exkurs zur Perspektive: Resonanz – ein Schlüsselwort von Hartmut Rosa
Metamorphose der Welt - Ulrich Beck
TEIL 2
Sinn-volle Heimat?
Klärungen
Heimat ist zuerst ein Beziehungsbegriff
Heimat ist im 17. Jahrhundert wieder ein Beziehungsbegriff
Heimat - schon vor der Romantik eine emotionale Beziehung
Heimat in der Ferne - das Heimatbild der Romantik
Konkrete Heimat kommt erst nach der Romantik in den Blick
Heimat gibt es auch in anderen Sprachen
Was heißt Sinn?
Sinn als Wort und als Begriff
Wie kann Heimat sinn-voll sein?
Heimat im Imperfekt
Heimat und Fremde
Heimat als politische Mobilisierung
Heimat zwischen Exklusion und Inklusion
Heimat als Volkszugehörigkeit
Heimatlosigkeit in der Moderne
Heimat im Futur
Heimat und Identitätsbildung
Symbiotiotische Heimat als Sinnangebot
Exkurs: Situation der Geflüchteten und Identität
Heimat und personale Selbstbildung
Heimat als religionssoziologische Kategorie
Begründung des quasireligiösen Charakters von Heimat - Heimat alsPseudoreligion
Nachmetaphysisches Denken und die Aktualität der Säkularisierungsthese
Unsichtbare Religion
Religion ohne Gott – Der Ansatz von Ronald Dworkin
Idealbildung und Sakralisierung als Gegenbewegung - Hans Joas
Kontingenz – die Funktion der Religion der Gesellschaft nach N. Luhmann
Fazit zu Heimat als religiöses funktionales Äquivalent
Heimat als äquivalentes Sinnsystem
Heimat ist sinngestützte Komplexitätsbegrenzung
Exkurs: Heimat als „Sinn des Lebens“ oder „Sinn im Leben“ – eine theologische Zwischenbetrachtung
Die wahre Heimat des Menschen ist bei Gott
Heimat ist ein gutes Leben im Hier und Jetzt
„Wie sinn-voll ist Heimat?" – Zusammenfassung und Positionierung
Axiomatisch-normativer Heimatbegriff
Evolutionär systemisch – ein Ökologischer Heimatbegriff
Projekttheologie
Ökologisches Heimatverständnis – Gutes Leben für alle
Wahrheit und Wirklichkeit von HeimatNeuDenken
Anhang
Luhmanns Re-Entry in Kurzform - eine religionssoziologische Grundlage
Ein kurzer historischer Rückgriff - Säkularisierung und Heimat
Stadt-Land - Progressive Provinz & Rural Cities
Symbiose oder Heimatliebe: Individuation ist Gesundung
Gefühlvoll – die Basis der Moral?
Heimat, Ökologie und die politische Rechte
Literaturverzeichnis
Autor:
Walter Wolf, Jahrgang 1951, Studium der Pädagogik, Soziologie, Psychologie und Katholischen Theologie; bis zum Ruhestand Bildungsarbeiter und Leiter von Bildungshäusern; 50 Jahre ehrenamtlich im sozialen, verbandlichen und kirchlichen Bereich, zuletzt als Geschäftsführer und Referent im Heimatverein für das Drolshagener Land.
Veröffentlichungen vor allem zu innovativen konzeptionellen Themen, u.a. bei der Bundeszentrale Politische Bildung und Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten; Diverse Fachartikel zu regionalen, politischen und historischen Themen.
Beratung, Begleitung und Coaching von kleinen Organisationen und großen Verbänden, vor allem im NGO-Bereich.
Dieses Buch entstand in der Praxis, auch wenn es mit der Aufforderung, Heimat neu zu denken, durch und durch theoretisch angelegt ist. Warum und wozu dies?
Am Anfang dieses neuen Denkens zu Heimat stand bei mir eine Zukunftswerkstatt, die ich als Vorstandsmitglied des Heimatvereins für das Drolshagener Land 2017 geleitet habe. Die Zusammensetzung der Teilnehmer war, wie es Grundlage für Zukunftswerkstätten ist, gut gemischt, aus mehreren Alterskohorten, nach Herkunft und Tätigkeit, politischen Positionierungen usw. Menschen aus unserer Kleinstadt mit ganz unterschiedlichen Wertungen und Intentionen, aber einer gewissen Nähe zum Heimatverein hatten sich einen Tag Zeit genommen, um methodisch und zielgerichtet Zukunftsperspektiven für den Heimatverein zu entwickeln.
Vorausgegangen war eine Analyse, nach der der eigene Heimatverein wie auch andere uns bekannte Vereine gute Arbeit leisteten, aber häufig auf der Stelle traten. Es gab Geschichtswerkstätten mit respektablen Ergebnissen und Veröffentlichungen, es gab anspruchsvolle kulturelle Veranstaltungen und Vorträge mit Diskussionen und Ausstellungen. Das Problem war jedoch, dass diese Aktivitäten eindeutig vergangenheitslastig waren. Zudem konnten als Mitglieder und Aktivisten des Heimatvereins fast nur Menschen der alten und älteren Generation ausgemacht werden. Bei der inhaltlichen Ausrichtung dominierte eine eher bildungsbürgerliche, konservativ-etablierte Sicht, die sich auch als Leitkultur für die Heimatarbeit verstand. Diese Perspektive fand wiederkehrend Niederschlag in dem Standardsatz: „Es müsste …“. Es waren Forderungen an andere zu Windenergie und Stadtarchitektur, zu Traditionsabbruch und Plattdeutscher Sprache, zum Wiederaufbau von Denkmälern usw. Um es auch klar zu sagen: in diesen Fragen hatte sich der Heimatverein gut positioniert und wesentliche Beiträge zur Erhaltung einer lebenswerten Stadt geleistet. Aber sollte das alles sein? Wie sollte angesichts dessen die Zukunft des Heimatvereins aussehen?
