Dein ist die Schuld - Mary Higgins Clark - E-Book

Dein ist die Schuld E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Eine grauenvolle Tat, zwei identische Verdächtige

Sie sind Zwillingsbrüder, die vorbildlicher nicht sein könnten: gut aussehend, klug, beliebt. Bis einer von ihnen kaltblütig die Eltern ermordet. Der andere hat ein wasserdichtes Alibi. Welcher der Zwillinge hat sich in der schwülen Sommernacht wirklich am Tatort aufgehalten und welcher nicht? Ist es möglich, dass sie gemeinsam den perfekten Mord geplant haben? Jahre später beschuldigen beide sich gegenseitig. Denn mittlerweile haben sie selbst Familien gegründet – und einiges zu verlieren. Laurie Moran soll in ihrer Sendung »Unter Verdacht« den Cold Case lösen. Mit ihren Recherchen holt sie eine Gefahr, die lange in der Vergangenheit begraben war, wieder ans Tageslicht.

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Seitenzahl: 378

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DASBUCH

Simon und Ethan sind Zwillingsbrüder, die vorbildlicher nicht sein könnten: gut aussehend, klug, beliebt. Bis einer von ihnen kaltblütig die Eltern ermordet. Der andere hat ein wasserdichtes Alibi. Welcher der Zwillinge hat sich in der schwülen Sommernacht wirklich am Tatort aufgehalten und welcher nicht? Ist es möglich, dass sie gemeinsam den perfekten Mord geplant haben? Jahre später beschuldigen beide sich gegenseitig. Denn mittlerweile haben sie selbst Familien gegründet – und einiges zu verlieren. Die Fernsehjournalistin Laurie Moran soll in ihrer Sendung »Unter Verdacht« den Cold Case lösen. Mit ihren Recherchen holt sie eine Gefahr, die lange in der Vergangenheit begraben war, wieder ans Tageslicht.

DIEAUTORINNEN

Mary Higgins Clark (1927 – 2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählte zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke waren ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führte Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den begehrten »Edgar Award«. Sie starb am 31. Januar 2020 im Kreis ihrer Familie.

Alafair Burke ist Dozentin für Strafrecht an der Hofstra Law School. Sie war lange als Deputy District Attorney tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u. a. die New-York-Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von James Lee Burke und lebt in New York.

MARY HIGGINS CLARK

ALAFAIR BURKE

DEIN IST DIE SCHULD

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Die Originalausgabe ITHADTOBEYOU erschien erstmals 2024 bei Simon & Schuster, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 10/2024

Copyright © 2024 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster Inc.

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Alt

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com (Oleksandr Kostiuchenko) und AdobeStock (SaraY Studio)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32328-8V001

www.heyne.de

In Erinnerung an Jerome »Jerry« Derenzo, den geliebten Enkel von Mary Higgins Clark,

und gewidmet allen Bibliothekaren, die mit jedem einzelnen ihrer Bücher eine ganze Welt eröffnen.

Prolog

Zehn Jahre zuvor

Das Mondlicht malte seinen glitzernden Pfad auf die Gewässer am Yachtclub von Harbor Bay. Die vierundfünfzigjährige Sarah Harrington ließ ihren Blick über die Terrasse und das Fest schweifen, ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war Ende Mai, der Beginn des Memorial-Day-Wochenendes, und sie freute sich, die Familie für einen weiteren Sommer bei sich zu haben. Die ungewöhnliche Kühle in der Luft war vielleicht der einzige Hinweis darauf, dass der so heitere Abend eine tödliche Wendung nehmen könnte, aber Sarah war in Gedanken ganz bei ihren Kindern und wie schnell das Leben verging.

Wie war es möglich, dass ihre kleinen Jungs – die Zwillinge Simon und Ethan – schon ihren Collegeabschluss hinter sich hatten? Mit Staunen sah sie zu, wie Simon mit seiner Freundin Michelle gekonnt über die Tanzfläche wirbelte. Einige Meter weiter tanzten Ethan und seine Freundin Annabeth Hand in Hand mit Sarahs drittem Kind, der zwölfjährigen Frankie.

Eine Erinnerung blitzte auf und versetzte sie in eine lang zurückliegende Zeit, in der es ihr wie ein ferner Traum erschienen war, dass sie jemals Kinder haben sollte. Sie und Richard hatten jung geheiratet, gleich nachdem er sein Jurastudium abgeschlossen hatte. Er war damals sechsundzwanzig gewesen, sie vierundzwanzig. Sie wussten beide, dass sie Kinder wollten, hatten es aber nicht eilig damit. Er war noch ganz auf seine Karriere in Boston konzentriert, sie war angehende Künstlerin. Ihre Familie würde Zuwachs bekommen, wenn es so weit sein sollte. Sieben Jahre später war er der erfolgreiche Partner einer Kanzlei, und sie gehörte zum festen Künstlerstamm einer Galerie in Manhattan.

Sie waren mehr als bereit für Kinder. So sehr, dass sie nicht mehr warten wollten. Als die erste In-vitro-Befruchtung scheiterte, war sie so am Boden zerstört, dass Richard schon alles abbrechen wollte, um ihr weiteren Kummer zu ersparen. Pater Hogan von Saint Cecilia brachte eine Adoptionsberatung ins Gespräch, die bereits ein anderes Paar seiner Gemeinde in Anspruch genommen hatte.

Aber der zweite Versuch in der Klinik verlief erfolgreich, mehr als erfolgreich. Auf den ersten Ultraschallaufnahmen waren zwei Embryos in einer Plazenta zu erkennen. Eineiige Zwillinge. Sie kamen nicht so häufig vor wie zweieiige Zwillinge, aber die Wahrscheinlichkeit dafür wurde durch eine künstliche Befruchtung erhöht. So hatten sie mit einem Mal gleich zwei Babys. Zehn Jahre später folgte als freudige Überraschung die kleine Frances nach. Damit waren die Harringtons zu fünft, genau so, wie Sarah es sich immer gewünscht hatte.

Die Zwillinge, die stolzen und völlig vernarrten älteren Brüder, beschlossen schnell, dass ihre geliebte kleine Schwester lieber Frankie genannt werden wollte. Sarah war sich nicht sicher, ob sie das zulassen sollte. Sie argwöhnte, die Jungs verwendeten den Namen nur, weil sie sich eigentlich einen kleinen Bruder gewünscht hätten. Der Name blieb jedoch, auch wenn Frankie nie zu dem Wildfang wurde, den sich ihre Brüder vielleicht erhofft hatten. Heute trug sie ein Kleid, das sie sich selbst ausgesucht hatte, nachdem Sarah ihr erklärt hatte, dass das Fest unter dem Thema Weiß stehen würde, sprich: Alle würden in Weiß gekleidet sein. Außer auf Hochzeiten hatte Sarah noch nie ein Kleid mit so viel Tüll und Satin gesehen. Frankie jedenfalls war hin und weg.

