Der anonyme Liebesbrief - Patricia Vandenberg - E-Book

Der anonyme Liebesbrief E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Dr. Norden – Unveröffentlichte Romane Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. »Ich kann nicht mehr!« Amelie Kaps versuchte ihre brüllende Tochter zu übertönen. Wie fast jeden Tag in letzter Zeit hing die Zweijährige aus unerfindlichen Gründen kopfüber über ihrem Arm und schrie. »Das hält doch kein Mensch aus.« Dr. Daniel Norden betrachtete das kreischende Bündel Mensch. »Kaum zu glauben, welche Kraft in so einem Knirps steckt«, wunderte er sich und kitzelte Esther am Bauch, was die mit noch lauterem Gebrüll quittierte. »Ist etwas passiert?« »Nichts, das ist es ja.« Für gewöhnlich war Amelie eine schöne, aufsehenerregende Frau. Doch in letzter Zeit hatte ihr Aussehen deutlich gelitten. Ihr sonst so gepflegtes, schimmerndes braunes Haar hing schlaff über ihre Schultern. Sie war ungeschminkt, die Haut blass. Ihre ungewöhnlich grünen Augen hatten allen Glanz verloren. »Jeden Tag ist es dasselbe. Seit Wochen schon. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fängt Esther an zu schreien. Dummerweise meist genau zu dem Zeitpunkt, wenn ich Noel aus dem Kindergarten holen soll.« Das Mädchen hörte den Namen seines Bruders und hielt kurz inne.

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Dr. Norden – Unveröffentlichte Romane – 39 –

Der anonyme Liebesbrief

Unveröffentlichter Roman

Patricia Vandenberg

»Ich kann nicht mehr!« Amelie Kaps versuchte ihre brüllende Tochter zu übertönen. Wie fast jeden Tag in letzter Zeit hing die Zweijährige aus unerfindlichen Gründen kopfüber über ihrem Arm und schrie. »Das hält doch kein Mensch aus.«

Dr. Daniel Norden betrachtete das kreischende Bündel Mensch.

»Kaum zu glauben, welche Kraft in so einem Knirps steckt«, wunderte er sich und kitzelte Esther am Bauch, was die mit noch lauterem Gebrüll quittierte. »Ist etwas passiert?«

»Nichts, das ist es ja.« Für gewöhnlich war Amelie eine schöne, aufsehenerregende Frau. Doch in letzter Zeit hatte ihr Aussehen deutlich gelitten. Ihr sonst so gepflegtes, schimmerndes braunes Haar hing schlaff über ihre Schultern. Sie war ungeschminkt, die Haut blass. Ihre ungewöhnlich grünen Augen hatten allen Glanz verloren. »Jeden Tag ist es dasselbe. Seit Wochen schon. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fängt Esther an zu schreien. Dummerweise meist genau zu dem Zeitpunkt, wenn ich Noel aus dem Kindergarten holen soll.« Das Mädchen hörte den Namen seines Bruders und hielt kurz inne. Ihr rundes Gesicht war krebsrot und verzerrt vor Empörung. Amelie wagte kaum, aufzuatmen vor Erleichterung. In normaler Lautstärke fuhr sie fort.

»Mir bleibt also nichts anderes übrig, als Esther schreiend in den Buggy zu stecken und anzuschnallen. Sie können sich vorstellen, wie sie das findet. Der Weg zum Kindergarten ist die Hölle. Der reinste Spießrutenlauf. Die Leute, denen wir begegnen, halten mich definitiv für eine Rabenmutter. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, so wie sich Esther aufführt. Nicht wahr, mein kleiner Schatz.«

Trotz ihrer Ratlosigkeit war ihre Stimme weich, als sie zärtlich über die nasse Kinderwange streichelte.

Wie auf Kommando zogen sich Esthers Mundwinkel augenblicklich wieder nach unten, die Augen füllten sich erneut mit Tränen. Amelie seufzte erschöpft.

