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Ein Neujahrsmorgen im ligurischen Hinterland. Ein klösterliches Zimmer. Eine Landschaft, die zugleich karg ist und grün. In dieser stillen Umgebung, an diesem Tag des Anfangs und des Endes stellt sich die älteste Frage von allen noch einmal neu: Wie lebe ich richtig? Es beginnt ein Gedankengang durch die Stunden des Tages von vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang, von den Anfängen der Lebensbetrachtung bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Dieses Buch ist eine Einladung, die Suche nach der richtigen Richtung mitzugehen: im Nachdenken über Sinn und Sein, über die Lebensregeln des Wenigen und Wesentlichen sowie die klassischen Imperative der Schönheit, des Maßes und der Selbsterkenntnis. Der Romanautor und promovierte Philosoph John von Düffel hat mit diesem Brevier keine Geschichte im herkömmlichen Sinn geschrieben, sondern eine kleine Chronik des Klarwerdens darüber, wie sich ein Leben erzählt. Sprachlich verdichtet legt er einen lebensphilosophischen, literarischen Text vor. Die Antwort auf alles liegt in der gesellschaftlichen und zugleich ganz persönlichen Frage: In welcher Geschichte bin ich? An welchem Punkt dieser Geschichte? Und wie gehe ich weiter?
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Seitenzahl: 142
Ein Neujahrsmorgen im ligurischen Hinterland. Ein klösterliches Zimmer. Eine Landschaft, die zugleich karg ist und grün. In dieser stillen Umgebung, an diesem Tag des Anfangs und des Endes stellt sich die älteste Frage von allen noch einmal neu: Wie lebe ich richtig? Es beginnt ein Gedankengang durch die Stunden des Tages von vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang, von den Anfängen der Lebensbetrachtung bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Dieses Buch ist eine Einladung, die Suche nach der richtigen Richtung mitzugehen: im Nachdenken über Sinn und Sein, über die Lebensregeln des Wenigen und Wesentlichen sowie die klassischen Imperative der Schönheit, des Maßes und der Selbsterkenntnis.
© Birte Filmer
John von Düffel, geb. 1966 in Göttingen, studierte Philosophie in Stirling, Schottland und Freiburg im Breisgau und promovierte über Erkenntnistheorie. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane, Erzählungsbände sowie essayistische Texte bei DuMont, u.a. ›Vom Wasser‹ (1998), ›Houwelandt‹ (2004), ›Wassererzählungen‹ (2014), ›Klassenbuch‹ (2017), ›Der brennende See‹ (2020), ›Wasser und andere Welten‹ (Neuausgabe 2021) und zuletzt ›Die Wütenden und die Schuldigen‹ (2021). Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.
John von Düffel
Das Wenige unddas Wesentliche
Ein Stundenbuch
Von John von Düffel sind bei DuMont außerdem erschienen:
Vom Wasser
Zeit des Verschwindens
Ego
Houwelandt
Hotel Angst
Beste Jahre
Wovon ich schreibe
Goethe ruft an
Wassererzählungen
KL – Gespräch über die Unsterblichkeit
Klassenbuch
Der brennende See
Wasser und andere Welten
Die Wütenden und die Schuldigen
E-Book 2022
© 2022 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Satz: Angelika Kudella, Köln
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-8321-8265-6
www.dumont-buchverlag.de
Dieses Buch beginnt
