Der Bader von St. Denis - Guido Dieckmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Bader von St. Denis E-Book

Guido Dieckmann

3,8
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Magier mit den heilenden Händen.

Der junge Bader Ambroise Paré träumt davon, in die Gilde der Pariser Wundärzte aufgenommen zu werden. Auf einem Feldzug der französischen Truppen durch die Lombardei lindert er mit seiner Heilkunst das Leid vieler Soldaten. In Paris jedoch wird er von den Ärzten ausgelacht und darf nur ein Badehaus eröffnen. Als seine Gegner sehen, daß er mit seinen ungewöhnlichen Methoden immer erfolgreicher wird, holen sie zum entscheidenden Schlag aus: Sie klagen ihn und die Frau, die er liebt, als Ketzer an ...

Ein opulenter, auf wahren Begebenheiten beruhender Roman über den Mann, der die moderne Chirurgie erfand.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 678

Bewertungen
3,8 (16 Bewertungen)
5
6
2
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Informationen zum Buch

Der Magier mit den heilenden Händen

Der junge Bader Ambroise Paré träumt davon, in die Gilde der Pariser Wundärzte aufgenommen zu werden. Auf einem Feldzug der französischen Truppen durch die Lombardei lindert er mit seiner Heilkunst das Leid vieler Soldaten. In Paris jedoch wird er von den Ärzten ausgelacht und darf nur ein Badehaus eröffnen. Als seine Gegner sehen, daß er mit seinen ungewöhnlichen Methoden immer erfolgreicher wird, holen sie zum entscheidenden Schlag aus: Sie klagen ihn und die Frau, die er liebt, als Ketzer an.

Ein opulenter, auf wahren Begebenheiten beruhender Roman über den Mann, der die moderne Chirurgie erfand.

Guido Dieckmann

Der Bader von St. Denis

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Erstes Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Zweites Buch

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Nachwort des Autors

Über Guido Dieckmann

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Erstes Buch Piemont, im Sommer 1537

1. Kapitel

Die Sonne versank bereits mit einem majestätischen Farbenspiel hinter den sanften Hügeln, als der junge Sefferino Calabriani an einem Nachmittag im Spätsommer den einsamen Pfad einschlug, der hinauf in das Bergland von Turin führte. Der Himmel war strahlend blau; die Wolken hingen an ihm fast reglos, satt und schwer wie ein paar übermäßig große Trauben.

Sefferino schirmte seine Augen vor der gleißenden Helligkeit ab, um nicht vom Weg abzukommen und einen Steilhang hinabzustürzen. Die Gebirgspfade waren tückisch. In seinem Rücken ertönten plötzlich zaghafte Glockenschläge. Sie stammten vom höchsten Turm des Domes und wurden durch den Wind bis weit über die Stadtgrenzen hinaus getragen.

Der Junge verharrte einen Atemzug lang, um den gemächlich verhallenden Schlägen zu lauschen. Es war spät geworden; er mußte sich beeilen, wenn er sein Ziel noch vor Sonnenuntergang erreichen wollte.

Es war ein heißer, drückender Tag, der nur in der Nähe des Flusses oder im Gebirge erträglich war. Die Luft war erfüllt von schweren Düften; es roch nach heißem Harz, Pinien, Oliven und vergorenen Weintrauben. Auf seinem beschwerlichen Weg fielen Sefferino Scharen von Vögeln auf, die ermattet auf den Zweigen der spärlichen Bäume am Rand des Pfades saßen.

Sefferino stieß einen Seufzer aus. Beinahe beneidete er die Tiere, die sich ausruhen durften, ohne über die drohende Gefahr durch plündernde Landsknechte nachdenken zu müssen, während er nicht einmal wagte, stehenzubleiben, um zu verschnaufen. Dabei rann ihm der Schweiß die Schläfen hinunter. Sein weiter Leinenkittel, der von einem schmalen Lederband zusammengehalten wurde, war bereits völlig durchnäßt, das grobe Tuch rieb unangenehm über die feuchte, erhitzte Haut.

Mißtrauisch mied Sefferino die breiten Wege entlang der Flußbiegung, welche die gut bewässerten Reben des Signor Butacci wie ein Netz aus Adern umschlossen. Hier war noch alles ruhig; nichts deutete auf den Einmarsch fremder Truppen hin. Und doch wußte Sefferino, daß es nur noch eine Frage von Stunden sein konnte. Er schlug einige Haken, bis er endlich den steilen Hügel erklommen hatte und wieder festen Grund unter seinen Fußsohlen spürte. Der Sand lag im Schatten und war deshalb nicht so heiß. Der Junge streifte seine Sandalen ab und setzte seinen Weg barfüßig fort. Der kühle Boden entspannte ihn, die Bewegungen taten ihm gut und vermochten wenigstens für einige Augenblicke die starke Anspannung zu mindern, welche sein Auftrag ihm abverlangte.

Sefferino war für seine nicht einmal vierzehn Jahre groß und kräftig. Durch die Arbeit auf dem Hof seines Onkels waren seine Arme und Beine muskulös geworden. Manche seiner Kameraden machten sich lustig über seine plumpe Statur, aber dieser Spott störte Sefferino nicht im geringsten, denn die bewundernden Blicke, die viele Mädchen der Stadt ihm hinterhersandten, wenn er an der Seite seines Onkels im Dom zu Turin die Messe besuchte oder über den Campo schlenderte, straften die neidischen Bemerkungen seiner Mitschüler Lügen. In der Tat besaßen Sefferinos tiefschwarze Augen einen lebhaften Glanz, den viele Menschen reizvoll und faszinierend fanden. Manche behaupteten, daß sich winzige Goldkörnchen in seinen Pupillen bewegten. Dazu kamen seine langen dunklen Locken, die sich nur mit Mühe bändigen ließen. Um die dünnen Lippen des Jungen lag ein Zug, der von Entschlossenheit kündete und ihm eine melancholische Ausstrahlung verlieh. Dieses Merkmal schien in der Familie zu liegen. Sein Onkel, der Senfmüller, war bereits vor Jahren ergraut, seine Mundwinkel wurden von tiefen Furchen umrahmt, doch noch immer verriet sein Gesicht Intelligenz, Temperament sowie jede Stimmung, die ihn gerade überfiel – was ihn jedesmal ärgerte, wenn er mit Kaufleuten oder Handelsknechten verhandelte.

An Sticheleien hatten sich die Calabrianis gewöhnen müssen; vor allem auf Sefferino sahen die Bürger Turins herab, weil er ein Fremder war, der sich niemals besondere Mühe gegeben hatte, die Sitten und Gebräuche seiner Nachbarn zu verstehen. Seine Eltern waren gestorben, als er noch ein kleines Kind gewesen war, und sein Onkel, der ohne Zögern die Vormundschaft übernommen hatte, tat alles, um ihm den Vater zu ersetzen. Gemeinsam mit seiner Magd Gelina sorgte er dafür, daß es Sefferino an nichts fehlte. Der Umstand, daß er fast nur mit Erwachsenen Umgang pflegte, hatte den Jungen indessen scheu und zurückhaltend werden lassen. Er sprach ungern über seine Empfindungen und lehnte es beharrlich ab, neue Bekanntschaften mit den Söhnen der Geschäftsfreunde seines Onkels zu schließen. Zuweilen war er mürrisch und in sich gekehrt. Die Gesellschaft von Calabriani, der Magd und einigen Arbeitern in der Mühle schien ihm völlig zu genügen, eine Entwicklung, die den Senfmüller mit Sorgen erfüllte. Folgerichtig hatte Calabriani nicht lange gezögert, als der Franziskanermönch Eugenio, ein Freund des Hauses, ihm vorgeschlagen hatte, Sefferino bis zu seiner Mündigkeit in die Obhut der Domschule zu geben. Sefferino gefiel es nicht in den engen, finsteren Mauern der Schule. Abgesehen davon, daß der Unterricht der Mönche ihn langweilte, sah er sich bald auch noch einer Reihe von fortgesetzten Schikanen und Demütigungen ausgesetzt, die im Grunde nicht nur ihn, sondern auch seinen Onkel treffen sollten. Ein besonders hartnäckiger Verfolger erwuchs ihm in dem mißgünstigen Sohn des städtischen Steuereinnehmers Mucio Sblinetta, der keine Gelegenheit ausließ, die verwöhnten Patriziersöhne gegen den Neffen des Senfmüllers aufzuhetzen. Sblinettas Vater war Steuereinnehmer und versah zudem einige Dienste im Auftrag der städtischen Behörden. Großer Beliebtheit erfreute er sich nicht, aber immerhin war es ihm gelungen, einen Kreis von Parteigängern um sich zu scharen, die ihm einen gewissen Abglanz von Macht und Einfluß bescherten. Wer ihm offenen Widerstand entgegenbrachte, dem konnte es passieren, daß er auf dem Heimweg einen Unfall erlitt und mit zerschlagenen Knochen vor der Türschwelle abgelegt wurde. Vorausgesetzt, er fand noch eine Türschwelle vor. Der Leiter des Turiner ufficio galt als überaus erfinderisch, wenn es darum ging, säumige Schuldner von ihren Höfen zu vertreiben. Der einzige, der es sich erlauben konnte, seinen Mißmut über die Behandlung der Bauern durch Sblinettas Zinsknechte auszudrücken, war Calabriani, der außerhalb der Stadtmauern wohnte. So sehr Sblinetta sich auch bemühte, die Bürgerschaft gegen die Calabrianis aufzubringen: Er fand keine Möglichkeit, um gegen sie vorzugehen. Der Senfmüller überließ es einem Turiner Notar, seine Geschäftsbücher zu verwalten. Die Protokolle wiesen keine Unregelmäßigkeiten auf. Sefferino hegte den Verdacht, daß Mucio ihn im Auftrag seinen Vaters ausspionierte, doch beweisen konnte er es nicht. Der Sohn des Steuereinnehmers tauchte zuweilen wie zufällig in seiner Nähe auf, und dann schien es Sefferino, als prägte er sich jede seiner Gewohnheiten ein. Dabei gingen die Sblinettas kein Risiko ein. Der Steuereinnehmer hatte seinem Sohn sogar eine tönerne Pfeife in Form eines Adlers geschenkt, mit der er jederzeit auf sich aufmerksam machen und einen Knecht oder Parteigänger herbeirufen konnte. Wann immer man Mucio in der Stadt begegnete, trug er die Pfeife wie eine Trophäe um den Hals.

