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Die junge Berlinerin Nelly verschlägt es in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in einen holländischen Küstenort. Dort soll sie die Pflichten des alten Leuchtturmwärters übernehmen, der in einer stürmischen Nacht verschwand. Keine leichte Aufgabe für ein Großstadtkind wie Nelly, die keine Ahnung von den Gezeiten oder Schiffsverkehr hat. Von den Dorfbewohnern erfährt sie keine Unterstützung, diese begegnen der jungen Deutschen mit Feindseligkeit. Als Nelly einen abgestürzten britischen Piloten im Turm versteckt und sich in ihn verliebt, gerät sie zwischen die Fronten des Widerstands und einer brutalen Besatzungsmacht. Nelly weiß: Ihr Mut ist gefährlich - denn auf Hochverrat steht die Todesstrafe.
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Seitenzahl: 576
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Über das Buch
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Impressum
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Nachwort des Autors
Über das Buch
Die junge Berlinerin Nelly verschlägt es in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in einen holländischen Küstenort. Dort soll sie die Pflichten des alten Leuchtturmwärters übernehmen, der in einer stürmischen Nacht verschwand. Keine leichte Aufgabe für ein Großstadtkind wie Nelly, die keine Ahnung von den Gezeiten oder Schiffsverkehr hat. Von den Dorfbewohnern erfährt sie keine Unterstützung, diese begegnen der jungen Deutschen mit Feindseligkeit. Als Nelly einen abgestürzten britischen Piloten im Turm versteckt und sich in ihn verliebt, gerät sie zwischen die Fronten des Widerstands und einer brutalen Besatzungsmacht. Nelly weiß: Ihr Mut ist gefährlich – denn auf Hochverrat steht die Todesstrafe.
Über den Autor
Guido Dieckmann wurde 1969 in Heidelberg geboren, studierte Geschichte und Anglistik und veröffentlichte unter anderem Namen bereits mehr als zwanzig historische Romane, von denen einige zu Bestsellern avancierten. Der Autor lebt und arbeitet in der Nähe von Neustadt an der Weinstraße.
GUIDO DIECKMANN
DIE LEUCHTTURMWÄRTERIN
ROMAN
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Evi DraxlUmschlaggestaltung: Sandra Taufer, MünchenEinbandmotiv: © Mark Owen/Trevillion ImageseBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-4778-3
luebbe.delesejury.de
Und das Licht leuchtet in der Finsternis, doch die Finsternis hat es nicht begriffen.
Johannes 1,5
Ein Wrack an der Küste ist ein Leuchtfeuer im Meer.
Niederländisches Sprichwort
IN BERLIN
Eleonore (»Nelly«) Vogel, ehemalige Presse- und Modefotografin, dann Leuchtturmwärterin in den Niederlanden
Leopold Vogel, Nellys Vater, Nähmaschinenfabrikant in Berlin
Bente Vogel geb. Leander, Nellys Mutter, gebürtige Holländerin
Hilde von Schlosser geb. Vogel, Nellys Schwester
Ansgar von Schlosser, General der deutschen Wehrmacht, Hildes Ehemann
Otto Kellermann, Inhaber eines Fotoateliers in Berlin-Mitte
Ulf Hartke, Lehrling im Fotoatelier Kellermann, Otto Kellermanns Neffe
Ludwig Kress, Hauptkommissar der Geheimen Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße
Meinhard Bukowski, Gestapobeamter in der Prinz-Albrecht-Straße
IN HOLLAND
Sam Cole, Lieutenant, britischer Pilot der Royal Air Force
Alfons von Bleicher, deutscher Diplomat des Auswärtigen Amtes in Amsterdam
Haart Leander, Kaufmann im holländischen Küstenort Paardendijk, Nellys Onkel
Agnes Leander, seine Frau und Nellys Tante
Sanne Leander, Haarts und Agnes’ Tochter, möchte als Modeschöpferin berühmt werden.
Bram Leander, Haarts und Agnes’ Sohn, soll in Deutschland in der Rüstungsindustrie arbeiten.
Jan-Ruud Simons, Fischer in Paardendijk und Jugendfreund Haart Leanders
Mintje Visser, verwitwete Wäscherin und Nellys Haushaltshilfe
Henk Visser, Mintjes Sohn, Gehilfe des früheren Leuchtturmwärters
Piet, ehemaliger Leuchtturmwärter, seit einer Sturmnacht spurlos verschwunden
Willem Bakker, Pastor der reformierten Kirchengemeinde von Paardendijk
Hendrikje van Malter, ehemalige Hebamme
Götz Haubinger, Oberleutnant der Wehrmacht, abkommandiert an die Küste mit dem Auftrag, Deserteure und holländische Widerstandsgruppen gegen die Besatzungsmacht aufzuspüren
Leutnant Bellmann, seine rechte Hand
Ralf Maurer, deutscher Soldat, in Paardendijk stationiert
Ans Hartog, Besitzerin eines Stoffladens in Haarlem
Maurits Hartog, ihr Ehemann
Corrie ten Boom, Uhrmacherin in Haarlem
Caspar ten Boom, ihr Vater
Frans Venantius, Inhaber des Antiquariats A. Abrahams in Amsterdam
Febe Zilversmit geb. de Vries, Kunstexpertin aus Amsterdam, steht Nelly näher, als diese ahnt.
Dr. Jonas Zilversmit, Arzt aus Amsterdam und Febes Ehemann
Jakob Zilversmit, Febes und Jonas’ älterer Sohn
David Zilversmit, Febes und Jonas’ jüngerer Sohn
Karl Josef Silberbauer, Kommissar und Gestapobeamter in Amsterdam
Ernst Hansen, ausgemusterter Frontsoldat und Leuchtfeuerwärter
Berlin, im Herbst 1943
Normalerweise nahm sich Nelly viel Zeit, wenn sie um eine Porträtaufnahme gebeten wurde. Ihr alter Ausbilder hatte ihr eingeschärft: »Gott hat sechs Tage gehabt, um die Erde zu erschaffen. Die perfekte Fotografie bekommst du in sechs Minuten. Vorausgesetzt, du hast gute Vorarbeit geleistet.« Nelly erinnerte sich gern an diesen Rat und arbeitete hart, um ihren Aufnahmen das spezielle Etwas zu verleihen. Längst hatte es sich bis weit über Berlin-Mitte hinaus herumgesprochen, dass in diesem schäbigen Hinterhofatelier eine Künstlerin hinter der Kamera stand. Dem alten Otto Kellermann, dem der Laden gehörte, konnte das nur recht sein. Seit Beginn des Krieges waren seine Auftragsbücher voll. Die Kundschaft bestand vornehmlich aus Familien oder jungen Paaren, von denen der Mann seine Einberufung erhalten hatte und eine Erinnerung an seine Liebsten mit an die Front nehmen wollte. Kundschaft ohne Uniform sah man dagegen von Tag zu Tag seltener.
Nelly bemühte sich um professionelle Distanz zu den Menschen, die bei ihr eine Aufnahme bestellten. Doch es gelang ihr nicht immer, diese auch zu bewahren. Zu oft fing ihre Kamera die Angst in den Augen der Frauen ein, die in Sonntagskleidern vor ihrem Objektiv posierten. Ihre Schreckhaftigkeit, die sie bei jedem Geräusch zusammenzucken ließ, machte auch Nelly nervös. Trotz ihrer eigenen Probleme, und davon gab es eine Menge, verspürte sie Mitleid mit ihren Kundinnen. Wer konnte schon voraussagen, ob diese Porträtaufnahme nicht die letzte Erinnerung an den geliebten Mann oder Sohn sein würde? Die Männer in Uniform machten meist gute Miene zum bösen Spiel. Sie gaben sich gelassen, betont männlich und selbstbewusst. Im Atelier scherzten sie mit ihren Kindern und gaben ihr Bestes, um die Situation aufzulockern. Nelly ließ sie gewähren, ja, sie ging sogar auf die Späße ein, doch ihre Kunden konnten ihr nichts vormachen. Sie hatte lange genug mit der Kamera das Wesen des Menschen studiert, um zu erkennen, was in ihnen vorging. Hin und wieder, jedoch sehr selten, ließ der eine oder andere eine Bemerkung fallen, die in diesen Zeiten gefährlich sein konnte, aber Nelly war so klug, nicht darauf einzugehen. Die Wände hatten Ohren, und obwohl Kellermann seit den letzten Bombennächten zumeist so sturzbetrunken war, dass er Nelly mit der ganzen Arbeit im Atelier allein sitzen ließ, konnte man nie wissen, ob er nicht gerade im falschen Moment auftauchte und etwas aufschnappte, was er dann im Beisein anderer wieder ausplauderte.
Nachdem die letzten Porträtaufnahmen des Tages im Kasten waren, hatte Nelly es eilig, den Laden abzuschließen. Sie musste in die Dunkelkammer. »Ich bin heute spät dran. Kannst du noch fegen, bevor du gehst?«, rief sie Ulf zu, der hinter dem Verkaufstisch hockte und in einem Filmmagazin blätterte. Das Atelier war nicht besonders groß. Es bestand aus einem schmalen Raum mit niedriger Decke und weiß gekalkten Wänden, die voller Fotografien hingen. Hinter einem Vorhang standen zwei wuchtige Plüschsessel und ein Kanapee mit knallrotem Polster, das früher einmal zum Fundus eines Theaters gehört hatte. In einer Ecke standen aufgerollte Leinwände, hauptsächlich mit Landschaftsmotiven, die als Hintergrundbilder für Aufnahmen herhielten. Der Dielenboden war alt und knarzte bei jedem Schritt.