Die Zukunftswerkstatt wollte den Blick von Geschichte und Gegenwart auf eine Zukunft lenken. Dazu konnten die z.T. resignierenden und anklagenden Positionen einzelner oder Passivität und Konsumhaltung nicht hilfreich sein. So wurde die Zukunftswerkstatt zum Wendepunkt und leitete einen – noch zaghaften – Perspektivwechsel ein. Neu denken, Neues Denken in die Praxis umsetzen, breiter aufgestellt und jüngere Generationen in den Blick nehmend.
Parallel wurde in dieser Zeit auch der inflationäre, beliebige und von der politischen Rechten instrumentalisierte Gebrauch des Begriffes Heimat virulent. So musste sich auch der Heimatverein von diesen Tendenzen absetzen. Das bedeutete aber auch, eine Selbstvergewisserung zu erreichen, was er unter Heimat versteht, verstehen wollte.
Dies war dann der Beginn eines intensiven Umdenkens zum Begriff Heimat, die meinerseits in der vorliegenden Analyse mündete und in Vortragsabenden auch einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurde. Dazu wurde viel Neues erarbeitet, wie den milieutypischen Unterschied des Heimatverständnisses anhand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen oder den pseudoreligiösen Charakter von Heimat aufzudecken. Zwei dieser gut besuchten Veranstaltungen konnten stattfinden, die dritte fiel den Beschränkungen in der Corona-Pandemie zum Opfer, wird aber nachgeholt.
Teilnehmende der Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen baten dann wiederholt um die Manuskripte, um diese neuen, offensichtlich diskurswürdigen Themen nachzuarbeiten und für die eigene Arbeit weiterzunutzen. Dem bin ich durch zwei Veröffentlichungen in den Heimatstimmen des Kreises Olpe nachgekommen. Diese fanden sehr gute Resonanz, u.a. mit dem Kommentar „Das ist eine ganz fundierte Analyse zum Thema, vielleicht das Beste, was ich bisher dazu gelesen habe“. Zudem habe ich den zweiten Vortrag „Wie sinn-voll ist Heimat?“ in der Form des Redemanuskripts auf Wunsch auch verschickt. Der dritte Vortrag zu den theologischen und religionssoziologischen Implikationen wird, sobald es die Corona Situation wieder erlaubt, abschließend das Thema behandeln.
Da zudem bei den Recherchen und Denkprozessen viele Aspekte sichtbar wurden, die in einer zeitlichen und didaktischen Beschränkung der Referate nicht zu Worte kommen konnten, habe ich beschlossen, diese in Form eines Buches zu veröffentlichen und damit öffentlich zugänglich zu machen.
Das nun vorliegende Plädoyer für ein Verständnis von Heimat, das seine weit zurückliegende Herkunft ebenso wenig leugnet, wie Ge- und Missbrauch des Begriffes und das mit guten Gründen eine radikale Veränderung argumentativ vorstellt, fasst nun eine Materialfülle zusammen, die ich gerne zur Verfügung stelle. Und dass dieses Plädoyer zur „rechten Zeit“ kommt, ist sowohl angesichts populistischen und instrumentalisierten Gebrauchs von Heimat als auch der Zunahme rechtspopulistischer und rechtsextremer Positionen verständlich.
Mir war und ist dabei wichtig, das zur Sprache zu bringen, was den Begriff rationaler und damit auch einen Diskurs darüber möglich macht. Ich verstehe meinen Beitrag als eine Moderation des Wandels.
Dabei weiß ich sehr wohl, dass dieser Wandel nicht allein durch Gedanken eines einzelnen geschafft wird, sondern durch das Selbstdenken und die Selbstbildung der Menschen. Es soll Aufklärung im besten Sinne sein.
Dazu lade ich mit den Worten meines „pädagogischen Ziehvaters“ Paulo Freire ein: „Es gibt weder vollkommene Weise, noch vollkommene Ignoranten, sondern nur Menschen, die sich auf das Wagnis des Lernens einlassen“.
Drolshagen im Sommer 2021 Walter Wolf
Hätten wir so über Heimat nachgedacht und gesprochen, wie wir es tun, wenn dieser Begriff nicht in der jüngsten Zeit von verschiedenen Seiten missbraucht oder instrumentalisiert würde? Wenn nicht Matratzen oder Joghurt mit Heimat verkauft würden, wenn nicht eine Ausstellung der Volkshochschule das große Thema Heimat wählte und kleine Amateurwerke zeigt? Aber auch, wenn statt einer Regionalförderung in Nordrhein-Westfalen es nun nicht hieße „Heimat fördern"? Wenn wir nicht ein Ministerium für Heimat, Inneres und Bauen hätten, und dessen Minister eher spalterisch als integrierend tätig wurde?1 Wenn nicht die Rechtspopulisten den Heimatbegriff für sich reklamierten und Menschen für dumm verkauften? Wenn nicht die Parteien der Mitte von CSU bis Grüne sehr pointiert mit dem Begriff Heimat werben würden? Wahrscheinlich nicht. Was ist geschehen?
