Die Kreuzfahrt - Guido Dieckmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Kreuzfahrt E-Book

Guido Dieckmann

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Deutschland 1936 – nach wahren Begebenheiten erzählt.

Die junge Violinistin Carla Fuchs träumt von einer Karriere als Musikerin – doch ein streng gehütetes Familiengeheimnis macht sowohl diesen Wunsch als auch ihre Heirat mit dem Adeligen Harald von Breden unmöglich. Scheinbar spontan lädt ihr Vater die Familie zu einer Kreuzfahrt nach Ägypten und Palästina ein, an Bord verhält er sich jedoch plötzlich so verdächtig, dass Carla bald Zweifel kommen, nur an einer gewöhnlichen Urlaubsreise teilzunehmen. Als ihr ehemaliger Verlobter ihnen aufs Schiff folgt und ein Ufa-Regisseur an Bord um sie wirbt, spitzt sich die Lage zu. Kann sie den Menschen in ihrer Umgebung noch vertrauen?

Eine Frau gerät in die Wirren der eigenen Familiengeschichte – vom Autor der Bestseller »Luther« und »Die Mission der sieben Templer«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 647

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Deutschland 1936 – nach wahren Begebenheiten erzählt

Die junge Violinistin Carla Fuchs träumt von einer Karriere als Musikerin – doch ein streng gehütetes Familiengeheimnis macht sowohl diesen Wunsch als auch ihre Heirat mit dem Adeligen Harald von Breden unmöglich. Scheinbar spontan lädt ihr Vater die Familie zu einer Kreuzfahrt nach Ägypten und Palästina ein, an Bord verhält er sich jedoch plötzlich so verdächtig, dass Carla bald Zweifel kommen, nur an einer gewöhnlichen Urlaubsreise teilzunehmen. Als ihr ehemaliger Verlobter ihnen aufs Schiff folgt und ein Ufa-Regisseur an Bord um sie wirbt, spitzt sich die Lage zu. Kann sie den Menschen in ihrer Umgebung noch vertrauen?

Eine Frau gerät in die Wirren der eigenen Familiengeschichte – vom Autor der Bestseller »Luther« und »Die Mission der sieben Templer«

Über Guido Dieckmann

Guido Dieckmann, geboren 1969 in Heidelberg, arbeitete nach dem Studium der Geschichte und Anglistik als Übersetzer und Wirtschaftshistoriker. Heute ist er als freier Schriftsteller erfolgreich und zählt mit seinen historischen Romanen, u.a. dem Bestseller »Luther« (2003), zu den bekanntesten Autoren dieses Genres in Deutschland. Guido Dieckmann lebt mit seiner Frau an der Deutschen Weinstraße.

Als Aufbau Taschenbuch sind von ihm lieferbar: »Die sieben Templer«, »Der Pakt der sieben Templer«, »Luther« sowie die historischen Weimar-Krimis »Das Geheimnis des Poeten« und »Der Fluch der Kartenlegerin«.

Mehr Informationen zum Autor unter www.guido-dieckmann.de

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Guido Dieckmann

Die Kreuzfahrt

1936 – Eine junge Frau und ihre gefährliche Mission

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Personenverzeichnis

Berlin 1936

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Adriatisches Mittelmeer 1936

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Ägypten 1936

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Auf hoher See Unterwegs nach Palästina 1936

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Libanon 1936

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Nachwort des Autors

Impressum

Zur Erinnerung an C.L. und S.L., die 1936 auf der »Königin Maria von Jugoslawien« reisten, und an meinen Vater, der mir von ihrer Kreuzfahrt erzählte.

Personenverzeichnis

Die Familie:

Carla Fuchs, Violinistin aus Aachen.

Dr. Robert Fuchs, ihr Vater, Direktor einer aufstrebenden Fabrik pharmazeutischer Präparate in Aachen.

Rina Fuchs, seine Frau und Carlas Mutter, eine ehemalige Balletttänzerin.

Emil Fuchs, ihr Sohn und Carlas Bruder, sportbegeisterter Gymnasiast.

und Maurizio Bellamuti, ehemaliger Geigenvirtuose und Professor der Musik aus Mailand, seit einigen Jahren Carlas Lehrer und Förderer.