Mit einem Bild von diesem Buch
Wie es vor mir liegt
Ungeschrieben
Auf einem Holztisch
Neben einem Glas Wasser
In einer Kammer
Mit nichts als einem Stuhl
Und einem Bett
In aller Frühe
Die Seiten für die Stunden dieses Tages
Sind noch weiß
Es ist das Wenige, denke ich
Ich will mit dem Wenigen anfangen
Torri Superiore, Neujahr
DIE FÜNFTE STUNDE
Einige Gedanken über Askese (vor Sonnenaufgang)
Das größte Missverständnis der Askese ist
Der Verzicht
In der Askese der Zukunft
Die aus keiner Religion kommt
Und keinem System dient
Geht es nicht ums Verzichten
Es geht darum zu erkennen
Wie wenig ich brauche
Was brauche ich wirklich
Askese, in wenigen Worten
Ist die Übung der Konzentration auf das Wesentliche
Eine Verständigung mit sich
Über die Frage
Worauf es ankommt
Das Wenige
Ist die Methode
Um das Wesentliche zu erkennen
Wenn das Wenige dem Wesentlichen entspricht
Ist das Glück
Die Askese der Zukunft ist nichts anderes
Als die Suche nach einer Lebensweise
Die kein »way of life« ist, kein »lifestyle«
Es ist die Übung der Umwandlung
Vorgefertigter Bilder
Bildgewordener Erwartungen
Wie man zu leben hat
In die Erkenntnis
Wie lebe ich richtig
Diese Erkenntnis verändert die Welt
Den modernen Asketen
Leitet kein Glücksversprechen
Sondern der Wille
Das Richtige zu erkennen und zu tun
Wenn Glück ein Zustand wäre
Wäre es ein Nebenprodukt
Die schönste Begleiterscheinung
Der Klarheit
Glück ist eine Form der Übereinstimmung
Kein Zustand, kein Sein, sondern
Eine Übereinstimmung des Tuns
Mit dem eigenen Denken und Empfinden
Es geht nicht darum, sich glücklich zu fühlen
Sondern in Übereinstimmung mit sich
Zu handeln
Das Ideal der Asketen der Vergangenheit
War der Rückzug von allem Weltlichen
Der Asket der Zukunft kehrt sich nicht ab
Von der Welt, er wendet sich ihr zu
Mit dem Blick für das Wesentliche
Askese ist die Voraussetzung dafür
Die maßgebliche Übung des asketischen Blicks
Ist die Unterscheidung zwischen
Dem Wichtigen und dem Unwichtigen
Die Entmischung der Dinge und Ebenen
Der Asket der Zukunft verzichtet nicht
Er löst sich vom Unwichtigen
Sein »Verzicht« ist eine Befreiung
Gemäß ihrer Unwichtigkeit
Entledigt er sich seiner Abhängigkeiten
Um die wenigen wichtigen Abhängigkeiten
Zu erkennen und zu bejahen
Ihnen die Bedeutung einzuräumen
Die ihnen zukommt
Die sich im Zuviel aber nicht zeigt
Eine Abhängigkeit, die ich bejahe
Kann sich in eine Beziehung verwandeln
In eine Verbundenheit
Die mich trägt
Unabhängigkeit um jeden Preis ist
Selbstüberschätzung und Selbstverleugnung zugleich
Eine Verleugnung der eigenen Bedürfnisse und Schwächen
Es geht darum, sich ins richtige Verhältnis zu setzen
In ein menschliches Maß
Je unabhängiger sich der moderne Asket
Von allem Unwichtigen macht
Desto weniger fesseln ihn
Seine elementaren Abhängigkeiten und Bedürfnisse
Sie werden zu einem Teil
Seiner selbst
Das Ideal des modernen Asketen
Ist nicht Gottesnähe
Sondern die größtmögliche Nähe
Zum richtigen Leben
Was der Asket der Zukunft
Von dem Asketen der Vergangenheit lernen kann
Ist die Zurücknahme
Es gehört zu den grundlegendsten Übungen
Den asketischen Blick auch auf sich selbst anzuwenden
Und sich weniger wichtig zu nehmen
Sich von allem Unwichtigen lösen
Heißt auch, die eigene Unwichtigkeit sehen
