Klassenbuch - John Düffel - E-Book

Klassenbuch E-Book

John Düffel

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Beschreibung

Sie sind erwachsen und sind es nicht: Sie sind in jeder Hinsicht »dazwischen«, zwischen Schule und wirklicher Welt, zwischen Gegenwart und Zukunft, Vereinzelung und der unfreiwilligen Gemeinschaft einer Klasse. John von Düffel folgt neun ganz unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern an entscheidenden Punkten ihrer Entwicklung. Es sind Hochbegabte und Schwänzer, Suizidgefährdete und Magersüchtige, Computernerds, Selbstdarsteller und Unsichtbare, deren Realität mit der digitalen Welt verschwimmt. Was als Kranz isolierter Perspektiven beginnt, verwandelt sich immer stärker zu einem fein verästelten Gesamtgebilde, in dem alles auf überraschende und erschütternde Weise interagiert. Die vielen Möglichkeiten, die anfangs offenzustehen scheinen, verdichten sich dabei allmählich zu einem gemeinsamen Schicksal. ›Klassenbuch‹ ist ein Kaleidoskop detailscharfer Momentaufnahmen einer Lebensphase, die wohl wie keine andere auf der Kippe zwischen Aufbruch und Absturz steht. Von Düffel gelingt es virtuos, jedem seiner Antihelden eine unverwechselbare Stimme zu geben. Am Ende wird man ihnen so nahe gekommen sein, dass man sie nie wieder vergisst.

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Seitenzahl: 391

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Was macht die digitale Welt mit unseren Köpfen?

Neun Jugendliche an der Grenze zwischen Realität und Virtualität, Beschleunigung und Verlangsamung: Erik, Stanko, Emily, Bea, Lenny, Annika, Nina, Li und Henk taumeln und rasen in Richtung Erwachsensein. Sie sind Hochbegabte und Schwänzer, Suizidgefährdete und Magersüchtige, Aktivisten und Computernerds, Selbstdarsteller und Unsichtbare, deren Wirklichkeit mit den digitalen Möglichkeiten verschwimmt. Neun Gefangene ihrer eigenen Welten, für die es nur wenige Momente von Freundschaft und Wahrhaftigkeit zu geben scheint.Was als Kranz isolierter Perspektiven beginnt, verwandelt sich zu einem fein verästelten Gesamtgebilde, in dem alles auf überraschende Weise miteinander interagiert und sich allmählich zu einem gemeinsamen Schicksal verdichtet: zu einer Reise an die Ränder der digitalen Welt, aus der kein Klick zurückführt.

»Ein Mann – oder Junge – (ich kann mich nicht genau erkennen) erwacht in der harten Virtualität. Einer von beiden ist gestorben, die Welt oder er, wahrscheinlich die Welt.«

© Katja von Düffel

John von Düffel wurde 1966 in Göttingen geboren. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Bei DuMont erschienen seine Romane ›Vom Wasser‹ (1998), ›Zeit des Verschwindens‹ (2000), ›Ego‹ (2001), ›Houwelandt‹ (2004), ›Beste Jahre‹ (2007) und ›Goethe ruft an‹ (2011) sowie die Sammlung ›Wassererzählungen‹ (2014) und ›KL – Gespräch über die Unsterblichkeit‹ (2015). John von Düffels Werke wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.

John von Düffel

KLASSENBUCH

Roman

FürKatja und Greta

»It gets better.«

Dan Savage

»It gets worse.«

TEIL I

»Im Sommer hast du alle Leut’

Durch dein Singen sehr erfreut?

Dann, weißt du was, jetzt tanze!«

La Fontaine

Ahlsen, Erik

Busensuche negativ. Über der H&M-Bikini-Frau an der Bushaltestelle klebt Autowerbung – ein Kombi + Familie, vierköpfig. Die Bedienung vom Backshop mit dem tiefen Ausschnitt ist plötzlich ein Mann mit Vollbart (der Bäcker, schätzungsweise). Und sexy Leyla fehlt »wegen Frauenleiden«, meint ihre kleine Schwester, das Gerippe, grinst hämisch und schiebt sich beide Fäuste untern Pulli.

Schön wär’s.

Im Schulbus treffe ich Henk, der mir den Platz neben sich freihält und ein In-Ear abgibt mit dem Neuesten von den Spunks, so weit die gute Nachricht. Nicht so gut: Sein Vater vermisst den Benzinkanister, den wir gestern abgefackelt haben. Super Lagerfeuer, aber meine Unterarme sind enthaart bis zu den Ellbogen. Die Stöckelschuhe meiner Mutter, in denen Henk ums Feuer getanzt ist, sind auch hin. Absatz abgebrochen, sagt er. Ich glaube ihm kein Wort und zucke mit den Achseln. Waren sowieso schon alt + stanken. Mamas Fußschweiß, unverwechselbar, nicht muffig-käsig wie bei anderen Leuten, sondern scharf wie Pferdepisse. Kommt angeblich von den Billigstrümpfen, Perlon oder so, das ätzt. Henk steht drauf.

Er ist total verrückt nach Frauenfußgeruch. Wenn er eine Weile herumgestöckelt ist, kickt er die Schuhe weg und riecht an seinen Mauken, die nach den Mauken meiner Mutter riechen. Voll süchtig, der Mann, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es ihm speziell die Stöckelschuhe angetan haben oder der Geruch von Pferdepisse oder meine Mutter.

Soll gesund sein, meint Henk, gesünder jedenfalls als Klebstoff und Benzin und was er sonst noch schnüffelt, Schweiß ist »bio«, sagt er (haha), und dass er meiner Mutter dankbar sein muss, weil sie ihm geholfen hat, von der Chemie loszukommen, von der man Löcher im Gehirn kriegt. Ich glaube ihm wirklich kein Wort. Ich glaube, er ist in sie verliebt. Henk ist süchtig nach meiner Mutter. Soll er ruhig. Ich misch mich da nicht ein. Aber ich kapier’s nicht. Meine Mutter hat keinen Busen, wirklich null, seit ihrer letzten Diät. Früher hatte sie angeblich mal einen, und ein bisschen sieht man es auch auf den Babyfotos, als ich ganz klein war und mein Vater noch da, hinter der Kamera. Doch sogar mein Mini-Kopf ist größer als ihre Hubbel, wenn sie mich im Arm hält, und mein Windelhintern praller.

Ich war damals schon auf Busensuche.

Die Bilder sind trotzdem irgendwie scharf, findet Henk. Er hat sie abfotografiert mit seinem Handy. Was Verliebte eben so tun. Doch das verstehe ich ein bisschen. Mama lächelt darauf so süß, als gäbe es die Kamera gar nicht, sondern nur sie + Kind. Als wäre die Welt schwarz-weiß und würde ein, zwei Meter vor der Linse enden. Damals hätte ich mich auch in sie verlieben können. Blöd ist bloß, dass ich jetzt ständig darauf achte, wie sie riecht, und mich frage, wie Henk das wohl findet.

Er selbst riecht nach Weichspüler, wie Henks ganze Familie. Seine Mutter benutzt literweise diesen Billigweichspüler von Lidl. Bei jeder Gelegenheit schickt sie Henk los, Nachschub kaufen. Das Beste wäre, sie würde sich eine Pipeline legen lassen, meint er. Und natürlich frage ich mich an Tagen wie heute, ob ich lieber in einer Familie leben würde, in der immer alle nach Lidl-Weichspüler riechen, als bei einer Mutter ohne Brüste mit Schweißfüßen und Kleidern, deren Geruch ständig wechselt, je nach Wochentag und Laune. Und Herrenbesuch.