In Berlin:

Harald von Breden, Journalist in Berlin und Carlas Verlobter.

Wilhelm Steinberg, jüdischer Dirigent, möchte nach Palästina auswandern, um dort mit Arturo Toscanini ein Orientorchester aufzubauen.

Fritz Sallinger, Antiquitätenhändler in Berlin.

Die »Diva«, eine alternde Ufa-Filmschauspielerin, die in Berlin von einem Comeback träumt.

Auf dem Schiff:

Alexander Rovanic, Kapitän des Dampfers »Königin Maria von Jugoslawien«.

Dimitrios, griechischer Kabinensteward auf der »Königin Maria von Jugoslawien«.

Dr. Blakowitz, Schiffsarzt und Pathologe wider Willen.

Theo Reidt, Ufa-Regisseur aus Berlin und Passagier auf der »Königin Maria von Jugoslawien«, versucht, für einen Abenteuerfilm in Ägypten passende Drehorte zu finden.

Marlies Uhl, seine Schwester und Assistentin mit weitreichenden Verbindungen bis hin zu den höchsten Stellen des Deutschen Reichs.

Maude Robbins, lebenslustige Gouvernante und Lehrerin aus Chicago, Illinois.

John Bennett, Sohn eines britischen Offiziers im Mandatsgebiet Palästina.

Margie Bennett, Johns Schwester, ebenfalls auf dem Weg zu ihrem Vater nach Jerusalem.

In Ägypten:

Faysal, ein junger Ägypter aus Alexandria, der die »Straße der tausend Augen« wie seine Westentasche kennt.

Farad, sein Bruder, Konstabler der Polizeikommandantur von Alexandria

Monsieur Zabi, ein wohlhabender Geschäftsmann in Alexandria mit einer Schwäche für technische Apparaturen aus Europa.

Ahmed, Monsieur Zabis Diener.

Fred Kessler, Legationsrat der deutschen Gesandtschaft in Kairo.

Eugen Bammentaler, Vertreter der deutschen Gesandtschaft in Kairo.

Dr. Albert Foster, Archäologe und Verwalter der Ausgrabungsstätte Amarna am östlichen Nilufer, dem Fundort der Büste Nofretetes.

Veit Born, Fosters Grabungshelfer in Amarna.

Im Libanon:

Lieutenant Charles Baxter, Angehöriger der britischen Mandatsregierung Palästina.

Lieutenant Mike Christians, sein Kollege.

Berlin 1936

1. Kapitel

Berlin, Sommer 1936

»Der Bursche ist gelaufen wie der Teufel, Sweetheart! Die anderen Sportler hatten nicht die geringste Chance gegen ihn!«

Carla Fuchs blickte amüsiert von ihrer Zeitschrift auf, als ihr jüngerer Bruder mit glühenden Wangen in den Salon gestürmt kam. Sie und ihre Mutter genossen an diesem Nachmittag dort Kaffee und Pflaumenkuchen, und keine der beiden Frauen hatte damit gerechnet, dass er bereits so früh aus dem Olympiastadion zurückkehren würde. Von nun an würde es mit der Ruhe und Gemütlichkeit wohl oder übel vorbei sein.

»Owens geht in die zweite Runde, und das Publikum rast vor Begeisterung!«, rief Emil Fuchs und imitierte dabei den Redefluss eines Sportreporters der Wochenschau. Er warf sich neben Carla auf das mit grünem Samt bezogene Sofa. »Holt er sich die zweite Goldene?« Unvermittelt machte Emil einen Satz nach vorne, verharrte dann in der Bewegung und bog seine Hüfte, als weiche er einem Hindernis aus – dabei stieß er gegen den zierlichen Mahagonitisch, auf dem ein Hotelpage die noch dampfende Kaffeekanne abgestellt hatte.

»Hast du eine Ahnung, wie ein Stadion brummt, wenn dreißigtausend Menschen von ihren Tribünensitzen aufspringen und zu jubeln anfangen?«

Carla schüttelte milde lächelnd den Kopf. Ein Glück, dass sie nicht wirklich unter Kopfschmerzen litt, so wie sie es ihrem Vater und Emil gegenüber behauptet hatte, um sich vor den heutigen Wettkämpfen im Stadion zu drücken. Bei dem Radau, den allein dieser Junge schon veranstaltete, konnte es einem schon ganz anders werden.