Heimat ist auch heute noch ein schillernder Begriff und nicht vom Kitsch der 50-ger Jahre und dem Missbrauch der Bindung an Blut und Boden zu trennen. Dennoch: Heimat rehabilitiert sich und darf vor allem nicht rechtspopulistischen Strömungen und Typen, machtpolitischen Singulär-Interessen oder der Werbung überlassen werden. Deshalb hier einige Gedanken, Erkenntnisse und Fakten, um Heimat neu zu denken.
Es geht um einen rationalen Zugang zum Thema, um Abgrenzungen zu überkommenen oder instrumentalisierten Vorstellungen von Heimat vor einem theoretischen Hintergrund, der von der Systemtheorie, den Sozialund Humanwissenschaften sowie zeitgemäßen ethischen Grundlagen geprägt ist. Von diesen leite ich auch die zuversichtlichen Perspektiven ab, wie Heimat heute verstanden, gestaltet und genossen werden kann, im Blick nach vorne und auf der Höhe der Zeit.
Denn Heimat ist mehr als der schönste Name für Zurückgebliebenheit. Heimat, das ist ein Thema, dass man neu denken und ein Begriff, über den man reden muss.
Heimat an sich gibt es nicht - trotzdem haben Menschen Heimat. Und sie sprechen wie selbstverständlich darüber. Genauer gesagt, über ihr Verständnis von Heimat, und das ist ebenso unterschiedlich, wie die beteiligten Personen oder Institutionen. Damit ist auch klar, dass Heimat ein unscharfer Begriff bleibt, der sich zunächst einer Eindeutigkeit entzieht.
Hermann Bausinger hat daher versucht, eine Begriffsgeschichte zu Heimat zu entwickeln und dabei die „verschiedenen Facetten des komplexen Gebildes Heimat herauszuarbeiten und nachzuzeichnen, und zwar nicht nur im Blick auf die gegenwärtige Bedeutungsbreite des Begriffs, sondern auch im Rückblick auf die historische Entwicklung“2. Er konzediert, dass in vielen Fällen nicht die Präzision der Begriffe, sondern gerade die Unschärfe und Mehrdeutigkeit des Gesagten die Kommunikation aufrechterhält und entlastet. Für eine Untersuchung, wie ich sie hier vornehme, ist aber weder eine unscharfe Bestimmung, noch „der Versuch einer strikten Definition, die Bedeutungswucherungen abschneidet und den Begriff auf eine ganz bestimmte Qualität eingrenzt“3 ein gangbarer Weg. Dabei „besteht die Gefahr, dass … die zum Teil weit auseinanderlaufenden Implikationen des Begriffes Heimat ausgeblendet, dass wesentliche Problemzüge verfehlt werden“4. Um daher sowohl den individuell unterschiedlichen Verstehensweisen gerecht zu werden, wähle ich den Zugang über das „Konstrukt Heimat“.
Heimat stellt in diesem systemtheoretischen Verständnis einen subjektiven Ausschnitt der umfassenden sozialen Wirklichkeit dar.5 Heimat wäre dann eine Form der Wahrnehmung sozialer Vorgänge in definierbaren Kontexten, eine Konstruktion des menschlichen Geistes, ein System. Sie grenzt sich gegenüber anderen Systemen wie Region, Familie, Freundschaften ab und ist für denjenigen, der diese Abgrenzung vornimmt, von anderen Dingen unterscheidbar. Es kommt darauf an, was der einzelne aus der Komplexität der Wirklichkeit in sein Verständnis von Heimat einbezieht und was nicht. Dasselbe Element wie ein Ort (Territorium) oder eine soziale Beziehung gehört für den einen zu seiner Heimat, während es für andere bedeutungslos bleibt. In diesem Verständnis ist Heimat nicht ein fester Begriff, auch wenn er in Übereinkunft entstanden ist, sondern als „Konstruktion der Wirklichkeit“ durch die subjektive Wahrnehmung von zentraler Bedeutung. Einfach gesagt: „Man kennt nicht etwas, weil man es sieht, sondern man sieht etwas, weil man es kennt“6.
Dieser Zugang ermöglicht es nun im weiteren Fortgang der Überlegungen Heimat als einen inkludierenden Begriff zu gebrauchen, der nicht generell andere Vorstellungen (Konstrukte) ausschließt. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt bei der Betrachtung, wie verschiedene soziale Milieus Heimat überindividuell verstehen, noch von entscheidender Bedeutung sein. Daher kann eine von außen vorgegebene Definition nicht Heimat sein. Es würde eine Identifikation mit einer externen Sicht gefordert, die keine Abweichung duldet. Damit gibt es von vorneherein Einbezogene und Ausgeschlossene, Einbezogenes und Ausgeschlossenes. Dazu noch einmal Bausinger: „Es gibt heute in unseren Städten und Dörfern ein, wie mir scheint, ein recht sicheres Kriterium dafür, ob Heimat noch immer als Arsenal schöner Überlieferung verstanden wird, aus dem man sich bedienen kann, oder als die Idee, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Dieses Kriterium ist der Umgang mit den ausländischen Arbeitsimmigranten. Ein Heimatbegriff, der ihnen keinen Platz einräumt, greift zu kurz, auch wenn er sich noch so sehr mit historischen Requisiten drapiert“7.