Prüfend tastete der Junge seinen Gürtel ab, an welchem er neben einem kleinen Dolch auch den Lederbeutel mit dem Geld seines Onkels befestigt hatte. Erleichtert stieß er den Atem aus. Der Beutel war noch da, er hatte ihn während der Kletterei nicht verloren. Nun mußte er nur noch ein geeignetes Versteck für ihn finden, dann konnte er sich auf den Rückweg machen.

Während er sich auf dem Plateau umschaute, ging ihm auf, daß sein Onkel die Entfernungen offensichtlich ein wenig durcheinandergebracht hatte. Obgleich Calabriani die Hügel und Berge seiner Heimat liebte, war er doch seit Jahren nicht mehr hier oben gewesen. Seine Gicht ließ Unternehmungen dieser Art nicht mehr zu.

Ratlos schüttelte der Junge den Kopf. Sosehr er sich nun auch beeilte, er würde den Weg zurück zur Senfmühle kaum vor Einbruch der Dunkelheit bewältigen. Womöglich mußte er sogar irgendwo in den Bergen übernachten. Der Gedanke jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Nicht, weil er die Einsamkeit oder wilde Tiere fürchtete, sondern weil seine Familie den Hof noch am selben Abend verlassen mußte, um innerhalb der Mauern Turins Schutz zu suchen.

Ein lauer Abendwind wehte über die Wiesen und Weingärten des Tales und vertrieb die Hitze. Sefferino setzte sich auf einen Stein, streckte die Beine aus und ließ seine Blicke über die sanft abfallenden Hänge gleiten. Die letzten Strahlen der Nachmittagssonne überzogen das buschige Gras, die Rebstöcke und den wilden Mohn entlang der Pfade mit goldenen Tupfen. Pralle Wolken schwebten über die Hügelkette hinweg. Nie zuvor hatte Sefferino eine derartige Farbenpracht gesehen. Für ein paar Momente vergaß er, warum er überhaupt in die Berge gestiegen war. Sein Onkel hatte ihn beauftragt, seine Ersparnisse vor einer drohenden Plünderung durch die heranrückenden Truppen des französischen Königs in Sicherheit zu bringen. Seit ihn Gicht und Rheumatismus plagten, war der Senfmüller auf einen Stock angewiesen und verließ sein Anwesen nur noch selten. Sefferino dachte daran, wie oft er seinen Onkel in den letzten Monaten beschworen hatte, die Gefahr, in der sie sich befanden, ernster zu nehmen. Aber der starrköpfige Alte hatte nicht hören wollen. Nun aber war das Herzogtum Savoyen gefallen; die lombardischen Städte wurden belagert, und der Kriegszug bewegte sich wie ein schuppiger Drache weiter auf sie zu. Die Habsburger hielten im Auftrag des Kaisers zwar noch immer die wichtigsten Burgen des Landes, doch es war nur eine Frage der Zeit, wann es zur Entscheidungsschlacht zwischen Karl V. und Franz von Valois kommen würde.

Sefferino war zu jung, um sich an den Ursprung der Auseinandersetzungen zu erinnern, die zu der erbitterten Feindschaft zwischen den Häusern Habsburg und Valois geführt hatten. Doch er wußte, daß der Papst sich in der Streitfrage wankelmütig zeigte. Einmal schenkte er dem Kaiser seine Huld, dann aber gab er dem jüngeren Sohn des französischen Königs seine Nichte, eine junge Edeldame aus dem Geschlecht der Medici, zur Gemahlin. Der Heilige Vater wollte sich einfach nicht festlegen, und seine Bischöfe folgten diesem Beispiel. Zuletzt waren die Spannungen eskaliert, denn nach dem Tod des letzten Herzogs von Mailand, einem Sforza, hatte Karl V. nicht lange gezögert und seine Ansprüche auf die reichen Landstriche der Lombardei und des Piemont angemeldet. Franz von Valois, der diese Beleidigung nicht hinnehmen wollte, hatte Truppen in Bewegung gesetzt, um die Habsburger zu vertreiben und sich Mailand anzueignen.

Von düsteren Empfindungen aufgewühlt, lauschte Sefferino dem Gesang der Zugvögel. Er beobachtete das Spiel der Zypressen, wie sie sich von einer Seite auf die andere neigten, als erwiesen sie einem Edelmann ihre Reverenz. Im Tal, seinen Blicken schon fast entzogen, schien sich der Fluß in einem zarten Nebel aus violetten Fäden aufzulösen. Auf Sefferino machte die Umgebung einen so friedlichen Eindruck, daß er versucht war, seinem Onkel recht zu geben. Vielleicht malte er doch zu schwarz, und der Krieg würde doch nicht ihr Land verheeren. Nach all dem Ärger mit Sblinetta und den Mönchen taten ihm diese Momente der Ruhe gut. Letzten Endes konnte er sich gar nicht mehr vorstellen, daß irgendeine Bedrohung jemals so mächtig sein konnte, diese Idylle zu zerstören.

Die Blicke des Jungen wanderten gen Osten, doch von dem Rundbau der Senfmühle war nichts zu sehen. Der dumpfe Klang einer Kirchenglocke hallte über die Hänge hinweg. Sefferino bekam plötzlich eine Gänsehaut. Die Töne klangen schrill und klagend zugleich, als stimmten sämtliche Glocken des Dombezirks zur selben Zeit ein Bittgebet an. Zögernd stand er auf. Das beruhigende Gefühl, das er noch Augenblicke zuvor genossen hatte, verschwand und hinterließ ein Gefühl der Leere. Der Junge wollte sich schon abwenden, als er schwarze und graue Rauchsäulen bemerkte, die sich, scharfen Lanzen gleich, am Horizont erhoben. Mit offenem Mund verfolgte er die sich immer schneller drehenden Wirbel. Die schwarzen Windhosen waren kein Schauspiel der Natur. Sie entsprangen gewaltigen Feuersbrünsten im Tal, wo sich die Dörfer der Waldenser befanden. Die Häuser brannten lichterloh.

Die Augen des Jungen weiteten sich vor Schreck. Seit dem letzten Schachspiel mit seinem Onkel wußte er, daß Turin über weniger starke Befestigungsanlagen verfügte als etwa Mailand, dessen weiträumige Mauern die Sforzas einst um zehn Zoll hatten verstärken lassen. Die Turiner waren mit dem Hinweis auf das gute Einvernehmen, das angeblich zwischen Franz I. und dem Erzbischof herrschte, vertröstet worden.

Die gespenstischen schwarzen Rauchsäulen stiegen unaufhaltsam gen Himmel. Ob die Waldenser sich den feindlichen Truppen widersetzten? Sefferino wußte nicht viel von den Nachbarn und ihrer Art zu leben. Sie galten als eigenbrötlerisch und störrisch, da sie sich lieber verfolgen und ausräuchern ließen, als die Messe zu hören oder dem Priester zu beichten. Früher waren ihre Prediger durch die Dörfer gezogen, aber der Junge erinnerte sich nicht daran, jemals einen von ihnen gesehen zu haben. Ihm war allerdings bekannt, daß sein Onkel die Männer und Frauen, die sich selbst als die Armen Christi bezeichneten, wegen ihrer Aufrichtigkeit und der Bereitschaft zum Martyrium achtete. Der Senfmüller versteckte ein Bündel Schriften der Waldenser in seinem Wirtschaftsgebäude und sandte Gelina regelmäßig mit einem Faß Pökelfleisch in die abgelegenen Dörfer.

Voller Unruhe blickte Sefferino sich um. Geräusche drangen aus dem Unterholz. Mit dem Einbrechen der Dunkelheit wirkte die Landschaft um ihn gar nicht mehr so idyllisch. Hastig löste er den Stein, auf dem er gesessen war, aus dem Sand, mußte jedoch enttäuscht feststellen, daß das Loch nicht tief genug war, um einen Beutel in ihm zu verbergen. Nun blieb ihm keine andere Wahl. Er mußte in die Grotte hineingehen, die vor ihm lag. Zuvor jedoch malte er mit der Zehenspitze ein Kreuz mit ungleich großen Querbalken und daneben eine magere Gestalt in Mönchskutte, die sich vor ihm niederbeugte. Die Linien und Striche riefen ihm in Erinnerung, daß sein Onkel sich stets beharrlich geweigert hatte, mit ihm über den Sinn ihres Daseins, über Glauben und Unglauben zu sprechen. Calabriani hatte es den Mönchen wie Pater Eugenio überlassen, seinen Neffen in der christlichen Lehre zu unterweisen. Klosterbrüder, die Arme und Kranke pflegen, so erklärte er, seien für gewöhnlich verständnisvoller als diejenigen, die ihr Leben damit zubrachten, über die Reinhaltung der päpstlichen Lehre zu wachen. Der Senfmüller bemühte sich, mit seinen Bediensteten ehrlich umzugehen. Wer harte Arbeit nicht scheute, fand in ihm einen großherzigen Dienstherren und Freund. Woran sein Herz hing, wenn er sich des Abends in seine Stube über der Halle zurückzog, war Sefferino dagegen nie recht klargeworden.