Oh, wie glücklich Sarah über das großartige Fest war, mit dem sie Simons und Ethans Erfolg feiern wollten. Die Jungs waren äußerst attraktiv, ihre dunklen Haare, der gebräunte Teint standen in wunderbarem Kontrast zum weißen Outfit – Kragenhemden, Leinenblazer, Röhrenjeans. Die Wolken, die schon hatten befürchten lassen, dass sie die Feier nach drinnen verlegen mussten, hatten sich verzogen. Und obwohl Simon und Ethan nicht unbedingt die große Bruderliebe ausstrahlten, gab es auch kein sichtbares Zeichen für Unstimmigkeiten, die sie in den vergangenen Tagen wegen der hässliche Sache mit Annabeth gehabt hatten. Ethans lächelnder Blick verriet Sarah, dass die junge Frau die Beziehung nicht auflösen würde. Vielleicht würde Richard es ja auch einsehen und einlenken. Vielleicht würde er seine Meinung ändern, wenn er sah, wie nett sie sich heute Abend um Frankie kümmerte.

»Na, was strudelt dir durch den Kopf?«

Sarah war so in ihre Gedanken versunken, dass sie Betsy, ihre beste Freundin, gar nicht bemerkt hatte. Sie hatten sich in der neunten Klasse auf einem Kunst-Workshop kennengelernt und sich sofort angefreundet. Mittlerweile kannten sie sich schon so lange, dass sie gar nicht mehr wussten, wer von ihnen beiden darauf gekommen war, dass einem Gedanken nicht einfach durch den Kopf gingen oder schwirrten, nein, sie mussten schon strudeln.

Obwohl keine Zwillinge, war es ihnen doch tatsächlich gelungen, den gleichen weißen Hosenanzug zu kaufen. Statt eine Münze zu werfen, um zu entscheiden, wer den Einkauf wieder zurückbringen musste, kamen sie zu dem Schluss, dass sie beide offensichtlich einen tadellosen Geschmack hatten.

Trotz des gleichen Outfits hätte man die beiden Freundinnen kaum verwechseln können. Betsy, ein Meter fünfundsiebzig groß und von sportlicher Statur, bezeichnete die gut zehn Zentimeter kleinere und sehr viel zierlichere Sarah oft als ihre »Westentaschen-Freundin«. Wie üblich hatte sich Sarah für einen dezenten, aber exklusiven Look entschieden: Sie hatte ihren Hosenanzug mit einem weißen Seiden-Top und klassischen Perlen kombiniert. Ihre kastanienbraunen Haare waren im Nacken zu einem losen Knoten gebunden, nur einige verspielte Strähnen rahmten das herzförmige Gesicht.

Betsy, schon immer die Wagemutigere der beiden, hatte statt einer Bluse eine weiße Smokingweste gewählt. Ihre goldene Halskette, ein Statement für sich, verletzte eindeutig den weißen Dresscode, aber Betsy hatte auch früher schon gewusst, an welche Regeln sie sich zu halten hatte und welche sie großzügig zu ihren Gunsten auslegen durfte. Ihre blonden, mit silbernen Strähnen durchzogenen Haare fielen ihr in sanften Wellen auf die Schultern.

Auch wenn ihre Söhne äußerlich nahezu identisch aussahen, waren sie im Grunde ganz unterschiedliche Charaktere, dachte sich Sarah. Simon würde nach seinem Harvard-Abschluss ab dem kommenden Herbst an der Columbia University Jura studieren.

Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte er sein Leben immer vorausgeplant. Schon in der sechsten Klasse hatte er verkündet, dass er wie sein Vater Anwalt werden wolle. Als Sarah und Betsy halb im Spaß angeregt hatten, dass einer der Zwillinge Betsys Tochter Michelle zum Schulball in der neunten Klasse ausführen solle, war Simon dem Vorschlag nachgekommen. Seitdem waren die beiden zusammen.

Ethan hingegen war mehr der Freigeist – und glich darin Sarah. Oderwie ichjedenfallsmal gewesen bin, dachte sie sich. Er hatte das Studium in Amherst abgeschlossen, aber dafür war das eine oder andere strenge Wort nötig gewesen, nachdem er kurz davor gestanden hatte, alles hinschmeißen zu wollen. Er war ein talentierter Gitarrist und träumte davon, nur von der Musik zu leben. Genauso gut, hatte Richard ihn angeherrscht, könne er zur Sicherung seines Lebensunterhalts Lotterielose kaufen.

Freundinnen, vermutete Sarah, hatte Ethan viele gehabt, auch wenn sie diese nie kennengelernt hatte – bis er im vergangenen Juni in Harbor Bay Annabeth über den Weg gelaufen war. Sie und Richard waren von einer kurzlebigen Cape-Cod-Flirtgeschichte ausgegangen, die mit Ethans Abschlussjahr am College ihr Ende haben sollte. Stattdessen hatte er der jungen Frau ein Interesse entgegengebracht, wie er es bislang nur für die Musik gehabt hatte. Es wird sich alles zum Besten für sie beide regeln, sagte sich Sarah. Für uns alle. Natürlich.

Wie sollte sie all diese ihr durch den Kopf strudelnden Gedanken für Betsy in Worte fassen?

»Schau sie dir an, Betsy. Ich weiß, ich bin voreingenommen, aber sind sie nicht einfach vollkommen? Wenn ich daran denke, wie sehr ich meine Kinder liebe und wie schnell sie erwachsen geworden sind, zerspringt mir schier das Herz.«

»Na, hoffen wir mal, du meinst das nicht wörtlich. Das wäre zum einen schlecht für deine Gesundheit und würde zum anderen eine ganz schöne Sauerei hinterlassen.«

»Vielleicht hab ich mich etwas zu plastisch ausgedrückt«, räumte Sarah ein.

Betsy legte Sarah einen Arm um die Schulter und drückte sie. »Ich weiß ganz genau, was du meinst. Alles geht so schnell. Dennis ist für mich immer noch mein kleiner Junge, aber heute hat er uns erzählt, dass er Jura studieren möchte. Er hat bereits mit den Vorbereitungen für die Eignungsprüfungen begonnen. Wir haben dann also beide eine neue Anwaltsgeneration in der Familie.«

»Apropos, wo steckt Dennis überhaupt?«

»Bei meinem berüchtigten Frühaufsteher von Mann. Nimm es ihnen nicht übel, Walter ist schon am Tisch fast eingeschlafen, ich hab mich einverstanden erklärt, dass er schon nach Hause fährt. Dennis wäre sicherlich noch geblieben, wenn die Barkeeper ihn nicht nach einem Altersnachweis gefragt hätten. Im Oktober wird er einundzwanzig. Er zählt jetzt schon die Tage, das kann ich dir sagen.«

»Hoffentlich macht er um den Tag dann weniger Tamtam als die Zwillinge damals.« Simon und Ethan hatten ihre Eltern darum gebeten, ihren Geburtstag mit zwei Freunden im Strandhaus zu feiern. Sarah und Richard erfuhren von der wüsten Party, an der fast hundert College-Studierende teilnahmen, erst, als ihr Nachbar sie anrief, nachdem sich einige Jugendliche bei ihm in den Garten geschlichen hatten und in den Whirlpool gesprungen waren. »Schau dir Michelle an, dort mit Simon – sie ist so schön und klug und schon so erwachsen.«

»Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, die beiden werden in nicht allzu ferner Zukunft eine Hochzeit zu planen haben.«

»Es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit«, antwortete Sarah. »Aber wie ich Michelle kenne, werden wir dabei nichts zu sagen haben. Das Mädchen ist noch starrköpfiger als ihre halsstarrige Mutter.«

Sarah fiel auf, dass Betsy den Blick von den Harrington-Kindern auf der Tanzfläche zu Sarahs Mann Richard gerichtet hatte. Er unterhielt sich mit Howard Carver, einem seiner beiden Partner in der kleinen Kanzlei, die er nach dem Ausscheiden aus einer Großkanzlei gegründet hatte. Der andere Partner war Betsys Mann Walter. Richard und Sarah waren die Ersten, die dreizehn Jahre zuvor verkündet hatten, sich auf dem Cape, in dem nur zwei Fahrstunden von Boston entfernten Harbor Bay, ein Ferienhaus zu bauen. Bald darauf konnte Sarah Betsy und Walter davon überzeugen, es ihnen gleichzutun. Howard, der eine gute Investmentgelegenheit witterte, folgte kurz darauf.

Richard und Howard hatten jeweils halb leere, mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllte Martini-Gläser in der Hand. Manhattans, wenn Sarah raten müsste.

»Bist du bei ihm schon irgendwie vorangekommen?«, fragte Betsy.

»Doch nicht heute Abend, Betsy. Sieh dir an, wie ausgelassen alle sind. Darum geht es mir bei diesem Wochenende.« Richard, der bemerkte, dass sie in seine Richtung blickten, sah zu ihr. Er lächelte, selbst auf diese Entfernung sprühten seine blauen Augen vor Energie. Unwillkürlich erwiderte sie seinen bewundernden Blick – so, wie sie es immer tat, so, wie er es erwartete.

Für Außenstehende nahm es sich wie die Szene aus einem Märchen aus. Die perfekte Collegeabschluss-Feier für die perfekten Zwillinge einer ganz und gar perfekten Familie.

Zwei Stunden später sah die sechsunddreißigjährige Jenna Merrick, als sie am Yachtclub von Harbor Bay vorbeifuhr, die funkelnden Lichter des Festes. Sie ließ die Seitenscheibe nach unten und hörte das Lachen und die Musik, die zu ihr herüberwehten. Die immer freundlichen Harringtons hatten sie dazu eingeladen, und sie war tatsächlich versucht gewesen, auch zu kommen. Im Yachtclub hatte sie bislang immer nur im Catering gearbeitet, aber nie als Gast an einer Veranstaltung teilgenommen. Nur, wie würde es denn aussehen, wenn eine Diner-Bedienung auf einer schicken Sommerparty aufkreuzte? Und was sollte sie dazu bloß anziehen?

Vielleicht gäbe es ja eine richtige Aschenputtel-Geschichte, und sie würde auf dem Ball ihrem zukünftigen Prinzen begegnen. Vielleicht auch nicht, vielleicht würde sie auch nur allein in einer Ecke stehen oder, schlimmer noch, den Wünschen der Gäste nachkommen, die annahmen, dass sie zum Servicepersonal gehörte. Wenn jemand sie fragte, woher sie die Zwillinge kannte, was würde sie dann sagen? Aus dem Diner, aberso vorzehn Jahren hat es dann angefangen, dass ich michim Sommer um den Hund der Familie gekümmertund als Babysitterinausgeholfen habe.

Jenna hatte die Einladung also abgesagt und stattdessen angeboten, abends, während des Festes, mit Bacon Gassi zu gehen; das wäre dann ihr Geschenk zum Collegeabschluss der Zwillinge. Neun Jahre zuvor war sie tatsächlich mit dabei gewesen, als die Kinder dem Boxerwelpen seinen Namen gegeben hatten. Der vorherige Hund der Familie, Picasso, war im November zuvor gestorben, es war also genug Trauerzeit vergangen, damit ein neues Haustier willkommen geheißen werden konnte.

Gemäß der Familientradition wollte Sarah den Welpen nach einem Künstler oder einer Künstlerin benennen. Sie hatte die Liste auf Warhol, O’Keeffe und Pollock eingeschränkt. Simon, der schon von klein auf die hohe Kunst beherrschte, in aller Höflichkeit Änderungswünsche zu dem von ihm bestellten Gericht vorzutragen, fragte seine Eltern, ob er und sein Bruder auch nicht andere Namen vorschlagen dürften. Also machten sie sich im Internet schlau. Laut las Simon eine Liste von Künstlern vor, von denen sie, die Kinder, noch nie gehört hatten, und stieß dabei auf einen Francis Bacon. Sarah erklärte, dass der in Irland geborene Maler vor allem für seine dunklen, aufwühlenden Darstellungen des menschlichen Körpers bekannt sei, aber alles, was die Kinder interessierte, war der witzige Nachname. Also hieß der Boxer Bacon.

Jenna erreichte das Haus der Harringtons, sie hielt am Tor an und gab auf dem Tastenfeld ihren persönlichen Code ein. Das Tor glitt auf, und vor ihr erhob sich das großartige Bauwerk mit seinen traditionellen Holzschindeln und dem typischen Giebeldach der Cape-Cod-Häuser, allerdings war es dreimal so groß wie die umliegenden Gebäude. Der gepflegte Garten schwelgte in schönster Farbenpracht. Die Abende, die sie hier allein mit Bacon verbrachte, waren für sie wie Luxusurlaub.

Sie hatte schon den Schlüssel in der Eingangstür, als sie mit einem Mal ein Unbehagen befiel. Etwas fühlte sich anders als sonst an.

Es war absolut still. Selbst wenn sie angestrengt lauschte, hörte sie nichts als das schwache Dröhnen in der Ferne, die Musik, die am Yachtclub über das Wasser wummerte.

Statt den Schlüssel umzudrehen, drückte sie auf die Klingel. Sie hörte es drinnen deutlich schrillen, aber sofort stellte sich daraufhin wieder nächtliche Stille ein.

Wo steckte Bacon?

Bacon besaß die unheimliche Gabe, zu spüren, wer auf der anderen Seite der Tür stand. Für Bacon fielen sämtliche Menschen in zwei Kategorien – Freunde oder Fremde. Fremde waren potenzielle Eindringlinge und wurden mit einem tiefem Bellen empfangen, das selbst den kaltblütigsten Verbrecher in die Flucht schlug. Freunde hingegen waren für Bacon Vergnügen pur, er sah in ihnen Spielkameraden, denen er fiepend seine Vorfreude ankündigte.

Bacon war neun Jahre alt, was für seine Rasse ein stattliches Alter war. Vielleicht hörte er nicht mehr gut, vielleicht hatte er seine Erkennungsgabe eingebüßt. Vielleicht war sogar noch Schlimmeres geschehen. So wollte sie ihn nicht finden. Und was sollte sie dann den Harringtons sagen, wie sollte sie ihnen vermitteln, wenn ihrem Liebling, wenn Bacon etwas zugestoßen war?

Sie hatte keine Wahl. Sie konnte ja schlecht die Polizei rufen, nur weil der Hund keinen Laut von sich gab. Sie drehte den Schlüssel um, drückte vorsichtig die Tür auf und tastete sich langsam hinein.