In dem folgenden Abschnitt geht es um eine Annäherung an den Begriff von Heimat in seiner Vielfalt und Divergenz. Dazu werden philosophische, psychologische und soziale Aspekte zusammengeführt. Mir ist es dabei wichtig, den aktuellen Diskurs vorzuziehen gegenüber traditionellen Herleitungen und historischen Exkursen. Auf eine auch nur annähernde Vollständigkeit der Aspekte wird bewusst verzichtet.
Die Bedeutung des Begriffes Heimat hat zugenommen, das ist nicht zu bestreiten. Bestätigten dies in einer Spiegelumfrage 19998 nur 56 % der Befragten, wuchs die Zustimmung in einer 2012 erfolgten Umfrage9 auf 69 %. Es ist davon auszugehen, dass dies heute, noch einmal 9 Jahre später, weiter gewachsen ist.
Das Dilemma ist, dass das, was unter Heimat verstanden wird, in den seltensten Fällen zu einer Übereinstimmung zu bringen ist. Der Kulturanthropologe Hermann Bausinger verglich diese Situation mit dem berühmten Zitat aus den „Confessiones" des Augustinus. Dieser beschreibt die Frage nach der Zeit so: „Was ist Zeit? Solange mich niemand danach fragt, ist es mir, als wüsste ich es. Fragt man mich aber und ich soll es erklären, dann weiß ich es nicht mehr." Ähnlich, so Bausinger, ist es mit der Frage nach Heimat. Aber es ist auch eine Antwort, löst doch das Stichwort Heimat schon lange keine einheitliche Reaktion mehr aus. Bausinger weiter: „Der Begriff Heimat provoziert nicht nur die Gefahr von Missverständnissen, sondern gibt auch Chancen der Vermittlung zwischen sehr verschiedenartigen Positionen"10.
Der nüchterne Blick, der den retrospektiven Aspekt in Kindheit und sein Durchscheinen in die Gegenwart hinter sich lässt, wird erkennen, dass jeder soziale Raum kein statisches Faktum, sondern prozessbezogene Aufgabe ist. Damit verändert sich auch die Zeitperspektive von der Genese und der legitimen emotionalen Aufladung des Heimatbegriffs, von der abgeschlossenen, wenn auch „in principium" (fortlaufender Anfang) weiter wirkenden Kraft zur Gegenwart und Zukunft schaffenden „Task-force". Heimat ist nicht, Heimat wird immer, auch immer wieder anders und immer wieder neu. Dieser Ansatz setzt voraus, dass Heimat jetzt und in Zukunft geschaffen werden muss, dass Heimat ein permanentes Projekt und kein Ergebnis oder Besitz ist.
Hans Eisler hat einmal gesagt: Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts. Was heißt das für Heimat? Hier ist ein Bezug von Heimat und ihrem Verlust, von Exil und Sehnsucht nach Heimat zu spüren. Auch wenn heute Heimat als sozialer Raum vielfältig und virtuell sein kann, bleibt ein - meinetwegen auch sentimentaler - Zug real: Wer nie etwas Anderes als Heimat erlebt hat, erfährt nie wirklich, was Heimat ist. In einer Metapher: Heimat ist wie Atmen. Solange Luft vorhanden ist, bemerkt man sie kaum; geht sie aus, wird sie zum kostbaren Gut. Oder mit den Worten von Jean Améry: Schätzen kann man Heimat erst, wenn man sie verloren hat. Dann zählen auch Erinnerungen an Kindheit nicht mehr, ebenso wenig wie Kenntnisse über einen oder Sehnsucht nach einem Ort. Das Entscheidende bleiben die sozialen Beziehungen, die Geborgenheit, Heimat bieten.
Heimat wurde und wird zumeist und zunächst als Ort und als etwas dort Gewordenes verstanden. Nach der jahrelangen Zurückhaltung aufgrund des Missbrauch des Heimatbegriffs durch die Nationalsozialisten wurde in den 70ger Jahren mit der Ökologiebewegung Heimat in Verbindung mit einer gesunden Umwelt auch territorial gebraucht. Die Bestrebung gerade aus der Alternativen Szene, der Region mehr Bedeutung zu geben, aber sie auch einzubinden in globale Entwicklungen zeigten sich in dem Slogan: „Global denken - regional handeln". Ebenso beziehen Heimatvereine sich auf ein Territorium und benennen sich nach Städten oder Regionen. Hier also ist Heimat ein territorialer Raum.
Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus merkt dazu an, dass der Territoriumsbegriff sich von kleinen Einheiten wie dem Haus, bis hin zu einer (regional-)geographischen Ebene erstreckt und sich auch auf einen Staat beziehen kann. Es lässt sich nachweisen, dass das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, als ein zentrales Element von Heimatgefühl, durch Raumgebundenheit befriedigt wird. Territorialität ist eine anthropologische Konstante. Greverus erachtet es als absolut notwendig, dass sich der Mensch aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet und dadurch zur Heimat macht.11
Dieses Territorium wird in weiterer Folge zum soziokulturellen Bezugsraum, in dem Identität erfahrbar wird. Der Raum ist Voraussetzung für materielle Existenzsicherung und gesellschaftliche Integrität. Heimat ist somit Bindung an Örtlichkeit, die aber der Ergänzung durch soziale und kulturelle Gegebenheiten bedarf. Die soziale Kategorie benennt Andrea Bastian mit dem Terminus „Gemeinschaft“ und subsumiert darunter auch gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Aspekte wie etwa Traditionen und Rituale.12
Schon die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts als Internationale Bewegung verstand Heimat nicht in erster Linie als Territorium. Dieses werde ihnen gerade durch Ausbeutung und Unterdrückung geraubt. Sie sahen vielmehr in der Bewegung als einer Gruppe von Menschen selbst ihre Heimat. „Eine Reduzierung des Heimatbegriffs auf die territoriale Komponente greift also zu kurz. Unwidersprochen benötigt der Mensch einen konkreten Raum, der Sicherheit, Identität, aber auch Stimulation bereitstellt, ohne die soziale Komponente ist der Heimatbegriff jedoch zu kurz gefasst. Erst durch soziale Beziehungen und Interaktionen erhält der geographische Raum die nötigen emotionalen Bindungen"13.