In der Grotte war es angenehm kühl und so dunkel, daß Sefferino beide Hände vor sein Gesicht halten mußte, um sich nicht an dem rauhen Stein die Ellbogen zu verletzten. Mit einem leichten Schauder erinnerte er sich an den Tag, als sein Onkel ihn zum ersten Mal mit in die Grotte genommen hatte. Er war etwa sieben Jahre alt gewesen und hatte sich vor den bizarren Zapfen, die von der Decke wuchsen, entsetzlich gegrault. In seiner Phantasie waren die steinernen Dornen zu blutdürstigen Dämonen geworden, die mit ihren Klauen nach ihm greifen wollten. Sein Onkel hatte damals nur gelacht und die Höhle mit seiner Lampe ausgeleuchtet, um ihm zu beweisen, daß der Ort wahrhaftig nichts Dämonisches an sich hatte. Das unangenehme Gefühl, das Sefferino überfiel, sooft er das geheime Versteck in den Bergen aufsuchte, war indessen niemals ganz verschwunden.

Der ausgehöhlte Schädel, nach dem er gesucht hatte, lag zwischen zwei wuchtigen Säulen, die sich nach oben öffneten und wie Trichter aussahen. Langsam gewöhnten sich die Augen des Jungen an die Dunkelheit. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er nach dem Schädel griff und ihn prüfend zu der schmalen Felsspalte hinübertrug, durch die er sich auf dem Weg ins Innere der Grotte gezwängt hatte. Das ausgebleichte Gebein stammte von einem verendeten Tier. Nicht von einem Bären oder Berglöwen, sondern vermutlich von einem Maulesel, der seinem Herrn entlaufen war und in der Grotte Schutz vor einem Unwetter gesucht hatte. Ob sich das Gestein noch zu Lebzeiten des Tieres, etwa durch ein Erdbeben, verschoben und somit dessen Flucht verhindert hatte, wußte Sefferino nicht zu erklären. Seltsamerweise hatten weder er noch sein Onkel in der kleinen Höhle Spuren eines Skeletts gefunden. Der ausgebleichte Schädel mit dem grinsenden Gebiß und den toten Augenhöhlen war alles, was von dem Maultier übriggeblieben war. Vielleicht hatten Raubtiere sich über den Rest hergemacht.

»Du solltest Pater Eugenio nichts von unserer Entdeckung erzählen, mein Junge«, hatte der Senfmüller damals lachend gemahnt, nachdem er den Schädel wieder zwischen die Säulen zurückgeschoben hatte. »Eine einzige neue Reliquie im Dom wird die hohe Geistlichkeit gewiß nicht auf Dauer zufriedenstellen, schon gar nicht in Zeiten, in denen der Handel mit wundertätigen Dingen so manchen Mann reich gemacht hat. Am Ende sehen die Turiner in dem Knochen ohne Skelett noch das Füllen, auf dem unser Herr einst in Jerusalem einzog, und wir werden das Nachsehen haben.«

Sefferino streifte sich das Band, an dem er den Beutel mit den Notgroschen seines Onkels befestigt hatte, über seine braunen Locken und zwängte ihn anschließend durch das Gebiß des Schädels. Hier, in der Grotte, war das Geld sicher vor Plünderern, gleichgültig, welchen Truppen sie angehörten. Der Onkel mußte sich in der Tat keine Sorgen mehr um seine Habe machen.

Ohne sich weiter aufzuhalten, suchte der Junge eine Mulde im hintersten Winkel der Höhle und grub das bleiche Gebein so tief ein, daß schließlich nur noch die erstarrten Augenöffnungen aus dem Sand ragten. Danach machte er sich auf den Heimweg.

Zufrieden lief er die Hügelkette zum Fluß hinab, auf dessen zart glitzernden Wogen einige Barken zu sehen waren. Sefferino hob die Hand, um den Flußschiffern zuzuwinken, doch plötzlich hielt er inne. Die Männer trugen Helme, Armschienen und Brustharnische. Funkelnde Lanzen und Hellebarden ragten über den Bootsrand hinaus.

Im nächsten Augenblick erschütterten Pferdehufe den Wildpfad. Reiter näherten sich der Wegkreuzung, von welcher ein Weg nach Turin, der andere auf die alte Römerstraße nach Alba und in die Hügellandschaft des Langhe führte. Unwillkürlich warf sich Sefferino in den staubigen Straßengraben und betete, daß die Bewaffneten in den Barken ihn nicht entdeckt hatten und an die Reiter verrieten. Sein Herz hämmerte hart gegen seine Rippen. Das Dröhnen der Hufe kam näher. Sefferino wagte nicht, über den Rand des Grabens zu spähen, aber er ahnte, daß es viele Reiter waren, die auf Turin zuhielten. Dann flatterte einen Herzschlag lang eine Fahne direkt über seinem Kopf. Sefferino erkannte das blaue Symbol auf der Standarte der Ritter sofort, denn seine Lehrer hatten ihm das Feldzeichen des französischen Heeres vor einiger Zeit aufgezeichnet.

Die Fremden waren offenkundig Späher, aber bis an die Zähne bewaffnet und bestens gerüstet, um die Mauern Turins zu bezwingen.

Soweit Sefferino wußte, rechneten sowohl der Stadtrat als auch der Bischof bereits seit Wochen mit einer Belagerung, allerdings war man überzeugt gewesen, daß der Herzog von Montejan zunächst seine Unterhändler nach Turin entsenden würde, um Verhandlungen zu führen. Für gewöhnlich zogen sich solche Verhandlungen oft über Wochen dahin. Der drohende Angriff auf die Schanzwerke vor den Mauern mußte die Bewohner des Umlandes ebenso überrumpeln wie die Wächter der Türme, die auf den Hängen wie Zuckerstangen aufragten. Keine Signalfeuer waren am Himmel zu sehen, nicht einmal Hörner kündigten die Ankunft der fremden Soldaten an. Dafür ertönte, kaum daß die Männer in ihren glänzenden Rüstungen und den Federhelmen hinter der nächsten Biegung verschwunden waren, ein jämmerliches Ächzen und Stöhnen auf dem schmalen Pfad. Ein Wagen, gezogen von zwei schäbigen, schwerfälligen Stuten, rumpelte gefährlich nahe am Abhang entlang. Als Sefferino einen Blick über den Rand der Straße wagte, sah er einen Mann auf dem Kutschbock, der sich nach Kräften bemühte, die beiden Gäule an der Kandare zu halten.

Der Franzose mochte nicht mehr als fünfundzwanzig Jahre zählen. Er trug einen ordentlich gestutzten Kinnbart, der trotz des schwachen Lichts in kräftigen rostroten Tönen aufleuchtete. Sefferino fiel auf, daß der Mann weder Waffenrock noch Harnisch trug wie die Reiter vor ihm, sondern ein abgestepptes Wams aus grünem Wildleder, auf dessen Brustseite ein Emblem aufgenäht war. Das Zeichen ähnelte einem Rasierpinsel. Sein Barett aus billigem blauem Samt saß schräg auf der Stirn und verdeckte sein linkes Ohr. Schwert oder Lanze vermochte Sefferino bei dem Fremden indes nicht auszumachen. In seinem breiten Ledergürtel steckte lediglich ein schmaler Dolch, wie Sefferinos Onkel ihn zuweilen trug, wenn er Senflieferungen zur Piazza Castello oder den Handelshöfen der Kaufleute am Campo überwachte. Was der Junge jedoch keineswegs übersah, war der geheimnisvoll schwermütige Zug, der in den wasserblauen Augen des jungen Franzosen lag.

Im Unterschied zu den Offizieren zu Pferde schien sich der Franzose in seiner Haut nicht besonders wohl zu fühlen. Er gehörte offensichtlich zu dem Troß des Herzogs, der das Piemont überfiel, und doch machte er nicht den Eindruck, als ob ihn mit den Söldnern und ihren Rittern auch nur das geringste verband. Seine durchdringenden Blicke zogen eine Art von Flammenkreis um sein Gefährt, den zu durchbrechen keiner seiner Begleiter zu wagen schien. Sefferino duckte sich verwirrt unter das Laub. Wer konnte dieser Fremde sein? Was hatte ihn zu den feindlichen Truppen geführt, und was beförderte er in seinem Wagen?

Surrende Peitschenhiebe und unflätiges Geschrei schreckten Sefferino erneut auf. Ein zweiter Wagen bog um die Kurve des Steilhanges. Er war kleiner und schäbiger als der erste, die Räder bestanden lediglich aus dicken Holzscheiben ohne Speichen. Anstelle eines Verdecks gab es eine schmutzige Plane, die nachlässig über eine Anzahl von Bretterkisten gezogen worden war. Auf dem Bock schwang ein fetter Kerl mit kahl rasiertem Schädel und dick angeschwollener Nase die Peitsche. Das Fleisch hing an seinen Wangen bis zum Kinn schlaff herab. Wann immer der Karren über ein Schlagloch fuhr, schoß der Kahlkopf mit derben Flüchen in die Höhe, die über die Ebene bis hinauf zu den Ausläufern des Monferrato zu hören sein mußten.