Den Geruch mag ich am wenigsten.

Eigentlich erstaunlich, dass Henk bei den Weichspüler-Wolken um sich herum überhaupt noch irgendetwas riechen kann. Aber vermutlich sind Benzindämpfe und die Pferdepissefüße meiner Mutter das Einzige, was noch zu ihm durchdringt. Er braucht echt starkes Zeug. In der großen Pause ist er rüber in die Mädchenumkleide der Turnhalle. Nicht wegen der Mädchen, sondern wegen der Turnbeutel. Riechen, ob sie riechen. Er ist total verrückt.

Ich setze mich auf die Schulmauer und spucke die Umrisse meiner Schuhe auf die Gehwegplatten. Dann ist Deutsch bei Frau Höppner, von der alle munkeln, sie hätte was machen lassen während der Sommerferien, Brustvergrößerung oder Nasenverkleinerung. Aber ich sehe keinen Unterschied, außer, dass sie nicht mehr so dicke Augen hat, was man mit Schminke hinkriegt, Mama wenigstens. Ich kenne alle ihre Tricks. Abends schminkt sie sich, um irgendwas hervorzuheben, rote Lippen, rosa Wangen, morgens, um von irgendwas abzulenken, vor allem, wenn sie verheult ist, die Augen verquollen und die Tränensäcke sackig. Eigentlich müssten sie leer sein, leergeflennt nach solchen Nächten. Aber Biologie funktioniert anders: Je mehr Tränen fließen, desto dicker der Sack. Im Grunde sind Drüsen und Säcke wie Muskeln. Ein Bizeps nutzt sich ja auch nicht ab durch Gebrauch, sondern wird immer größer, je mehr man trainiert. Frau Höppner und meine Mutter haben echt gut trainierte Heulmuskeln und auch sonst eine Menge gemeinsam. Obwohl bei Frau Höppner momentan die Glücksmuskeln im Kommen sind, ich sehe das.

Seit dem Sommer lächelt sie, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, lächelt zum Fenster hinaus und vergisst ihr Gesicht, auch das sehe ich.

Der Glücksmuskel ist viel zarter als der Heulmuskel, eher so eine Art Geflecht bis in die Mundwinkel. Es zieht sie nach oben, ganz leicht, ganz von selbst, kein Smiley, nur die Ahnung eines Lächelns. Das ist inoperabel.

Frau Höppner betritt die Klasse und strahlt, als käme sie frisch vom Glücksmuskeltraining, wobei ich nicht daran denken will, dass dazu immer zwei gehören (natürlich denke ich daran). Henk guckt auf sein Handy, ich gucke die Wand an, weil es so offensichtlich ist. Irgendwas im Raum verändert sich, obwohl es nicht gleich still wird. Eine warme Welle schwappt von Bauch zu Bauch. Und während ich die Wand anstarre und fast ein bisschen rot werde und aufgeregt und glücklich oder ko-froh, da passiert es: das Dümmste, was passieren kann, seitdem klar ist, dass wir in diesem Schuljahr nicht allein sind.

Wir haben eine Grille in der Klasse, irgendwo in den Fenster- und Mauerritzen, original mit Soundtrack. Gleich am ersten Schultag nach dem Klingeln zirpte sie drauflos oder war mit ihrem Zirpen plötzlich hörbar, weil wir die Klappe hielten. Die Grille musste hier in der Wand sitzen und singen – außer, wenn man ihr zu nahe kam, weshalb sich schwer feststellen ließ, wo genau »hier« war. (Es hörte sich immer ein bisschen woanders an.) Und Lenny, der Vollidiot, gleich: Frau Höppner, ich kann mich nicht konzentrieren, die Grille ist so laut – oder das Heimchen, weil Annika meinte, dass es hier nur Heimchen gibt. Und sofort tobte eine Riesendiskussion, worin der Unterschied besteht oder ob Heimchen dasselbe sind wie Grillen, nur weiblich. Und Lenny immer: Ich kann nicht arbeiten bei dem Gezirpe, der Kammerjäger soll kommen!

Das Zirpen hört ihr irgendwann nicht mehr, sagte Frau Höppner nur. Sie lächelte über die künstliche Aufregung hinweg und las uns die Fabel von der Grille vor, die den ganzen Sommer singt, im Gegensatz zur Ameise, die durcharbeitet. (Wie denn, bei dem Lärm?, fing Lenny wieder an – wirklich so ein Vollidiot!) Na ja, und als der Winter kommt, hat die Grille nichts gespart, kein Geld, keine Vorräte, und die Ameise will ihr nichts abgeben, was wir im Prinzip alle richtig fanden, so was kommt von so was, selber schuld. Doch man konnte sehen, dass es nicht das war, worauf Frau Höppner hinauswollte, also meinten wir dann, dass Kunst natürlich auch wichtig ist, die schönen Dinge, die Musik vor allem und so weiter. Und ich war total runter mit den Nerven, weil mir auf einmal klar wurde, dass die Geschichte eigentlich davon handelt, dass es Winter wird und der Sommer vorbei ist, die Zeit der Busenblusen, Tanktops und Bikinis, einschließlich der Werbung für Busenblusen, Tanktops und Bikinis. Und alles Geld, alle Vorräte der Welt bringen die Zeit nicht zurück. Das hat mich echt fertiggemacht. Keine Ahnung, wie man das Schuljahr überstehen soll, wenn es mit der Ansage beginnt, dass wir ab jetzt Ameisen sind und der Sinn fürs Schöne verhungern muss.

Am Ende der Stunde hat dann niemand mehr die Grille gehört (oder das Heimchen), nicht mal Lenny, und Frau Höppner hatte Grund zu lächeln: Na bitte, ihr habt euch daran gewöhnt!

Damit war das Thema erst mal erledigt, zumindest für die Normalos – die Idiotenfraktion durfte sich im Förderunterricht noch einmal schriftlich damit befassen. Aus gegebenem Anlass, wie Herr Tretner immer sagt. (Er brüllt sogar: Ruhe, aus gegebenem Anlass!) Dabei kam von der Grille am Nachmittag kaum noch ein Mucks. Erschöpft wahrscheinlich oder heiser. Aber vielleicht singt sie auch nicht für Idioten wie mich. Sie singt nur morgens für Frau Höppner und die ganze Klasse.

Inzwischen hören wir sie gar nicht mehr. Nur montags manchmal, nach den Wochenenden fällt uns auf, dass sie noch lebt und zirpt. Sie gehört ganz einfach zur Geräuschkulisse wie der Straßenverkehr oder Regen oder Lehrertext. Und mit der Aussicht auf zehneinhalb Monate als Idiot in diesem Bau denke ich auf einmal: Das fehlt in der Fabel, dass man sich daran gewöhnt. Wo steht, dass man die Grille bald schon nicht mehr hört? Warum singt sie dann überhaupt noch? Und was hat die Ameise davon?