»Und kümmere dich bitte um die Verdunkelung vor dem Schaufenster! Wir wurden schon zweimal verwarnt, weil die Abdeckung angeblich Licht durchgelassen hat.« Als der Lehrling nicht antwortete, wurde ihr Ton etwas schärfer. »Ulf! Ich rede mit dir! Sitzt du auf den Ohren?«
Der Junge blickte mit großem Unwillen von seiner Lektüre auf und beäugte Nelly durch die Gläser seiner Hornbrille, als wäre sie ein lästiges Insekt. Als Neffe des Atelierbesitzers fühlte er sich trotz seiner siebzehn Jahre über jede Kritik erhaben und liebte es, den Chef zu spielen, wenn er mit Nelly allein im Laden war. Mit den weizenblonden Locken, den blauen Augen und dem blassen Gesicht sah Ulf aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. Doch der Schein trog. In den letzten Monaten hatte Nelly den Burschen von einer Seite kennengelernt, die ihr nicht gefiel: Nicht nur, dass er oft zu spät zur Arbeit kam oder die Mittagspause überzog – nein, er ließ sich von Nelly nur etwas sagen, wenn sein Onkel zugegen war. Seit Fotograf Kellermann jedoch immer öfter Nelly das Tagesgeschäft überließ, war Ulfs Benehmen unerträglich geworden. Nelly hatte sich bereits ein paarmal vorgenommen, mit dem Chef über Ulf zu reden, es aber immer wieder hinausgeschoben. Immerhin gehörte der Lehrling zu Kellermanns Familie, während sie froh sein konnte, dass der Fotograf ihr diese Stelle gegeben hatte. Nelly verdiente nicht viel, aber genug, um ihre Eltern nicht um Geld bitten zu müssen. So kam sie gerade über die Runden und konnte das tun, was sie am meisten liebte: fotografieren.
Ulf blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Schau an, es ist noch nicht mal sieben Uhr, und das fleißige Fräulein Vogel macht Feierabend«, sagte er frech. »Na, ich muss schon sagen, das hätte ich von Ihnen gar nicht erwartet.«
»Von Feierabend kann keine Rede sein!« Empört stemmte Nelly die Hände in die Taille. »Wir haben so viele Bilder zu entwickeln, dass ich vermutlich bis in die Nacht hinein in der Dunkelkammer stehen werde. Die Leute wollen ihre Abzüge so schnell wie möglich. Viele müssen schon bald an die Front zurück und rechnen fest damit, dass ihre Bilder vorher fertig werden. Wahrscheinlich muss ich sogar hier übernachten, weil ich es vor der Ausgangssperre nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffe.«
Ulf sah sie durch seine dicken Brillengläser abschätzig an. Seine Miene ließ erkennen, dass er ihr nicht glaubte. »Ich frage mich, ob das der einzige Grund ist, warum Sie so erpicht darauf sind, nachts im Laden zu bleiben«, sagte er. »So ganz allein und unbeobachtet. Sie glauben wohl, Sie könnten meinen Onkel und mich hinters Licht führen, nur weil Sie früher eine große Nummer in Berlin waren und für die Zeitung fotografiert haben. Aber wenn Sie so gut waren, wie alle behaupten, verstehe ich nicht, warum Sie gefeuert wurden und in dieser Klitsche hier unterkriechen mussten. War wohl was Politisches, he?«
Nelly musste sich sehr beherrschen, den frechen Bengel für seine Unverschämtheit nicht zu ohrfeigen. Woher wusste er überhaupt von ihrer früheren Tätigkeit als Pressefotografin? Damit war doch schon seit Jahren Schluss. Nelly hatte nie ein Wort darüber verloren und den alten Kellermann geradezu angefleht, niemandem davon zu erzählen. Aber in vielerlei Hinsicht war selbst eine Stadt wie Berlin ein Dorf, und oft sickerte gerade das durch, was man zu verheimlichen suchte. Wütend schnappte sich Nelly ihren grauen Arbeitskittel, verschwand in der winzigen Dunkelkammer und warf die Tür hinter sich zu. Dann schaltete sie das Rotlicht ein, stützte sich mit beiden Armen auf die Arbeitsfläche und atmete erst einmal tief durch. Es war lächerlich, sich wegen eines Halbwüchsigen aufzuregen. Seit Kriegsbeginn witterten viele Menschen hinter jedem Baum einen Spion oder einen Landesverräter. Mit jeder Bombe, die auf Berlin fiel, griff diese Hysterie stärker um sich. Nelly musste das eben Geschehene vergessen, denn was sie nun zu tun hatte, war viel wichtiger und erforderte äußerste Konzentration. Sie wartete noch ein Weilchen, und erst als sie sicher war, dass Ulf gegangen war, nahm sie einen kleinen Schraubenzieher, ließ sich auf dem Fußboden nieder und löste vorsichtig eines der Dielenbretter. Darunter war ein Hohlraum, ein kleines Versteck, in dem einige Filmrollen auf sie warteten. Ihr Herz raste, als sie die Rollen eine nach der anderen herausholte und auf die Arbeitsplatte legte. Die Aufnahmen, die sie heute Nacht entwickeln würde, zeigten weder Wehrmachtssoldaten noch herausgeputzte junge Mädchen, die melancholisch in die Kamera lächelten. Und sie waren auch nicht im Atelier entstanden.
Die Aufnahmen waren gefährlich. Entdeckte man sie bei ihr, konnte das Nelly vor den Volksgerichtshof bringen. Oder in eines der fürchterlichen Lager, aus denen es keinen Weg mehr zurück gab. Nelly dachte an ihre gut situierten Eltern, und wie schockiert diese wären, wenn sie wüssten, was sie nachts allein in Kellermanns Atelier trieb. Vermutlich würden die beiden sie für wahnsinnig halten. Immer noch zögernd starrte sie auf die Filmrollen, als wüchsen denen plötzlich Klauen und Zähne. Auf ihrer Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen, was nicht allein an der Enge und der trockenen Wärme in dem kleinen Kabuff lag. War da draußen nicht ein Geräusch gewesen? Nein, vermutlich spielten ihr die Nerven einen Streich. Und wenn sie die Filme einfach loswurde? Noch war Zeit, sie verschwinden zu lassen. Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen, wenn sie einen Rückzieher machte. Am wenigsten Paul. Dazu hatte er kein Recht, denn immerhin war sie es, die in Berlin ausharrte, während er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Aus sicherer Entfernung war es leicht, den Helden zu spielen. Dabei riskierte man nicht, getötet zu werden. Waren die Negative erst einmal zerstört, würde ihr kein Mensch jemals auf die Schliche kommen. Verdammt noch mal, wer dankte es ihr schon, wenn sie ihr Leben für Wahrheiten aufs Spiel setzte, die keiner hören wollte!
Es tat gut, sich ihren Zweifeln hinzugeben, doch am Ende schluckte Nelly sie alle runter. Sie durfte nicht schwach werden. Was sie vorhatte, war eine Gewissensfrage, mit Paul hatte das nichts zu tun. Sie fand, dass die Welt endlich erfahren musste, was hier tagtäglich vor sich ging. Sie würde jemanden finden, der die Bilder in Umlauf brachte.
Hastig machte sie sich ans Werk. Ihre Utensilien hatte sie bereits auf der Arbeitsplatte ausgebreitet – alles lag systematisch an seinem Platz. So fand sich Nelly in der kleinen Kammer inzwischen auch im Dunkeln mühelos zurecht. Ehe sie das Licht ausschaltete, legte sie noch die losen Dielenbretter zurück an ihren Platz – dann umgab sie schwarze Finsternis. Aber an die war sie gewöhnt. Sie jagte ihr längst keine Angst mehr ein. Nach einer Weile war sie ganz in ihre Arbeit vertieft und merkte daher zu spät, dass sich jemand katzengleich durch den Hauptraum des Ateliers bewegte. Erst als durch die Tür laute Stimmen zu hören waren, schreckte sie auf wie aus einem tiefen Schlaf. Jemand klopfte und rüttelte ungestüm an der Klinke.
»Eleonore Vogel? Sind Sie dadrin? Öffnen Sie auf der Stelle die Tür.«
Nelly reagierte nicht. Wie ein in die Enge getriebenes Reh starrte sie in die Richtung, aus der die Stimme kam. Das war nicht ihr Chef, auch nicht Ulf, denn keiner von beiden würde sie bei ihrem Taufnamen rufen. Niemand tat das, nicht einmal ihre Eltern, die doch so viel Wert auf Etikette legten.
»Geheime Staatspolizei! Ich warne Sie, Fräulein Vogel! Wenn Sie nicht öffnen, muss ich von meiner Waffe Gebrauch machen! Ich zähle bis drei. Eins …«
Nelly gab einen erstickten Laut von sich, der wie ein Lachen klang, jedoch in ein hilfloses Schluchzen mündete. Sie hätte nicht erwartet, dass die Gestapo sich mit Warnungen aufhielt.
»Zwei …«
Wie in Trance tastete sie sich vor und überlegte, ob sie zuerst das Licht einschalten oder den Schlüssel im Schloss herumdrehen sollte. Wenn sie nicht öffnete, würde der Gestapomann seine Drohung wahrmachen, durch die Tür feuern und sie dabei wie ein Sieb durchlöchern. In dem engen Kabuff konnte sie nirgendwo in Deckung gehen.