Sefferino kämpfte sich auf Händen und Füßen näher an den Pfad heran und spähte durch das Binsengeflecht vor ihm. Verstört biß er sich auf die Lippen, als er plötzlich entdeckte, woher die gequälten Jammerlaute rührten, die das Knirschen der Räder seit geraumer Zeit begleiteten: Hinter dem Wagen zappelte ein Dutzend Menschen an straff gespannten Stricken. Es mochten etwa zehn Personen sein, Bauern, Knechte und Händler aus den Dörfern unterhalb des Collina, jedoch waren keine Soldaten unter ihnen. Die Unglücklichen waren mit Schlingen um die Hälse aneinandergefesselt und taumelten den Pfad entlang wie Viehzeug, das auf den Markt getrieben wurde. Der älteste, ein Greis mit schlohweißem Bart, trug eine verwaschene Kutte aus Wolle, die ihm bis zu den Knöcheln reichte. Bei jedem zweiten Schritt stolperte er über den Saum seines unförmigen Kleidungsstücks, weil er sich vergeblich bemühte, den Rädern nicht zu nahe zu kommen. Sooft der Alte strauchelte, stürzten auch die anderen zu Boden und wurden, während sie sich verzweifelt bemühten, wieder auf die Beine zu kommen, vom Karren erbarmungslos mitgeschleift. In Windeseile zeichnete eine Blutspur ihren Weg. Zwei Männer versuchten vergeblich, den weißhaarigen Alten hinter den Rädern zu stützen. Doch bereits wenige Schritte vor der nächsten Serpentine erlahmten die Kräfte des Gefangenen.

»Willst du wohl aufstehen, du dreckiger Spion«, brüllte der kahlköpfige Fuhrknecht und knallte wieder mit seiner Peitsche. Seine Stimme klang verwaschen, als hätte er zu viel getrunken. »Fehlte noch, daß wir wegen euch Gesindel kein Quartier mehr im Lager finden!« Der Mann zog die Zügel an, blickte sich kurz nach den Wachen um und sprang mit einem wütenden Gesicht vom Wagen. »Habt ihr nicht gehört, was ich gesagt habe? Wenn ihr unbedingt ruhen müßt, gebe ich euch Gelegenheit, dies für immer zu tun!«

Im nächsten Moment war ein gellender Schrei zu hören. Sefferino riß entsetzt die Augen auf und ließ die Binsen zurückschnellen. Hatte man ihn etwa bemerkt?

Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der junge Franzose mit dem Kinnbart seinen Wagen nun ebenfalls zum Stehen brachte, den unruhig gewordenen Pferden in seinem Gespann den Nacken tätschelte und sich dann langsam umwandte. Sein Gesicht leuchtete in der Dämmerung wie Alabaster, als er eilig hinter dem Karren des rüden Fuhrknechts verschwand.

Sefferino hatte genug gesehen. Der Himmel mochte ihm vergeben, doch er hatte keine Möglichkeit, den gefangenen Bauern und Händlern beizustehen. Die beiden Männer würden sie töten, vielleicht stürzten sie die vermeintlichen Spione einfach gefesselt den Abhang hinunter. Er selber würde ohne Zweifel ein ähnliches Schicksal erleiden, sofern sie ihn im Graben zwischen den Binsen entdeckten. Ruhig bleiben, befahl er sich. Er mußte auf dem schnellsten Wege nach Hause zur Senfmühle, ehe die feindlichen Soldaten das Anwesen seines Onkels ausmachten und plünderten.

»Heiliger Sebastian«, flehte er den Schutzpatron seines Onkels um Hilfe an, während er sich einen Pfad durch das Dickicht schlug, »laß mich bitte vor den Franzosen in der Mühle sein! Und hilf, daß wir noch rechtzeitig die Stadttore erreichen.«

Wie von Furien gehetzt, schlug er sich durch das Gestrüpp auf die Straße, blind darauf vertrauend, daß die Geräusche des Dickichts ihn nicht verrieten. Die Dunkelheit, die ihre Schwingen über dem Tal ausbreitete, stand ihm bei. Er eilte die Serpentinen entlang, bis er die Reisfelder bei Vercelli erreichte. Dort angekommen blickte er unsicher über seine Schultern, fürchtete vor jeder Biegung, der er sich näherte, den französischen Soldaten in die Arme zu laufen. Die Reiter waren vor ihm, wirbelte es durch seinen Kopf, ihre Wagen hinter ihm. Der Weg zurück in die Berge war ihm somit versperrt. Sie würden ihn töten. Ihn und seine Angehörigen, wenn er sich nicht beeilte.

Ohne zu zögern, verließ er den Weg und sprang in ein sumpfiges Feld. Der Schlamm spritzte auf und benetzte Arme, Beine und sein Gesicht. Verzweiflung erfüllte Sefferino, als er daran dachte, wie er sich hin und wieder ein paar Scudi verdient und den Nachbarn bei der Ernte geholfen hatte. Sein Onkel war wütend geworden, weil Sefferino mit nassen Kleidern ins Haus gelaufen war.

»Wenn du wirklich helfen willst, so konzentriere dich auf deinen Latein- und Griechischunterricht«, hatte der Senfmüller ihm geraten. »Ich möchte nicht, daß der kleine Sblinetta dich im Lernen überflügelt, weil du für fremde Leute arbeitest!«

Sefferino hatte das Verbot mit jugendlichem Trotz aufgenommen, es jedoch nicht gewagt, dem Onkel zu widersprechen. Daß Calabriani sich Sorgen um Sefferinos Gesundheit machte und an einen Zusammenhang zwischen der hohen Feuchtigkeit der Luft, den tückischen Stechmücken und dem Faulfieber glaubte, hatte er erst viel später von Gelina erfahren. Lateinstunden und Faulfieber. Wie nebensächlich die Probleme des Alltags plötzlich geworden waren.

Der Junge watete, so schnell er konnte, durch das Wasser. Inzwischen war es dunkel geworden. Die Luft war feucht und drückend wie eine zu schwere Decke mit Gänsefedern. Zischend und summend wirbelten Stechfliegen um seinen Kopf. Beim Gehen gerieten sie ihm in Mund und Nase und nahmen ihm so beinahe den Atem. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Lediglich die Rauchfahnen und Feuerblitze hinter den Hügeln konnte er erkennen.

Die Gehöfte der Weinbauern brannten noch immer. Sefferino erkannte im Dämmerlicht winzige schattenhafte Gestalten, die in wilder Hast auseinanderstoben, und mutmaßte, daß es die Ziegen der Nachbarn waren, die von drei oder vier Reitern vor sich her getrieben wurden. Der fette Fuhrknecht hatte von einem Feldlager gesprochen, in dem die Soldaten Quartier zu nehmen beabsichtigten. Soviel hatte Sefferino immerhin verstanden. Doch wo befand sich das Heerlager? Er befürchtete, daß es ganz in seiner Nähe war.

Stöhnend wischte sich der Junge den Schweiß von der Stirn. Er stellte sich vor, wie der Onkel und seine Bediensteten die Hänge nach ihm absuchten, statt sich in Sicherheit zu bringen. Falls sie den Wildpfad nahmen, würden sie dem Feind unweigerlich in die Hände fallen. Vermutlich schafften sie es nun auch nicht mehr rechtzeitig hinter die schützenden Mauern der Stadt, was Sefferino indessen weniger bedauerte, weil er den feuchten Keller an der Via Arsenale, den sein Onkel als Lagerraum gemietet hatte, ebensosehr haßte wie den Schankwirt Paolo, der sich nun gewiß an ihren eingelagerten Vorräten schadlos halten würde. Doch womöglich war die Straße zum Castello di Rivoli noch frei.

Die kleine Hausburg Turins erhob sich auf einem Hügel zur Linken des Jungen. Hinter ihren Toren schloß sich bereits der Dombezirk San Giovanni Battista an. Beim Anblick der hohen Mauern aus rotem Sandstein atmete Sefferino erleichtert auf. Sie erschienen ihm uneinnehmbar zu sein. Dort konnten die Calabrianis eine Zeitlang ausharren. Zumindest so lange, bis die Truppen des Kaisers die Berge bezwungen hatten, um zu ihnen zu stoßen. Nach all den Geldgeschenken, mit welchen die reichen Städte des Kaisers Kassen gefüllt hatten, durfte Karl V. die Lombardei und das Piemont nicht preisgeben.

Sefferino liebte das Land um Turin. Die Vorstellung, als mittelloser Flüchtling in der Fremde leben zu müssen und die Hoffnungslosigkeit in den Augen seines Onkels zu sehen, jagte ihm beinahe größere Angst ein, als die Aussicht mit Stricken an den Wagen eines französischen Folterknechts gefesselt zu werden.

Vollkommen durchnäßt erreichte der Junge schließlich das Anwesen der Familie Calabriani. Beide Flügel des Tores standen weit offen. Für gewöhnlich schloß der Senfmüller das Tor nur dann nicht, wenn er Besucher erwartete. In den Fenstern des Rundbaus, in dem das Gesinde lebte, brannte kein Licht. Nicht eine einzige Kerze. Auch das Haupthaus lag in völliger Dunkelheit. Das Rauschen des Baches, der von der Adda, einem Nebenfluß des Po, gespeist wurde und die gewaltigen Räder der Senfmühle antrieb, untermalte die gespenstische Stille.