»Das Brummen wirst du uns bitte ersparen!« Rina Fuchs musterte ihren Sohn streng vom Kragen seines Sommerhemds über die senffarbenen, zerknitterten Knickerbockers bis hinunter zu seinen Schuhen. Als sie den Staub darauf bemerkte, schüttelte sie missbilligend den Kopf. Emils Vater hatte ihm zwar am Morgen sportliche Kleidung erlaubt, aber so durchgeschwitzt und abgekämpft erschien man trotzdem nicht zum Nachmittagskaffee. Schon gar nicht an einem Tag, von dem möglicherweise die Zukunft der eigenen Schwester abhing! Rina nahm sich vor, mit ihrem Mann ein ernstes Wörtchen darüber zu reden. Sie hatte ja gar nichts dagegen, die Zügel etwas lockerer zu lassen, solange die Familie sich in Berlin aufhielt, doch der Rummel um die Olympischen Spiele durfte nicht dazu führen, dass Emil völlig verwilderte. Im Hotel gingen tagtäglich prominente Leute ein und aus, da gehörte es sich nicht, dass der Sohn des bekannten Wissenschaftlers Robert Fuchs mit unpolierten Schuhen herumlief.

»Und wenn wir schon dabei sind!« Rinas Stimme klang langsam etwas schrill, wie immer, wenn sie anfing, sich über etwas aufzuregen. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du Carla nicht mit diesen englischen Kosenamen anreden sollst? Wer bringt dir nur diesen ganzen Unsinn bei? Liest du diese Ausdrücke in den Sportmagazinen, die Bellamuti dir heimlich zusteckt?« Sie schüttelte den Kopf. »Konzentriere dich zur Abwechslung mal auf deine Lateinstunden, damit du in der Quarta besser abschneidest. Dein Zeugnis zu Ostern war, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Vater hat zwar nichts dazu gesagt, aber er war doch ziemlich enttäuscht!«

Rina wäre noch mehr zu diesem Thema eingefallen, doch sie verzichtete darauf, es auszuführen, da sie just in diesem Moment ihren Mann den Salon betreten und auf sie zukommen sah. Obwohl dieser längst nicht so sportbegeistert war wie Emil, schien auch er sich im Olympiastadion amüsiert zu haben. Das ließ sich zumindest aus seiner blendenden Laune schließen. Summte er nicht sogar eine bekannte Filmmelodie vor sich hin? Für gewöhnlich tat er so etwas niemals, weil er das Kino nicht leiden konnte.

»Na, mein Junge?« Mit einer flüchtigen Geste strich er seinem Sohn über den Kopf. »Hast du den Ladys schon erzählt, was wir im Stadion alles erlebt haben?« Mit einem verschmitzten Zwinkern küsste er zuerst seine Frau, dann Carla auf die Wange. »Ist das Kaffee? Mein Gott, ich würde sterben für einen Schluck! Carla, wärst du so freundlich?«

Der Kaffee war nicht mehr heiß, ein Umstand, über den sich Fuchs an jedem anderen Tag sicher beklagt hätte.

»Ladys?« Rina bedachte ihren Ehemann mit einem vorwurfsvollen Blick. »Jetzt fang du nicht auch noch damit an, dich so … unkonventionell auszudrücken. Vor nicht einmal einer Minute habe ich Emil verboten, mit amerikanischen Begriffen um sich zu werfen. Wenn das einer aufschnappt, wird er denken, wir sympathisieren mit …«