Sie trägt einen taubenblauen Wollpulli mit einem schmalen V-Ausschnitt (mehr V als Ausschnitt), nicht mehr als eine Andeutung von Dekoll-T (ein Dekoll-T ist immer eine Andeutung, könnte nur deutlicher sein). Ihr Pulli ist nicht eng genug für meinen Geschmack. An den Hüften liegt der Stoff auf, weich und flauschig, was mir ein komisches Gefühl im Magen macht. Über den BH-Cups spannt er etwas, fließt aber spurlos über die Busenfalte hinweg. Ihre Brüste können wirklich nicht sehr groß sein, geschweige denn vergrößert. Doch ihr Hals ist wunderschön, das sehe ich zum ersten Mal. Ich muss so an Frau Höppner gewöhnt gewesen sein, dass ich noch nie auf ihren Hals geachtet habe, dabei ist das der Sinn all ihrer V-Ausschnitte, sie betonen den Hals! Unter dem Kehlkopf, der länglich ist, lang und geschmeidig wie ein Schluck Milch, hat sie so eine kleine Höhle, einen Hohlraum, da, wo die Sehnen in den Brustkorb übergehen. Und diese Kuhle unter ihrer Kehle erscheint mir plötzlich so vornehm, so kostbar wie ein Schmuckstück, eine Brosche oder so was, obwohl da eigentlich nichts ist, nur ein Schatten, eine Schattenmulde und das Pochen und Pulsieren einer Ader unter milchweißer Haut. Aber das ist es, denke ich, das ist das Zentrum, die Mitte des Glücksmuskels, von dort aus verbreitet es sich.

Dass ich das nie gesehen habe!

Einen Moment lang bin ich fassungslos, weil sie ihre Glückskehle so offen trägt und zeigt, uns zeigt, etwas derart Zartes, Verletzliches, dass es sich fast wie eine Wunde anfühlt. Aber gleichzeitig ist es auch das Stärkste an ihr überhaupt, und ich denke nur: Wow, das wusste ich nicht! Ich hatte keine Ahnung, dass sie lebt, lebendig ist, also so lebendig.

Wow, Frau Höppner, wirklich wow!

Und in genau dem Moment, dem unglaublichsten, ruft Lenny: Frau Höppner, ich bin fertig, was soll ich jetzt machen?

Und ich sage: Vollidiot.

Dummerweise bin ich lauter, als ich dachte, oder die Klasse ist stiller, kein Straßenverkehr, kein Regen, kein Lärmpegel. Meinem Idiotensatz fehlt voll die Deckung. Doch das ist noch nicht alles, nicht das Allerdümmste! Frau Höppner steht auf und kommt näher, kommt auf mich zu. Ich habe sie zu lange angestarrt, ihren Hals, ihre Glückskehle, ich weiß, aber ich kann es erklären: Ich bin nicht in sie verliebt, wirklich nicht. Ich habe mich nur angesteckt bei ihr, ihrer Verliebtheit, so wie Mama sich jedes Mal ansteckt, wenn sie auf Hochzeiten geht oder ins Kino. Es ist nur die Stimmung, so eine Heiratsstimmung, Verliebtheitsstimmung, aber damit ist niemand gemeint, niemand Bestimmtes, schon gar nicht Frau Höppner.

Sie geht an mir vorbei zu Lenny in meinem Rücken, letzte Reihe, Fensterplatz. Aus irgendeinem Grund bin ich enttäuscht.

Während Lenny sich bei Frau Höppner beschwert, beuge ich mich über mein Heft und versuche, ein bisschen was zu Papier zu bringen. Nicht aus schlechtem Gewissen oder um meine Bemerkung wiedergutzumachen, Lenny ist ein Vollidiot, das weiß hier jeder. Ich schreibe für sie, schreibe es ihr einfach.

»Die Kehle der Grille«, beginne ich eine neue Seite – groß, weil Überschrift – und frage mich vorfreudig, ob Frau Höppner wohl alles zum Thema Kehlen auf sich bezieht. (Irgendwer hat mal gesagt, Grillen oder Heimchen sind hässlich wie die Nacht, aber vielleicht sind ihre Kehlen ja schön?) Ich würde zu gerne sehen, ob sie rot wird, wenn ich ihr ein Kompliment mache, durch die Grille natürlich, für ihre Kehlenschönheit und ihren Gesang. Ein bisschen lege ich es darauf an.

Jetzt redet Frau Höppner auf Lenny ein, im Flüsterton, aber ich glaube, sie schimpft. Ich horche hinter mich, kann aber kein Wort verstehen, sie ist zu leise oder die Klasse zu laut, trotzdem wünschte ich, sie würde mit mir flüstern oder schimpfen, egal was.

»Die Kehle der Grille …«, will ich gerade loslegen und weiterschreiben – klein, weil erste Zeile –, da fängt die Grille wieder an, oder bilde ich mir das ein? Jedenfalls höre ich sie plötzlich ganz laut, ganz kehlig. Und obwohl ich mich richtig reinknie in den Text, füllt dieses Zirpen meinen Kopf.

Kein Gesang, gar nicht, sondern ein Alarm, ein schrilles, endloses Weckerklingeln, und ich sehe auf einmal nur noch Kehlen und Kuhlen vor mir. Dabei dachte ich immer, dass es Brüste sind, die mich umhauen, aber nein, es sind Kehlen, denke ich, Kehlen-Dekoll-Ts!

Und während mir das klar wird, sehe ich plötzlich diese Spinne hinter der Fußleiste hervorkriechen, kleinfingerdick mit kräftigen Beinchen, und ich frohlocke fast vor Glück, weil das im Gegensatz zum Aufsatzschreiben etwas ist, was ich gut kann. Zu Hause bin ich zuständig für Spinnen, auch in der Turnhalle im Duschbereich, wo sie meist in der Lüftung lauern und von oben kommen oder von unten aus den Abflussrohren, was kein schlechter Effekt ist, weil man barfuß Hemmungen hat, sie totzutreten. Und da komme ich ins Spiel. Ich habe eigentlich gar nichts gegen Spinnen, aber wem schmeichelt es nicht, wenn auf einmal alles »Rick!« schreit. (Es ist leicht verdiente Dankbarkeit.) Insofern warte ich ein Weilchen, während Frau Höppner lauter wird mit Lenny und die Spinne weiter vorrückt in den zweifußbreiten Zwischenraum zwischen Wand und Stuhlbein, mächtig fettes Viech. Und ich höre Frau Höppner jetzt deutlich, wie sie Lenny ermahnt, sich nicht zu schnell zufriedenzugeben und stärker den Bezug zu sich herauszuarbeiten (wahrscheinlich dreht er ihr den Förderaufsatz an, doch so leicht kommt er nicht davon). Und genau in dem Moment stampfe ich auf und erwische sie voll, die Bestie, Präzisionsarbeit, keine Chance wegzuhuschen. Ganz schön massiv, denke ich, während ich mit der Sohle nachdrücke, fast ein bisschen crunchy. Jedenfalls ist mir, als würde es nicht einfach nur »flatsch« machen, sondern »knirsch« oder »kracks«. Und dann ist es still, zum ersten Mal seit dem Sommer, totenstill. So als hätte jemand den Ton abgestellt, den Geräuschteppich weggezogen, taub, alles taub. Und ich denke gar nichts, ich höre nur, dass es passiert ist, das Allerallerdümmste. Ich bin auf die Grille getreten! Sie war das! Sie ist so hart unterm Schuh. Kein fetter Spinnenleib, sondern ein drahtiges, dürres Grillen-Gerippe aus Horn, Hornhaut, Panzerdings oder wie sagt man bei Insekten?

Und das ist so ziemlich das Dümmste überhaupt, dass ich trotz Förderunterricht und allem den Unterschied zwischen einer Grille und einer Spinne nicht erkenne, ich Idiot.

Frau Höppner verstummt, Lenny auch. Vielleicht horchen sie auf. Alle, so kommt es mir vor, horchen auf die ungewohnte Stille (die sich hoffentlich keiner erklären kann). Aber ich darf mich nicht umdrehen und nachsehen. Ich darf meinen Fuß nicht bewegen. Er muss genau da bleiben, wo er steht, auch wenn er jetzt schon kribbelt und sich wie eingeschlafen anfühlt. Ich nehme ihn nie wieder weg.