Mit zitternden Fingern riss sie die Negative aus den Spulen. Die Schläge an der Tür wurden heftiger. Warum schoss der Mann nicht? Hatte er nicht Drei gesagt?
Nelly tastete nach dem Versteck unter den Dielenbrettern. Sollte sie die Negative einfach zurücklegen? Aber sie würde es niemals schaffen, die Bretter rechtzeitig zu verschrauben. In diesem Moment flog die Tür mit einem gewaltigen Krach auf, und Licht durchflutete die schmale Kammer. Es war so grell, dass Nelly die Augen schließen musste. Im nächsten Moment packte sie jemand grob am Arm. Unter Flüchen, Schlägen und Tritten wurde sie aus der Dunkelkammer zurück ins Atelier gezerrt. Dabei stieg ihr ein Geruch von Pfeifentabak, Schweiß und Pfefferminz in die Nase, der sie ausgerechnet an ihren Vater erinnerte.
»Ist das die Frau?«
Der Frage folgte ein ersticktes Röcheln. Hinter dem Ladentisch standen Ulf und sein Onkel, stocksteif wie zwei Zinnsoldaten. Kellermann war einer Ohnmacht nahe. Allem Anschein nach war er aus dem Bett geholt worden, denn er trug einen Morgenmantel und seine nackten Füße steckten in ausgelatschten Pantoffeln. Während er abwechselnd von Nelly zu dem Mann starrte, der sie festhielt, fuhr er sich verwirrt durch das lichter werdende graue Haar. Obwohl er ein ganzes Stück von Nelly entfernt stand, konnte sie seine Schnapsfahne riechen. Da ihm offensichtlich die Worte fehlten, sprang sein Neffe bereitwillig in die Bresche.
»Jawohl, Herr Kriminalkommissar!« Ulf mühte sich, mit fester Stimme zu sprechen, vermied es aber, Nelly dabei anzusehen. Auch dem Blick seines fassungslosen Onkels wich er aus. »Das ist Nelly Vogel, die für meinen Onkel arbeitet. Sie hat einen Schlüssel für das Atelier, aber wir haben keine Ahnung, was sie nach Ladenschluss macht. Ich hielt es für meine Pflicht …«
Kellermanns Augen weiteten sich, als erwache er soeben aus einem Traum. »Junge, das ist doch Blödsinn«, krächzte er aufgeregt. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Ich habe Fräulein Vogel eingestellt, weil sie eine gute Fotografin ist. Sie macht Aufnahmen für die Wehrmacht. Das ist doch kriegswichtig. Jetzt wo die meisten Männer an der Front sind, hätte ich keine bessere Wahl treffen können. Sie entstammt einer ehrbaren Familie und …« Er wandte sich an den Beamten, der Nelly noch immer wie ein Schraubstock umklammert hielt. »Meine Herren, ich habe das alles prüfen lassen. Fräulein Vogel hatte die besten Referenzen. Ihre Papiere sind in Ordnung und …«
»Halten Sie den Mund«, herrschte der Gestapobeamte ihn an. Er überragte den schlotternden Fotografen um Haupteslänge. Dann gab er seinem Untergebenen, der wie er selbst nicht uniformiert war, sondern Hut und Mantel trug, den Auftrag, die Dunkelkammer auszuräumen und sowohl die dort aufbewahrten Negative wie bereits belichtetes Material in eine Aktentasche zu packen. Hilflos musste Nelly mit ansehen, wie der Mann in der Dunkelkammer verschwand. Gleich darauf drang Lärm an ihr Ohr. Der Beamte ging bei seiner Durchsuchung nicht gerade zimperlich mit ihren Sachen um. Tiegel, Dosen und Glasfläschchen mit chemischen Entwicklungsflüssigkeiten fielen aus dem Regal und zerschellten auf dem Fußboden.
»Na bitte!« Die Stimme des Mannes klang triumphierend. »Das Biest hat sogar was unter dem Fußboden versteckt. Von wegen über jeden Verdacht erhaben!«
»Ich glaube, das war’s dann, Fräulein Vogel!« Nellys Bewacher schob sie grob zur Ladentür. »Lassen Sie uns gehen, der Wagen wartet.«
Mit einem Automobil wurde Nelly in die Prinz-Albrecht-Straße gebracht, wo die Hauptzentrale der Staatspolizei ihren Sitz hatte. Nelly saß zwischen den beiden Gestapobeamten und wagte kaum zu atmen. Da niemand mit ihr sprach, sah sie starr aus dem Fenster, aber es war bereits zu dunkel, um mehr zu erkennen als ein paar trostlose Mietskasernen, viele davon bereits durch Fliegerbomben beschädigt, und Schuttberge, die sich entlang der Gehwege auftürmten. Nellys Herz sank, als sie daran dachte, dass dies vermutlich das Letzte sein würde, was sie von ihrem geliebten Berlin sah. Was hätte sie nicht dafür gegeben, nur noch ein einziges Mal unbeschwert bei Sonnenschein über den Kurfürstendamm zu schlendern. Aber wie die Dinge lagen, würde sie die Prinz-Albrecht-Straße nicht mehr lebend verlassen. Sie hatte Gerüchte gehört, wie die Gestapo bei ihren Befragungen vorging, und obwohl Nellys Schwester immer behauptete, Nelly sei die Zäheste in der Familie, machte sie sich keine großen Hoffnungen. In der Aktentasche, die der schweigsame Mann neben ihr festhielt, lag genug Beweismaterial, das ihr das Genick brechen konnte. Auch ihre geliebte Leica hatte der Mann eingepackt. Dieser Verlust traf Nelly besonders schwer, denn mit der Kamera verband sie so viele Erinnerungen an bessere Zeiten. Tränen traten ihr in die Augen.
Im Gestapo-Hauptquartier wurde Nelly durch ein verwirrendes Labyrinth aus Gängen und schließlich eine breite Treppe hinaufgehetzt. Trotz vorgerückter Stunde ging es hier noch geschäftig zu. Nicht nur Männer, auch Frauen eilten durch die hallenden Korridore, und aus verschiedenen Räumen drangen Stimmen und das Geklapper von Schreibmaschinen.
Nelly wurde in eine Art Büro geschoben, wo man ihr befahl, sich auf einen Stuhl zu setzen. Die Beamten ließen sie allein zurück, ordneten aber an, dass ein Polizist vor der Tür Stellung bezog. Wie nicht anders zu erwarten, sprach auch dieser Mann nicht ein einziges Wort mit ihr.
Nelly blickte sich um und staunte, wie nichtssagend dieses Büro aussah. Natürlich hing an der ihr gegenüberliegenden Wand ein Porträt Adolf Hitlers, wie es in jeder Amtsstube des Deutschen Reiches zu hängen hatte. Ansonsten aber hätte der Raum auch das Büro eines Versicherungsangestellten sein können. Das Mobiliar war weder geschmackvoll noch schäbig: vor ihr ein wuchtiger Schreibtisch, auf dem neben einer Schreibmaschine und einer schwarzen Lampe einige gerahmte Fotografien standen; in der Ecke stand ein Aktenschrank mit Glastüren, über dem Nelly eine Europakarte ausmachen konnte. Alles wirkte ordentlich, und doch machte gerade diese scheinbare Harmlosigkeit Nelly Angst. Sie hätte gern gewusst, wie spät es mittlerweile war, aber sie sah nirgendwo eine Uhr. Wer hier auf seine Befragung warten musste, sollte vermutlich jedes Gefühl für Zeit verlieren. Die Furcht vor dem, was ihm bevorstand, sollte ihn brechen, noch ehe die erste Frage an ihn gerichtet wurde. Nelly erinnerte sich, wie Paul ihr einmal von den Verhörmethoden der Gestapo erzählt hatte. Er hatte schon früh Bekanntschaft mit der Geheimen Staatspolizei machen müssen, nur Wochen, nachdem die Nazis in Deutschland an die Macht gekommen waren und begonnen hatten, ihre politischen Gegner sowie allzu kritische Journalisten mundtot zu machen. Damals hatte Nelly Paul gebeten, mit ihr gemeinsam das Land zu verlassen. Sie hatten Freunde in der Schweiz, die versprochen hatten, für beide eine Anstellung bei einer Züricher Zeitung zu suchen. Paul hatte nichts davon wissen wollen. Sein Platz sei in Deutschland, hatte er ihr stolz erklärt. Es sei seine Pflicht, darüber zu berichten, was hier geschah. Die unabhängige Presse würde weiterleben, solange es Menschen gab, die sie verteidigten.
Das war damals gewesen. Bevor Paul im Jahr 1933 seine Einladung in die Prinz-Albrecht-Straße erhalten hatte. Nun war Paul fort, so wie viele ihrer damaligen Freunde und Kollegen, die so gern bis spät in die Nacht in der Redaktion gesessen und sich die Köpfe heißgeredet hatten. Paul war bei Nacht und Nebel abgereist, ohne Nelly, ohne ein Wort des Abschieds, ohne Erklärung. Und sie, die geblieben war, saß nun auf einem harten Stuhl in der Prinz-Albrecht-Straße und fragte sich, ob sie wohl von denselben Beamten in die Mangel genommen werden würde, die Paul malträtiert hatten.