Sofort sah sie das Blut, dann die Leichen. Im Blut verstreut lagen einzelne Perlen eines gerissenen Armbands. Richard lag mit dem Gesicht nach unten, Sarahs Augen aber waren, im Tod erstarrt, vor Verwirrung weit aufgerissen. Erst als Jenna anfing zu schreien, fiel Bacon mit ein und heulte im hinteren Teil des Hauses.

Der Hund wusste, dass sein Herrchen und sein Frauchen tot waren.

Knapp zehn Jahre später

1

Michelle Ward, zweiunddreißig Jahre alt, hörte die polternden Schritte über sich – eindeutiges Zeichen, dass die Kinder jetzt wach waren und sich ihr morgendliches Alleinsein, die zweieinhalb Stunden, die sie nur für sich hatte, dem Ende zuneigten. Die Wörter flogen nur so über den Bildschirm, daher wollte sie das Kapitel noch zu Ende schreiben, solange sie im Fluss war. Ihr Mann, der den Kindern unmissverständlich auftrug, sich die Zähne zu putzen, hatte alles unter Kontrolle. Mit einem Lächeln schloss sie die Szene ab, in der sich die beiden Hauptfiguren ihres Romans auf ganz wunderbare Weise zum ersten Mal begegneten.

Ihr war klar, dass sich Simon seine Juristenlaufbahn etwas anders vorgestellt hatte. Anders als sein Vater, der in der Ellbogenmentalität einer kleinen Anwaltskanzlei reüssierte, hatte Simon zunächst für den Supreme Court arbeiten wollen, um später als hochdotierter und versierter Unternehmensanwalt bei einer der größten Anwaltskanzleien der Welt unterzukommen. Er hatte schon von klein auf sein gesamtes Leben durchgeplant, bis das Leben beschlossen hatte, sich um seine Pläne nicht zu kümmern.

Nach dem grausamen Mord an seinen Eltern hatte er sich außerstande gesehen, das Jurastudium an der Columbia aufzunehmen. Die Universität hielt ihm ein Jahr lang den Studienplatz frei und gab ihm Zeit, um seine Eltern zu trauern. Als er schließlich zum Studium bereit war, hatte eine Gruppe aus gegenwärtigen und ehemaligen Studierenden eine Eingabe an den Dekan gerichtet, seine Zulassung zu widerrufen, da es ihrer Ansicht nach »mehr als wahrscheinliche Gründe für die Annahme gibt, dass er den Doppelmord entweder selbst verübt hat oder daran beteiligt gewesen ist«. Die Universität widerrief somit die Zulassung, worauf Michelle ihn dazu drängen wollte, die Einrichtung zu verklagen. Ihre Eltern allerdings sprachen sich dagegen aus. Eine Klage hätte vor Gericht wohl kaum Bestand gehabt, außerdem wären Simon und sein Bruder dadurch nur weiteren negativen Schlagzeilen ausgesetzt gewesen. So rief ihr Vater bei seiner Alma Mater an, der Universität Suffolk, und konnte erreichen, dass der Sohn seines verstorbenen Kanzleipartners in aller Stille dort sein Jurastudium aufnahm.

Selbst dann noch, als Simon kurz vor der Examensprüfung stand, wandten sich zwei Anwälte, die ihn überhaupt nicht kannten, an den Persönlichkeits- und Eignungsausschuss des Bundesstaates und versuchten seine Vereidigung als Anwalt zu verhindern. Sie scheiterten mit ihren Bemühungen, trotzdem rannten ihm die Mandanten nicht unbedingt die Tür ein. Man wollte nicht jemanden mit seinen Rechtssachen betrauen, der dem mittlerweile berüchtigten sogenannten »Todesduo« angehörte.

Statt der erhofften erfolgreichen Karriere bei einer großen, renommierten Kanzlei arbeitete Simon daher in derselben kleinen Kanzlei wie sein Vater – er hatte die Stelle angenommen, die Michelles Vater ihm schließlich angeboten hatte. Im Jahr darauf beendete Michelles Bruder Dennis am Boston College das Jurastudium und trat ebenfalls der Kanzlei bei, sodass Dennis und Simon nun Partner waren. In Wahrheit allerdings war Simon der sehr viel bessere Anwalt und erledigte hinter den Kulissen den Großteil der juristischen Arbeit. Dennis hingegen vertrat die Kanzlei nach außen hin – man wollte vermeiden, dass Simon potenzielle Mandanten abschreckte. War Simons Vater noch der unbestrittene Kopf von Harrington, Ward & Carver gewesen, so hatte sich bei der neu geschaffenen Kanzlei Ward & Harrington LLC das Blatt gewendet.

Vielleicht lag es an Michelles optimistischer Grundhaltung, aber trotz jener Horrornacht schätzte sie ihr Leben in vielen Aspekten sehr viel glücklicher ein, als wenn sich Simons berufliche Träume erfüllt hätten. Immerhin hatte er geregelte Arbeitszeiten, war kaum auf Geschäftsreisen und kam jeden Abend zum Essen zu ihr und den Kindern nach Hause.

Und im Gegensatz zu vielen ihrer befreundeten Schriftstellerinnen, die sich über ihre Männer beschwerten, die von der harten Arbeit ihrer Frauen keine Ahnung hatten, unterstützte Simon sie und verschaffte ihr die notwendigen Freiräume, damit sie in Ruhe schreiben konnte. Deshalb konnte sie jetzt im Pyjama in der Küche eine so herzerwärmende Begegnungsszene verfassen. Sie konnte in den frühen Morgenstunden arbeiten, während Simon dafür sorgte, dass sich die Kinder anzogen und zu dem von ihm für die ganze Familie zubereiteten Frühstück erschienen, bevor er sich auf den Weg in die Kanzlei machte. Bislang hatte sie vier erfolgreiche Liebesromane verfasst, die allesamt unter Pseudonym veröffentlicht wurden, damit sie keine Angriffsfläche bot.

Sie klappte ihren Laptop zu, als ihre Kinder, Daniel, sechs, und Sophie, vier, die Treppe herunterdonnerten.

»Ich hab Hunger«, rief Sophie mit ihrem noch ganz verschlafenen Engelsgesicht.

»Du hast immer Hunger«, neckte Daniel sie. »Du bist eine Fressmaschine.«

»Nein, du bist eine Fressmaschine.«

Simon in seinem flauschigen weißen Bademantel, die Haare noch feucht von der Dusche, scheuchte sie gleich darauf in die Küche. »Ihr seid beides kleine Fressmaschinen, und deswegen werde ich auch einen Riesenstapel Pancakes machen.«

Sophie klatschte in die Hände, von Daniel kam ein glückliches »Jaaa«. Wo schnappten sie so was bloß auf?

Als sie einige Zeit danach die Frühstücksteller abräumte und Simon sich für die Arbeit fertig machte, wurde sie vom schrillen Klingeln des Festnetztelefons aufgeschreckt. Mittlerweile nutzten alle für gewöhnlich ihre Handys, außerdem war es für einen unerwarteten Anruf noch entschieden zu früh.