»Sehen Sie, jetzt geht es schon wieder los. Die Erzieherin im Kindergarten hat mich schon angesprochen. Aber was soll ich ihr sagen? Ich kann nichts anderes tun, als Esther im Buggy wüten zu lassen, während ich Noel anziehe. Dann gehen wir zusammen ganz schnell nach Hause und legen Esther dort irgendwo auf den Boden, damit sie sich nicht wehtut. Meist dauert es noch ein paar Minuten, dann kommt das Madamchen schluchzend aus dem Zimmer und der Spuk ist vorbei.«

Resigniert betrachtete Amelie ihre Tochter. Sie hatte sich doch anders entschieden und sich endlich beruhigt. Eine Weile wurde der kleine Körper noch von Schluchzern geschüttelt. Dann hatte Esther sich so weit beruhigt, dass sie vom Schoß ihrer Mutter klettern und auf kleinen Beinchen begann, das Behandlungszimmer zu erkunden.

»Fuzleug?«, fragte sie und deutete auf eine Kinderzeichnung, die Daniel aufgehängt hatte.

»Nein, mein Schatz, das ist ein Hubschrauber«, erklärte Amelie mit letzter Kraft.

»Fuzleug!«, wiederholte Esther energisch und klatschte begeistert in die Hände.

Daniel betrachtete das niedliche Mädchen mit den blonden Löck-chen und lachte.

»Na, jedenfalls können wir eine ernsthafte Erkrankung ausschließen. So munter, wie sie plötzlich wieder ist.«

»Bei Esther schon«, konnte sich Amelie an dieser Gewissheit nicht recht freuen. »Wenn das noch lange so weitergeht, kann ich für meine eigene Gesundheit nicht mehr garantieren. Esther war schon immer ein anstrengendes Kind. Langsam aber sicher geht mir die Kraft aus.«

»War sie nicht auch ein Kolikbaby?« Daniel betrachtete den Bildschirm seines Computers, wo auf Knopfdruck sämtliche wichtigen Informationen verfügbar waren.

Amelie nickte.

»Vier Monate lang habe ich sie jede Nacht vier, fünf Stunden herumgetragen. Und kaum lag ich eine Stunde im Bett, kam Noel daher, um mit mir zu spielen«, erinnerte sich Amelie schaudernd an die erste harte Zeit mit zwei so kleinen Kindern.

»Kann Ihr Mann Sie ein wenig mit den Kindern unterstützen? Sie Ihnen hin und wieder abnehmen, damit Sie sich ausruhen können?«

»Lothar? Sie machen Witze.« Energisch schüttelte Amelie die braune Mähne. »Nachts schläft er wie ein Stein, und am Wochenende muss er dringend ausschlafen und sich ausruhen. Er hat einen anstrengenden Beruf und als Geschäftsführer eines Verlags jede Menge Verantwortung. Esther, lass die Bücher im Regal!« Das Mädchen stand vor Daniels Bücherregal und zerrte an einem dicken Band. Der bunte Rücken hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie vollbrachte Schwerstarbeit, ohne auf die Worte ihrer Mutter zu achten.

»Mama lesen«, keuchte sie angestrengt. Endlich gelang es ihr, das schwere Buch herauszuheben. Mit gerunzelter Stirn schleppte sie es zu Amelie und legte es stolz auf ihren Schoß. »Buch mitbacht.« Der Anblick war so drollig, dass die Erwachsenen dem Kind nicht böse sein konnten.

Und trotzdem:

»So geht das nicht weiter. Seit knapp einem Jahr ist nachts endlich Ruhe und beide Kinder schlafen durch. Und jetzt das!«

»Seit wann hat Esther denn diese Anfälle?«

»Erst seit ein paar Wochen. Aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Vor allen Dingen, weil wir keinen Grund finden. Sie haben sie untersucht, ich habe sämtliche Ratgeber gelesen, die es zu diesem Thema gibt. Langsam, aber sicher bin ich mit meinem Latein am Ende.« Genauso sah Amelie auch aus.