Und das Zuviel an sich selbst
An Zurüstungen und Übertreibungen
Der eigenen Bedeutung
Es geht nicht darum, wichtig zu sein
Sondern wesentlich
Das Wesentliche wird nicht weniger
Wenn es sich zurücknimmt
Es ruht in sich
Die Verständigung mit sich
Strebt nach Selbst
Verständlichkeit
Für den modernen Asketen
Ist es selbstverständlich
Das Wichtige zu tun
Und das Unwichtige zu lassen
Die Asketen der Vergangenheit
Nannten das Disziplin
Selbstverständlichkeit ist das Ziel
Jede Übung geht in sie über
Disziplin geht in ihr auf
Disziplin ist kein Wert an sich
Sondern ein Mittel zum Zweck
Disziplin um ihrer selbst willen
Ist hohl, sie füllt sich nur als Form
Und Übung der Konzentration
Auf das Wesentliche
Was wesentlich ist
Stellt sich nicht heraus
Indem man alles Mögliche ausprobiert
Sondern indem man alles weglässt
Was nicht nötig ist
Die Freude
Etwas Wesentliches erkannt zu haben
Ist elementar
Die Askese der Zukunft
Ist eine Entscheidung, kein Gelübde
Nichts Auferlegtes und nichts Schweres
Sie wird, wenn es die richtige Entscheidung war
Mit der Zeit zur leichtesten Übung
Zu einer Übung in Leichtigkeit
In einer guten Zukunft
Ist das Asketische
Die selbstverständlichste Lebensform
Sie ist nicht genussfeindlich
Sondern konsumkritisch
Sie konzentriert sich auf den Genuss
Des Wesentlichen
Der Einwand, dass man dafür
Sein Verhalten ändern
Und sich einschränken müsse
Ist richtig und falsch zugleich
Ja, es handelt sich um ein Weniger an Konsum
Und nein, es ist keine Einschränkung
Konsum ist so wenig Genuss
Wie Askese Verzicht ist
Nicht zu konsumieren kann ein Hochgenuss sein
Wie im Fall von Diogenes
Dem Philosophen in der Tonne
Der über den Markt von Athen schlendert
Und sich an all den Waren erfreut
Die er nicht braucht
Sich auf den Genuss des Wesentlichen zu beschränken
Ist genauso wenig eine Einschränkung
Wie sich auf das zu beschränken
Was man liebt
Der Genuss des Wesentlichen
Ist ein Ja-Sagen
Das in seiner Entschiedenheit
Ein Nein zu manch anderem beinhaltet
Aber es bleibt dennoch
Ein entschiedenes Ja
Wer den Genuss des Wesentlichen
Als konsumfeindlich bezeichnet
Gesteht damit die Genussfeindlichkeit
Des Konsums ein
Wir müssen uns Diogenes als
Den glücklichsten Einkaufsbummler vorstellen
Der Genuss des Wesentlichen
Ist keine Konsumkategorie
Kein Artikel zum Kaufen und Verkaufen
Er ist eine Kategorie der Erkenntnis
Die moderne Askese
Ist die einzige Antwort auf das Zuviel des Konsums
Das bekanntlich nicht nur nicht glücklich macht
Sondern vieles zerstört
Auch die Konsumierenden
Das Zuviel pervertiert den Genuss
Zur Betäubung
Die Konzentration auf das Wesentliche
Erhebt ihn zur Klarheit
Der Genuss des Asketen
Versteht sich nicht als Belohnung
Sondern als Teil der Erkenntnis
Des Wenigen und Wesentlichen
Das alte Modell vom Genuss
Als Belohnung für vorherige Leistung
Definiert den Genuss als etwas
Das man sich leisten kann
Es heftet jedem Genuss ein Preisschild an
Der Genuss des Wesentlichen hat keinen Preis
Sondern einen Wert
Das Argument
Dass Askese ein Privileg darstellt
Weil man das Wenige wählt
Statt dazu gezwungen zu sein
Klingt merkwürdig aus dem Munde derer
Die das Mehr und Immer-Mehr befürworten
Als wäre es nicht der Überfluss