Alles in Ordnung, Erik?, höre ich Frau Höppners Stimme hinter mir und zucke zusammen. Doch sie fragt sanft und ohne Vorwurf. Ich spüre, wie sie sich über mich beugt, ihr Taubenpulli meine Schulter streift – was für einen Luftzug das in meinem Nacken macht. Sie ist so nah, ihre Wärme so weich, ihr Geruch so süß. Ich wage nicht, den Kopf zu heben, sondern starre nur auf mein Heft wie ertappt. Wenn ich könnte, würde ich jetzt die Augen schließen, aber sie sind wie gelähmt, ich kann die Augenlider nicht bewegen, nicht einmal blinzeln. Ich wünschte, ich wäre tot.

Na, zeig doch mal her, sagt sie – noch mehr warmer Atem, noch näher an meinem Ohr. Mein Bein verkrampft, ich nehme meinen Fuß nicht weg, ich denke gar nicht daran! Doch sie meint offenbar den Aufsatz. Ihr Taubenpulli fliegt an mir vorbei, die flauschigen Ärmel, ein Knistern, ein Rascheln. Gleich liest sie meinen Kehlen-Satz, gleich nimmt sie mein Heft, denke ich und reiße im letzten Moment meine Hände aus dem Gelähmtsein. Laut klatschen sie vor mir auf das Papier, die Überschrift, meinen Anfang.

Erik?, fragt sie.

Aber ich schüttle nur den Kopf. Sie darf das nicht lesen, keiner darf das. Ich habe den Sommer getötet, den Gesang, ich habe das Schöne auf dem Gewissen. Selbst wenn es keiner weiß und je wissen wird, ich weiß es. Die Kehle der Grille ist still.

Frau Höppners Hände auf meinem Pult, sie sehen sehr schön aus. Ganz leicht zupfen sie an meinem Heft, an der äußersten Ecke, als wollten sie es nicht nehmen, nur necken. Ich kralle die Finger zusammen, zerknittere die Seite und reiße sie raus und noch ein paar andere. Dann erst fällt mir auf, dass ich heule.

Und auf einmal kann ich nicht mehr aufhören.

Ich heule nicht besonders laut, doch die Klasse ist noch immer still, sogar Lenny. Und ich denke beim Heulen: Wow, das geht aber lang! Auch das Schweigen der anderen kommt mir unglaublich lang vor und das Gefühl, dass sie mir zuhören. So was gab es noch nie.

Irgendwann werden die Hefte abgegeben, eingesammelt wie auf Zehenspitzen, irgendwann klingelt es zur Pause, irgendwann sind alle weg. Nur Frau Höppner steht noch da mit den Heften im Arm, steht vor mir, die andern sind so leise raus, als wäre jemand gestorben. (Vielleicht haben sie doch was gemerkt?) Und ich will mich entschuldigen und sagen: Schon gut, geht schon wieder. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich aufgehört habe zu heulen oder es nur nicht mehr merke. »Das Heulen der Ameisen …«, denke ich, vielleicht hätte ich darüber schreiben sollen. Doch ich lasse zu, dass Frau Höppner mein Heft nimmt, nur das. Die zerknüllten Seiten behalte ich in der Faust. Vielleicht schreibe ich den Satz noch zu Ende, später einmal.

Aber Ameisen heulen nicht, oder?

Ich rechne damit, dass sie mich ins Klassenbuch einträgt und rausschickt auf den Schulhof mit meinen Heulmuskeln in voller Pracht. (Keine Ahnung, wie ich es so bis zur Mauer schaffen soll.) Einen Moment überlege ich, wie die Chancen stehen, dass die Grille unter meinem Schuh klebt und ich sie rausschaffen kann oder zerreiben, bis nichts mehr von ihr übrig ist außer Schmiere. Doch das ist zu riskant. Das Klassenbuch liegt auf dem Lehrerpult am Rand rechts oben, wo es hingehört, Frau Höppner wartet, aber sie sieht nicht aus, als wollte sie es anrühren. Sie sieht aus, als würde sie mir über den Kopf streichen wollen, obwohl sie beide Hände voll hat mit Heften. Ihr Strahlen hat sich verwandelt, es ist mild geworden, eine Streichel-Miene, passend zu ihrem Pulli. Und gerade als ich mich frage: Was passiert jetzt, worin besteht meine Strafe?, sagt sie: Lass dir Zeit, Erik.

Unglaublich! Aber so ist Frau Höppner, so nett.

Ich schaffe es zu nicken, weil das ja wohl heißt, dass ich nicht rausmuss in die Pause zu den andern. Mein Fuß kann bleiben, wo er ist. Die Hausordnung ist aufgehoben. Ich nicke mehrmals. Echt unglaublich.

Wenn du reden willst, ich hab Aufsicht, sagt sie noch in der Tür. Erst dann geht sie.

Und ich höre ihre Schritte den Gang hinunter und denke nur: Danke, Frau Höppner. Und: wow!

Balic, Stanko

Natürlich »gibt« es Kundra nicht. Er hat auch keinen langen, weißen Bart (das sind Strahlen). Und dass er zaubern kann, habe ich nie behauptet. Aber er ist keine »Einbildung«, wie Sie sagen, Einbildungen sind etwas anderes. Er ist auch kein Mensch oder so, kein weiser alter Mann. Er hat keinen Körper. Insofern.

Es gibt auch nicht Maluna-Me, obwohl sie noch weniger Einbildung ist als Kundra. Von ihr gibt es Zeichen, Handbewegungen, manchmal. Aber sie existiert nicht als eigenständiges Wesen, Maluna-Me ergreift Besitz. Sie ist sogar sehr besitzergreifend. Aber keine Sorge, sie ist kein Dämon, sondern am ehesten eine Idee, ein Gedanke. Und sie kommt meistens nachts.

Maluna-Me hat zwei Eigenschaften. Die wichtigste ist »Stecknadel«. Was nicht heißt, dass sie sticht, sondern dass sie die Dinge auf engsten Raum bannt oder brennt oder einfriert, alle Materie auf einen Punkt, einen Stecknadelkopf. Sie kann die Welt so eng machen, dass sie auf einen Stecknadelkopf passt (nachts). Nicht zu fassen, dass es keine Bezeichnung dafür gibt in Ihrer Sprache, kein besseres Wort auf Deutsch als »eng machen«. Zu Maluna-Me passt das überhaupt nicht.

Ich sollte nicht so viel mit den Händen reden, ich weiß.

Ihr Stecknadelblick tut nicht weh, falls Sie das meinen. Maluna-Me ist von gar keinem Schmerz begleitet, nur von Geschwindigkeit (und Licht). Man kriegt bloß einen Schreck, weil es Nacht ist und die Welt plötzlich so winzig. Es muss Nacht sein wie im All, sonst kann man sich nicht in Lichtgeschwindigkeit von der Erde entfernen und dabei auf sie heruntergucken, ohne dass die Einzelheiten verschwimmen. Sie sind unendlich klein, Milliarden Detailmenschen, aber scharf, gestochen scharf.

Und so bleibt es dann bis zum Morgen.

Kundra ist das Gegenteil. Er kann den Unterschieden ihre Schärfe nehmen und Malunas Blick auf-, ja »aufdröseln« – auch so ein Wort, so eine Ungeschicklichkeit. Dabei ist Kundra sehr geschickt. Er zieht das Gewebe auseinander, entwirrt die Fäden, macht das Enge wieder auf, das ist seine Eigenschaft. Er ist der »Weitmacher« (Wort fehlt). Vielleicht denkt deswegen jeder, dass er alt und weise ist. Weil er einen so großen Zeitradius hat. Er überblickt Jahrhunderte. Für ihn ist alles, was passiert, Vergangenheit. Bei Sonnenaufgang, an den klaren Tagen, sieht man manchmal seinen Strahlenbart, aber er blickt immer zurück.