So saß sie gefühlt die ganze Nacht in dem kargen Raum, keine zwei Armlängen vor dem penibel aufgeräumten Schreibtisch, und vielleicht wären ihr trotz aller Angst und Verzweiflung sogar die Augen zugefallen, wenn das schwarze Ungetüm von einer Schreibtischlampe ihr nicht geradewegs ins Gesicht geleuchtet hätte. Von Zeit zu Zeit hörte sie von draußen ein Flüstern, das ihr signalisierte, dass ihre Bewacher sich ablösten. Natürlich wurde ihnen nicht zugemutet, stundenlang auf einem Fleck zu stehen. Irgendwann musste Nelly trotz des grellen Lichts kurz eingenickt sein, denn als sie die Augen öffnete, sah sie erschrocken, dass der Beamte, der sie aus Kellermanns Atelier gezerrt hatte, am Schreibtisch Platz genommen hatte und in einem Aktenordner blätterte. Ohne Hut und Mantel sah er viel jünger aus, als Nelly ihn in Erinnerung hatte, er mochte in ihrem Alter sein. Der Mann zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung, was vielleicht an der Tasse lag, aus der er zuweilen einen kräftigen Schluck nahm. Nelly bemühte sich, den aromatischen Duft zu ignorieren. Bohnenkaffee. Wie lange war es her, seit sie zum letzten Mal Kaffee getrunken hatte? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, denn wie die meisten Berliner musste sie mit dem auf Marken erhältlichen Ersatzkaffee vorliebnehmen.
»Na, wollen Sie auch eine Tasse?«
Der Mann am Schreibtisch schien ihre Gedanken zu lesen. Oder hatte ihr sehnsuchtsvoller Blick sie verraten? Ertappt schaute sie zu Boden und schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie. »Aber ein Glas Wasser wäre nicht schlecht.«
Nelly erwartete nicht, dass er ihren Wunsch erfüllen würde, doch zu ihrer Überraschung trat der Mann an ein kleines Waschbecken, wo er für sie ein Glas bis zum Rand füllte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich Ihnen vorgestellt habe«, sagte er, während Nelly in gierigen Zügen trank. »Kriminalkommissar Kress. Und Sie sind die bekannte Pressefotografin Eleonore Vogel.« Anstatt sich wieder zu setzen, beugte er sich über den Schreibtisch und nahm die Akte, in der er bereits gelesen hatte. »Sie haben für die Berliner Illustrirte Zeitung und für die Vogue fotografiert?«
Nelly nickte zögerlich.
»Dabei haben Sie auch einige der prominentesten Personen unserer Zeit kennengelernt. Ausländische Politiker, Redakteure und Schriftsteller, von denen inzwischen aber etliche dem Deutschen Reich gegenüber feindlich eingestellt sind.«
»Gewiss finden Sie in Ihren Akten auch einen Hinweis darauf, dass ich schon seit Jahren nicht mehr für die Presse tätig bin.«
Kress nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Oh, keine Sorge, Fräulein«, sagte er mit einer Stimme, die plötzlich einschüchternd heiser klang. »Ich bin bestens im Bilde über Sie. Sie entstammen einem privilegierten Elternhaus. Ihre Familie besitzt eine Villa im Grunewald und eine kleine Fabrikation für Nähmaschinen, die Ihr Vater über die Wirtschaftskrise gerettet hat. Er ist kein Parteigenosse, aber er unterstützt die Volksgemeinschaft so, wie man es von ihm erwartet. Ihre Mutter … Helfen Sie mir auf die Sprünge. Sie wurde im Ausland geboren, nicht wahr?«
Nelly verspürte nicht die geringste Lust, mit diesem Mann über ihre Eltern zu reden. Dieses Kapitel war für sie abgeschlossen. Sie hatte die beiden seit einer Ewigkeit nicht mehr besucht, und daran plante sie auch nichts zu ändern. Wie lange war es her, dass ihr Vater sie vor die Tür gesetzt und ihr gesagt hatte, dass sie sich nicht mehr blicken lassen sollte? Ihr Lebensentwurf hatte seinen Erwartungen nicht entsprochen, das hatte er sie spüren lassen. Ein Grund für das Zerwürfnis war Paul gewesen. Nelly und Paul waren zuerst Kollegen, dann ein Liebespaar. Sie hatten eine jener wilden Künstlerehen geführt, die für die späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre so typisch gewesen waren, und sich von dem kurzen Rausch der Freiheit und der nach Ende des Krieges herrschenden Aufbruchstimmung verführen lassen, ihr Glück in der Welt zu suchen. Nellys konservative Eltern und ihre nicht minder spießige Schwester hatte das mit Abscheu erfüllt. Sie hatten Nellys »Eskapaden«, wie sie ihr Studium in Paris nannten, zähneknirschend akzeptiert, doch als Nelly anfing, im Auftrag liberaler Zeitungen mit Paul durch die Welt zu reisen, war das Maß für ihre Familie voll gewesen. Nellys ehrgeiziges Bestreben, als Fotografin Karriere zu machen, schrieben ihre Angehörigen Pauls schlechtem Einfluss zu. Ihr Vater schimpfte ihn sogar einen Kommunisten, was zwar nicht den Tatsachen entsprach, Paul und Nelly jedoch amüsiert hatte. Je erfolgreicher Nelly wurde, je öfter ihre Bilder in den Zeitungen erschienen, desto heftiger wurden die Spannungen. Als Paul sich schließlich ins Ausland absetzte und Nelly nicht mehr als Pressefotografin arbeiten durfte, hatten die Vogels angenommen, sie würde reumütig zu ihnen zurückkehren. Doch dies hatte Nelly nicht einen Moment lang in Betracht gezogen. Sie hatte ein winziges möbliertes Zimmer im Wedding bezogen und hielt sich fortan mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Bis sie die Stelle bei Kellermann fand. Ihren Vater und ihre inzwischen verheiratete Schwester hatte Nelly bis zum heutigen Tag nicht wiedergesehen. Nur ihre Mutter wagte sich in Nellys kleine Hinterhofwohnung, um der missratenen Tochter ins Gewissen zu reden. Doch auch diese gelegentlichen Treffen waren kaum mehr als flüchtige Begegnungen, die nur stattfanden, wenn der Vater geschäftlich unterwegs war. Nelly spürte jedes Mal, wie ihre Mutter aufatmete, wenn es Zeit war, sich zu verabschieden. Es gab nichts mehr, was Nelly und sie verband.
»Als meine Mutter nach Berlin kam, war sie noch ein halbes Kind«, erklärte Nelly widerwillig. Auch wenn ihre Familie ihr fremd geworden war, wählte sie ihre Worte mit Bedacht, denn sie wollte den Vogels nicht noch mehr Ärger machen, als sie durch ihre Verhaftung ohnehin schon bekommen würden. »Ihr Mann gab ihr seinen Namen, ein Dach über dem Kopf und einen Platz in der besseren Gesellschaft. Sie dankte es ihm mit uneingeschränkter Loyalität. Dass sie nicht hier geboren wurde, hat für die Familie Vogel nie eine Rolle gespielt.«
»Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir Ihre Eltern in Sippenhaft nehmen können, wenn Sie nicht mit uns kooperieren!« Kress schlug unvermittelt mit der Faust auf den Tisch. »Geben Sie zu, dass Sie Propagandamaterial herstellen, um es ins feindliche Ausland schmuggeln zu lassen.« Nelly sah ihn entsetzt an. Was sollte sie tun? Hatte es überhaupt Zweck zu leugnen? Die Gestapo hatte die Negative gefunden, alle ihre Bilder aus der Dunkelkammer. Es würde nicht schwer werden, ihr daraus einen Strick zu drehen.
»Zeugenaussagen zufolge sollen Sie vor ein paar Tagen in der Rosenstraße gewesen und sich unter das Gesindel von Frauen gemischt haben, die dort nach ihren festgenommenen jüdischen Männern plärrten«, fuhr Kommissar Kress fort. »Sie wurden dabei beobachtet, wie Sie heimlich Aufnahmen von dieser verbotenen Versammlung gemacht haben. Ich frage mich nur, warum Sie dort Bilder geschossen haben. Und für wen.«
Nelly war sich nicht ganz sicher, ob eine Antwort von ihr erwartet wurde. Ja, sie war in der Rosenstraße gewesen. Mit Pauls jüngerer Schwester Barbara, deren Ehemann jüdisch war und zusammen mit zahlreichen Leidensgenossen in ein Sammellager verschleppt worden war. Als sich herumgesprochen hatte, dass die Partner aus Mischehen in den Osten verschickt werden sollten, hatte die verzweifelte Barbara Nelly angefleht, sie in die Rosenstraße zu begleiten. Dort hatten sie gemeinsam gewartet. Lange. Aus Stunden waren Tage geworden, aus einer kleinen Schar verängstigter Ehefrauen und Töchter schließlich eine Menschenmenge. Die Polizei hatte sie von der Straße vertreiben wollen. Man hatte ihnen Gewalt und Gefängnis angedroht, aber dieses eine Mal hatten die Frauen sich nicht einschüchtern lassen. Immer wieder waren sie zusammengekommen und hatten nach ihren eingesperrten Männern gerufen. Und dann, einige Tage später, war der Spuk zu Ende gewesen. Die Inhaftierten waren freigelassen worden, und Nelly hatte den Moment, in dem Barbara ihrem Mann in die Arme fiel, mit ihrer Leica verewigt.