»Mit Athleten wie Jesse Owens?« Aus Roberts kantigem Gesicht verschwand das Lächeln, das ihn für einen kurzen, magischen Moment wieder in den Mann verwandelt hatte, der er vor der Gründung seines Unternehmens gewesen war. Carla bedauerte das sehr, denn sie konnte sich nur noch dunkel an diese Zeit erinnern. Als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, ihren Vater in der nach Baldrian und Kräutern duftenden Apotheke am Markt zu besuchen. Dort hatte sie Kamillenblüten abwiegen und salzige Hustenpastillen in Papiertütchen füllen dürfen, während ihr Vater Salben angerührt hatte. Doch ein Jahr nach Emils Geburt hatte er die Apotheke verpachtet und eine Fabrik für Arzneimittel gegründet. Die Geschäfte liefen gut, zumal Fuchs es verstand, sein Unternehmen mit genügend Weitblick auch durch die wirtschaftliche Krisenzeit am Ende der Republik zu führen. Seine Erfolge ermutigten ihn, mithilfe eines Kompagnons in der Nähe von Stuttgart eine Versuchsstation aufzubauen, in der botanische Experimente durchgeführt wurden. Wo genau die Forschungsschwerpunkte ihres Vaters lagen, wusste weder Carla noch der Rest der Familie. Unter Geldsorgen hatten sie jedenfalls nie leiden müssen.

»Der Amerikaner mag ja ein guter Sportler sein«, lenkte Rina ein. Sie hasste es, mit ihrem Mann zu diskutieren, weil sie dabei oft den Kürzeren zog. »Aber … Herrgott nochmal, bin ich denn die Einzige, die hier klar denken kann? Sobald die Spiele zu Ende sind, werden die Ausländer alle wieder in See stechen. Dann ist der ganze Zauber vorbei, aber wir werden immer noch hier in Deutschland sein. Du hast eine Firma zu leiten, und Carla …!« Sie holte tief Luft, womit sie zu verstehen gab, dass sie noch längst nicht fertig war und nicht unterbrochen zu werden wünschte. »Ich hoffe, du hast nicht vergessen, warum wir trotz dieses scheußlich kühlen Wetters nach Berlin gefahren sind, obwohl es an der Riviera im August gewiss angenehmer ist.«

»Damit Emil endlich eine Autogrammkarte von Jesse Owens bekommt?«

»Mach jetzt keine dummen Scherze, Robert! Hier geht es um das Glück deiner Tochter und nicht um die Unterschrift eines amerikanischen Schnellläufers!«

»Wie du meinst, meine Liebe!« Er warf seinem Sohn einen strengen Blick zu. »Also, schreib es dir hinter die Löffel! Kein Autogramm, jedenfalls keines von dem Sprinter. Aber vielleicht kann ich dir ja als Trostpreis ein Autogramm von unserem Führer besorgen, auch wenn dem beim Hundertmeterlauf die Zunge früher aus dem Hals hängen dürfte als unserem Gast aus Übersee.«

Rina keuchte erschrocken.

Unwillkürlich fuhren Carlas Blicke zur Tür, wie so oft, wenn ihr Vater solche bissigen Bemerkungen machte. Gottlob, draußen in der Halle schien niemand zu sein, der die Ohren spitzte. Trotzdem fragte Carla sich, was nur in den Vater gefahren war, dass er so leichtsinnig drauflosplapperte. Normalerweise galt im Hause Fuchs das strenge Gebot, vor den Kindern nicht über Geschäftliches oder Politik zu reden, schon gar nicht über die Partei, die allgegenwärtig zu sein schien. Der Vater selbst hatte auf diese eiserne Regel bestanden, nachdem einer ihrer Nachbarn von der Polizei abgeholt worden war, weil er sich über die Leibesfülle des Herrn Reichsmarschalls lustig gemacht hatte. Über seinen Scherz war zwar zuerst tüchtig gelacht worden, aber nun klebte der frühere Reichsbahnrat irgendwo in Süddeutschland Tüten. Carla hatte den Namen des Ortes vergessen, eines aber hatte sie sich gemerkt: Der Alte würde so schnell keine Witze mehr reißen. Stattdessen würde er sich gut überlegen, mit welchen seiner früheren Freunde er überhaupt noch reden konnte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Besorgt beobachtete Carla, wie ihr Vater sich den Kuchen schmecken ließ, ohne auf die betretenen Mienen seiner Angehörigen zu achten. Vaters Verhalten, fand sie, war wirklich seltsam. Dazu noch dieser starre Blick, der einem das Fürchten lehren konnte. Ob er krank war? Oder einfach nur überarbeitet? Carla hoffte, dass er sich später ein wenig zusammennahm, wenn Harald hier war.