Sefferino schlich sich an den von Weinranken umgebenen Torbogen heran. Er war noch immer barfuß, die Sandalen hatte er auf den Feldern verloren, doch er spürte die spitzen Kieselsteine gar nicht, auf die er auf seinem Weg zum Haupthaus trat. Verwirrt suchten seine Augen den Hof sowie dessen nähere Umgebung nach Soldaten ab, aber es war nichts auszumachen, was auf einen Angriff oder gar Brandschatzung hindeutete. Mitten im Hof stand der kostbare Reisewagen des Onkels bereit. Seine roten Vorhänge waren heruntergelassen; pralle Rollen feinen Tuches lagen auf dem Dach. Die fremden Reiter hatten die Senfmühle auf ihrem Weg nach Turin offenbar noch nicht erspäht. Dennoch beschlich Sefferino das schreckliche Gefühl, daß im Hause seines Onkels etwas nicht stimmte. Warum hatte der Onkel noch nicht anschirren lassen? Und wo steckte Gelina, deren Geklapper mit Töpfen und Schüsseln sonst bis spät in die Nacht zu hören war?

Als Sefferino die Spuren fremder Hufe und Stiefel im Sand erblickte, befiel ihn ein Schwindel, der so heftig wurde, daß er sich in den Sand sinken lassen mußte, um ein paar Momente nach Atem zu ringen.

Schließlich erhob er sich und spähte zu dem steinernen Antlitz hinauf, das den Torbogen zierte. Die grinsende Fratze inmitten des wilden Weins stellte den römischen Gott Janus dar, dessen beide Gesichter in verschiedene Richtungen wiesen, eines nach vorn, das andere rückwärts, den freundlichen Gast willkommen heißend, den unangenehmen hinter dessen Rücken verfluchend. Sefferino hatte sich zuweilen gefragt, warum der Onkel darauf bestanden hatte, den häßlichen Faun am Tor zu behalten. Er ahnte jedoch dunkel, daß die Figur Calabrianis Lebensart entsprach, sich niemals festzulegen, in allem den Gegensatz zu sehen. Außerdem war der Onkel stolz auf seine Herkunft und die Geschichte seines Landes.

Die starren Augen des Januskopfs verfolgten Sefferino auf seinem Weg durch den Vorhof der Mühle.

»Onkel, wo seid Ihr?« rief der Junge verhalten, als er die kühle Halle betrat. Niemand antwortete ihm, allein sein Echo hallte gespenstisch von den hohen, schmucklosen Wänden wider. Der längliche Raum mit seinen geschmackvollen Mosaikfußböden, Wandbehängen und Blumenkübeln wirkte auf einmal wie eine Gruft. Auf einem zierlichen runden Tisch aus Akazienholz standen eine Schale mit gezuckerten Trauben und das Schachbrett seines Onkels. Hatte er etwa vor, sein Lieblingsspiel zurückzulassen?

Unweit einer Wand aus Akazienholz erhob sich ein kleiner Springbrunnen aus weißem Marmor; jedoch klang das sanfte Plätschern plötzlich alles andere als ermutigend. Auch das Geräusch zirpender Grillen, das aus den Gärten hinter der Mühle in die Halle drang, wirkte scharf und schneidend.

Sefferino rief ein weiteres Mal nach seinem Onkel, nach Gelina und den beiden Knechten. Als er aus dem rückwärtig gelegenen Fenster blickte, bemerkte er, daß die Tore der Stallungen ebenfalls offen standen. Irgend jemand hatte die Kühe, den Maulesel und die Handvoll Ziegen vom Hof getrieben. Hatte der Onkel sich mitsamt den Bediensteten und seinen Tieren aus dem Staub gemacht, um die Senfmühle dem anrückenden Feind auszuliefern? Der Junge hoffte es beinahe, doch angesichts der verlassen daliegenden Gebäude überkam ihn eine so tiefe Niedergeschlagenheit, daß er sich am liebsten wie ein kleines Kind unter das Schilfdach gekauert hätte, um in dessen Schutz auf das Ende dieses Alptraums zu warten.

Der Onkel war also fort – mit ihm die Knechte, Gelina …

Sefferino fühlte, wie ihm vor Angst Tränen in die Augen traten. Was, um alles in der Welt, sollte er tun, wenn die Späher der französischen Truppen seinen Vormund verschleppt hatten? Die Reiter konnten jeden Augenblick die Hügelkette hinunterstürmen, und was sie mit ihm anstellten, wenn sie ihn fanden, mochte Sefferino sich lieber nicht ausmalen.

Als er die wenigen Stufen zu dem Gewölbe hinunterstieg, wo sich Gelinas Küche befand, rutschte er beinahe auf einer zähen, klebrigen Flüssigkeit aus. Sie breitete sich über die Stufen aus wie Honig und gerann am Treppenabsatz zu einer gelblichen Lache. Mit einer düsteren Vorahnung ging Sefferino in die Hocke, tauchte einen Finger in die zähe Masse und schnupperte vorsichtig. Es war Rübensirup, der ausgelaufen war. Nur wenige Schritte hinter dem Abgang verteilten sich die Scherben eines Tonkrugs, der offensichtlich an einer der wuchtigen Steinsäulen des Gewölbes zerschellt war. Ein Stück weiter erkannte er den Schatten einer menschlichen Gestalt.

»Gelina, bist du hier unten? Warum hast du nicht …« Der Junge verstummte abrupt und schlug beide Hände vor das Gesicht, um das gräßliche Bild vor seinen Augen zu vertreiben.

Die Geliebte des Senfmüllers lag bäuchlings, mit bis zu den Hüften hochgeschobenem Rock auf dem langen Eichentisch gegenüber der Feuerstelle. Arme und Beine hingen leblos abgewinkelt nach unten. Die Leinenbluse der Frau war am Rücken zerfetzt, und durch den blutverschmierten Stoff waren aufgeplatzte Haut und rote Striemen zu erkennen, die nur von einer Peitsche herrühren konnten.

Wie in einem Fiebertraum taumelte Sefferino auf die leblose Gestalt zu und schreckte sogleich wieder zurück. Gelinas Kopf steckte in einem kupfernen Kessel, der bis zum Rand mit Wasser und gequollenen Erbsen gefüllt war. Blutige Kratzspuren hatten sich in das Holz gegraben. Gelina mußte sich gegen ihre Angreifer verzweifelt gewehrt haben. Verstreut um den Tisch und die groben Holzbänke, vereinten sich in einem bizarren Durcheinander Kupferkannen, zerbrochenes Tongeschirr, Ketten von aufgefädelten Knoblauchzehen und aufgeschlitzte Säcke, aus denen Gerste, getrocknete Erbsen, Bohnen und Rosinen auf die Steinplatten gerieselt waren.

Gelina war geschändet und in ihrem eigenen Kessel ertränkt worden.

Sefferino spürte, wie sein Magen sich zusamenzog. Um zum Spülstein zu gelangen, mußte er an der Toten vorbei, doch er schaffte es nicht, seine Füße zu bewegen. Rückwärts taumelte er aus dem Gewölbe, wie in einem Fieberschlaf mit Händen und Schultern den Weg ertastend. Auf der Treppe tappte er ein zweites Mal in den klebrigen Sirup, den Gelina auf den Eindringling geschleudert haben mochte. Bei dem Gedanken, wie ein grober Kerl der Magd Gewalt angetan hatte, wie er sie im Genick gepackt und in den Kessel gestoßen hatte, war es um den letzten Rest seiner Beherrschung geschehen, und Sefferino erbrach sich auf den Stufen.

Gelina war tot – aber wo war sein Onkel? War der Senfmüller wirklich aus dem Haus verschwunden, oder versteckte er sich womöglich irgendwo in der Nähe? Die leise Hoffnung, daß sein Vormund geflohen war oder ein Versteck auf dem Gelände der Mühle gefunden hatte, trieb Sefferino schließlich weiter, mit Tränen in den Augen zu den Wohnräumen des Senfmüllers hinauf.

Doch nur wenige Augenblicke später entdeckte er den alten Mann in seinem camerino, einem kleinen Raum neben den Schlafstuben, der durch einen Balkon und zwei steile Holzstiegen mit dem Turmraum der Mühle verbunden wurde. Das camerino besaß einen eigenen Kamin, eine Holztäfelung und Silberlampen, die an allen vier Wänden befestigt waren. Hier pflegte der Hausherr seine Geschäftsbücher aufzubewahren: fünf dicke Pergamentrollen, die sich neben einer Handvoll dicker Wachskerzen und einem Stundenglas auf den Regalen über dem Stehpult stapelten. In einer wuchtigen Truhe unter der Fensteröffnung befand sich außerdem die schwere Cassa, ein hölzerner Geldkasten mit eisernen Beschlägen.

Calabriani hockte zusammengesunken auf einem purpurrot gepolsterten Stuhl mit hoher, geschnitzter Lehne. Er trug sein bestes seidengefüttertes Wams, Reitstiefel aus Ziegenleder und eine knielange Schaube aus safrangelb gefärbter Wolle. Also hatte er sich wahrhaftig vorbereitet, sein Haus aufzugeben, doch dann war er aus irgendeinem Grund in seiner Kammer zurückgeblieben.

Als Sefferino sich bebend über den Stuhl beugte, bemerkte er, daß der Kopf seines Onkels nach hinten gesunken war. Beide Hände waren über den Gelenken mit Tüchern an die Armlehnen gefesselt worden. Aus seinem rechten Mundwinkel sickerte ein dünner Faden dunklen Blutes, der in den Falten des steifen weißen Rundkragens verschwand und völlig harmlos aussah – als hätte sich der Onkel mit Gelee bekleckert. Sefferino öffnete den Mund, versuchte, ein Wort zu sagen, um den Onkel anzusprechen, doch alles, was seine Lippen zuwege brachten, war ein tonloses Schluchzen.

Die Augen seines Onkels waren weit geöffnet. Glanzlos und bar jeglicher Empfindung starrten sie auf den sperrigen Deckel der Eichentruhe, gleich so, als ob sie nicht glauben mochten, daß jene leer war. Dabei hatte der Senfmüller sie am frühen Morgen eigenhändig ausgeräumt und ihren Inhalt seinem Neffen anvertraut.