»Ich … war dort«, gab sie zu. »Aber es ist doch kein Verbrechen, sich auf eine öffentliche Straße zu stellen.«
»Es ist sogar ein schweres Verbrechen, in Kriegszeiten die öffentliche Ordnung zu gefährden, während unsere Soldaten an der Ostfront bluten«, brüllte Kress sie an. »Noch schlimmer ist es, Landesverrat zu begehen und den Feind zu begünstigen.« Er sprang auf, lief um den Tisch herum und beugte sich über Nelly.
»Wir sind nicht auf den Kopf gefallen, Fräulein Vogel«, flüsterte er ihr mit seiner heiseren Stimme ins Ohr. »Wir haben Ihre Bilder entwickelt, alles, was Sie fotografiert haben. Also tun Sie uns beiden einen Gefallen und sagen mir, wem Sie die Aufnahmen übergeben wollten. Oder hatten Sie vor, das Zeug irgendwie außer Landes zu schmuggeln, um dem Reich durch Lügen zu schaden? Wer sind Ihre Kontaktleute?«
Nelly begann zu zittern, vor Angst wurde ihr plötzlich so übel, dass sie fürchtete, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Und dabei hatte Kress sie noch nicht einmal angerührt. In den Spionageromanen, die sie in ihrer Jugend verschlungen hatte, gerieten die Helden häufig in lebensbedrohliche Situationen, und selbstverständlich waren sie selbst unter Androhung von Folterqualen nicht bereit, ihre Freunde zu verraten. Schwieg Nelly jetzt, würde man sie in einen der berüchtigten Kellerräume unter dem Palais schleppen, und was dort mit ihr geschah, mochte sie sich gar nicht vorstellen.
Der Schlag ins Gesicht traf Nelly unvorbereitet und war so hart, dass er sie fast vom Stuhl fegte. Ihre Wange brannte, als hätte jemand ein glühendes Eisen darauf gedrückt. Sie schmeckte Blut.
»Ich hasse das«, schrie Kress sie an. Seltsamerweise waren seine Wangen ebenfalls gerötet. Er würde noch einen Schlaganfall bekommen, wenn er sich weiterhin so aufregte. »Das gehört nicht zu meinen Aufgaben!« Er begann, ihren Stuhl wie eine Raubkatze zu umkreisen, schlug sie aber kein weiteres Mal. Stattdessen drückte er ihr einen Bogen Papier und einen Bleistift in die Hand und wies sie barsch an, jedes einzelne Motiv aufzuschreiben, das sie in den letzten drei Tagen außerhalb des Fotoateliers abgelichtet hatte. Personen, Orte, Gebäude – einfach alles. Die Dienststelle würde ihre Auflistung dann mit dem Bildmaterial abgleichen, das die Gestapo beschlagnahmt hatte.
»Ich rate Ihnen, mich nicht zu täuschen«, sagte Kress, während Nelly das Schreibpapier auf ihren Knien anstarrte. Ihre Hand zitterte so heftig, dass sie einen mehrmaligen Anlauf brauchte, bevor sie auch nur einen Strich machen konnte. Es hat keinen Zweck sich zu sträuben, dachte sie verzweifelt. Vielleicht verbessert es meine Lage ja, wenn ich tue, was er verlangt.
Ein kurzes, aber kräftiges Klopfen ließ sie zusammenzucken. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie zwei Männer das Büro betraten, ohne eine Einladung des Kommissars abzuwarten. In dem einen erkannte Nelly den Gestapomann wieder, der Kellermanns Dunkelkammer verwüstet und ihre Filme mitgenommen hatte. Der Mann, der ihm auf dem Fuß folgte, war deutlich älter, Nelly schätzte ihn auf um die fünfzig. Er war kahlköpfig und von massigem Körperbau, wirkte aber alles andere als plump. Und er trug, auch das erkannte Nelly sogleich, die Uniform eines Wehrmachtsoffiziers im Generalstab. Er kam ihr vage bekannt vor, doch benommen, wie sie war, wusste Nelly nicht recht, wo sie ihn einordnen sollte.
Kommissar Kress schien nicht minder irritiert von dem Erscheinen des Offiziers, denn er bedachte zuerst ihn, dann seinen Kollegen mit einem verständnislosen Blick. Letzterer hielt einen braunen Umschlag in der Hand, und noch bevor Kress den Mund öffnen konnte, um eine Erklärung zu verlangen, öffnete der Gestapobeamte den Umschlag und warf ein Knäuel aus Filmnegativen vor ihn auf den Schreibtisch.
»Gruß aus dem Labor, Kollege. Alles verdorben, sagen sie. Keine einzige Fotografie konnte entwickelt werden. Zu hoher Lichteinfall. Muss passiert sein, als Sie die Dunkelkammer aufgebrochen haben.« Der Mann deutete mit dem Kinn in Nellys Richtung, deren Hand sich um den Bleistift verkrampfte. »Und? Hat sie schon gestanden?«
»Barkowski, Sie sind ein Idiot«, herrschte Kress seinen Kollegen an. »Und eine Schande für die gesamte Leitstelle!«
Der Wehrmachtsoffizier hob die buschigen Augenbrauen, die seinem kantigen Gesicht den markanten Ausdruck eines Mannes verliehen, der daran gewöhnt war, mit Respekt und Achtung behandelt zu werden. Dass Kress ihn nicht sogleich gebührend begrüßt hatte, schien ihm nicht zu schmecken. Breitbeinig stellte er sich vor den Schreibtisch und klopfte demonstrativ auf die Unterlage.
»Vielleicht tauschen die Herren ihre Freundlichkeiten später aus«, polterte er mit einer Stimme, die an einen Donnerschlag erinnerte. Sogleich richteten sich alle Blicke auf ihn. Kress blieb nichts anderes übrig, als aufzustehen und den Arm zu heben.
»Ich bin dem Herrn General im Treppenhaus begegnet«, sagte der Kollege von Kress. »Er hat mich gebeten, umgehend …«
»Ansgar von Schlosser«, unterbrach der Offizier den Erklärungsversuch des Mannes. »Und wenn Sie nicht mehr gegen Fräulein Vogel vorbringen können als diesen Mist da …« Er machte eine verächtliche Geste in Richtung der überbelichteten Negative auf dem Tisch. »Dann werde ich sie nun unter meine Obhut nehmen. Und zwar auf allerhöchsten Befehl. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.«
Nelly glaubte zu träumen. Was für ein Spiel war das hier? Ein Trick, um sie zu verunsichern? Sie kannte diesen uniformierten Koloss mit der dröhnenden Stimme überhaupt nicht, warum also setzte er sich ausgerechnet für sie ein? Es sei denn … Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, ihren Lippen entwich ein gequältes Stöhnen.
Keine zwanzig Minuten später fand sich Nelly auf dem Rücksitz eines Automobils wieder, das von General Ansgar von Schlosser höchstpersönlich durch das nächtliche Berlin gelenkt wurde. Sie war immer noch am Rande eines Nervenzusammenbruchs und musste sich zusammennehmen, um vor dem Fremden nicht in Tränen auszubrechen. Dieses Mal jedoch in Tränen der Erleichterung. Wie viele Menschen mochte es geben, die die Prinz-Albrecht-Straße unter ähnlichen Umständen wie sie betreten und nicht einmal vierundzwanzig Stunden später mit heiler Haut wieder verlassen hatten? Nelly zumindest war kein einziger bekannt. Zögerlich blickte sie auf den Stiernacken des Mannes, dem sie ihre Rettung verdankte. Sie wusste, dass sie etwas sagen, ihm eine Erklärung geben musste, aber obwohl ihre Mutter ihr stets vorgehalten hatte, sie habe ein typisches Berliner Mundwerk, fehlten ihr jetzt die Worte. Erst als sie bemerkte, dass der Wagen sich aus dem inneren Stadtgebiet fortbewegte, wagte sie es, sich verhalten zu räuspern.
»Was?«, brummte General von Schlosser. Er klang übellaunig.
»Setzen Sie mich denn nicht bei meiner Wohnung ab?«
»Wozu? Damit du dich gleich morgen früh in die nächste Scheiße hineinreitest? Entschuldige meine Wortwahl, aber was du getan hast, war äußerst unklug. Man macht sich die Geheime Staatspolizei nicht zum Feind. Dieser Kress musste heute die Waffen strecken, und mir ist nicht entgangen, dass er dies als eine persönliche Demütigung empfunden hat. Ich habe den Auftrag, dich zu beschützen. Und zwar vor dir selbst. Also: Nein, ich setze dich nicht bei deiner Wohnung ab.«
»Auf höchsten Befehl, nicht wahr?«
Der General lachte kurz. »Auf allerhöchsten, meine Gute. Und meine Frau, deine Schwester Hilde, würde mir ein Versagen in dieser Sache nicht durchgehen lassen.«
Nelly seufzte und ärgerte sich gleichzeitig, dass ihr nicht früher eingefallen war, wo sie den Namen des Generals schon einmal gehört hatte. Aber als ihre Mutter ihr vor einiger Zeit voller Stolz von der guten Partie ihrer Schwester berichtet hatte, war sie so von ihren eigenen Sorgen erfüllt gewesen, dass sie kaum hingehört hatte. Wie nicht anders zu erwarten, war sie auch nicht zu Hildes Hochzeit eingeladen worden, die, kriegsbedingt, weniger pompös ausgefallen war, als ihre Schwester es sich gewünscht hatte. Nelly hatte weder an ihren neuen Schwager noch an dessen Rang, Geld und adelige Herkunft auch nur einen Gedanken verschwendet. Menschen wie er hatten keinen Platz in dem Leben, für das sie sich entschieden hatte. Dass Hilde ihren Mann in die Prinz-Albrecht-Straße geschickt hatte, kam einem Wunder gleich. Nelly fragte sich, warum ihre Schwester das getan haben mochte. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen, doch damit war es aus und vorbei, als Hilde herausfand, dass es sich für sie auszahlte, wenn sie ihrem Vater nach dem Mund redete. Sie hatte sich zu einem Abziehbild des Alten entwickelt und hasste Nelly dafür, dass diese sich die Freiheit nahm zu sagen, was sie dachte.