Es sind mehr die Finger als die Hände, stimmt’s? Die Finger verraten mich.

Natürlich ist das nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich wollte nur richtigstellen, dass diese »Wesen«, wie Sie sagen, keine »Einbildungen« sind, wie Sie sagen (ganz abgesehen davon, dass Einbildungen etwas völlig anderes sind als Wesen). Einbildungen kommen von innen, von innerhalb des Immunsystems. Kundra und Maluna-Me kommen von außen und verlassen den Körper auch wieder, egal, wie weit sie vordringen und sich seiner bemächtigen. Sie sind flüchtige Besucher (nachts, morgens). Das muss man sich immer klarmachen, bei allem.

Also zur Sache, zu meiner Anzeige –

Ich setze mich jetzt mal auf meine Hände, auch wenn das unhöflich ist. Aber ich habe das Gefühl, Sie achten nur auf meine Handbewegungen, Gesten, Geheimzeichen. (Maluna-Me werden Sie nicht entdecken, nicht um diese Zeit, auch wenn das ihre zweite Eigenschaft ist: Hypnose.)

Wenn es so klingt, als würde ich Kundra oder Maluna-Me die Schuld geben, ist das falsch. Der Schuldige bin ich. Ich möchte mich anzeigen. Ich habe meine Familie getötet, erst meine Schwester, dann – weil ich nicht wollte, dass sie leiden – meine Eltern (sie wären nie darüber hinweggekommen). Ich hoffe, das ist deutlich genug. Sie können das gerne gegen mich verwenden.

Sie zucken noch immer, meine Hände. Das steckt drin, tut mir leid.

Fragen Sie mich, was Sie wollen. Ich kann beweisen, dass ich der Täter bin. Ich habe – wie heißt das? – Täterwissen (gutes Wort, ausnahmsweise). Schwerer zu beweisen ist die Tat, wie immer, wenn es keine Leichen gibt. Doch es wurden auch schon Mörder ohne Leiche verurteilt. Nicht, dass ich darauf aus wäre. Es geht mir nicht ums Verurteilt-Werden, es geht mir um die Anerkennung meiner Schuld.

Das ist das Einzige, worum ich Sie bitte.

Dass ich das Recht habe zu schweigen, nützt nichts. Ich muss mit jemandem reden – mit Ihnen. Nicht weil ich Ihnen vertraue (ich vertraue Ihnen, aber das ist nicht der Grund) und schon gar nicht weil ich mein Gewissen erleichtern will – wenn mein Gewissen das Problem wäre, hätte ich die Sache nie zu Ende gebracht. Ich will einfach nur mit Ihnen reden. Seltsamerweise wollte ich das schon während der Tat. Das Ganze hat verdammt lange gedauert, ich hatte also genügend Zeit zum Nachdenken. Und immer wenn es schwierig wurde, habe ich mir vorgestellt, wie ich hier vor Ihnen sitze und es Ihnen erzähle. Das war das Schönste.

Und übrigens eine Einbildung, in meinem Kopf, dessen bin ich mir bewusst.

Mir ist auch klar, dass Sie dieses Gespräch nicht vertraulich behandeln können, nichts von dem, was wir hier reden. Sie müssen es melden, ich weiß, erst dem Direktor und der Schulbehörde, dann der Polizei. Oder in umgekehrter Reihenfolge. Aber das spielt keine Rolle. Mir ist nur wichtig, dass Sie die Erste sind.

Darf ich wieder mit Händen reden, bitte, Frau Höppner, und Sie hören mir bitte trotzdem zu?

»Tat« ist auch so ein Wort. »Tat« klingt immer so einfach, so glatt. Wie ein Ding. Dabei ist eine Tat so viele Dinge, tausend, zigtausend Details, nicht nur der Finger am Abzug, die Faust im Gesicht, das Messer im Hals. Es ist kompliziert. Kein schlechter Trick, etwas so Kompliziertem einen so simplen Namen zu geben, »Tat«! Aber das ist gelogen. Wahrscheinlich, damit überhaupt irgendwer etwas tut. Aber gelogen.

Tat. Tat. Tat.

Es hat Wochen gedauert, Monate. Bei meiner Schwester habe ich angefangen, ganz langsam, behutsam. Meine Eltern durften nichts davon merken, haben sie auch nicht. Sie meinten nur irgendwann, Ilhana hätte sich verändert (ich mag auch den Namen nicht, ich mag nicht, wenn die Kinder heißen wie ihre Großeltern, zu viel Erinnerung, zu viel Tradition). Aber da war es schon zu spät, da hatte ich sie schon ausgetauscht, zu über neunzig Prozent, ihre Gedanken und Gefühle. Sie hatte sich nicht verändert, sie war eine andere geworden. Aber das konnten meine Eltern nicht mehr feststellen, weil ich mich inzwischen schon in ihr Gedächtnis geschlichen hatte. Nach und nach habe ich ihre Erinnerungen ausgetauscht wie Fotos in einem Album, die man durch neue ersetzt und so lange anschaut, so oft durchblättert, bis man nichts mehr vermisst, keine Heimat, keinen Krieg, keine Toten, auch die Gräber nicht. Über alles wächst Gras. Es ist nur eine Frage der Konditionierung. Irgendwann, wenn man dasselbe oft genug wiederholt, ist es immer so gewesen und das Gras so grün wie überall. Der Effekt ist erstaunlich. Ich hatte immer gedacht, dass es so etwas wie eine Persönlichkeit gibt, einen »Charakter«, unabhängig von der Erinnerung, dem Gedächtnis und den Geschichten, die es einem erzählt. Aber das stimmt nicht. Wenn man an den Erinnerungen dreht, dreht man die ganze Person.

Schon seltsam, diese Erfahrung, bei den eigenen Eltern.

Natürlich wollte ich nicht, dass sie Ilhana hassen, auch wenn sich das nicht genau steuern lässt. Ich wollte überhaupt keine starken Gefühlsauslöser, Abschiede und so, sondern Nichtssagendes, die üblichen Schnappschüsse vorm Weihnachtsbaum, Geburtstagspartys mit austauschbaren Kuchen und Kindern, Urlaubsfotos vom Strand (Sandstrand, wenn möglich, Sand ist gut, und ein Meer ohne besondere Merkmale). Am Ende – auch wenn es beim Vergessen nicht wirklich ein Ende gibt – konnten Papa und Mama einfach nichts mehr mit Ilhana anfangen, das hat mir gereicht.

Ganz abgesehen davon, dass sie da schon nicht mehr meine Eltern waren.

Das war viel Arbeit, und ich brauchte Zugang zu den Köpfen. Glauben Sie nicht, dass es mit ein bisschen Abrakadabra und Fingerzauber à la Maluna-Me getan ist – »getan« ist nie etwas. Im Grunde muss man es immer wieder tun (nachts, morgens, nachts). Und manchmal verzweifelt man bei dem Gedanken, dass es Milliarden Detailmenschen gibt, jeder in seiner eigenen kleinen Ameisenwelt und jeder eine Ameisenwelt für sich, die wiederum aus einer Milliarde Details besteht, so vielen Unwichtigkeiten. Ohne den Stecknadelblick ist man verloren. Nur Engmachen hilft.