»Hallo?«, meldete sich Michelle neugierig.

»Ist Simon Harrington zu sprechen?«, war vom anderen Ende der Leitung zu hören. Eine Frau mit einem leichten Südstaatenakzent.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Lydia Martindale«, antwortete die Anruferin gelassen. »Ich betreibe einen Podcast unter dem Titel Tödliche Geheimnisse.«

Michelles Herzschlag beschleunigte sich, es lief ihr kalt über den Rücken. »Was wollen Sie von meinem Mann?«

»Sie wissen vermutlich, es jährt sich bald zum zehnten Mal, dass seine Eltern ermordet wurden. Daher wollen wir zum Jahrestag über den Fall sprechen. Und dazu hätten wir gern einen Beitrag von ihm.«

Es hatte Jahre gedauert, bis sich in ihrem Leben so etwas wie Normalität eingestellt hatte. Simon, der einer ungewissen Zukunft entgegensah, hätte beinahe nicht um ihre Hand angehalten, obwohl sie beide schon auf der Highschool überzeugt gewesen waren, dass sie ihr Leben miteinander verbringen wollten. Dann, nach der Heirat, hatten sie nicht gewusst, ob es klug wäre, Kinder in die Welt zu setzen, falls Simon doch noch angeklagt würde. Mittlerweile hatte sie gelernt, keine Angst vor Ereignissen zu haben, auf die sie sowieso keinen Einfluss hatte.

Michelle umfasste fester den Hörer. »Ich werde jetzt auflegen …«

»Wie würde es wohl aussehen, wenn er mit uns nicht reden will, aber Ethan dazu bereit ist?« Die Frage klang in Michelles Ohren wie eine Drohung. »Redet Simon denn noch mit Ethan? Und was ist mit Frances? Wie kommt sie mit ihren Brüdern zurecht?«

Michelle zögerte, als der Name von Simons Schwester Frankie fiel. Nach dem Doppelmord war die damals erst zwölf Jahre alte Frankie von Michelles Eltern aufgenommen worden. Man sagte Frankie damals zwar, dass ihre Eltern Opfer eines Gewaltverbrechens geworden waren, aber sie wusste nicht, dass ihre Brüder zu den Verdächtigen zählten. Das schnappte sie erst von anderen Kindern in der Schule auf. In Tränen aufgelöst, war Frankie damals nach Hause gekommen. Michelles Eltern hatten sie zu beruhigen versucht: Kinder seien manchmal falsch unterrichtet, sie konnten grausam sein. Daneben versicherten sie ihr, dass ihre Brüder unschuldig seien, eine Position, die Michelles Eltern trotz aller Indizien bis auf den heutigen Tag vertraten. Michelle war sich nicht sicher, ob ihre Eltern wirklich glaubten, dass jemand anders die Harringtons umgebracht hatte, oder ob sie Richards und Sarahs Kinder nur so sehr liebten, dass sie alles, was für diese als Täter sprach, unbesehen verwarfen.

Unterstützt von Michelles Eltern, blieb Frankie während ihrer Jugendjahre den Zwillingen eng verbunden, selbst als sich diese voneinander entfremdeten. Zum Studium zog sie schließlich nach Kalifornien um, und in der Folgezeit wurden ihre Anrufe und Nachrichten immer seltener. Simon versuchte sich einzureden, dass sie zu beschäftigt sei, aber auch bei ihren Besuchen in Boston gab sie sich distanziert und war nicht mehr die fröhliche junge Frau mit dem sonnigen Gemüt. Als Michelle ihre Mutter darauf ansprach, rückte diese schließlich damit heraus, dass Frankie mittlerweile die Einzelheiten zum Mord an ihren Eltern kannte und sich deshalb zwangsläufig fragte, ob ihre Brüder nicht doch etwas damit zu tun hatten. Simon war am Boden zerstört, als Michelle ihm das erzählte.

»Kein Kommentar«, sagte Michelle am Telefon. Ihr Kummer über die zerbrochene Familie legte sich wie ein Schatten auf ihre Gedanken.

Die Anruferin ließ sich davon nicht beirren. »Ethans Frau Annabeth wird in drei Monaten ein Kind zur Welt bringen. Werden Ihre Kinder die neue Cousine oder den neuen Cousin dann kennenlernen?«

Mit wachsendem Unbehagen legte Michelle auf. Sie starrte vor sich hin, als Simon – er hatte den Morgenmantel durch Anzug und Krawatte ersetzt – in die Küche zurückkehrte. »Hey, hab ich das richtig gehört? Es hat jemand angerufen?«

Sie erzählte ihm von Lydia Martindale und deren neugierigen Fragen.

»Wir hätten wissen müssen, dass mit der Fernsehproduzentin, die vor ein paar Jahren bei deiner Mutter angerufen hat, nicht Schluss sein würde. Die Medien werden immer wieder versuchen, den Mord an meinen Eltern auszuschlachten.«

Fast drei Jahre zuvor hatte jemand von einer True-Crime-Sendung nachgefragt, ob die Familie an einem TV-Auftritt interessiert sei. Im Unterschied zu dieser Lydia Martindale hatte die zuständige Frau damals nicht frühmorgens bei ihnen angerufen, sondern zunächst Michelles Eltern kontaktiert. Soweit Michelle erfuhr, wollte sie sichergehen, dass Frankie mit dem Vorschlag einverstanden war, bevor sie sich an Simon und Ethan wenden wollte. Frankie war keineswegs einverstanden gewesen, das war dann das Ende jeglicher Diskussion.

»Wusstest du, dass Annabeth schwanger ist?«, fragte Michelle.

Schweigend schüttelte er den Kopf. Ihr entging nicht der Schmerz in seinem Blick. Bis zu den Morden waren Ethan und er nicht nur Zwillingsbrüder, sondern auch beste Freunde gewesen, die sich alles anvertraut hatten.

Aber das war, bevor Ethan ihre Eltern getötet hatte. Simon würde ihm nie verzeihen, und nichts würde das jemals ändern.

Michelle war in den Anblick ihrer Kinder versunken, nachdem Simon zur Kanzlei aufgebrochen war. Zum Glück hatten sie von dem Anruf, der ihre Mutter wieder in die Vergangenheit zurückriss, nicht das Geringste mitbekommen.

Der Mord an Sarah und Richard hatte Wunden hinterlassen, die vielleicht nie mehr richtig verheilen würden. Simon hatte sich jedoch schließlich mit der Tatsache abgefunden, dass die Ermittlungen im Sande verlaufen waren und die Polizei Ethans Schuld niemals beweisen würde – was hieß, dass alle Welt darüber spekulieren konnte, ob Simon ebenfalls darin verwickelt gewesen war. Sie und Simon hatten sich mit den Kindern zusammen ein Leben fern dieser düsteren Erinnerungen aufgebaut.

War es wirklich schon zehn Jahre her? Zwar gab es Tage, die sich anfühlten, als wollten sie kein Ende nehmen, trotzdem war die Zeit wie im Flug vergangen.