Der Morgen graute bereits und ein schneidender Wind bog die hohen, alten Bäume entlang der Auffahrt, als Nellys Schwager sein Automobil vor dem Haus der Fabrikantenfamilie Vogel anhielt. Nelly beäugte die mit rotem Stein verklinkerte Fassade mit gemischten Gefühlen. Im Innern war alles dunkel, demnach rechnete niemand mit der unfreiwilligen Heimkehr der verlorenen Tochter zu dieser Stunde. Nur durch die Scheibe eines Fensters im zweiten Stock drang ein wenig Licht. Nelly schluckte schwer, als die Erinnerungen sie überfielen. Dort oben befand sich ihr altes Kinderzimmer. Irgendjemand musste dort, trotz des strengen Verdunkelungsgebots, eine Lampe angezündet haben.
Nellys Mutter saß in einem seidenen Morgenrock im Salon, sprang aber sofort auf die Füße, als sie ihren Schwiegersohn mit Nelly eintreten sah. Nelly konnte nur ihre Silhouette ausmachen, denn im Raum war es bis auf ein fast heruntergebranntes Kaminfeuer dunkel.
»Hilde ist schon zu Bett gegangen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Vater auch, aber ich konnte nicht schlafen.« Ihre Bemerkung galt allein dem General. Nelly, die mit zerzaustem Haar, einer geschwollenen Wange und im grauen Arbeitskittel vor ihr stand, wurde eisern ignoriert.
Ansgar von Schlosser brach schließlich das Schweigen. »Oje, dicke Luft, was? Na ja, kann man auch verstehen. Aber wenn ich dir, liebe Bente, einen guten Rat geben darf: Eine Ohrfeige hat das Mädel heute schon kassiert. Sie sollte sich ausschlafen, bevor ihr hier am Grunewald eine weitere Front eröffnet.« Er gähnte herzhaft. »Bin dann mal oben, nach Hilde schauen.«
Bente Vogel bedankte sich bei ihrem Schwiegersohn mit einem Nicken und sah ihm nach, wie er mit müden Schritten die Treppe zum Obergeschoss hinaufstieg. Einen Moment lang schwiegen sich Mutter und Tochter an, dann sagte Bente: »Ich habe unserem Dienstmädchen aufgetragen, das Bett in deinem alten Zimmer zu beziehen und eine Lampe anzuzünden.«
»Habe ich gesehen.«
»Du wirst nicht lange in diesem Haus bleiben, das wäre zu gefährlich für uns alle. Besonders für Hildes Gatten. Ansgar ist ein guter Mann, der noch eine große Karriere vor sich hat. Vorausgesetzt, er wird nicht in irgendetwas hineingezogen, das seine Laufbahn gefährden könnte.«
»Zum Beispiel durch seine widerspenstige Schwägerin.«
Bente Vogel hob die Augenbrauen. »Gut, dass du es sagst, dann muss ich das nicht tun. Dein Verhalten ist absolut inakzeptabel, und es wird heute das erste und das letzte Mal gewesen sein, dass der arme Ansgar die Nüsse für dich aus dem Feuer geholt hat.«
»Die Kastanien.«
»Bitte?«
»Es heißt, die Kastanien aus dem Feuer holen«, sagte Nelly mit einem Lächeln. Schon in Nellys Kindheit hatte ihre Mutter es geliebt, ihre Sprache mit Redewendungen zu schmücken. Damit wollte sie allen zeigen, wie sehr sie sich mit der deutschen Kultur identifizierte. Dass sie nur selten die richtigen Begriffe verwendete und dafür heimlich Spott erntete, störte sie nicht sonderlich.
»Solange du hier bei uns wohnst, wirst du das Grundstück nicht verlassen. Ansgar hat sich dafür verbürgt, dass du für die Sicherheitspolizei zu jeder Zeit erreichbar bist, also lass dir nicht einfallen, gegen diese Auflage zu verstoßen. Was immer du noch aus deiner Wohnung brauchst, wird dir gebracht.«
»Was ist mit meiner Kamera? Ich habe die Leica nicht von der Gestapo zurückerhalten.«
Bente rollte die Augen, als könne sie nicht fassen, was sie soeben gehört hatte. »Wenn dir so viel an Pauls Fotoapparat liegt, kannst du ja in die Prinz-Albrecht-Straße fahren und die Beamten dort bitten, ihn dir auszuhändigen. Großer Gott, Kind. Allmählich glaube ich, dass bei dir wirklich Hopfen und Salz verloren ist.«
Gekränkt über die Reaktion ihrer Mutter presste Nelly die Lippen aufeinander. Bente würde niemals verstehen, was ihr Beruf ihr bedeutete. Die Leica war für sie wie eine gute alte Freundin gewesen, die sie nie im Stich gelassen hatte. Sie hatte sie überallhin begleitet. Sogar bis nach Ägypten, wo Nelly für die Vogue über die Inthronisierung von König Faruq berichtet hatte. Und nun sollte sie das gute Stück niemals wiedersehen? Aber wenn sie wie eine Gefangene auf dem Anwesen ihres Vaters leben musste, war es eigentlich auch egal, ob ihr eine Kamera zur Verfügung stand oder nicht. Hier draußen gab es außer Eichhörnchen kaum ein Motiv, das sich aufzunehmen lohnte.
Als Nelly am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich, als hätte ein Panzer sie überrollt. Die ausgestandenen Schrecken des Verhörs im Gestapohauptquartier sowie ihre Ängste vor der ungewissen Zukunft forderten ihren Tribut. Ihr Kopf dröhnte und die Glieder schmerzten. Im Spiegel über dem Waschbecken starrte ihr das Gesicht einer Frau mit dunklen Augenringen entgegen, in dem Nelly sich nur schwer wiedererkannte.
Im Speisezimmer hatte sich die gesamte Familie um den Frühstückstisch versammelt. Nellys Vater Leopold Vogel war in seine Zeitung vertieft und ärgerte sich, seiner verkniffenen Miene nach, über das, was er da las. Ihre Mutter, wie stets geschmackvoll gekleidet und ordentlich frisiert, schmierte für ihn ein Brot mit Pflaumenmus, so wie sie es vermutlich seit Beginn ihrer Ehe tat und noch bis zum letzten Atemzug tun würde. Ihre Schwester Hilde war blass und wirkte nervös. Aufgeregt flüsterte sie mit ihrem Mann, verstummte aber schlagartig, als Nelly eintrat.
»Hier, nimm dir was von dem Zeug«, sagte ihr Vater, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. »Deine Mutter hat die Pflaumen selbst eingekocht, etwas Besseres findest du in diesen Zeiten in ganz Berlin nicht.«
Eine merkwürdige Begrüßung, fand Nelly. Nach all den Jahren behandelte er sie so, als wäre sie nie fort gewesen. Äußerlich hatte er sich kaum verändert, wenn man davon absah, dass er eine goldumrandete Brille trug und sein strenges Kinnbärtchen allmählich ergraute.
»Du siehst übrigens zum Fürchten aus«, tadelte ihr Vater sie nun. Aha, das hatte er also doch nicht verlernt. »Gehst du nie zum Friseur? Und diese hässlichen Hosen. Was sollen deine Schwester und der General von dir denken?«
Ja, das klang schon viel mehr nach dem Vater, den sie in Erinnerung hatte. Nelly ließ ihren Blick über den sorgfältig gedeckten Tisch wandern. Offensichtlich blendete ihr Vater aus, dass Krieg herrschte, dass fast jede Nacht Bomben über Berlin fielen, dass die Soldaten an der Front zu Tausenden verbluteten und dass andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft vor aller Augen aus ihren Wohnungen verschleppt und abtransportiert wurden. In Anbetracht all dessen kamen ihr die Brötchen und Frühstückseier, der dampfende Kaffee und Mutters Pflaumenmarmelade wie ein surreales Gemälde vor, so fern war es von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. Ja, ihr Vater hatte recht. In ihrem schlichten, mehrmals gestopften Strickpullover und den weiten Hosen war sie ein Fremdkörper im Speisezimmer der Vogels. Am liebsten hätte sie sich kommentarlos verdrückt. Doch als sie sich erheben wollte, kam die alte Köchin Annemarie mit einem Teller ins Zimmer und stellte ihn mit einem warmherzigen Lächeln vor Nelly ab. »Habe gehört, hier vermisst jemand mein Spiegelei auf Kräuterquark!« Annemarie tätschelte liebevoll Nellys Hand, eine Vertraulichkeit, die sie sich nach all den Jahren, in denen sie die Töchter ihres Arbeitgebers mit Kakao, Kuchen und deren Lieblingsgerichten verwöhnt hatte, erlauben durfte. Groß und dünn wie ein Streichholz entsprach Annemarie nicht dem Bild, das man gemeinhin von einer Köchin hatte. Aber sie kochte nicht nur hervorragend, sondern war auch in Nellys Kinder- und Jugendjahren immer zur Stelle gewesen, wenn Not am Mann gewesen war. Sie hatte Nellys aufgeschürfte Knie verarztet, ihr beim ersten Liebeskummer Sandkuchen gebacken und heimlich Tränen vergossen, als sie das Haus wegen Paul verlassen hatte. Den hatte sie nicht gemocht. »Er ist nicht gut für dich, Kind, da muss ich deinen Eltern recht geben«, waren ihre Worte gewesen, als Nelly sich in die Affäre mit dem jungen Reporter gestürzt hatte. Annemarie hatte in den vergangenen Jahren nie den Versuch unternommen, Kontakt zu Nelly aufzunehmen, aber von ihrer Mutter wusste Nelly, dass sie jeden Zeitungsbericht, der eine ihrer Fotografien enthielt, ausgeschnitten und in ein Album geklebt hatte.