Wenn Heimat in der Verbindung von Ort, Beziehung und Emotion einen Ursprung hat, dann ist es Kindheit. Das heißt: Heimat ist die kindliche Umgebung, die so erlebt wird, als verstünde sie sich von selbst.
Die konkrete Heimat eines Kindes ist nicht per se eine heile Welt, aber nichts präsentiert heile Welt so wie sie. Aus diesem - nostalgisch bis verklärend zu verformenden - Ansatz kann auch das unzureichende Verständnis des Blochschen Satzes, das Heimat ist, was allen in die Kindheit scheint, verstanden werden.14
Kindliche Vertrautheit ist und bleibt der Nerv von Heimat. In diesem Bezug von Heimat zu Kindheit, mit dem fraglosen Daseindürfen, erwächst auch die Kraft, die viele heute aus der Wahrnehmung ihrer Umgebung und ihrer Beziehungen als Heimat ziehen. Gerade darin kommt die dritte Dimension, die Emotion zum Tragen. Auch die vertraute Umgebung ist keine heile Welt, aber der auch als Erwachsener noch kindliche Blick in diese vertraute Umgebung ist vielleicht der schönste Anschein von heiler Welt. Hier wäre auch ein theologischer Bezug zu diskutieren, der sich mit der „ewigen Heimat", den „Kindern Gottes" und der „Geborgenheit in den Händen des Vaters" befassen würde. Oder wie es Christian Schüle profaner ausdrückt: „Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Ambivalenz-Bewältigung ermöglicht vielen Individuen welcher Religion auch immer eine Religiosität ohne Gottesbezug… Ein Geborgenheitsraum also, der dem jeweiligen Individuum sein Ur-Vertrauen ermöglicht. Das Urvertrauen ist eine Ursprungserfahrung“15. Er führt weiter aus, dass es eine Gier nach mystischer Erfahrung gebe. „Theologisch gesprochen: nach Gott. Spirituell gesprochen: nach aktiver Bewusstseinsänderung… Die Anthropologie nennt dieses Bedürfnis: Selbsttranszendenz... Also glaubt der Mensch, weil er, wenn er über sich hinausdenkt, eine transzendente Geborgenheit braucht. Ein metaphysisches Dach über dem Kopf. Eine Heimat“16.
Der Rückblick in Kindheit wäre aber nostalgisch oder reaktionär missverstanden, wollte man Heimat als sozialen Raum wie zu Kindertagen umformen. Vielmehr ist Heimat dann kindlich (und nicht kindisch), wenn sie erlebt wird, als verstünde sie sich von selbst. Und erst aus der Perspektive des Erwachsenen ist es möglich, vom Glück des Kindes sprechen zu können. Dies heißt zugleich, dass Heimat als sozialem Raum bezogen auf Kindsein die Bedeutung erst im Nachhinein zuwächst.
„Die Kindheit spielt in allen … Konzepten (von Heimat, der Verf.) eine wichtige Rolle. Besonders aus der Ferne betrachtet, erscheint die Welt der Kindheit oft als verklärte Idylle, deren Rückeroberung ein lohnenswertes Ziel darstellt. Selbst wenn die Kindheit nur ein Mindestmaß an Geborgenheit und Heimat geboten hat, aus zeitlicher und räumlicher Distanz betrachtet, tendiert der Mensch zu einer positiveren Sicht der vergangenen Zeit. Dass aber eine Rückkehr in die Welt der Kindheit nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Kindheit ist ein unwiederbringlicher Abschnitt im Leben des Menschen, durch die voranschreitende Zeit und die damit einhergehenden Veränderungen, sowohl der Umgebung, als auch des Menschen selbst, endet eine Rückkehr oft in Enttäuschung. Wohl aber wird in der Heimat der Kindheit der Grundstein für die menschliche Identitätsentwicklung gelegt. Eine Heimat zu haben, irgendwo daheim zu sein, ist ein elementares menschliches Bedürfnis“17. Wie sich die Suche nach Heimat beim Einzelnen gestaltet und wovon der Erfolg letzten Endes abhängt, lässt sich nicht verallgemeinern: „Heimat ist demnach kein festschreibbarer kollektiver Wert, sondern ein offenes System, das vom einzelnen Individuum im fortschreitenden Prozess der Identitätsfindung erworben und modifiziert wird“18. „Ob tatsächlich die Kindheit als einzige Heimat bezeichnet werden kann, darf hinterfragt werden. Wahrscheinlicher ist schon die These, dass die Fähigkeit, sich aufgrund der in der Kindheit erworbenen Konzepte neue Lebensräume als Heimat anzueignen, eine wichtige Voraussetzung für jeden Menschen ist. Speziell in der heutigen Gegenwart, die ein Höchstmaß an Mobilität bietet und auch verlangt, und vor dem Hintergrund immenser Migrationsbewegungen werden an das Heimatkonzept des modernen Menschen völlig neue Anforderungen gestellt“19.