Der die Ungleichheit weiter vergrößert
Askese ist die privilegierte Entscheidung
Von seinen Privilegien so wenig wie möglich
Gebrauch zu machen
Es gibt kein richtiges Leben im Falschen
Aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung
DIE SECHSTE STUNDE
Über die Erzählung des Lebens (Sonnenaufgang)
Der Asket der Zukunft
Kennt kein Gebet
Er hat keine Formel
Für den Sonnenaufgang
Kein Ritual für den Tag
Keine vorgeschriebene Ordnung
Der er sich überantworten kann
Jeder Satz ist ein Satz
Jede Stunde eine Stunde
Jeder Tag ein Gedankengang
Mit offenem Ende
Der Asket der Zukunft
Ist ein Asket ohne System
Ob und wie er richtig lebt
Das zu prüfen und zu überprüfen
Ist Teil seiner Übung
Was ihn mit den Asketen der Vergangenheit verbindet
Ist der Wille zum Wenigen
Und Wesentlichen
Nicht aus Verachtung
Und Geringschätzung alles Irdischen
Sondern als Wertschätzung
Und Würdigung
Wenn am Morgen
Das erste Licht durchs Fenster fällt
Ist es gut, wenn nicht viele Dinge im Raum sind
Das ist keine Frage des Glaubens
Es ist evident
Der Holzstuhl scharrt über die Steinfliesen
In der Stille der Frühe, als ich kurz aufstehe
Mich ans Fenster stelle und hinaussehe
Ich sehe den Schattenriss des Bergrückens
Die leuchtende Kammlinie
Vor dem sich aufhellenden Himmel
Das noch immer in Nacht versunkene Tal
Es wird noch dauern
Bis ich in der Sonne gehen kann
Ich trinke einen Schluck aus meinem Wasserglas
Und setze mich wieder
Das Elementare des Tagesanbruchs
Ist wie eine Bestätigung für den Gang
Durch die Stunden. Gut zu wissen
Dass sich das Richtige zeigt
Auch wenn seine Evidenz nur flüchtig ist
Und alltäglich
Wie der Sonnenaufgang
Ein solcher Moment ist
Eine Wegzehrung durch die Zeit
Das Evidente ist konkret
Kein Symbol für etwas
Höheres, Göttliches
Es ist, was es ist
Die Natur der Natur
Es ist keine Offenbarung
Kein Sinnbild himmlischer Mächte
Das Einzige, was das Richtige ergibt
Ist eine Richtung
Die einer Suche
Ein System wäre eine Antwort
Eine Erklärung der Welt
Ein Sinn, der Sinn
Der Asket der Zukunft
Kennt keine solchen Antworten
Er sucht in Richtung
Des Wesentlichen
Das ist wenig
Und viel
Wenig wie
Der Uhrzeigersinn
Die Himmelsrichtungen
Das Zu- und Abnehmen des Lichts
Viel wie
Die Richtung, die von sich weiß
Die Suche des modernen Asketen
Ist nicht systematisch
Sie richtet sich nach dem Richtigen aus
Wo immer es sich zeigt
Zur Übung des Unterscheidens
Von Wichtigem und Unwichtigem
Kommt die Übung des Erzählens
Das Verbinden einzelner Momente
Des Richtigen zu einer Richtung
Erzählen ist der Versuch
Sich selbst die Richtung zu beschreiben
In die das Leben geht
Der Versuch, ein Bewusstsein oder
Wissen über diese Richtung zu erlangen
Die Zeit läuft ab
Die Erzählung läuft auf etwas hinaus
Der Unterschied zwischen
Der asketischen Erzählung der Zukunft
Und den religiösen Erzählungen der Vergangenheit ist:
Die Asketen von damals glaubten
Das Ende zu kennen
Keine Erzählung, die heute beginnt
Kann sagen, wie sie ausgeht
Himmel und Hölle sind leer
Die großen Utopien und Dystopien
Haben ihre Kraft und Glaubwürdigkeit verloren
Ihre Zukunft ist Vergangenheit
Die asketische Erzählung
Enthält sich jeglicher Heilsversprechen
Und Weltuntergangsszenarien
Ihre Geschichte ist eine der Suche
Mit offenem Ende