Sefferino sank neben dem Lehnstuhl auf die Knie, dann legte er seinen Kopf in den Schoß des geliebten Onkels. Es durfte einfach nicht sein; wenn er sich weigerte, das Unvermeidliche anzuerkennen, mußte es entschwinden wie ein böser Traum. Der Onkel würde gleich aufstehen und Sefferino schelten, weil das Gewicht des Jungen seinem gichtkranken Bein weh tat. Er ist zurückgeblieben, um auf mich zu warten, hämmerte er sich so lange ein, bis er an nichts anderes mehr denken konnte.

Unter seiner Berührung bewegte sich der Körper des Senfmüllers, der Kopf sank nach vorn, als gehöre er zu einem Kegelspiel. Den Dolch sah der Junge nicht sofort. Aber er konnte ihn spüren. Er war seinem Onkel tief ins Herz gedrungen.

»Wacht doch auf«, flüsterte der Junge in einem letzten verzweifelten Versuch, seinen Vormund ins Leben zurückzuholen, während er über den Griff der Waffe und das blutbesudelte Wams strich und an den Binden um die Handgelenke zerrte. »Es wird schon dunkel, hört Ihr nicht? Ich bin wieder hier, und nun müssen wir Gelina packen helfen und zum Castello laufen. Noch haben wir Zeit, um uns zu retten.«

Sefferino hatte keine Ahnung, wie lange er, ohne sich zu rühren, neben der Leiche seines Onkels gekniet hatte. Er mußte vor Erschöpfung eingeschlafen sein, doch es war ein eher lähmender, betäubender Schlaf gewesen. Als er schließlich wieder zu sich kam, fühlten sich seine Beine taub an. Wie in Trance massierte er seine nackten Waden. Dann, als das taube Gefühl in ein heftiges Stechen überging, schleppte er sich zum Fenster und schnappte wie ein Erstickender nach Luft.

Im Innenhof wimmelte es plötzlich von Pferden und Menschen, welche die Nacht zum Tage machten. Gerüstete Soldaten mit brennenden Pechfackeln liefen umeinander, stießen mit zugespitzten Hellebarden Türen auf und brüllten sich Befehle in jener singenden, melodiösen Sprache zu, die dem Italienischen so ähnlich war, dem Jungen jedoch niemals fremder in den Ohren geklungen hatte. Blind vor Tränen taumelte er aus der Kammer, ohne die Leiche seines Onkels anzublicken, und schaffte es gerade noch, die Tür zu seiner eigenen Schlafkammer zu öffnen. Wenig später wurde ihm schwarz vor Augen.

Er erwachte von leichten Schlägen gegen die Fußsohlen. Zwei bärtige Soldaten hatten ihn bei der Erkundung der oberen Gemächer entdeckt. Sie packten ihn unter den Achseln und stemmten ihn, obwohl er wild um sich trat, in die Höhe. Mit Todesverachtung ließ Sefferino es über sich ergehen, daß sie ihn in die Wangen kniffen und ihm sein Hemd über den Kopf zogen. Als sie sich daran machten, ihm mit ihren rauhen, schwieligen Händen über die Brust zu fahren, stieg Übelkeit in ihm auf. Er gab jedoch keinen Ton von sich. Nichts würden sie von ihm zu hören bekommen, nicht das leiseste Winseln um Gnade.

Aus der Wohnhalle drangen rauhes Gelächter sowie Geräusche von splitterndem Holz und Glas ins Obergeschoß hinauf.

Die Männer zerrten Sefferino die Treppen hinunter, durchquerten die Halle und führten ihn schließlich am Reisewagen vorüber in den Kräutergarten. Dort stand die Kelter. Ein dürrer Kerl stampfte Trauben und zischte, als hätte er Skorpione unter den Fußsohlen, während seine Kameraden sich an den Weinvorräten des Senfmüllers schadlos hielten und den Mann mit derben Worten anfeuerten, schneller zu treten.

»Laßt den Kleinen weitermachen«, ertönte plötzlich eine unangenehme, hohe Stimme. »Wir wollen den Jungen tanzen sehen. Na los, helft ihm schon in die verdammte Kelter!«

Sefferino wehrte sich nicht, als man ihn in den Bottich hob. Steif watete er durch eine klebrige rote Masse. Die Holzbohlen fühlten sich glitschig an und waren nur noch etwa eine Handbreit mit Weintrauben bedeckt. Die zerquetschten Früchte hatten die pralle Mittagshitze abbekommen und gärten bereits. Bienen und Wespen surrten um sie herum, angelockt von einem widerlichen, süßen Duft.

»Schneller, Bursche, schneller!« lallte eine schwere, heisere Zunge in Sefferinos Rücken. Ein Mann schlug mit einem Ochsenziemer nach ihm und traf ihn zwischen den Schulterblättern. »Tempo, habe ich gesagt! Oder willst du, daß Ramus dich mit in sein Zelt nimmt? Er hat ein eigenes Zelt … ganz für sich allein!«

Sefferino schloß die Augen. Mörder seid ihr, dachte er, elende Mörder. Vorsichtig hob er die Knie und bewegte seine Füße. Langsam zuerst, furchtsam darauf bedacht, nicht auszugleiten, dann jedoch immer schneller. Während er stampfte, war ihm, als liefe er auf einem von Gelinas wackeligen Bodinos, die sie für gewöhnlich an Namenstagen zubereitete und die so herrlich nach Mandeln und Rosenöl dufteten. Er hörte, wie die lärmenden Soldaten auf Trommeln den Takt angaben. Rhythmisch klatschten sie in die Hände und feuerten ihn brüllend an. Er mußte schneller treten, immer schneller, aber er konnte nicht. Sein Herz raste und drohte, jeden Augenblick auszusetzen. Er spürte einen heftigen Druck an beiden Fußknöcheln und verlor den Boden unter den Füßen. Unter johlendem Geschrei stürzte er in die zerstampften Trauben. Todesangst überfiel ihn. Seine Hände glitten kraftlos über den glatten Boden der Kelter. Er konnte sich nicht mehr regen, bekam keine Luft. Winzige Funken, die wie rote Weintrauben aussahen, zerplatzten vor seinen Augen. Ein sirrender Schmerz folgte.

Dies war sein Tod. Er war verloren und konnte sich, umgeben von tiefer Schwärze, nicht einmal mehr darüber wundern, daß das Ertrinken sich offensichtlich ganz anders anfühlte, als er es sich als Kind beim Spielen am Ufer des Flusses zuweilen vorgestellt hatte.

Im nächsten Moment spürte er zwei kräftige Hände, die ihn überraschend vorsichtig aus dem Bottich hievten. Sefferinos erster Impuls war es, Widerstand zu leisten und sich zurück in die Kelter zu werfen. Wenn er schon sterben sollte, dann hier und jetzt. Er würgte und hustete, und schließlich riß er panisch die Augen auf.

Der Fremde, dessen Gesicht Sefferino nicht sehen konnte, hielt ihn immer noch so behutsam, als wolle er ihm nicht weh tun. Er bahnte sich mit ihm einen Weg durch die Menge der gaffenden und murrenden Soldaten, die sich um ihr Vergnügen betrogen sahen.

»Was hast du dich hier einzumischen, Bader?« rief plötzlich einer der beiden bärtigen Plünderer, die Sefferino aus seiner Kammer gezerrt hatten. »Seine Exzellenz, der Sieur de Vassy, hat uns dieses Pestloch für eine Nacht überlassen, während er selbst und seine Offiziere ihr Quartier in der roten Burg aufgeschlagen haben!« Auf schwankenden Füßen stellte er sich dem Fremden in den Weg und zog sein Schwert zur Hälfte aus der Scheide.

»Überlassen?« Der junge Mann im Lederwams bedachte den Soldaten mit einem spöttischen Lächeln. »Man möchte nicht glauben, wozu du fähig bist, wenn du einmal keine Huren findest, denen du dein trauriges Söldnerschicksal ins Ohr flüstern kannst!«

»Schleich dich zu deinen Scheren und Knochensägen zurück, du verflixter Pockenstecher«, höhnte der Bärtige und spuckte vor dem Mann aus. »In Pavia hat einer deiner Freunde meinem Kameraden Anquelle das Bein abgetrennt, weil es angeblich brandig war.« Nach einem dunklen Blick auf Sefferino wandte er sich an die Umstehenden. »Brandig? Daß ich nicht lache. Wie wäre es, Männer, wenn wir den Bader und das Bürschchen einmal fühlen ließen, wie es ist, wenn scharfer Stahl den Knochen eines Mannes durchfährt?«

Sefferino blinzelte erschöpft nach dem Fremden an seiner Seite. Er erkannte die schwermütig glimmenden Augen sogleich. Sie gehörten dem jungen Franzosen, den er oben auf dem Wildpfad beobachtet hatte. Aber warum hatte er ihn aus der Kelter gezogen und stritt nun seinetwegen mit den Soldaten? Sefferino hatte beileibe nicht alles verstanden, was der Soldat gesagt hatte, doch der gehässige Ton des Mannes überzeugte ihn, daß er Übles mit ihm und dem Unbekannten im Schilde führte.