»Hervorragend«, lobte Fuchs den Kuchen, dem von ihm ausgelösten Entsetzen gegenüber anscheinend völlig gleichgültig. »Wie alles, was hier im Haus serviert wird, nicht wahr? Ich bin froh, dass wir hier Zimmer bekommen haben.« Rina nickte zögerlich. Sie persönlich gab zwar eigentlich dem noch teureren Hotel Adlon den Vorzug, musste aber doch zugeben, dass der Steinplatz ebenfalls zu Recht zu den besten Häusern der Hauptstadt zählte. Das in einem mehrstöckigen Gebäude mit prachtvoller Fassade untergebrachte Hotel warb mit seiner fast familiären Atmosphäre. Es war nicht so überlaufen wie die exquisiten Häuser Unter den Linden, und mochte man hier auch nicht ganz so oft auf Prominenz stoßen, gab es dennoch keinen Gast, der Grund zur Klage hatte. Die Direktorin, eine ebenso resolute wie elegante Witwe, behandelte ihre Gäste mit viel Herzlichkeit und war bemüht, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

»Und wann kommt der junge Herr, der unsere Tochter zu einer Frau von und zu machen will?« Robert warf einen Blick auf seine Uhr. »Habe ich noch Zeit, mich für seine Hoheit in Schale zu werfen?«

Carla konnte sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. Sie nahm es ihrem Vater nicht übel, dass er Haralds adeliger Herkunft keine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Männer wie er, die sich aus eigener Kraft etwas aufgebaut hatten, ließen sich von Leistungen beeindrucken, nicht von Titeln, die nach dem Zusammenbruch der Monarchie eigentlich keine Rolle mehr spielten. Carla war davon überzeugt, dass ihr Vater Harald mögen würde, denn der junge Mann hatte dem pommerschen Landsitz seiner Familie ganz bewusst den Rücken gekehrt, um in Berlin Karriere zu machen. Er hatte einige Semester Jura studiert und war dann zur Zeitung gegangen. Gewiss ließ sich so nicht sofort das große Geld machen, aber Harald war ehrgeizig, daher zweifelte sie keinen Moment daran, dass er es noch weit bringen würde. Auf das Vermögen ihres Vaters war er jedenfalls nicht angewiesen, nicht mit dem großen Besitz im Rücken, den er im Osten erben würde, wenn seine Mutter sich eines Tages zur Ruhe setzte. Ein wenig nervös wurde Carla, so oft sie an die Verwandtschaft ihres Verehrers dachte. Noch kannte sie überhaupt keine seiner Angehörigen und fragte sich daher, wie eine geborene Baronin von Weidnitz-Rechenthal wohl auf ein Mädchen reagierte, das zwar Geld, aber keinen langen Stammbaum mit wohlklingendem Namen mit in die Ehe brachte. Eine Person, die ihre eigenen Ziele verfolgte und nicht daran dachte, sich unterzuordnen? Würde die Baronin sie und ihre Eltern herablassend behandeln und Harald gar den Umgang mit ihr verbieten?

Von einem Mitschüler aus dem Konservatorium hatte sie erfahren, dass der alte Baron, Haralds Vater, ein hochrangiger Offizier in der Armee des letzten Kaisers gewesen war, den der Untergang der Monarchie und die turbulenten, krisengeschüttelten Jahre der ersten Republik zu einem verbitterten Mann gemacht hatten. Er war vor einigen Jahren gestorben, aus Gram über die Abdankung Wilhelms II., hieß es. Womöglich dachte seine Frau ähnlich. In den Briefen, die Harald ihr schrieb, erwähnte er seine Angehörigen so selten, dass sie für Carla seltsam schemenhaft wirkten, fast wie Nebenfiguren eines Romans, deren Namen man einige Seiten später schon wieder vergessen hatte. Harald beklagte sich darüber, dass die Baronin seine Arbeit bei der Zeitung so kritisch sah und sich weigerte, seine Artikel zu lesen. Sie hielt es für unter seiner Würde, einer solch niederen Arbeit nachzugehen. Wen wunderte es, dass Carla schon beim Gedanken an eine baldige Begegnung mit der alten Dame unwohl wurde? Doch unglücklicherweise hielt sich die Baronin während der Sommermonate in Berlin auf, daher war es undenkbar, ihr länger aus dem Weg zu gehen. Eine Einladung ihrerseits war bislang ausgeblieben, also hatte Carlas Mutter vorgeschlagen, sich zwanglos in einem Berliner Restaurant zum Abendessen zu treffen. Dem stimmte Carla zu, obwohl Harald fand, dass für eine Begegnung auch später noch Zeit sei. Im Winter vielleicht oder zur Apfelblüte auf dem pommerschen Landgut. Erst als Carlas Eltern darauf bestanden hatten, seine Familie während ihres Aufenthalts in Berlin kennenzulernen, hatte er klein beigegeben und einen Tisch reserviert.