Als die Kinder fragten, warum Grammy und Papa ihre einzigen Großeltern waren, während viele ihrer Freunde doch zwei Paare hatten, erklärte sie, dass Daddys Eltern starben, als er zweiundzwanzig war. Sie wusste nicht, wann sie ihnen die ganze Wahrheit erzählen sollte, aber irgendwann hätte sie sowieso keinen Einfluss mehr darauf.

Die Kinder saßen vor ihren Tablets. Sophie kümmerte sich um die Pflanzen in dem Spiel Meine kleine Raupe, während Daniel ganz in Candy Crush versunken war. Nicht mehr lange, und sie würden erfahren, wie sie mit ihren Computern Informationen aus dem Internet abrufen konnten. Und irgendwann würden sie den Namen ihres Vaters in die Suchmaske eingeben.

Wie sagt man seinen Kindern, dass manche Menschen glauben, ihr Vater hätte zusammen mit einem Onkel, von dem sie noch gar nichts wussten, ihre Großeltern ermordet? Vielleicht wäre etwas Aufmerksamkeit anlässlich des Jahrestags der Morde letztlich ein Segen, wenn dabei Simon endlich von aller Schuld reingewaschen würde.

Sie klappte ihren Laptop auf und warf einen Blick auf Lydia Martindales Podcast Tödliche Geheimnisse. Sie hörte sich eine Folge an und erkannte sofort die Stimme. Der Ton klang blechern, der Podcast hatte lediglich siebzehn Online-Rezensionen. Sie hätte bereits nach dem frühen Anruf wissen können, dass es sich nicht um ein professionelles Angebot handelte.

Sie gab »True Crime Medien« in das Suchfeld ein und fand eine ganze Anzahl von Artikeln über das boomende True-Crime-Genre. Sie klickte auf einen Artikel mit dem Titel »Wenn Verbrechensaufklärung zur Unterhaltung wird«. Sie hatte von diesen Podcasts oder Fernsehsendungen noch nie gehört, nicht einmal von den populären Reihen. Nach allem, was nach dem Doppelmord und den darauffolgenden Ermittlungen geschehen war, hatte sich Michelle nie vorstellen können, sich in ihrer Freizeit mit Kriminalfällen zu beschäftigen.

Ihre Aufmerksamkeit war geweckt, als sie las, dass es einer Fernsehsendung, Unter Verdacht, tatsächlich gelungen war, sämtliche ins Programm genommenen Fälle aufzuklären. Moderator war ein augenscheinlich attraktiver Mann namens Ryan Nichols, der für Michelle eher wie ein TV-Nachrichtensprecher aussah, aber nicht wie ein Ermittler. Gewisse Stimmen im Studio führten die erfolgreiche Lösung der diversen Verbrechensfälle allerdings vorwiegend auf jemanden hinter den Kulissen zurück, auf die Produzentin Laurie Moran.

Michelle googelte deren Namen und landete bei einem Artikel der Zeitschrift New York. Die Journalistin, Tochter eines ehemaligen ersten stellvertretenden Polizeichefs des NYPD, fühlte sich zur Ermittlung in ungeklärten Verbrechensfällen berufen, nachdem der Mord an ihrem eigenen Ehemann fünf Jahre lang nicht aufgeklärt werden konnte.

Erst als Michelle von diesem Mord las, erkannte sie, dass Laurie Moran eben die Journalistin war, die vor einiger Zeit ihre Mutter und Frankie kontaktiert hatte. Laut ihrer Mom hatte die Frau einen ernsthaften und einfühlsamen Eindruck hinterlassen, ganz anders als die Podcast-Betreiberin, die diesen Morgen angerufen hatte.

Als Michelle im Artikel las, dass Laurie jene Jahre als »ein Leben in der Vorhölle« beschrieb, traten ihr Tränen in die Augen, unwillkürlich musste sie nicken. Insgeheim fragte sie sich, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, sich den Schatten der Vergangenheit zu stellen.

Sie fand ihr Handy auf der Arbeitsfläche in der Küche und scrollte zu dem Namen, der ganz oben in ihrer Kontaktliste stand. Sie hatte es nie über sich bringen können, ihn zu löschen.

Annabeth. Annabeth, die von ihr so unnötig grausam behandelt worden war. Annabeth, die anscheinend in drei Monaten von Ethan ihr erstes Kind erwartete.

Sie hoffte nur, dass die Nummer noch stimmte.

2

Laurie Moran musste lächeln, als sie ganz dünn eine leicht getönte Feuchtigkeitscreme und etwas Mascara auftrug, das einzige Make-up, das sie normalerweise verwendete.

Solange sie zurückdenken konnte, war sie jeden Morgen vor allem damit beschäftigt gewesen, ihren Sohn erst aus dem Bett und dann zur Tür hinaus zu bekommen. Die Albträume, unter denen sie nach Gregs Ermordung litt, halfen nicht unbedingt dabei, aber mit der Zeit ließen diese nach, und auch Timmy gewöhnte sich an den festen morgendlichen Ablauf. So sehr sie von ihrer Ehe mit Alex auch überzeugt war, sie hatte sich auch Sorgen gemacht, dass der nunmehr gemeinsame Haushalt die so schwer erkämpfte morgendliche Ordnung wieder durcheinanderwirbeln könnte.

Jetzt, nach einem halben Jahr Ehe, gab es genügend Gründe für Lauries gute Laune; beim Aufwachen war sie von frischem Kaffeeduft begrüßt worden, aus Tims Zimmer am Ende des Gangs kam leise Jazzmusik, und auf der Hüfte spürte sie den Arm ihres Manns. Nichts, was auf irgendein Chaos hindeuten würde.

Auf dem Weg zur Küche wurde ihre Laune noch besser. Ramon, der in einer Pfanne French Toast zubereitete, summte eine Melodie, die sie nicht richtig einordnen konnte. In der Frühstücksecke saßen schon Alex und Tim, Seite an Seite, sie waren über die New York Post gebeugt und studierten die Eishockey-Tabellen nach der All-Star-Pause zur Hälfte der Saison.

Sie fühlten sich sichtlich wohl miteinander. Auch wenn Alex’ Haare dunkel und gewellt und die von Tim ganz fein und hellblond waren, hätte ein Außenstehender sie höchstwahrscheinlich für Vater und Sohn gehalten.

»Ist Tim Moran erst mal der Goalie, wird unser Team nicht mehr zu stoppen sein«, sagte Laurie und hoffte, mit dem Goalie richtigzuliegen. Immerhin hatte sie sich mittlerweile angewöhnt, ihren kleinen Jungen Tim zu nennen. Früher, als er noch Timmy gewesen war, hatte er verkündet, mit einundzwanzig Jahren der Torhüter der Rangers zu sein.

»Vielleicht wird Tim für den Profisport aber gar keine Zeit finden, weil er in einem Jazzquartett die Trompete bläst«, warf Ramon ein und bewies einmal mehr, dass ihm nie auch nur ein Wort entging, egal, wie beschäftigt er schien.