»Nun mal ran an den Speck, kleine Nelly!« Aufmunternd deutete Annemarie auf den Teller. »Lass das Frühstück nicht kalt werden. Du brauchst es, hast ja gar nichts mehr auf den Rippen.«
Mit einem Knurren klatschte Doktor Vogel die Zeitung auf den Tisch; seine kleinen Augen hinter den Gläsern funkelten angriffslustig. »Nelly ist kein kleines Mädchen mehr«, fuhr er die Köchin an. »Es ist unangebracht, dass Sie sie in Watte packen und mit Lebensmitteln vollstopfen, die ohne Lebensmittelmarken kaum noch zu haben sind.«
»Nur keine Aufregung, Herr Direktor. Sie wissen, warum ich Ihnen keine Eier servieren darf. Ihr Arzt …«
»Zur Hölle mit meinem Arzt«, unterbrach Nellys Vater die Köchin. »Es geht nicht um meinen Blutdruck, sondern um meine Tochter, die uns durch ihr Verhalten mal wieder in eine äußerst unangenehme Lage gebracht hat.«
Nachdem Annemarie sich in die Küche geflüchtet hatte, herrschte eine frostige Stimmung am Frühstückstisch. Nelly stocherte ein wenig auf ihrem Teller herum, brachte aber trotz ihres knurrenden Magens keinen einzigen Bissen herunter. Zu sehr brannten die Blicke ihrer Angehörigen auf ihr. Eine halbe Ewigkeit verging, bis sie den Mut aufbrachte, den Mund aufzumachen. »Es tut mir leid. Ich wollte euch nicht in meine Angelegenheiten hineinziehen. Aber ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mir geholfen habt. Ganz besonders Ihnen danke ich, Herr von Schlosser.« Sie lächelte ihrer Schwester scheu zu. »Dir bin ich natürlich auch dankbar, Hilde. Wer weiß, was die Gestapo mit mir angestellt hätte, wenn der Herr General nicht rechtzeitig gekommen wäre. Wobei …« Sie dachte an die ruinierten Filme. »Dieser Kommissar konnte keinen seiner Vorwürfe gegen mich belegen. Dass ich aus Mitgefühl mit Pauls Schwester zur Rosenstraße gegangen bin, um nach ihrem Ehemann zu suchen, ist ja nicht gegen das Gesetz. Kress hatte nichts gegen mich in der Hand und hätte mich ohnehin freilassen müssen.«
»Na, dass du dich da mal nicht täuschst, Schwägerin!« Ansgar von Schlosser stand auf und fing mit auf dem Rücken verschränkten Armen an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Bei hellem Tageslicht sah er in seiner Uniform sogar noch imposanter aus als in der vergangenen Nacht. Auch wenn er nicht mehr jung war und nicht besonders gut aussah, besaß er doch eine urwüchsige Attraktivität, mit der er bestimmt nicht wenige Frauen beeindruckte. Zumindest Frauen wie Hilde, die sich nach einer starken Schulter zum Anlehnen sehnten.
»Es gibt da jemanden in der Prinz-Albrecht-Straße, der mir noch einen Gefallen schuldete. Den konnte ich mit Müh und Not überreden, beim Entwickeln deiner Filmnegative … Sagen wir mal, etwas nachlässig zu sein.«
Nelly starrte ihren Schwager ungläubig an, denn damit hatte sie nicht gerechnet. Wenn der General die Wahrheit sagte, dann war das Bildmaterial nicht in ihrer Dunkelkammer zerstört worden, sondern erst in der Prinz-Albrecht-Straße. Ihr Mund wurde trocken. Sollten Kress und sein Kollege davon Wind bekommen, war sie so gut wie tot. Aber auch der General ging ein verdammt großes Risiko ein. Wiederholt fragte sich Nelly, ob ihn wirklich nur die Liebe zu Hilde und die Loyalität der Familie gegenüber antrieben, einer ihm völlig Unbekannten zu helfen. War er dem Regime gegenüber vielleicht nicht so ergeben, wie es sein Rang nahelegte? Vielleicht gab es unter den höheren Offizieren ja nicht nur stramme Bewunderer des Führers, sondern auch solche, die ihm zunehmend kritisch gegenüberstanden. Nelly musste an den Untergang der 6. Armee vor Stalingrad denken, der in der Bevölkerung einen wahren Schock ausgelöst hatte. Sie selbst hatte im Februar fassungslos vor ihrem Radiogerät gesessen und verfolgt, wie das Oberkommando der Wehrmacht in einer Sondersendung darüber berichtet hatte. Natürlich wurde die Niederlage der sowjetischen Übermacht und ungünstigen Witterungsverhältnissen zugeschrieben. Aber Nelly war an diesem Abend klar geworden, dass die Nazis mit dem Rücken zur Wand standen und der Krieg im Grunde verloren war. War Ansgar von Schlosser ebenso desillusioniert wie viele andere und ließ er es sich nur nicht anmerken? Während seine Frau und die Schwiegereltern schweigend ihr Frühstück beendeten, verkündete er, dass ihn dringende Termine in die Stadt riefen. Hilde sprang sofort auf, um ihn zur Tür zu begleiten.
Den ganzen Tag über fühlte Nelly sich überflüssig. Ihr Vater war in die Fabrik gefahren, und ihre Mutter und Hilde diskutierten über ein zersprungenes Fenster im Ankleidezimmer der Eltern und wie schwierig es sei, bei all den Bombenschäden einen Glaser zu finden, der bis hinaus zum Grunewald fuhr. Unruhig wanderte Nelly durch die vertrauten Räume der Villa und gab sich ihren Kindheitserinnerungen hin. Wie oft hatte sie sich damals gefühlt, als würde sie in ein Korsett gezwängt? Ertränkt von einer Flut von Regeln und Vorschriften, denen sie sich nur widerstrebend gebeugt hatte. Mit einem Lächeln dachte sie daran, wie ihr Vater sie angestarrt hatte, als sie zum ersten Mal in Hosen und mit kurz geschnittenen Haaren erschienen war. Leopold Vogel war ein Mann, der sich an Prinzipien klammerte wie ein Bergsteiger an sein Seil. Dies mochte daran liegen, dass er in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen war und sich mühsam hatte erkämpfen müssen, was seinen Geschäftspartnern und Nachbarn an Auftreten und Bildung in die Wiege gelegt worden war. Dessen ungeachtet war es ihm nach dem Untergang des Kaiserreichs und in den ersten turbulenten Jahren der Weimarer Republik gelungen, aus einer kleinen Werkstatt ein beachtliches Unternehmen zu machen. Der Wohlstand der Familie Vogel spiegelte sich in der kostbaren Sammlung von Ölgemälden wider, die Nelly auf ihrem Streifzug durch die Zimmer und Flure entdeckte. Die meisten davon kannte sie nicht, sie mussten erst nach ihrem Auszug ihren Weg in die Villa gefunden haben. Dass der Vater in diesen Zeiten Geld für Kunstwerke ausgab, erstaunte sie. Die Geschäfte schienen gut zu gehen. Ihre Mutter hatte Nelly voller Stolz erklärt, dass die familieneigene Fabrik unlängst vom Reichswirtschaftsministerium zum kriegswichtigen Betrieb erklärt worden sei. Nelly lag es auf der Zunge nachzufragen, wie die Wehrmacht wohl mithilfe von Nähmaschinen den Krieg zu gewinnen gedenke. Aber natürlich brauchte man für den Krieg Soldaten, und die wiederum brauchten Uniformen, die genäht werden mussten. Gute Nähmaschinen sparten Zeit. Davon abgesehen galt inzwischen fast alles als kriegswichtig.
Gegen Mittag lieferte ein Spediteur Nellys Koffer, der erstaunlich sorgfältig gepackt worden war und nahezu alles an Kleidungsstücken, Wäsche und Schuhen enthielt, was Nelly besaß. Während der Lieferant sich mit einem großzügigen Trinkgeld empfahl, durchwühlte sie ihre spärliche Habe und stellte dabei traurig fest, dass ihre Bücher und die Fotoausrüstung fehlten.