Gehen wir nun zum Heimatbegriff für Erwachsene. Implizit wurde bereits an vielen Stellen vorausgesetzt, dass Heimat als sozialer Raum, als Ort von Kennen, Gekannt und Anerkanntsein, auch für Erwachsene gilt.
Erwachsensein heißt in diesem Zusammenhang in Abgrenzung von kindlicher Psyche die Überwindung der egozentrischen Perspektive und der symbiotischen Verschmelzung. Dies geht von der Erfahrung aus, dass Gemeinschaft kein bloß naturgegebener Zusammenhang ist, sondern aus gelingender Kooperation von unterschiedlichen Individuen mit partiell divergierenden Interessen, aber immer gemeinsamen Zielen, resultiert.
Heimat als gemeinschaftlicher Raum, als (sozio-) kultureller Raum, als Raum politischer Gestaltung besagt, dass unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Ansichten sich auf etwas einigen müssen und zwar so, dass die Interessen möglichst aller Gruppen (außer denen, die die Gemeinschaft aufkündigen oder zerstören wollen) wenigstens partiell berücksichtigt werden. Permanente Privilegierung und Interessensdurchsetzung einer oder weniger Gruppen auf Kosten anderer zerstört Heimat für alle, auch für die Privilegierten.
Insofern ist Heimat weniger als meist proklamiert, eine Gefühlsgemeinschaft, sondern eine Verantwortungsgemeinschaft. Verantwortung hat auch der Nicht-Integrierte: sich um Zugang zu bemühen, Regeln zu erkennen, zu kommunizieren, Interessen zu verhandeln, zu partizipieren. Ob ihm Integration gelingt, liegt aber auch in der Verantwortung der Schon-Integrierten.
An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die politischen und gesellschaftlichen Widerstände von Personen und Personengruppen wichtig, gerade in der schwierigen Situation der Inklusion von Migranten, insbesondere von Geflüchteten. Mit großem, nicht immer widerspruchsfreien Engagement sind Ende des letzten Jahrhunderts die sogenannten Russlanddeutschen in unsere Gesellschaft integriert worden. Nun kommt gerade aus diesem Teil unserer Bevölkerung ein massiver bis militanter Widerstand und weit überdurchschnittlich hohe Stimmenanteile für die Rechtspopulisten.20
In zweierlei Hinsicht ist Heimat auch psychologisch zu betrachten. Zum einen sind die psychischen Mechanismen, die dem Gefühl für Heimat zugrundeliegen, zu beschreiben, zum anderen ist auch ein Blick auf die Fluchtmechanismen zu werfen, denen Heimat als Chiffre21 dient. Der Schlüssel ist „Identität". „Identität ist ein Akt sozialer Konstruktion: Die eigene Person oder eine andere Person wird in einem Bedeutungsnetz erfasst. Die Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit"22.
Wie Menschen ihren Begriff von Heimat entwickeln, erleben, fühlen und gebrauchen, lässt sich anhand der Untersuchungen des Schweizer Biologen und Psychologen Jean Piaget gut nachvollziehen. Piaget betrachtet den Menschen als ein offenes System. Darunter versteht er einen Organismus, der sich wandelt, auf Einflüsse der Umwelt reagiert, sich anpasst und die Umwelt selbst beeinflusst. Somit gliedert der Mensch seine Welt.23
Kinder haben für Heimat noch ein egozentrisches Konzept: sie stehen in der Mitte und Heimat ist da, wo die Mutter wohnt. Erst in einem späteren Entwicklungsschritt ist dies der Bereich, wo auch andere Leute leben. Diese Erkenntnis ist erst dann möglich, wenn das Kind eine kategoriale Über- und Unterordnung entwickelt. Urie Bronfenbrenner hat dies in der „Ökologie der menschlichen Entwicklung" als Entwicklung in zunehmend größeren, konzentrischen Kreisen beschrieben. Den Übergang, oder mit Piaget die Entwicklung einer neuen, umfassenderen Kategorie, bezeichnet Bronfenbrenner als „Ökologischen Übergang". Diese Übergänge sind nicht auf die ersten Lebensjahre beschränkt, sondern wiederholen sich in verschiedenen Formen das ganze menschliche Leben hindurch.24
In beiden systemischen Ansätzen vollzieht sich die menschliche Entwicklung immer an Orten und in der Begleitung von Personen, zu denen das Kind und später der erwachsene Mensch Beziehung aufnimmt und die auch durch emotionale Bindungen gestützt oder defizitär gestaltet wird. Bei der Bestimmung der im Zusammenhang mit Heimat und Populismus zu erläuternden Fluchtmechanismen nach Erikson und Fromm sowie der Theorie der Symbiotischen Beziehung nach Kast ist dies angesprochen, insbesondere im Blick auf Retardierungen persönlicher und gesellschaftlicher Ausprägung.25
Gehen oder gingen Kinder zunächst von einem relativ geschlossenen System in einer sesshaften und monokulturellen Gesellschaft aus, in der alle wissen, wo sie hingehören, hat sich dies in den letzten Jahren deutlich verändert. Dies bezieht sich auf innerfamiliale Vorgänge wie Partnerwechsel, Scheidungen und ähnliches, aber auch Veränderungen im unmittelbaren Umfeld. Das Wissen, woher Menschen kommen und wohin sie gehören, kommt schon Kindern abhanden.