Alex klopfte Tim auf die Schulter. »Der junge Mann hier schafft das alles ganz locker.«

»Genau wie meine Mom«, sagte Tim fröhlich. »Wir haben auf dich gewartet, Mom.« Gespannt sah er zu Ramon und stimmte flüsternd einen Countdown an: drei, zwei, eins … »Alles Gute zum Halbjahrestag!«

Das Gleiche hatte Alex ihr am Morgen gesagt. Sie drückte Tim einen Kuss auf die vom Duschen noch feuchte Stirn. »Wirklich nett von euch beiden, dass ihr daran denkt. Apropos Jahrestag, Tim, in zwei Wochen hast du Geburtstag, bislang haben wir aber keine Ahnung, was du dir wünschst.« Wie kann es sein, dass er schon elf wird?

»Aber dann wäre es doch keine Überraschung mehr.«

Als es an der Eingangstür klopfte, sprang Tim auf. Die Pförtner riefen nicht mehr an, wenn Lauries Vater kam, Leo bestand allerdings darauf, dass er nach wie vor anklopfte, statt mit dem eigenen Türschlüssel aufzusperren.

»Guten Morgen, Grandpa! Ramon hat French Toast mit Zimt gemacht! Willst du was davon?«

Wie die anderen Kinder in der Schule bewunderte auch Tim Musiker, Sportler und YouTube-Stars, trotzdem war sein Großvater für ihn nach wie vor Superman. Der ehemalige erste stellvertretende Polizeipräsident des NYPD wäre sicherlich nächster oberster Polizeichef der Stadt geworden, hätte er sich nach dem Mord an Greg nicht vorzeitig in den Ruhestand verabschiedet, um Laurie als alleinerziehender Mutter beizustehen. Leo Farley war tatsächlich ein Superheld des Alltagslebens.

»Nein, danke, Kumpel, ich hab mir heute Morgen schon ein vegetarisches Eiweiß-Omelette gemacht, wie Ramon es mir beigebracht hat«, sagte er und klopfte sich auf den Bauch. »Damit die Pumpe auch weiterhin läuft.«

Es war fast drei Jahre her, dass ihr Vater wegen Herzkammerflimmern ins Krankenhaus Mount Sinai eingeliefert wurde, wo man ihm im rechten Herzkranzgefäß zwei Stents einsetzte. Laurie war sich wie eine Schallplatte mit Sprung vorgekommen, weil sie ihn ständig mit Ernährungsvorschriften traktierte, während ihr Vater sich ebenso ständig beschwerte, dass sie aus ihm einen mürrischen glutenfreien Veganer machen wolle. Erst als Ramon und seine Kochkünste ins Spiel kamen, akzeptierte ihr Vater die eine oder andere Änderung seiner Ernährungsweise. Nach wie vor gönnte er sich gelegentlich ein Steak oder seine legendäre »Leo-Lasagne«, aber das in so engen Grenzen, dass sie sich keine Sorgen machen musste.

Als sie sich mit Alex auf die Suche nach einer neuen Wohnung gemacht hatte, hatten sie eine lange Liste mit Anforderungen: Sie brauchten viel Platz für ein häusliches Arbeitszimmer sowie für mindestens ein Gästezimmer. Dicke Wände zum Schutz der Nachbarn vor Tims begeisterten Trompeten-Übungsstunden. Eine Einliegerwohnung für Ramon, der darauf bestand, als »Butler« bezeichnet zu werden, obwohl er für Alex längst der Ehrenonkel war, dazu kam, nicht zuletzt, eine Küche, die Ramons hohen Ansprüchen genügte. Ganz oben auf der Liste aber stand: Lage, Lage, Lage.

Lauries vorherige Wohnung in der 94th Street war nur einen Block von der Wohnung ihres Vaters und fünf Blocks von Tims Schule entfernt gewesen. Irgendwann, in vielleicht nicht allzu langer Zeit, würde Tim verkünden, dass er den Weg zu und von St. Davids allein bestreiten wolle, bis dahin aber war keine Wohnung der Welt wichtig genug, um ihren Sohn und seinen Großvater ihres täglichen Vergnügens zu berauben. Laurie hatte befürchtet, dass der Umzug in die 85th Street zu viel sei, aber ihr Vater hatte ihr versichert, dass ihm die zusätzlichen Schritte bloß guttun würden.

Während Tim aus seinem Zimmer den Schulrucksack holte, nahm Laurie ihren Vater zur Seite. »Darf ich dich bitten, deinen kriminalistischen Spürsinn zu reaktivieren?«

»Mein kriminalistischer Spürsinn ist nie deaktiviert worden.«

Sie lächelte. »Natürlich nicht. Tim ist mittlerweile schon zu erwachsen für die überdeutlichen Hinweise, die ihm früher rausgerutscht sind. Kannst du nicht mal versuchen, ihm zu entlocken, was er sich zum Geburtstag wünscht?«

Ihr Vater gluckste nur.

»Entgeht mir da was?«, fragte sie.

»Na ja. Mr. Timothy ist sehr bemüht, sich ganz erwachsen zu geben, aber wenn wir zur Schule unterwegs sind? Bei jeder alten Polizeigeschichte, die ich ihm erzähle, erwähnt er ein neues Videospiel oder ein Konzert, das er gern sehen möchte. Keine Sorge, dein alter Vater liefert dir eine Liste. Wahrscheinlich wirst du ein Darlehen auf die Wohnung aufnehmen müssen, bis wir die abgearbeitet haben.«

»Ich hätte es wissen müssen. Farley ist ganz scharf auf den Fall.«

»Bin ich immer.«

Auf dem U-Bahnsteig herrschte der gewöhnliche morgendliche Berufsverkehr. Trotz Ramons wiederholter Angebote, sie zu chauffieren, wollte Laurie ihre Gewohnheiten nicht ändern. Sie war Journalistin. So dankbar sie die Hilfe zuweilen auch annahm, sie konnte sich nicht komplett aus der wirklichen Welt zurückziehen.

Ihr fiel eine junge Frau auf der Bank auf. Mit der einen Hand war sie dabei, eine Nachricht auf dem Handy zu verfassen, während sie mit der anderen ein strampelndes Kleinkind auf dem Schoß festzuhalten versuchte. Der Blick der Frau ging zwischen Handy und dem Tunnel hin und her, aus dem bereits der einfahrende Zug zu hören war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Laurie. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber Sie sehen mir ein wenig überfordert aus.«

Die Frau blickte müde auf. »Total chaotisch, dieser Morgen. Ich muss den Kleinen noch in die Krippe bringen, aber wir sind spät dran, und wenn ich wieder zu spät in die Arbeit komme … Ich darf doch den Job nicht verlieren. Ich muss meinem Boss wenigstens eine Mail schicken, bevor im Zug die Verbindung wieder weg ist, aber ich kann ihn doch nicht loslassen, weil er einfach nicht stillsitzen will, was, Jake … und wenn dann noch der Zug einfährt, man liest ja so viel Schreckliches über Vorfälle in der U-Bahn.« Die Worte sprudelten nur so aus der Frau heraus. Auf Laurie wirkte es, als wäre sie den Tränen nahe.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen. Bitte.« Die Frau schüttelte schon den Kopf, sah dann aber erneut zu Laurie auf. »Ich bin auch Mutter. Bitte. Ich kann Jake so lange halten oder Ihnen die Mail verfassen, wie Sie wollen.«

Die Frau zögerte kurz, als fiele es ihr schwer, sich zu einer Entscheidung durchzudringen. Schließlich nickte sie und lächelte dankbar. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Sie gab Laurie das Handy. »Jake, das ist unsere Freundin …«

»Laurie. Hi, Jake. Schön, dich kennenzulernen.« Laurie überflog die Nachricht, die die Frau angefangen hatte, und tippte sie mit beiden Daumen zu Ende. Als sie fertig war, las sie sie laut vor.