Am einfachsten ging es bei meiner Mutter, weil sich ihr Gedächtnis fluten lässt – insofern gibt es gewisse Unterschiede von Person zu Person, keinen »Charakter« in dem Sinn, aber verschiedene Arten, Eigenarten des Erinnerns. Meine Mutter – genauer: die Detailkonfiguration mit dem Aussehen meiner Mutter – ist ein weicher Erinnerer. Ihr Gedächtnis funktioniert über Gefühlsverbindungen wie ein Adersystem mit Blutbahnen und vielen kleinen Verästelungen. Wenn man ein starkes Gefühl hineinpumpt, tränkt das alles (weil alles mit allem zusammenhängt). Maluna-Me hatte viel Freude daran. Sie ist, wie gesagt, sehr besitzergreifend und ein bisschen verspielt.

Meine Mutter war oder wurde immer häufiger Maluna (nicht nur nachts), »Maluna-Mama«, abgefüllt mit Gefühlen, das System überschwemmt und alle Erinnerungen umgefärbt nach Belieben, die ganze Palette von rosarot bis giftgrün, sehr lustig. Aber es hat zu keinem Ziel geführt.

Das Gedächtnis meiner Mutter ist ein Organismus, der ein Eigenleben führt, eine Krake, die über sich hinausreicht in die Vergangenheit ihrer Mutter (Ilhana, der Älteren) und deren Mutter (mit dem Namen meiner Mutter usf.), in ein endloses Früher von Gerüchen, Gefühlen, Geschichten, sehr ungenau.

Der entscheidende Gedanke kam mir, als Maluna-Me wieder mal in allen Farben schwelgte oder tobte (was dasselbe ist). Plötzlich dachte ich: andersrum. Man muss Mamas Gedächtnis nicht fluten, sondern zum Verebben bringen, dem System immer weniger zuführen, eine immer schwächere Dosis – sagt man nicht »ausschleichen«? (Superwort!) Genau so ist es: Wenn die Farben verblassen und die Bilder allmählich grau werden, dann entzieht das ihrem Gefühl, ihrer Gefühlsduseligkeit den Stoff. Das hat Maluna-Me nicht gefallen, aber es war die Lösung. Meine Mutter (die Mutter-Detailkonfigurantin) erinnert sich kaum noch. Ich habe den Eindruck, es geht ihr jetzt besser.

Entschuldigung, das war jetzt Fingerspitzen-Flug, Maluna-Mes Eröffnungszeichen, soll nicht wieder vorkommen. Ich will Sie nicht hypnotisieren, Frau Höppner, ganz ehrlich, das steckt einfach drin, diese Handbewegung, nach so vielen Nächten. Aber harmlos, völlig harmlos. Maluna-Me ist nicht im Raum (obwohl sie kommt, wenn man von ihr spricht). Das hätten Sie gespürt.

Mein Vater war ein härterer Brocken. Sein Gedächtnis ist – wie sage ich es am besten? – karg. Er erinnert sich nur an wenige Dinge, nur sehr grobkörnig an »die Fakten«, was immer das ist. Maluna-Me hat es rasend gemacht, dass er so verknöchert ist, so versteinert! Aber das trifft es nicht wirklich. Die beste Beschreibung für sein primitives Gedächtnis ist »Hartgeld«. Seine Erinnerungen sind wie eine Währung, harte, bare Münze. Mein Vater erinnert sich nicht weitschweifig in verschlungenen Windungen und Wendungen, er zählt nach, zählt immer wieder seine Erinnerungen zusammen und kennt das Ergebnis im Voraus. Nie würde sich Papa auf eine Erinnerung einlassen, bei der er nicht weiß, was am Ende herauskommt. Er mag keine Überraschungen. Wenn er sich in einer stillen Minute am Sonntag in einen Sessel setzt und zurückdenkt, was selten genug vorkommt, kann man das Reiben seiner Fingerkuppen hören und wie die Münzen langsam fallen: Deutschland, kling, Arbeit, klang, Reihenhäuschen, kling, klong.

Keine Angst, Fingerspitzen-Flug geht anders, nicht so mit Daumen und Zeigefinger. Das ist die Art, wie Papa Geld zählt, sein Erspartes, jeden Cent. Oma und Opa waren arm, sagt die Erinnerung (ohne Gesichter, die tauchen nicht auf). Auch das ist eine Münze in seinem Kopf, die Armut, eine abgegriffene. Er trennt sich von allem nur schwer.

Die Bilder auf seinen Gedächtnismünzen sieht er nicht an. Vielleicht spürt er die Prägung beim Durchzählen und zerreibt sie jedes Mal etwas mehr (er hat harte Hände, mein Vater, sehr hart). Aber er will nur wissen, ob die Münzen noch da sind, er sieht nicht hin oder hinein. Vielleicht hat er Angst, sich im Detail zu verlieren, oder er hat die Details verloren (schon längst). Was wir »Erinnern« nennen, nennt er »Träumen«. Papa träumt nicht, und wenn doch, vergisst er es sofort. Maluna-Me ist an ihm verzweifelt.

Fingerspitzen-Flug funktioniert am besten bei Traumaugen, wenn das Bewusstsein ein bisschen gedimmt ist und die Pupillen anfangen zu zucken. Dann reagieren sie auf das Zeichen und folgen einem überallhin. Man braucht die Fingerspitzen nur fliegen zu lassen. Sehen Sie, so …!

Meinen Vater umzubauen war sehr mühsam. Hartes Geld, harte Arbeit. Ich musste praktisch jede Münze einzeln umprägen und immer wieder von vorne anfangen, jede Nacht, weil es keine Verbindungen gab, keine Adern, jede Erinnerung ein Einzelstück. Am härtesten war die Arbeit an meiner Schwester, seiner Erinnerung an sie. Daran hing er, sie hat er festgehalten, wahnsinnig fest. (Manchmal glaube ich, er hat die Heimat nur verlassen, um sie zu retten, diese Münze mit dem Mädchenkopf.) Umprägen ging nicht. Ich musste sie ihm wegnehmen, komplett, ihm die Faust aufbrechen. Am Ende, als ich sie endlich hatte, war die Münze ganz warm.

Ohne Kundra hätte ich das nie geschafft.

Anfangs habe ich Maluna-Me für die Stärkere gehalten (und die Bösere sowieso). Viel später erst habe ich verstanden, wie mächtig Kundra ist. Hypnose ist ja ganz okay, und natürlich macht es Spaß, das Denken und Fühlen der Person zu manipulieren, die vor einem sitzt (oder liegt), Anwesende ausgenommen. Doch das ist immer nur Gegenwart, immer nur jetzt und hier und im nächsten Moment schon vorbei. Es kommt darauf an, die Vergangenheit zu beherrschen, Kundras Reich, dann herrscht man für immer.

Wir nannten es »kämmen«, Kundra und ich, ganz einfach, so wie man Haare kämmt oder Kundra seinen langen, weißen Bart (den es nicht gibt, das sind Strahlen), nur eben tiefer, unter den Haaren, den Haarwurzeln. Das kam als Letztes, nach der Einzelbehandlung. Mit Kundras Strahlenkamm bin ich durch die Gehirne meiner Eltern und meiner Schwester gegangen, wieder und wieder, während sie dalagen und schliefen auf ihren Kopfkissen, nachts. Ich habe die Knoten entfernt, die Knäuel, alles, was sie verbindet. Das ist das Schwerste an der Vergangenheit einer Familie: die vielen verwickelten Erinnerungsstränge, das Wurzelgeflecht. Aller Unfriede kommt daher. Der Krieg wohnt in den Wurzeln, dort, wo sie sich berühren und festkrallen, in der Nähe, im Schmerz. Das wusste ich nicht, es ist Kundras Weisheit. Und in seiner Weisheit wusste er auch, was zu tun war. Er hat mir geholfen, die Verstrickungen zu lösen, eine Ordnung einzustrahlen in die Gehirne und die Fäden zu entflechten, sie aneinander vorbeizuführen. Nacht für Nacht habe ich an ihren Betten gesessen und meine Familie gekämmt. In aller Ruhe.