Die Auswirkungen der permanenten Kultur- und Ortswechsel bei Diplomatenkindern, die durch Mobilität und (Binnen-) Migration geprägt sind und die sich vor allem an Störungen des Selbstkonzepts und der Verweigerung intensiver persönlicher (Freundschafts-) Kontakte zeigte, wurden 1989 untersucht.26 Die Ergebnisse sind unverändert richtig, haben sich sogar darüber hinaus z.T. als Normalerfahrung verfestigt. Die Tatsache, dass Menschen kommen und gehen, ist heute zu einer gängigen Erfahrung von Kindern geworden, Menschen verschwinden und andere kommen, ziehen zu, mit anderen Verhaltensweisen, Gebräuchen und Sprachen. Dies ist sowohl Bereicherung und Bedrohung als auch Relativierung der eigenen Situation. Dabei müssen es nicht immer die eigenen Erfahrungen sein, sondern auch die der anderen Kinder, die kommen und gehen. In dieser Situation und im Rückgriff auf die Studie von 1989 zeigt sich, dass es für Kinder normal ist, mit Heimatfragmenten zu operieren, mehrere Heimaten zu nennen; evtl. wird Heimat als Ortsbestimmung verweigert oder ganz traditionell das als Heimat bezeichnet, wo sie gerade sind.
Tragischer als ein Ortswechsel wird der Verlust von vertrauten Personen erfahren. Von Bedeutung für die Kinder ist ein sozial sicherer Ort, verlässliche Zugehörigkeit, Vertrautheit und Einbindung, zuerst in der Familie, dann in den sich erschließenden Kreisen um Familie herum.27
Heimat hat viel, aber eben nicht nur mit Territorium zu tun. Heimat ist auch sozialer Raum, ist verbindliche Beziehung von Menschen. Ergebnisse aus den Studien zu innerdeutscher Migration von Kindern haben ergeben, dass sich nach einem Umzug die Werte für Depressivität und Ängstlichkeit erhöhen. Sie sanken wieder, wenn Freunde gefunden wurden. Voraussetzung für Heimat (bei Kindern) ist es, nicht nur einen Ort, sondern einen sicheren Ort zu haben. Sicherheit nicht im populistisch-politischen Sinne als Schutz vor kriminellen Übergriffen, sondern ganz schlicht die Erfahrung von Vertrauen und Verlässlichkeit. Die Studien haben auch gezeigt, dass die Trennung von Menschen und Tieren tragischer ist als ein Ortswechsel.
Heimat ist für Kinder - aber eben nicht nur für sie - eine Einbindung, nicht immobile Verwurzelung, sondern aktive Einwurzelung und damit Ergebnis sozialen Handelns. Heimat kann man wie andere Beziehungen auch nicht erzwingen, sondern diese entstehen durch Korrespondenz und Resonanz28, in denen sich Menschen nahe kommen und bleiben. Dies ist im Alltag auch ständiges Bemühen.
Heimat ist demzufolge ein Ort, an dem dieser soziale Zusammenhang existiert, der Zugehörigkeit und damit Identität stiftet. Gleichzeitig ist, wie die Kinderstudien auch zeigten, Heimat mehrere Orte. So kann man gerechtfertigter Weise auch von Heimaten im Plural sprechen. Heimat ist dem sozialen Wesen Mensch also dort, wo er viele andere Menschen kennt und Bindungen eingegangen ist.
Gefühle29 sind Bewusstseinszustände, die nur dem Erlebenden selbst zugängliche Ereignisse darstellen. Diese Bewusstseinszustände werden aktiviert über äußere Reize, beim Thema Heimat durch einen vertrauten Geruch, das Geläut heimatlicher Glocken, durch die Begegnung mit einem Menschen oder dem Dialekt. Vielfach ist das Gefühl eine reaktivierte Kindheitserfahrung. Aber auch innere Reize wie das Gefühl der Ungeborgenheit, Ohnmacht oder Verlustempfindungen können eigene subjektive Bewusstseinszustände auslösen, die den Komplex Heimat aktivieren.
Gefühle, die zunächst mit Heimat in Verbindung stehen, sind Erinnerungen und retrospektive Sehnsucht. Sie werden geprägt von einem Idealbild, oftmals imaginiert, verbunden mit einem territorialen Ort und sozialen Beziehungen. In einer tiefenpsychologischen Perspektive ist auf eine starke Verbindung von Heimat und Mutter zu verweisen. Das Heimwehgefühl, das in der Literatur häufig durch allegorische Beschreibungen der vermissten Heimat als begehrenswerter und/oder mütterlich-fürsorglicher weiblicher Gestalt zum Ausdruck gebracht wird, macht Heimat selbst zu einem ödipal besetzten Begriff: „Schon seit der Jahrhundertwende verschmelzen in den Heimatphantasien Mutter und Geliebte oder Ehefrau zu einer einzigen imaginären Gestalt. Eines der häufigsten Bilder, das für die (ersehnte) Heimat in der Literatur verwendet wird, ist dementsprechend der Mutterschoß"30.