»Ich glaube, Esther spürt, dass Sie erschöpft sind, und nutzt diese Situation aus. Nicht bewusst oder gar bösartig. Vielmehr glaube ich, es ist eine Suche nach Sicherheit, nach Grenzen, die sie Ihr im Augenblick nicht geben können«, vermutete der Arzt.

Amelie dachte eine Weile nach und seufzte schließlich.

»Schon möglich. Es gelingt mir einfach nicht, sie schreien zu lassen. Immer versuche ich, sie abzulenken oder zu beruhigen. Vielleicht ist das der Fehler. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie ihr nicht ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben können. Denn sie leidet doch auch.« Auf einmal standen Tränen der Erschöpfung in Amelies glanzlosen grünen Augen. »Ich liebe meine Kinder wirklich. Aber manchmal hasse ich mein Leben«, brach es plötzlich aus ihr hervor. »Dabei hatte ich mir alles so toll vorgestellt, verheiratet zu sein, eine Familie zu gründen. Und was ist jetzt? Jetzt sitze ich den ganzen Tag mit zwei Kleinkindern zu Hause oder auf dem Spielplatz, ohne einen Ansprechpartner, ohne einen Erwachsenen, der mir mal zuhört oder ein ernsthaftes Gespräch führt. Es mag seltsam klingen, aber ich fühle mich verdammt einsam inmitten all dieser Mütter, die nur den Wettbewerb zwischen ihren Kindern im Auge haben. Und ich langweile mich. Trotz all der Arbeit.« Die Stimme versagte ihr, und sie suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.

Inzwischen blätterte Esther selbstvergessen in dem Buch. Niemand hätte erwartet, dass dieser kleine Engel ein solches Teufelchen sein konnte.

»Meine Frau kann ein Lied von diesen typischen Mütterthemen singen«, gab Daniel zu erkennen, dass er Amelies Nöte verstand. »Welches Kind kann schneller laufen, als Erstes bis zehn zählen, eine Blume malen oder auf Englisch Guten Tag sagen. Es geht nur noch um Leistung und Wettbewerb.«

»Im Berufsleben kann man das ja gerade noch verstehen. Aber im Sandkasten?«, murmelte Amelie. Ihr Gefühlsausbruch war ihr mehr als peinlich.

Nach ihrer Erklärung sah Daniel aber klarer.

»Sie sind nicht glücklich mit Ihrer Situation, Frau Kaps. Ich denke, Esther spürt das und ist deshalb besonders in stressigen Momenten so unberechenbar und stur.«

»Und was sollte ich Ihrer Ansicht nach tun? Mein Mann hat wie gesagt keine Zeit, mir die Kinder mal abzunehmen. Zudem hatten wir uns ja darauf geeinigt, dass das meine Aufgabe ist, während er Geld verdient. Und eine Kur? Ich weiß nicht. Am liebsten würde ich in meinen Beruf zurückkehren, um mich wenigstens für ein paar Stunden am Tag auf etwas anderes konzentrieren zu können.« Amelie sah Daniel flehend an. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe meine Familie. Aber manchmal wächst mir alles über den Kopf.«

»Keine Sorge, ich halte Sie nicht für eine Rabenmutter«, beruhigte Daniel die junge Mutter. »Leider habe ich im Moment noch kein Patentrezept parat. Sie werden verstehen, dass ich Esther kein Beruhigungsmittel verabreichen möchte. Damit werden die Ursachen für ihre Anfälle nicht aus der Welt geschafft. Ich schlage vor, Sie sprechen mit Ihrem Mann und suchen gemeinsam nach einer Lösung, wie Sie ein wenig entlastet werden können.«

Er hätte ihr gerne einen raschen Ausweg aus ihrer Situation angeboten. Doch Daniel sah im Moment selbst keinen Weg aus dem Dilemma. Ein Gespräch mit seiner Frau Fee würde Aufschluss bringen.