»Perfekt«, sagte die Frau.

»Und ich unterzeichne mit …«

»Tara. Ich bin Tara.«

»Sie ist nicht Tara«, sagte mit einem Mal Jake und streckte die Zunge heraus. »Sie ist meine Mommy.«

»Sie haben ja keine Ahnung, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte Tara. »In letzter Zeit war es nicht einfach. Manchmal hätte ich gern eine Familie, die aushelfen könnte, aber dann fällt mir wieder ein, warum wir nur zu zweit sind. Tut mir leid, das interessiert Sie ja alles gar nicht – sagen wir mal, es gibt meistens schon einen Grund, warum in der Familie keiner mehr mit dem anderen redet.«

Mit einem traurigen Lächeln stieg Laurie zusammen mit der Frau in die U-Bahn und war umso dankbarer für die Unterstützung, die sie und Tim in ihrem Leben erfahren hatten.

Eine Viertelstunde später traf sie im fünfzehnten Stock des Rockefeller Center 15 ein, wo die Büros der Fisher Blake Studios untergebracht waren. Als sie den Aufzug verließ, sah sie Ryan Nichols ins Büro ihres Bosses Brett Young, schlendern. Kurz danach hörte sie, wie ihr Boss den Moderator ihrer Sendung enthusiastisch begrüßte: »Meine Tür steht dir immer offen!«

Was heckten die beiden jetzt schon wieder aus?

3

Annabeth Harrington legte auf dem Treppenabsatz eine Pause ein, ihr Blick fiel auf den dort angebrachten Spiegel. Ihre braunen Augen waren sichtlich verquollen. Neben den körperlichen Veränderungen und der Schwangerschaftsübelkeit, unter der sie litt, bekam sie einfach nicht genügend Schlaf. Sanft wiegte sie ihren dicken Bauch mit beiden Händen. »Drei Monate noch«, flüsterte sie. »Ich kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.«

Sie spürte einen kleinen Stoß gegen die rechte Hand. »Du kannst mich hören, was, Kleines?«

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass ihr Mann Ethan sie am Fuß der Treppe beobachtete. Er trug ein Bruce-Springsteen-T-Shirt und Shorts, seine gewellten braunen Haare waren noch schweißnass vom morgendlichen Joggen. »Wenn ich so hübsch wie du wäre, würde ich mich auch im Spiegel bewundern.« Er gab ihr einen Kuss, als sie unten angelangt war.

»Zum einen bist du definitiv so hübsch wie ich. Und zum anderen hab ich mich nicht bewundert, sondern nur meinen Riesenbauch angesehen.«

»Der so schön ist wie alles an dir«, sagte er. »Wie geht’s dem Kleinen?«

»Oder der Kleinen«, entgegnete sie. Sie hatten sich dafür entschieden, das Geschlecht des Kindes nicht erfahren zu wollen, aber Ethan – glaubte sie auf subtile Weise zu erkennen – schien überzeugt zu sein, dass sie einen Jungen bekämen. »Kann nicht stillsitzen. Genau wie der Daddy. Wie war’s beim Laufen?«

Es war ernst gemeint, wenn sie sagte, dass ihr Mann nicht stillsitzen konnte. Wenn er nach dem Aufwachen nicht einige Kilometer lief, war er den ganzen Tag voller Unruhe. Sein morgendliches Joggen, behauptete er, war die einzige Art, um mit seiner überschüssigen Energie zurechtzukommen. Könnte man sie in Flaschen abfüllen, wären sie Milliardäre. Er hatte seine üblichen Routen in der näheren Umgebung, nachdem er heute aber früher als sonst aus dem Bett gesprungen war, hatte er verkündet, am Charles River entlanglaufen zu wollen. Der Fluss, der Boston von Cambridge trennte, war auf beiden Seiten von Wegen gesäumt, die keinerlei Steigungen aufwiesen und einen tollen Blick sowohl auf den Fluss als auch auf die Stadt boten – sie galten als eine der besten Joggingstrecken des ganzen Landes. »Wunderbar. Kein Wölkchen am Himmel.«

»Du hast nicht gefroren?«

»Wie soll man frieren, wenn man die Meile in sieben Minuten läuft?«

»Angeber.«

»Wenn man nur in ein paar Dingen gut ist, muss man schon auf ihnen herumreiten, wenn man mal Gelegenheit dazu bekommt.«

Typisch Ethan. »Schon komisch, wie du dich selbst runtermachen kannst, selbst wenn du große Töne spuckst.«

»Dazu braucht es Talent.«

»Davon hast du reichlich«, neckte sie und schenkte ihm ein Lächeln. »Ich hoffe, unser Baby ist mal etwas bescheidener.«

In diesem zärtlichen Augenblick klingelte Annabeths Handy, das sie in der Gesäßtasche ihrer Umstandsjeans verstaut hatte. Ethan musste ihre Verwirrung bemerkt haben, als sie aufs Display sah, denn er fragte sie, wer dran sei. »Keine Ahnung.« Sie meldete sich mit einem vorsichtigen »Hallo?«.

Sie kannte die Stimme am anderen Ende der Leitung nicht. »Ich spreche mit Annabeth Harrington?«

Annabeth runzelte die Stirn. Ein Werbeanruf, sie hätte es wissen müssen. »Mit wem spreche ich?«

»Lydia Martindale. Ich betreibe einen Podcast und wollte mit Ihrem Mann Ethan sprechen.«

Ethan kniff die Augen zusammen, als er seinen Namen hörte.

»Woher haben Sie diese Nummer?«

»Ich habe Freunde von Ihnen über die sozialen Medien kontaktiert. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Natürlich habe ich etwas dagegen. Ich kenne Sie nicht.« Sie stellte Ihr Handy laut, damit Ethan mithören konnte.

Ungerührt – so ungerührt, dass es fast schon verstörend war – fuhr Lydia Martindale fort: »Es ist knapp zehn Jahre her, dass seine Eltern ermordet wurden. Wir wollen etwas zum Jahrestag bringen und hätten ihn gern in einer unserer Folgen.«

Ethan schüttelte entschieden den Kopf und gab ihr zu verstehen, das Gespräch sofort zu beenden.

»Ich darf Ihnen versichern, dass er keinerlei Interesse daran hat.«

»Versteht er sich denn noch mit seinem Bruder Simon? Werden Simon und dessen Frau Michelle Ihr neugeborenes Kind kennenlernen?«

Annabeth zögerte. Die schwierigen Familienverhältnisse belasteten sie sehr. »Ich habe gerade mit Michelle gesprochen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie bei mir auftreten. Sind Sie und Ihr Mann nicht besorgt, was sie mitzuteilen haben?«