»Du brauchst gar nicht erst auszupacken«, riet ihr Hilde, als sie in die Halle trat und sah, wie Nelly sich abmühte, den Koffer über das Parkett zu ziehen. Die junge Frau blieb stehen und entfernte, scheinbar teilnahmslos, ein Stäubchen von ihrer himmelblauen Strickjacke. »Ansgar hat eben angerufen. Du musst das Land verlassen. Gleich morgen früh.«
Trotz der frühen Morgenstunde wimmelte es auf dem Anhalter Bahnhof nur so vor Menschen. Nellys Schwager fluchte leise vor sich hin, während er ihren Koffer durch die Halle in Richtung der Gleise schleppte. Nelly stolperte müde hinter ihm her, gefolgt von Mutter und Schwester. Den Bahnhof kannte sie wie ihre Westentasche. Als sie noch als Pressefotografin gearbeitet hatte, war sie unzählige Male von hier aus zu ihren Reisen aufgebrochen. Betriebsam war dieser Ort mit seinen Zeitungskiosken, Schuhputzern und fliegenden Händlern schon immer gewesen, und damals hatte Nelly die Atmosphäre der Hektik durchaus genossen. Doch seitdem hatte sich viel verändert. Das Bild wurde nicht mehr von fröhlichen Menschen bestimmt, die in die Sommerfrische fuhren oder eine Geschäftsreise antraten, sondern von Wehrmachtssoldaten, an deren Mienen leicht abzulesen war, ob sie einen Heimaturlaub antraten oder zurück an die Front mussten. Junge Mädchen in der Uniform des Bundes Deutscher Mädel huschten emsig wie die Bienen über die Bahnsteige, um die Ankömmlinge mit selbst gebackenen Keksen oder einem Schluck heißem Tee zu begrüßen. Die wenigen Männer, die ohne Uniform auf einen Zug warteten, waren zumeist älter. Die meisten jüngeren Zivilisten zogen sich den Hut tief in die Stirn, stellten den Kragen auf und blickten sich misstrauisch nach schwarz gekleideten SS-Männern um. Es war kein Geheimnis, dass die SS häufig am Anhalter Bahnhof aufkreuzte, um die Kennkarten von Männern im wehrpflichtigen Alter zu kontrollieren. Sie suchte Deserteure und Untergetauchte.
»Mein Gott, gibt es hier denn keine Gepäckträger?«, erkundigte sich Nellys Mutter laut bei Hilde, die nur resigniert mit den Schultern zuckte. Zu Nellys Überraschung hatten beide Frauen trotz des regnerischen Wetters darauf bestanden, Nelly zum Zug zu begleiten. Bente Vogel war tadellos geschminkt und frisiert. In ihrem vornehmen schwarzen Pelz umgab Bente eine Aura der Unnahbarkeit. Die Passanten machten ihr respektvoll Platz, als sie sich mit ihrem Regenschirm einen Weg durch die dichte Menge bahnte. Eine der grau uniformierten Sanitätsschwestern, die sich um verwundete Soldaten aus einem der soeben eingefahrenen Lazarettzüge aus dem Osten kümmerte, hob mit einem tadelnden Stirnrunzeln den Kopf. »Wenn eener noch uff de Beene stehen kann, dann trägt er hier seinen Kram och selber«, rief sie in breitestem Berlinerisch, wandte sich aber sogleich wieder dem stöhnenden jungen Mann auf der Bahre zu, dessen Kopfverband sie erneuerte.
Nelly wich einer Schar von Kindern aus, deren Schulweg offensichtlich ebenfalls über den Bahnhof führte. Ihr Anblick rief ihr einen grauen Wintertag in Erinnerung, an dem sie hier eine andere, wesentlich weniger unbeschwerte Gruppe von Kindern fotografiert hatte. Es waren jüdische Jungen und Mädchen gewesen, vom Dreikäsehoch bis zum fast Erwachsenen, die ihre Eltern mit Kindertransporten über Holland nach England schickten, um ihnen ein Leben ohne tägliche Schikanen zu ermöglichen. Nelly hatte ihren schweren Abschied mit der Kamera festgehalten. Abgesehen von Barbaras Mann, der in der Rosenstraße arrestiert gewesen war, kannte sie keine Juden näher, befürchtete aber, dass ihnen in Hitlers Reich noch Schlimmes bevorstand. Sie konnte nicht viel tun, um ihnen zu helfen. Außer zu beobachten und mit ihrer Kamera festzuhalten, was in Berlin geschah.
»Ist das auch der richtige Zug? Sieht mir eher nach einem Truppentransport aus.« Hilde deutete auf eine dampfende Lokomotive mit angehängten Personenwaggons, die soeben pfeifend und kreischend auf dem Bahngleis einfuhr.
Nellys Mutter presste krampfhaft ihre Handtasche an die Brust und machte einen Schritt vorwärts, auf die Bahnsteigkante zu. Sie wirkte plötzlich so nervös, als müsste nicht Nelly, sondern sie in den Zug einsteigen. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Muss Nelly denn wirklich gleich über die Grenze? Könnten wir sie nicht einfach aufs Land schicken und warten, bis Rasen über die Sache gewachsen ist?«
Gras, dachte Nelly müde. Bis Gras über die Sache gewachsen ist. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter sie ungern ins Ausland entschwinden sah. Gut möglich, dass Nelly niemals nach Berlin würde zurückkehren können. Aber wollte sie überhaupt bleiben? In einer Stadt, in der Männer wie dieser Gestapokommissar Kress sie jederzeit verhaften konnten? Nein. Der General hatte seine Verbindungen spielen lassen, um Nelly die Ausreise zu ermöglichen, der Himmel allein wusste, wie er dies bewerkstelligt hatte. Wollte sie ihn und ihre Angehörigen in Berlin nicht gefährden, blieb ihr keine andere Wahl. Und wenn man es genau nahm, floh sie nicht einmal ins Ungewisse, sondern kehrte in das Land ihrer Vorfahren zurück.
Hilde hatte recht behalten. Der Zug war vollgestopft mit Soldaten, die Nelly aber sofort einen Platz freiräumten, als sie sahen, wer ihren schäbigen Koffer trug. Das Abteil gehörte, seiner kärglichen Ausstattung nach zu urteilen, zur dritten Klasse. Es verfügte über acht hölzerne Sitzbänke und einen klebrigen Fußboden. Eine Heizung gab es nicht. Kriegsbedingt, wie auf einem Schild an der Tür zu lesen war. Wie von der Tarantel gestochen sprangen die anwesenden Männer von ihren Plätzen, schlugen die Hacken zusammen und grüßten Ansgar von Schlosser ebenso zackig wie verwundert.
»Die Dame ist meine Schwägerin«, teilte der General dem verdutzten Schaffner mit, während ein paar weitere Reisende sich auf der Suche nach einem Sitzplatz an seiner massigen Gestalt vorbeizwängten. »Sie ist mit Genehmigung des Reichswirtschaftsministeriums nach Holland unterwegs.« Dann öffnete er eine Aktentasche und entnahm dieser einige Papiere, die er Nelly in die Hand drückte.
»Hier sind deine Papiere! Ausweis, Beglaubigungsschreiben mit Stempel, Unterschrift und allem Pipapo. Dazu ein paar Bezugsscheine. Die sind wichtig, also pass gut auf sie auf. Ach ja, und diesen Brief von deiner Mutter soll ich dir auch noch geben.« Nelly nahm die Dokumente entgegen und wunderte sich. Ihre Mutter stand noch mit Hilde am Gleis und wartete. Durch das Abteilfenster konnte sie sehen, wie sie fröstelnd ihren Pelz um sich zusammenzog. Warum hatte sie Nelly nicht gesagt, was ihr noch auf dem Herzen lag, oder ihr zumindest den Brief persönlich in die Hand gedrückt? Aber genau genommen passte es zu ihrer verschlossenen Mutter. Bloß kein Wort zu viel reden.
»Dein Vater lässt dir eine gute Reise wünschen«, sagte der General noch, obwohl Nelly stark bezweifelte, dass der Alte ihr tatsächlich einen Gruß bestellt hatte. Doch selbst wenn nicht, war es immerhin eine nette Geste ihres Schwagers, das zu erfinden.
Es verging noch fast eine geschlagene Stunde, bis der Zug sich endlich in Bewegung setzte. Einer der Wehrmachtssoldaten, den Nelly auf kaum älter als achtzehn Jahre schätzte, zog ein Schifferklavier aus seinem Wäschesack und begann zur Freude seiner Kameraden darauf zu spielen. Damit hob er sogleich die Stimmung im Abteil. Es dauerte nicht lange, bis die anderen Männer in die Melodie von Ich weiß, es wird noch mal ein Wunder geschehen und Davon geht die Welt nicht unter einstimmten, Lieder aus Kinostreifen, mit denen die Filmschauspielerin Zarah Leander Triumphe feierte.
Nelly, die für ihr Leben gern ins Kino ging, ertappte sich dabei, wie sie selbst mitsummte. Ein Wunder. Ja, wenn sie recht darüber nachdachte, konnte auch sie eines gebrauchen, damit ihre eigene Welt nicht ebenso vollständig in Trümmer zerfiel wie die, aus der sie gerade floh. Mit geschlossenen Augen dachte sie über das Ziel ihrer sonderbaren Flucht nach. Sie war nicht wenig überrascht gewesen, als der General ihr vor der versammelten Familie Vogel verkündet hatte, dass es in die Niederlande gehen sollte. In das Land, aus dem ihre Mutter Bente stammte und dem sie früh für immer den Rücken gekehrt hatte. Da Bente so gut wie nie über ihr Leben dort oben an der Nordsee sprach, wusste Nelly über Holland weniger als über Ägypten oder den Sudan. Nur dass es dort Tulpen und Grachten gab und die Menschen mit einem ähnlichen Akzent sprachen wie dem, den sich Bente Vogel mit sehr viel Mühe und Disziplin abgewöhnt hatte.