»Ich melde mich bei Ihnen, sobald mir was eingefallen ist«, versprach er Amelie beim Abschied und lächelte aufmunternd.

»Sie können keine Wunder wirken«, gab sie resigniert zurück. Dem konnte Daniel nicht widersprechen.

Der Besuch bei Dr. Daniel Norden hatte nicht den erhofften Effekt gehabt. Deprimiert packte Amelie ihre kleine Tochter ins Auto und konnte sich noch nicht einmal darüber freuen, dass der Anfall diesmal recht harmlos ausgefallen war. Stattdessen überlegte sie, was sie an diesem hoffnungslosen Tag noch alles erledigen musste.

»Jetzt fahren wir in den Kindergarten und holen Noel ab«, erklärte sie ihrer Tochter mit einem Blick auf die Uhr. Es war schon kurz vor halb drei. Aus Esthers Nachmittagsschläfchen würde nichts werden. »Dann gehen wir zusammen Einkaufen. Mama und Papa haben heute Abend Gäste.« Das auch noch!, fügte Amelie in Gedanken hinzu. Lothar machte es sich wirklich manchmal leicht. Er war stolz auf seine Frau, die Kinder und das schöne Haus und lud gerne Kollegen ein, um in gemütlicher Runde Geschäftliches zu besprechen. Dabei dachte er nie daran, was für einen zusätzlichen Arbeitsaufwand er seiner Frau damit bescherte.

Esther hörte ihrer Mutter nicht zu. Selbstvergessen saß sie in ihrem Kindersitz und spielte mit der Holzfigur, die Amelie dort befestigt hatte.

»Mamimomumi«, sang sie dabei leise vor sich hin, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Wieder stiegen Amelie die Tränen in die Augen.

»Was ist heute nur mit mir los?«, fragte sie sich ärgerlich und versuchte, durch den Schleier hindurch die Straße zu erkennen. »Ich bin doch sonst nicht so nah am Wasser gebaut.« Es musste der Gedanke an all die Arbeit sein, die noch vor ihr lag. Noel abholen, einkaufen, das Gästebad putzen, kochen und nebenbei die Kinder beschäftigen, ins Bett stecken und am Abend, wenn die Gäste kamen, selbst fantastisch aussehen. »Es muss die Erschöpfung sein«, schniefte Amelie in sich hinein, als ihr Handy klingelte. Sie wusste, dass sie während des Fahrens nicht telefonieren durfte. Doch sie konnte nicht widerstehen und griff nach dem Hörer.

»Liebling, schön, dass ich dich endlich erreiche!«

Amelie konnte ihren Mann förmlich vor sich sehen, seine vor Enthusiasmus sprühenden Augen, sein Gesicht, das vor Begeisterung und Unternehmungslust strahlte.

»Hallo Schatz, ich bin gerade auf dem Sprung, um Noel zu holen.«

»Das ist gut. Ich will dich nicht lange aufhalten. Denkst du an unsere Einladung heute Abend? Was kochst du uns denn Schönes?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber mir fällt schon was sein.« Amelies schlanker Figur war nicht anzusehen, dass sie eine hervorragende Köchin war.

»Davon bin ich überzeugt.« Lothars Stimme war voller Liebe und Stolz. Obwohl Amelie hin und wieder versuchte, seine Aufmerksamkeit auf ihre Probleme zu lenken, vergaß er sie immer wieder. Oder verdrängte sie. Auch das war denkbar. »Du bist einfach die beste Ehefrau, Hausfrau und Mutter, die man sich denken kann. Man möchte kaum glauben, dass dein Bruder aus derselben Familie stammt wie du.«

Während Lothar vergnügt plauderte, hatte Amelie den Wagen vor dem Kindergarten geparkt. Die Erzieherinnen liebten es nicht, wenn die Mütter zu spät kamen. Zuverlässigkeit war ein Grundwert, der den Kleinen nicht früh genug vorgelebt werden musste. Im Prinzip fand Amelie diese Einstellung richtig, wäre da nicht die knallharte Wirklichkeit gewesen, die manchmal jeden guten Willen zunichtemachte.