Ich könnte auch sagen, ich habe unsere Vergangenheit getötet.

Aber ich habe das Richtige getan, davon bin ich überzeugt. Es geht ihnen besser, uns geht es besser, meinen Eltern, Hanna (wie sie jetzt alle nennen) und mir. Das müssen Sie mir glauben. Wenn es so etwas gibt wie eine glückliche Familie, dann sind wir inzwischen nah dran. Wir streiten uns nicht, gar nicht mehr, wir sind viel netter zueinander als früher. Sie sind viel netter zu mir, alle drei. Der einzige Schönheitsfehler in unserem Leben ist, dass sie nicht wissen, wer ich bin.

Und dass ich sie überlebt habe. (Wenn ich mich schuldig fühle, dann dafür.)

Und dass sie von ihrem Tod nichts wissen.

Sie glauben gar nicht, wie leer ein Stecknadelkopf sein kann. Wie viel Abstand auf eine Stecknadel geht. Deswegen kommt Maluna-Me nicht mehr, wenn man von ihr spricht, wenn ich von ihr spreche. Es gibt nichts mehr engzumachen, sie kann nichts mehr tun.

Wir haben nichts mehr gemeinsam, Papa, Mama, meine Schwester und ich. Vielleicht ist das besser so.

Ich soll Sie übrigens von ihm grüßen, von meinem Vater, ich hoffe, das freut Sie, trotz allem. Mich hat es gefreut. Erwarten Sie von ihm nichts Persönliches, keine Details, er weiß nicht mehr als Ihren Namen und dass Sie meine Deutschlehrerin sind. Aber als ich ihm sagte (beim Frühstück), ich würde mit Ihnen reden, meinte er: Grüße. Und für einen Moment dachte ich: Wenn er könnte, würde er sich an Sie erinnern, Frau Höppner, bestimmt. Seine Zählfinger haben gezuckt, so als wäre da noch etwas in seinem umkonfigurierten Gehirn, irgendein Rest, das Gefühl einer Münze, die ihm durch die Finger geglitten ist.

Dreyer, Emily Henriette

An: [email protected]

CC: [email protected]

Betreff: Gaumenfreuden, wiedergekäut

(An die Geschäftsleitung!)

Sehr geehrtes Topf-Fit-Catering,

bedauerlicherweise haben Sie auf unsere Mail vom 7.September d.J. bezüglich des von Ihnen ausgelieferten Schulessens (Betreff: »Gaumenfreuden«) nicht reagiert. Vermutlich waren Sie zu sehr mit Kochen beschäftigt. Doch was auch immer Sie von einer Antwort abgehalten hat, bitte hören Sie damit auf! Wenn sich die Qualität Ihres Essens weiter derart verschlechtert, sehen wir uns gezwungen, mit unserem klasseninternen Ranking der Top 3 der schlimmsten Schulgerichte auf facebook zu gehen, damit unsere Eltern davon erfahren. Das ist eine Drohung. (»Gaumenfreuden« war Ironie, falls Sie es beim Lesen unserer letzten Mail nicht bemerkt haben.) Insofern – letzter Ironie-Versuch: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben sich selbst übertroffen!

Lange gab es für uns in der Kategorie »Mahlzeit« nichts Furchterregenderes als Ihr Putenschnitzel mit Erbsenmöhrenreis. Dieser Klassiker des Schreckens (14Wochen ununterbrochen Nummer eins!) ist längst nicht mehr einsame Spitze, konnte aber seine Ungenießbarkeit bei der Essenausgabe gestern noch einmal eindrucksvoll unterstreichen. Bei diesen in Öfen gehärteten Geflügelfetzen fragen wir uns jedes Mal, ob das vorliegende Fleisch sich nicht so weit von seinem Ursprung (Pute?) entfernt hat, dass man weder von »biologischer« noch industrieller Landwirtschaft sprechen kann, sondern überhaupt nicht mehr von Landwirtschaft. Irgendwie scheint es Ihnen durch ein ausgeklügeltes Verfahren von Überhitzung und Abkühlung gelungen zu sein, Fleisch- in Textilfasern zu verwandeln. Und es kursieren Gerüchte, nach denen Sie in Ihren Küchen (!) ein semi-synthetisches Spezialgewebe auf Putenbasis entwickeln, das aufgrund seiner Strapazierfähigkeit demnächst zu Raumfahrtanzügen vernäht werden soll.

Wir wünschen guten Flug und vergeben einen soliden dritten Platz.

Auf Platz zwei (Tendenz aufsteigend) sehen wir mit deutlichem Abstand Ihr Hühnerfrikassee. Dabei scheint es sich um einen nachwachsenden Rohstoff zu handeln und/oder ein Abfallprodukt illegaler asiatischer Hühnerfarmen in Mecklenburg-Vorpommern. Jedenfalls ist uns nicht entgangen, dass Sie beträchtliche Mengen desselben ausliefern, so oft es nur geht (mindestens aber ein bis zwei Mal wöchentlich). Insofern liegt der Verdacht nahe, dass »Topf-Fit-Catering« lediglich als Tarnfirma fungiert, deren alleiniger Zweck es ist, möglichst unauffällig ganze Containerladungen davon zu verklappen. Die unter dem nicht geschützten Markennamen »Huhn« verarbeiteten Bestandteile lassen sich bei näherer Betrachtung weder als Hühnerfleisch noch -knochen identifizieren, sondern allenfalls als Hühnerschleim. Offenbar bezieht sich das Prädikat »frei laufend« auf den Schnupfen und sonstige Ausflüsse der von Ihnen verarbeiteten Tiere (falls Sie überhaupt Tiere verarbeiten und nicht nur deren Ausflüsse).

Mutmaßungen dieser Art äußern wir keineswegs leichtfertig. Vielmehr laden wir Sie herzlich dazu ein, einen Löffel Ihres sogenannten Hühnerfrikassees im Selbstversuch zu testen, am besten mit verbundenen Augen. Es ist wirklich wichtig, dass Sie gar nichts sehen (da das Auge bekanntlich mitisst, leider, das ist Teil des Problems). Konzentrieren Sie sich auf Ihre Geschmacksnerven, das Geschmackserlebnis, wenn dieses gallertartige Etwas sich über Zunge und Gaumen ergießt. Und versuchen Sie, genau nachzuvollziehen, was sich während der circa drei Minuten verändert, die Sie es im Mund behalten – so lange braucht man in der Regel, um die Kraft zu finden, Ihr Was-auch-immer-es-ist herunterzuschlucken.

Der erste Eindruck: Es ist salzig. Es ist warm (lauwarm meistens), weich und wabbelig. Seine undefinierbare Konsistenz gleicht am ehesten einem unter Mikrowelleneinwirkung zerflossenen Pudding (um nicht ständig von »Schleim« zu sprechen). Die vereinzelten Festbestandteile, die man mit der Zunge oder den Zähnen zu fassen kriegt, erinnern an unvollständig aufgelöste Knorpel oder Narbengewebe, allerdings nur, wenn man in dem naiven Glauben daran herumlutscht, dass es sich um Huhn, Huhnähnliches oder Huhnidentisches handelt. Die Zunge selbst gibt keinerlei Aufschluss über Art und Herkunft dieser Dickungen. Sie könnten alles Mögliche sein, Mehlstippen, Sülzbrocken, Talg oder Hartschleim (Entschuldigung). Deshalb ist es so wichtig, dass Sie ganz unvoreingenommen an dieses kleine Geschmacksexperiment herangehen.