»Du warst schon immer ein jämmerlicher Aufschneider, Ramus«, antwortete der Mann im Lederwams nach einem Moment des Schweigens. Obwohl er nicht den Eindruck eines erfahrenen Kriegers erweckte, schien er vor dem bulligen Mann keine Angst zu haben. »Aber bitte, wenn du es austragen möchtest, stehe ich jederzeit zu deiner Verfügung.«

»Laß die Finger von dem Kerl, Ramus«, rief einer der Männer. »Du bist doch viel zu besoffen, um dich mit dem Bader zu prügeln. Nachher mußt du dir noch von dem Kerl die Knochen einrenken oder dich verbinden lassen.« Verächtlich wies er mit der Spitze seiner Lanze auf Sefferino, dem der Traubensaft aus dem Haar über die Stirn troff. »An dem Burschen ist ohnehin nicht viel dran.«

»Halt’s Maul«, erwiderte der Bärtige, »darum geht es nicht!« Ehe seine Kameraden ihn zurückhalten konnten, zog er sein Schwert und drang auf den Bader ein. In Windeseile bildete sich ein Kreis um die beiden Kontrahenten. Der Bader gab Sefferino einen Stoß gegen die Schulter, so daß er strauchelte und neben der Kelter liegenblieb. Ein durchdringender Blick des Fremden gemahnte ihn, sich unter keinen Umständen von der Stelle zu rühren.

Blitzschnell zog der Mann, der von den Soldaten Bader genannt wurde, einen Dolch aus dem Gürtel, der jedoch nur halb so lang war wie das Schwert des Soldaten. Es war Wahnsinn, sich mit dieser jämmerlichen Waffe einem Duell zu stellen. Mit einem wütenden Schrei drang der Bärtige auf seinen Gegner ein. Surrend glitt sein Schwert durch die schwüle Abendluft. Der Bader wich geschickt zurück. Es gelang ihm, den tödlichen Streichen aus dem Weg zu gehen und nun seinerseits vorsichtige Ausfälle mit dem Dolch zu wagen. Mit tänzelnden Fußbewegungen kam er dem um sich schlagenden Soldaten immer näher. Schließlich versuchte er mit der linken Hand nach dem Arm seines Kontrahenten zu greifen. Haßerfüllt funkelte der Bärtige ihn an und versetzte ihm mit seinem Schädel einen harten Schlag gegen das Kinn. Der Bader knickte in den Knien ein. Ein hellroter Blutstrahl spritzte auf sein Wams.

Sefferino hielt vor Angst den Atem an. Sollte der Plünderer seinen Beschützer erschlagen, war auch sein eigenes Schicksal besiegelt.

Mit einer geschickten Bewegung schoß der Bader plötzlich in die Höhe, drehte dem verblüfften Ramus den Arm zur Seite und versetzte ihm einen gezielten Stich ins Gelenk seiner Schwerthand. Der Söldner heulte auf wie ein getretener Hund. Schmerzerfüllt und überrascht zugleich. Sein Schwert baumelte locker zwischen seinen Fingern. Offensichtlich konnte er sich nicht entschließen, es fallen zu lassen, um das verletzte Handgelenk zu umgreifen. Bevor er wußte, wie ihm geschah, hatte der Bader ihm einen Stoß in den Rücken versetzt. Das Schwert fiel in den Staub. Unter dem beifälligen Gemurmel der Soldaten richtete der Bader schließlich seinen Dolch auf die Brust seines Gegners. »Dein Freund hat richtig prophezeit«, keuchte er, »an mir wird es später hängenbleiben, deine Wunde zu versorgen, ehe du verblutest wie ein Mastschwein. Schafft ihn hinter die Stallungen zu meinem Proviantwagen!«

Starr vor Staunen setzten sich die Männer in Bewegung. Keiner wagte zu widersprechen, dabei hatte der Bader eher wie ein Gaukler und nicht wie ein Ritter gekämpft. Im nächsten Augenblick erleuchtete ein ganzes Meer von Fackeln den Hof. Erstaunt wandte sich Sefferino um und sah, wie eine Schar Reiter durch den Hof preschte. Angeführt wurde die Gruppe von einem hochgewachsenen, sonnengebräunten Offizier mittleren Alters. Sein Pferd trug kostbares Zaumzeug mit Perlenstickereien, und unter dem prächtigen blauen Mantel des Reiters blinkte ein goldener Brustpanzer hervor, den spiralförmige Verzierungen schmückten. Trotz seiner straff geschnürten ledernen Beinschienen sprang der Mann mit einem Satz aus dem Sattel und näherte sich den Soldaten mit schnellen Schritten. Sein wallender Umhang war aus teurer, mit Silberfäden durchwirkter Wolle und blähte sich wie ein Segel über einem Mastbaum. Sefferino beobachtete, wie der Offizier das Szenario mit mißtrauischen Blicken maß. Er strahlte Selbstvertrauen aus und schien an große Auftritte gewöhnt zu sein; die tiefen Furchen über den Augenbrauen wiesen indessen darauf hin, daß Sorgen und Entbehrungen ebenfalls zu seinen täglichen Begleitern zählten. Seine abrupten Armbewegungen verrieten außerdem, daß er ein aufbrausendes Wesen besaß und leicht zu reizen war. Ohne auf einen Befehl zu warten, begannen seine Ritter in geordneter Formation an den Ein- und Ausgängen des Anwesens Aufstellung zu nehmen.

Vor dem Bader, der noch immer mit gezücktem Dolch vor der Kelter stand, blieb der hochgewachsene Offizier stehen. Er musterte ihn von Kopf bis Fuß und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Ambroise Paré?« fragte er. »Was, in drei Teufels Namen, hat dieser nächtliche Aufruhr zu bedeuten? Meines Wissens begleitet Ihr das Heer unseres Herzogs als Bader und Gehilfe des Wundchirurgen. Es ist gewiß nicht Eure Aufgabe, Zweikämpfe auszufechten und meine Männer zu verstümmeln. Was soll ich mit dem Kerl im Sturm auf die Schanzen anfangen, wenn er kein Schwert mehr führen und keine Kanone mehr bedienen kann? Ihr wißt, daß ich Euch dafür am nächsten Baum … aufknüpfen könnte?«

»Aber Hauptmann Danderac, ich …« Der Bader machte einen Versuch, sich zu verteidigen, wurde jedoch durch einen scharfen Blick des Offiziers zum Verstummen gebracht. Aus dem Spundloch der Kelter sickerte ein Strom von Traubensaft wie eine zähe Blutspur über den Sand, bis er die Stiefel der Männer benetzte. Der Offizier schaute angewidert zu Boden, machte jedoch keine Anstalten, dem Saft auszuweichen.

»Gewiß habe ich Verständnis dafür, wenn ein Mann, der angegriffen wird, sich seiner Haut wehrt«, fuhr der Hauptmann fort. »Auch wenn es sich nur um einen Bader handelt, der mit … nun ja, den Waffen eines Weibes kämpft. Ich werde den Fall zu gegebener Zeit untersuchen lassen und die Schuldigen bestrafen!«

Der Offizier wandte sich ab und winkte einem seiner Ritter, das Tor erneut zu öffnen. Ein Schildknecht, der auf der Brustseite seines Waffenrocks eine violette Lilie und ein Ginsterblatt im Wappen trug, führte das Pferd des Hauptmanns herbei. Mürrisch nahm Danderac ihm die Zügel aus der Hand und öffnete die Satteltasche. Es wurde Zeit, daß er ins Lager zurückkehrte, ehe der Herzog von dem verbotenen Zweikampf in der Senfmühle erfuhr. Spione gab es unter den Soldaten wie Disteln unter Rosen, und die Gerüchte, die sie ins Feldlager trugen, verbreiteten sich meist so rasch wie die schwarzen Pocken in einem Pariser Hurenhaus.

Seit der Bader zu den Truppen des Herzogs gestoßen war, hatte Danderac bereits mehrere Streitereien um dessen ungewöhnliche Behandlungsmethoden schlichten müssen. Niemand wußte genau, welche Bücher Ambroise Paré nachts heimlich studierte und welchen medizinischen Theorien er der gängigen Wundbehandlung der Feldschere den Vorzug gab. Zum Leidwesen des Hauptmanns hielt ausgerechnet der Kommandant des Heeres, Maréchal de Montejan, seine Hand schützend über den vorlauten Besserwisser. Sogar ein eigenes Zelt hatte der Herzog seinem Bader zugestanden und damit den ersten Wundarzt des Feldzuges, der sein Zelt mit zwei Waffenknechten zu teilen hatte, tödlich beleidigt. Möglicherweise besaß de Montejan jedoch ein Gespür für Notwendigkeiten. Die Schlacht um Turin stand unmittelbar bevor, und der alte Feldchirurg konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, um Stichverletzungen zu reinigen und seinen Männern Bleikugeln aus dem Leib zu schneiden. Außerdem stolperte der greisenhafte Medicus Bertrandel, dessen Haut bereits so durchsichtig wie Pergament war, in letzter Zeit verdächtig oft über seine eigenen Stiefel oder ließ sich mit billigem Wein vollaufen. Wenn Danderac also noch einmal Nachsicht mit dem Bader übte, so gewiß nicht, weil der Herzog Gefallen an dem Burschen gefunden hatte. Danderac gab sich damit zufrieden, daß Paré Nadel und Beinsäge einfach sicherer führte als der königliche Wundarzt.

Während die Schar der Männer sich von der Kelter entfernte, plagte sich Sefferino auf die Beine und schlich zaghaft an den Fackelträgern vorbei, auf die beiden diskutierenden Männer zu.