»Was hat denn mein Bruderherz schon wieder angestellt?«, erkundigte sie sich, während sie, den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, Esther aus ihrem Sitz hievte.

»Stell dir vor, heute kam er erst gegen zwölf ins Büro geschlurft. Er hat angeblich eine Sinnkrise. Deshalb fällt ihm auch kein neues Thema mehr ein für einen Leitartikel in unserer übernächsten Ausgabe.«

Amelie hörte nur mit einem Ohr zu. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Esther davon abzuhalten, auf dem Weg zum Kindergarten jede Blume zu pflücken, Nachbars Katze am Ohr zu ziehen und dem Hund, der am Zaun angebunden auf sein Frauchen wartete, in die Augen zu piksen.

»Lass das, Esther. Das tut dem Tier doch weh«, maßregelte sie ihre kleine Tochter und drängte sie behutsam in die angestrebte Richtung. Gleichzeitig versuchte sie, sich auf das Telefonat zu konzentrieren. »Das klingt aber nicht sehr typisch für Alex. Ist er krank?«

»Das möchte ich gerne heute Abend herausfinden. Ich habe ihn auch noch eingeladen. Nur, damit du Bescheid weißt. Wir sind also nicht vier, sondern fünf.«

»Kein Problem«, antwortete Amelie abwesend und beobachtete besorgt, wie die Erzieherin ihres Sohnes mit strenger Miene auf sie zukam. »Ich muss jetzt Schluss machen. Der Drache ist im Anmarsch«, flüsterte sie in den Hörer und legte auf, noch ehe Lothar antworten konnte.

Missbilligend sah Lydia Schreck auf die Uhr. Es war drei Minuten nach halb drei.

»Entschuldigen Sie die Verspätung. Ich war mit Esther noch beim Arzt«, rief Amelie hastig und sah sich um. Ihre kleine Tochter war verschwunden.

»Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

»Ist was mit Noel?«, fragte Amelie erschrocken und folgte Lydia Schreck, nachdem sie Esther, umrundet von anderen Kindern, am Aquarium entdeckt hatte.

»Das kann man wohl sagen. Leider konnten wir Sie telefonisch nicht erreichen.« Der Vorwurf war unüberhörbar.

»Wie gesagt, ich war beim Arzt mit Esther. Dort hatte ich das Handy ausgeschaltet.«

»Sie wissen, dass ein Elternteil immer erreichbar sein muss«, setzte die Erzieherin die Standpauke ungeniert fort. »Ihr Mann war in einer Besprechung.«

»Natürlich! Wie immer, wenn man ihn mal braucht«, entfuhr es Amelie. »Aber was ist denn jetzt mit Noel?«

»Er hat Windpocken.«

»Windpocken?«

Lydia Schreck runzelte die Stirn.

»Eine bekannte Kinderkrankheit, die …«

»Ich weiß, was Windpocken sind«, unterbrach Amelie ihren Redefluss barsch. »Ich verstehe nur nicht, wie das sein kann. Heute Morgen war er noch vollkommen gesund.«

»Sind Sie sicher? Wissen Sie, es gibt Mütter, die übersehen absichtlich Krankheitsanzeichen, um den Tag für sich zu haben«, erklärte sie mit so harmloser Miene, dass Amelie für einen Moment die Luft wegblieb.

»Ich gehöre nicht zu diesen Müttern, zumal keine Rede von einem freien Tag sein kann«, schnauzte sie unfreundlich und ließ die Erzieherin an der Tür zum Krankenzimmer stehen. »Noel, mein Liebling, Mami ist ja hier. Wie geht es dir?«