Damit verbunden ist auch eine symbiotische Beziehung zur Heimat. Dazu Verena Kast, Tiefenpsychologin der Schule von C.G. Jung: „Unter Symbiose verstehe ich das Verschmelzen eines Menschen mit einem anderen Menschen, einer Gruppe, einem Land usw., das soweit gehen kann, dass alles Trennende aufgehoben zu sein scheint. Der, der in der Symbiose lebt, fühlt sich aufgehoben in etwas, das ihm Schutz und Geborgenheit gibt und ihm die Qual des ewigen Entscheidens abnimmt"31. Auch hier liegt eine Verbindung von Mutter, Mutterschoß und Heimat nahe. Wieweit gesunde symbiotische Beziehungen auch immer in der Spannung zwischen Loslösung und Wiederannäherung gestaltet werden wird weiter unten detaillierter thematisiert.
Das zentrale Gefühl, das mit Heimat verbunden ist, ist die Sehnsucht nach einer heileren, wenn schon nicht heilen Welt. Je weniger dies als passiv erlebt wird und je stärker Heimat und das Gefühl für (oder gegen) sie Medium und Ziel praktischer Auseinandersetzung wird, um so belebender kann dies subjektiv und in der Interaktion erfahren werden. Nicht zuletzt ist es das Gefühl, anerkannt zu sein.
An dieser Stelle werde ich einen Blick auf die Symbiotischen Beziehungen zu Heimat richten. Symbiotische Beziehungen setzen auf Identifizierungen mit Menschen oder Begriffen, die eine Ganzheit anstreben, tendieren aber zum Gleichen, eben Identischen. Ihnen fehlen die Eigenständigkeiten, die aus einer gesunden und fortschreitenden Wechselseitigkeit erwächst. Jeder Teil dieser als Ganzes erfahrenen Einheit bleibt im letzten Fall mit sich, nicht mit dem anderen identisch, das, was man Identität nennt32.
Heimat bietet als Chiffre leicht die Versuchung zur Identifizierung und Symbiose an. Ein reflektierter Zugang ermöglicht jedoch auch, das, was als Heimat verstanden wird, als Kontext zu begreifen, als kulturelle Erscheinung, die es ermöglicht, ein gesundes Selbstbild in einem vielfältigen, aber nicht grenzenlosen „heimatlichen" Umfeld zu entwickeln. Erikson: „Mut zur eigenen Vielfalt zu haben ist ein Zeichen der Ganzheit bei Individuen und in Kulturen. Aber auch eine Ganzheit muss bestimmte Grenzen haben"33.
Die Versuchung, mit einer Vorstellung von Heimat in die Geborgenheit einer Symbiose einzutreten, ist nicht zu verkennen. Verena Kast: „Es ist aber keine ruhige Geborgenheit, es ist eine Geborgenheit, die immer ängstlich aufrecht erhalten werden muss - meist um den Preis der totalen Anpassung, denn der symbiotisch Gebundene hat große Angst, dass diese 'Beziehung' ... zerfällt"34. Dies betrifft gerade die traditionellen und prekären Milieus, auf die im weiteren Verlauf dezidiert eingegangen wird.
Der symbiotisch Gebundene kann nicht trennen zwischen sich und dem anderen. „Er kann nicht feststellen, welche Wünsche nun seine Wünsche sind, welches die Wünsche des anderen sind"35, es herrscht unbewusste Identität.
Festzuhalten ist aber auch, dass es zu einer normalen Entwicklung gehört, dass sich Loslösung und Wiederannäherung in einer symbiotischen Beziehung abwechseln. „Phasen von vermehrtem Symbiosestreben folgen immer wieder Phasen der Loslösung und der Individuation, wobei Loslösung das Auftauchen aus der Verschmelzung meint und Individuation gewonnene Handlungen, die zeigen, dass individuelle Merkmale als solche angenommen sind.... Und auf einer neuen Ebene besteht das Bedürfnis nach Symbiose wieder, und diese sollte gelebt werden dürfen... und dies nicht nur im Säuglingsalter"36.
Identität hängt auch von der Unterstützung ab, die das Individuum vom kollektiven Identitätsgefühl erhält, das die für es signifikanten sozialen Gruppen charakterisiert; seine Klasse, seine Nation, seine Kultur. Gerade traditionelle und rechtspopulistische Gruppierungen bieten Menschen eine Identifikation mit einem Begriff von (nicht gleichbedeutend mit tatsächlicher) Heimat an. Dieser führt jedoch zu Identifikationen und Symbiosen, wie weiter unten ausgeführt.
Sozialpsychologisch gesehen kommt es darauf an, wie der soziale Kontext, also der soziale Raum Heimat, definiert wird. Heimat als selbst mitgeschaffene Welt gibt Verhaltenssicherheit, die weitgehend ungefährdet ist. Sie ist Prozess und nicht Instant-Fertigprodukt von dritter Seite. Gerade in der lebendigen Wechselbeziehung kann Identität sich ausbilden statt einer schlichten Identifikation mit ausschnitthaften und dogmatisch vorgegebenen Konstrukten von Heimat.
Unter psychologischem Blickwinkel sind auch die Fluchtmechanismen zu betrachten, denen Menschen aller Milieus und Gruppierungen bezogen auf Heimat unterliegen können. Ausgangspunkt dieser Betrachtungen sind die von Erich Fromm 1941 vorgenommenen sozial-psychologischen Analysen des, wie er es nennt „Nazismus", die bei genauer Betrachtung heute genauso von Bedeutung sind.37