Sie ist auch kein Refrain
Des alten Lieds der Entsagung
Das Asketische dieser Erzählung besteht
In der Konzentration auf die wenigen wichtigen Fragen
Nicht in der Behauptung, die Antwort zu wissen
Der Asket der Zukunft ist ein
Asket ohne Gott
Er steht vor keinem Richter
Er ist seiner Erzählung Rechenschaft schuldig
Ihr allein
Wenn er sich bemüht, richtig zu leben
Dann nicht, um dafür belohnt zu werden
Oder aus Angst vor Bestrafung
Sondern weil es, wenn die Richtung stimmt
Das Leben ist, das ihm entspricht
Keine Erzählung, die heute beginnt
Kann versprechen, dass sie den Gang
Der Dinge zum Guten beeinflusst
Oder auch nur Schlimmeres verhindert
Das Äußerste, was sie erreichen kann
Ist Klarheit
Das Utopische liegt in ihrer Richtung
Sie verweist auf die Zukunft
Ist aber der Vektor der Bewegung
Das Wohin des Lebens, hier und jetzt
Zukunft ist die Richtung des Geschehens
Im Erzählen versucht der moderne Asket
Sich über die Richtung seines Lebens klar zu werden
Seine Erzählung ist eine tastende
Sie füllt die Leerstelle der Religion nicht aus
Sondern lässt sie hinter sich
Eine Ahnung oder
Ein Bewusstsein über die Richtung zu haben
Heißt, in einer Erzählung zu leben
Es bleibt eine unsichere Erzählung
Nicht nur, weil das Ende nicht feststeht
Sondern auch, weil sich die Richtung
Verlieren oder ändern kann
So wenig wie der Ich-Erzähler seines Lebens
Das Ende wissen kann, so wenig weiß er im Voraus
Wann und wie die Richtung sich ändert
Welche Umbrüche und Wendepunkte auf ihn zukommen
Er weiß nur, dass sie kommen werden
Das landläufige Wort dafür ist Krise
Wendepunkte sind Krisen der Richtung
Richtungskrisen
In diesen Momenten
Gerät der Suchende an den Rand der Verzweiflung
Und die Erzählung an den Rand des Verstummens
Sie braucht eine Richtung
Um weiterzugehen
Richtungsverlust ist Zukunftsverlust
Wenn die Zukunft aufhört
Zerfällt auch die Gegenwart
Auch das ist eine Wahrheit
In der Erzählung der Gedanken
In ihrem Gang von Moment zu Moment
Dass der Asket der Zukunft
Auf seiner Suche manchmal
Ein Asket ohne Zukunft ist
Sonst wäre es keine Suche
Manchmal ist es möglich, sich aus
Dem Nebel der Richtungslosigkeit herauszutasten
Manchmal muss einem der nächste Schritt
Geschenkt werden
Manchmal kann man
Den Moment nur überstehen
In dem er vorbeigeht
Und auf eine Stunde
Die nächste folgt
DIE SIEBTE STUNDE
Die Erzählung des Lebens, Teil II (Über Tage)
Sinn
In seiner ursprünglichsten Form
Ist Richtung
So wie die Richtungslosigkeit
Die Urform des Sinnlosen ist
Eine Richtung zu haben heißt
In einer Geschichte sein
Sich diese Richtung klarzumachen heißt
Sich diese Geschichte erzählen
Die eigene Richtung zu kennen heißt
Dem Sinn näher kommen
(Vielleicht ist diese Annäherung schon
Der Sinn)
Der Asket der Zukunft tastet sich
Durch die Erzählung seines Lebens
Auf der Suche nach dem Wenigen
Und Wesentlichen, um das es geht
Er ist nicht nur der Erzähler seiner Geschichte
Er steht mitten im Geschehen
Das heißt, er sieht und sieht nicht
So weit wie möglich versucht er, seinen Kopf
Über den Rand des Geschehens zu strecken
Und zu einer Erzählung zu gelangen
Zum Bewusstsein dessen, was geschieht
(Eine Erzählung ist die Ordnung
Des Geschehens zu einer Geschichte)