Wir kommen jetzt zu dem Punkt, an dem Sie sich im Idealfall auch die Nase verbinden. Durch die vom Essenstablett aufsteigenden Maggi-Dämpfe ist der Geruchssinn, wie Sie wissen, leicht zu täuschen, was das Geschmacksurteil insgesamt verfälscht. (Auch die Nase isst mit, leider-leider.) Umso mehr kommt es darauf an, dass Sie sich gegen Ende der drei Minuten Verzehrdauer noch einmal darauf besinnen, was Sie wirklich schmecken.

Merken Sie, wie die Masse in Ihrem Mund immer mehr wird statt weniger und sich ausdehnt bis in die Backentaschen? Ein biomechanisches Phänomen, das wir uns nicht erklären können (Sie vielleicht?). Wir raten Ihnen nur dringend: Schlucken Sie es herunter, jetzt oder nie! Und spüren Sie ihm nach, diesem seltsam vertrauten Geschmack und Brand im Rachen. Wir haben lange nach dem richtigen Wort dafür gesucht und zu guter Letzt eins gefunden, ein ebenso warmes wie salzhaltiges: »maritim«. Ja, Ihr Frikassee schmeckt maritim, finden Sie nicht? Es schmeckt nach Mittelmeer. Das klingt vielleicht abwegig, aber so ist es. Haben Sie jemals an der italienischen Riviera Urlaub gemacht, Kroatien, Griechenland, Türkei? Dann kennen Sie den faden, Brechreiz verursachenden Salz-Geschmack, wenn man einen Schwall lauwarmes Mittelmeerwasser schluckt. Genauso schmeckt Ihr Huhn! Was darauf schließen lässt, dass es sich – wenn überhaupt – um »frei schwimmende« Hühner handelt.

Kein Scherz: Wir wissen jetzt, was Sie in Ihr angebliches Hühnerfrikassee tun. Wir wissen Bescheid über Ihre krummen Geschäfte, weshalb wir unsere Klassenlehrerin in CC setzen (sie ist also im Bilde, falls uns etwas zustößt). Und wir wissen so gut wie Sie, dass wir längst die Grenze überschritten haben, wo die Restaurantkritik aufhört und das Lebensmittelrecht anfängt. Müssen wir noch deutlicher werden?

Werden wir aber.

Noch in unserer letzten Mail (und allen vorigen) waren Quallen unsere Theorie. Ja, wir sahen es als erwiesen an, dass Ihr Hühnerfrikassee zu mehr als fünfzig Prozent aus Quallen besteht, klein gehäckselt. Topf-Fit-Catering hat das trotz wiederholter Anfragen offiziell weder bestätigt noch dementiert, aus gutem Grund, wie uns jetzt klar ist. Denn wir waren auf dem Holzweg – nicht die ganze Strecke, aber doch auf den entscheidenden letzten Metern. Bei Ihrem Hühnerfrikassee handelt es sich nicht um Quallen-Geschnetzeltes, sondern (wie wir dank einer Mitschülerin mit einschlägiger Seafood-Erfahrung und den entsprechenden Allergien zweifelsfrei nachweisen konnten) um Austern. Mittelmeeraustern aus kroatischer Zucht sind Ihr Hühnerfrikassee. Die Ausschussware natürlich. Das ist die einzig plausible Antwort auf das Rätsel seiner schnupfenartigen Konsistenz. Kein anderes Meerestier, geschweige denn Geflügel, besteht so durch und durch aus Schleim (one more time).

Bleiben zwei Fragen: Warum tun Sie das? Und: Warum tun Sie uns das an? Letztere ist leicht zu beantworten. Wir sind Ihnen egal. Unsere Gesundheit interessiert Sie nicht, solange wir nicht auffällig krank werden und Ihnen einen Lebensmittelskandal bescheren. Dabei sind Skandale eigentlich egal und ohne Folgen sowieso. Viel schlimmer ist der Alltag, der tägliche Schlag in die Magengrube, die Absage an die Lebensfreude, die wir uns Mahlzeit für Mahlzeit abholen, wenn wir bei Ihnen in der Essensschlange stehen.

Warum also tun Sie das? Profit, natürlich, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wir sagen Ihnen, warum Sie es wirklich tun: Weil Sie nicht anders können. Weil Sie Teil des Systems sind, ein winzig kleiner Teil. Und Ihre Funktion, Ihre einzige Daseinsberechtigung besteht darin, die Botschaft des Systems zu verbreiten, die da lautet: Schluck es! Schluck das Lügenfrikassee, schluck, was immer wir dir vorsetzen unter den Reklame-Namen, mit denen wir es dir schmackhaft machen. Schluck so viel du kannst von unseren Lügen, auf dass sie dir in Fleisch und Blut übergehen und du selbst zur Lüge wirst! – Es geht um Anpassung, kurz gesagt. Ums Dazugehören. Und das heißt schlucken, immer wieder.

Wir sind das Produkt von Produkten, von denen wir glauben, dass wir sie konsumieren, aber es ist genau andersrum, sie konsumieren uns. Sie fressen uns auf.

Haben Sie jemals auf den Speisehaufen auf Ihrem Tablett gestarrt und gedacht: Wenn ich das essen muss, um zu leben, sterbe ich lieber!?

Nein?

Wir denken das jeden Tag.

Aber bitte, jetzt sind Sie dran! Jetzt ist die Gelegenheit, uns vorzurechnen, dass es nicht an Ihnen liegt. Liegt es ja auch nicht. Die Gewinnmargen sind so schmal, die Zuschüsse der öffentlichen Hand so mager und das Essensgeld ein Politikum ohne Spielraum, während die Kosten beim Einkauf explodieren, sodass für Lagerung, Zubereitung, Auslieferung fast nichts mehr bleibt. Und das heißt: Löhne drücken, ungelerntes Personal einstellen, Minijobber. Die Mitarbeiter-Motivation ist unterirdisch, die Erwartung von Schülern, Lehrern, Eltern (!) gigantisch. Und am Ende des Tages, wenn alle anderen längst nach Hause gegangen sind, wenn Sie einen letzten besorgten Blick auf Ihre Excel-Tabellen geworfen haben und den Computer gerade runterfahren wollen, bekommen Sie diese Mail.

Aber wirklich: !!!

Wir verstehen Sie. Nicht nur weil wir in der Schule gut aufpassen, wenn es ums Reichwerden geht, nicht nur weil wir die Geld-Gespräche unserer Eltern auswendig können und sämtliche Karriere-Casting-Shows verinnerlicht haben. Wir verstehen Sie, weil wir sie schmecken: Ihre Erschöpfung, der Ihr lustiges Topf-Fit-Logo höhnisch ins Gesicht lacht. Wir essen sie. Wir essen das alles mit. Und es tut uns leid. Für uns, für Sie. Ja, auch für Sie.

Oder haben Sie nie auf Ihren PC gestarrt und gedacht: Wenn ich solche Geschäfte machen muss, um Geld zu verdienen, bin ich lieber arbeitslos.

Dumm gelaufen, Mr.Topf-Fit. Sie wollten Ihr eigener Chef sein, jetzt sind Sie Ihr Mädchen für alles. Sie dachten, Sie bringen es zur Superameise, jetzt laufen Sie mit im hinteren Drittel. Zu dumm.