»Wer ist dieser Bursche, und was hat er hier noch verloren?« fragte der Hauptmann, als sein Blick auf den Jungen fiel. Er schien unangenehm berührt zu sein; vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, auf dem eroberten Hof ein verstörtes Kind anzutreffen. »Gehört er etwa zu Euch, Paré?«

Nachdenklich fuhr der Bader sich über den gestutzten Kinnbart und überlegte, welche Antwort der Offizier hören wollte und welche er ihm statt dessen geben würde. Schließlich sagte er: »Wahrscheinlich der Sohn des Müllers, der hier lebte, moncapitaine. Eure Männer waren gerade dabei, ihn in der Kelter zu ersäufen, als ich ihr Vergnügen stören mußte.«

»Vorsicht, Bader!« knurrte der Offizier und schlug mit finsterer Miene seinen Umhang über dem Brustpanzer zurück. »Ich hoffe, Ihr besitzt nicht die Unverfrorenheit, mir einen Vorwurf zu machen?«

Sefferino verstand nur wenig von dem Gespräch der beiden Männer, doch die schroffen Worte des Offiziers trafen ihn wie die Zweige einer Weidenrute. Er konnte sich nicht länger zurückhalten und rief voller Empörung: »Ihr feigen Mörder habt meinen Onkel und Gelina umgebracht. Sie waren friedliche Leute und hatten niemandem von euch gemeinen Totschlägern etwas getan. Woher nehmt Ihr und Euer prächtiger König Francesco eigentlich das Recht, das Piemont zu verwüsten und unseren Besitz zu plündern?« Die Stimme des Jungen wurde mit jedem Wort, das er ausstieß, schriller. Erst als er einige Momente schwieg, um Atem zu holen, begriff er, daß das sprachliche Unvermögen der Soldaten ihm womöglich ein weiteres Mal das Leben gerettet hatte. Die umstehenden Ritter lachten halb verlegen, halb amüsiert. Sie hatten nicht verstanden, daß der Junge sie soeben beschimpft hatte.

Zu Sefferinos Verwunderung ging der Bader vor ihm in die Hocke, berührte ihn behutsam an der Schulter und erwiderte in einem Durcheinander aus Italienisch und Französisch: »Beruhige dich, mein Junge. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Niemand wird dir ein Haar krümmen, dafür werde ich schon sorgen. Mein Name ist Ambroise Paré, und dieser Mann ist Hauptmann Gilles Danderac, der Sieur de Vassy. Er gehört zu den ersten Offizieren des Herzogs von Montejan und ist zudem ein Vertrauter unseres Königs.«

Sefferino rang nach Luft. Eingeschüchtert bedeutete er dem Bader, ihn loszulassen, und wies auf das offene Fenster, hinter dem er die Leiche seines Onkels gefunden hatte.

Wenig später stand Sefferino in Begleitung von Ambroise Paré, Danderac und zwei schwer bewaffneten Soldaten in der Kammer seines Onkels. Der Bader beugte sich mit ausdrucksloser Miene über den leblosen Mann im Lehnstuhl, löste dessen Handfesseln und begann daraufhin, ihn gewissenhaft und eingehend zu untersuchen.

»Es wäre besser, wenn das Kind den Raum verließe«, sagte er. »Der Tote hat eine Menge Blut verloren. Ich muß sein Wams aufschneiden, um den Stichkanal zu verfolgen und ihn auf äußere Todeszeichen untersuchen.«

»Ich bin kein Kind mehr«, zischte Sefferino, der die Worte des Baders verstanden hatte, ihn giftig an. Ohne sich an dem strengen Blick des französischen Hauptmanns zu stören, schlug er den Deckel der Eichentruhe zu und ließ sich mit vor dem Bauch verschränkten Armen darauf nieder. »Eure Soldaten haben unser Haus überfallen, es ausgeplündert und meinen Onkel erschlagen!« stieß er feindselig hervor. »Dabei bleibe ich!«

Der Bader wies auf Calabriani. »Dieser Mann wurde durch einen Stich in die Brust getötet und nicht erschlagen.« Mit geübtem Griff entfernte Paré die Klinge und wog sie in der Hand. Der Dolch war nicht besonders lang und steckte in einem Griff aus verkrustetem Hirschhorn. Sefferino reckte den Hals und kniff die Augen zusammen. Sosehr es ihm widerstrebte, von seiner Meinung abzurücken, glaubte er doch, dieses Messer schon einmal gesehen zu haben. Allerdings nicht in der Hand eines Landsknechts.

»Was sind äußere und innere Todeszeichen?« wollte Hauptmann Danderac wissen.

»Farbe und Zustand des geronnenen Blutes auf dem Kragen weisen darauf hin, daß der Tod bereits vor etlichen Stunden eingetreten ist.« Ambroise richtete sich auf und blickte seinen Offizier an. »Die Pupillen des Mannes sind geweitet. Offenbar hat ihn der tödliche Streich unvorbereitet getroffen. Der Tod setzte vermutlich infolge einer inneren Verblutung ein, da sich das Blut in den meisten Fällen in der unteren Leistengegend staut.« Der Bader trat ans Fenster, wobei er sich Mühe gab, seine blutigen Finger vor Sefferinos Blicken zu verbergen. Mit rauher Stimme rief er dem ungeduldig wartenden Offizier zu: »Ihr könnt beruhigt sein, mon capitaine. Eure Männer können noch gar nicht in diesem Tal gewesen sein, als der Müller verblutete! Abgesehen davon, glaube ich nicht, daß ein Söldner seinen Dolch im Korpus seines Opfers zurücklassen würde.«

»Und wenn schon«, erwiderte der Hauptmann lakonisch. »Ein Feldzug ist kein Possenspiel. Je eher diese kaisertreuen Sturköpfe in Turin und der Lombardei das begreifen und uns ihre Städte und Festungen ausliefern, desto besser für sie. Euch, Bader, empfehle ich jedenfalls, auf schnellstem Wege zu Eurem Verbandsplatz zurückzukehren und keine Partei zu ergreifen, solange uns Turin und Mailand noch Widerstand leisten. Und haltet Euch in Zukunft von meinen Soldaten fern. Sonst findet Ihr Euch eines Tages ebenfalls mit einem Messer im Leib wieder. Lombardisch oder französisch, glaubt mir, Euren Rippen ist’s egal, aus welcher Schmiede der Stahl stammt, der Euch durchbohrt!«

Der Hauptmann machte auf dem Absatz kehrt. Sein Blick wanderte von dem Leichnam des Müllers über die umgeworfenen Möbelstücke und die überall verstreut liegenden Papiere hinweg, zur Truhe an der Wand. Er sah, daß der Junge mit den schwarzen Locken ihn aus den Augenwinkeln heraus beobachtete. Trotz eines geringfügigen Zitterns hielt er sich aufrecht wie eine Palisade. Seine glänzenden, dunklen Augen funkelten vor Verzweiflung, Wildheit und Haß, doch sie zeigten nicht mehr die geringste Spur von Furcht vor den Kriegsknechten und ihren Waffen. Gilles Danderac räusperte sich. Auch wenn er es sich nicht eingestehen mochte, so weckte die Tapferkeit des Jungen doch Gefühle in ihm, die er während der Jahre der italienischen Kriege lange nicht mehr empfunden hatte. Er besaß selber zwei Söhne. Der ältere begleitete den Feldzug gegen das Herzogtum Mailand als Fahnenträger, und einen Herzschlag lang fragte sich der Offizier, ob sein eigener Sohn sich im Angesicht von Tod und Verderben wohl ebenso würdevoll verhalten würde wie der junge Piemonteser dort auf der Truhe. Gilles Danderac vermochte es beim besten Willen nicht zu sagen.

»Wir verschwenden nur unsere Zeit«, erklärte er schließlich barsch und winkte den beiden Wachen, die ihn ins camerino begleitet hatten, ihm hinaus auf die Stiege zu folgen. »Was hier geschehen ist, hat nichts mit uns zu tun. Laßt den Bader noch einen Blick auf das tote Weib im Gewölbe werfen, danach …« Danderac hielt inne. Er war mit dem Stiefel an einem Stoffstreifen hängengeblieben, der sich zwischen die Dielenbretter geklemmt hatte. Der Hauptmann schüttelte den Streifen ab. An der goldfarbenen Kordel hing ein länglicher Gegenstand aus gebranntem Ton. Eine Pfeife.

»Solch ein Tand gehört gewiß dir, mein Junge!« Gönnerhaft versuchte der Hauptmann Sefferino die Pfeife aus Keramik zuzuwerfen, doch er zielte zu kurz. Klirrend zerbrach das kleine Kunstwerk zu seinen Füßen. Sefferino starrte ungläubig auf die Dielenbretter. Die Flöte gehörte ihm nicht, aber er kannte sie genau und wußte auch, wer sie verloren hatte.

»Mucio Sblinetta«, flüsterte er. Die Pfeife gehörte dem Sohn des Steuereinnehmers. Sie war sein größter Schatz und baumelte für gewöhnlich um seinen Hals. Sblinetta mußte im Haus gewesen sein. Wahrscheinlich gemeinsam mit seinem Vater, der die Mühle auf den Kopf gestellt hatte, um sich vor der drohenden Plünderung durch den Feind selber noch einmal die Taschen zu füllen. Sefferino stellte sich das Gesicht des Steuereinnehmers vor, die runden Augen, in denen sich amtliche Geschäftigkeit mit gefährlicher Hinterlist paarten. Der Mann mußte vor Wut geschäumt haben, als er Calabrianis Kassette und die Vorratsräume hinter Gelinas Küche leer vorgefunden hatte.

Sefferino bückte sich, um die Tonscherben von den Holzdielen aufzuklauben.

Die ehrenwerten Sblinettas! Sie hatten in der Senfmühle nach Geld gesucht, soviel schien festzustehen. Dabei waren sie auf den Onkel und dessen Magd gestoßen und hatten sie …