So gut wie möglich entmischt er und verbindet
Schichtet und gewichtet, probiert und überprüft
Worauf die Geschichte hinausläuft
Auf welche Zukunft
Wie er sich auszurichten hat
Wie er richtig lebt
Doch er kann seiner Sache nie sicher sein
Der Asket der Zukunft ist kein wissender Erzähler
Er erzählt seine Geschichte
Um sie zu verstehen
Erzählt sie sich
Mehr als alles andere
Ist er sein eigener Zuhörer
Nicht der Denker und Lenker seiner Geschichte
Er versucht, ihr zu folgen
Er liest sein Leben
So gut es geht
Im Wissen um die Unzuverlässigkeit seiner Erzählung
Wer erzählt, um zu erkennen
Bewegt sich unaufhörlich
Zwischen Versuch und Irrtum
Er sieht und sieht nicht
Sieht und sieht sich nicht
Der blinde Fleck
Ist er selbst
Seine Erzählung geht mit der Erfahrung
Und durch sie hindurch
Sie ist kein Bericht darüber
Sondern ein Teil von ihr
Sie entsteht in der Erfahrung
Und die Erfahrung entsteht mit ihr
Der Erzähler verfügt nicht über sie
Er macht die Erfahrung im Erzählen
Und wird von ihr gemacht
Wer im Erzählen die Richtung sucht
Weiß, dass er sich verlaufen wird
Ohne zu wissen, wann, wo und wie sehr
Nicht er bestimmt den Gang der Erzählung
Sondern die Erfahrung
Das Richtige ist nicht verfügbar
Es ist so oder nicht so
In jedem Leben
Jeder Lebenserzählung
Gibt es das Unverfügbare
An dem die Erzählung sich bricht
Und die Erfahrung zum Widerfahren wird
Es zeigt sich in den Momenten
Der Richtungslosigkeit, des Sinnverlusts
Genauso wie in der Erfahrung
Des Richtigen, der Übereinstimmung
Gemeinsam ist all diesen Momenten:
Sie stehen nicht in unserer Macht
Nicht in der Macht des Erzählenden
Und nicht in der des Erfahrenden
Es ist das Wesen des Unverfügbaren
Dass es in keiner Macht steht
Manchmal ist das Unverfügbare wie eine Wand
Manchmal wie ein Schlag vor den Kopf
Doch es ist keine Metapher
Wer sein Leben im Leben erzählt
Ist nicht allwissend oder allmächtig
Im Geschehen wie in seiner Geschichte ist er
Weder der Größte noch der Geringste
Er muss nicht mal ein guter Erzähler sein
Nur ein guter Zuhörer seiner selbst
Viel, sehr viel hängt ab
Von seinem Verhältnis zum Unverfügbaren
Von dem richtigen Maß
Das ebenso schwer zu finden ist
Wie die richtige Richtung
Sicher ist nur, es liegt zwischen
Allmacht und Ohnmacht
Das Unverfügbare gibt keine Antwort
Doch es macht den Unterschied
Zwischen Erfindung und Erfahrung
Zwischen Leben und Beliebigkeit
Eine Erzählung, die vom Unverfügbaren
Nichts weiß, ist reine Fiktion
Die Fiktion der Fiktion ist
Die nullte Stunde der Schöpfung
Die Erfindung aus dem Nichts
Eine Lebenserzählung ist genau das Gegenteil
Sie hat immer schon begonnen
Und geht über das Erzählbare hinaus
Die nullte Stunde
Ist die Fiktion des absoluten Anfangs
Den es im Leben so nicht gibt
Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte
Jedem Anfang geht etwas voraus
Auch dem Beginn des Lebens
Einer Zeugung, einer Geburt
Einer Kindheit
Verschiedenste Geschichten
Schichten sich übereinander
Überlagern und verschränken sich
Einen Anfang finden heißt immer auch
Einen Anfang erfinden, die Behauptung aufstellen
Dass hier, inmitten all der laufenden Geschichten
Der Ausgangspunkt einer Erzählung ist
Auf den Versuch kommt es an
Und auf die Fähigkeit, als Zuhörer
Zu merken, ob und wann