»Carla?« Rina schlug eine Modezeitschrift auf. »Antwortest du bitte deinem Vater?«

»Harald lässt sich bei dir und Mama entschuldigen«, erklärte Carla rasch, als sie den fragenden Blick ihres Vaters bemerkte. »Leider ist in der Redaktion so viel zu tun, dass er uns erst nach dem Abendessen Gesellschaft leisten kann. Vorher muss er noch zwei Interviews führen.«

Robert Fuchs zuckte mit den Achseln. »Wenn der Bursche aus einem so guten Stall kommt, wie deine Mutter nicht müde wird zu behaupten, verstehe ich nicht, warum er in Berlin für eine Zeitung arbeitet, anstatt sich um seine Brennerei in Pommern zu kümmern.« Er spähte zur Tür. »Gegen einen guten Tropfen hätte ich jetzt im Übrigen auch nichts einzuwenden.«

»Aber doch nicht vor dem Abendessen, Robert!«, tadelte ihn seine Frau.

»Bitte sprich ihn nicht auf das Gut an, das wäre ihm peinlich!« Verlegen zupfte Carla einen Faden aus ihrer Jacke, deren unauffällige Farbe an Haferflocken mit Milch erinnerte. Anders als Rina, die selbst mit Anfang fünfzig noch so aufsehenerregend aussah, dass sich die Männer auf der Straße nach ihr umdrehten, war Carla so schüchtern, dass sie es kaum jemals wagte, auch nur einen Fuß in eine teure Boutique zu setzen. Sie hatte zwar Rinas markantes Gesicht, ihre blasse Haut und ihr hübsches brünettes Haar geerbt, nicht aber deren Figur und Größe. Sogar Emil mit seinen zwölf Jahren hatte sie längst eingeholt, dabei hatte Carla kürzlich ihren einundzwanzigsten Geburtstag und damit den Beginn ihrer Volljährigkeit gefeiert. Rina befand gnadenlos, dass die väterliche Linie für den mangelnden Liebreiz der Tochter verantwortlich sei, und schleifte Carla durch Kaufhäuser und Läden, wo sie Kleider und hochhackige Schuhe kaufte, um Carlas feminine Seite zu betonen. Für die Begegnung mit der Baronin hatte sie ihr ein Kostüm mit rotem Fuchskragen geschenkt, das Carla zehn Jahre älter aussehen ließ und nun in ihrem Koffer auf seine große Stunde wartete. Irgendwann würde sie es wohl oder übel tragen müssen, wenn sie ihre Mutter nicht beleidigen wollte. Dabei hasste Carla es, die Blicke fremder Personen auf sich zu ziehen. Es gab nur einen einzigen Ort auf der Welt, wo es ihr nichts ausmachte, im Rampenlicht zu stehen, und dies war der Konzertsaal. Wenn sich dort der Vorhang hob und das Getuschel des Publikums verstummte, verwandelte sie sich vor aller Augen in einen anderen Menschen. Eine Frau, die weder schüchtern noch still war, sondern selbstbewusst und lebensfroh. Wenn sie Violine spielte, waren Dinge wie Eleganz und Körpergröße nicht mehr wichtig, es zählte nur noch, ob es ihr gelang, Menschen durch Musik zu verzaubern. Carla spielte seit ihrem vierten Lebensjahr, und inzwischen prophezeiten ihr nicht mehr nur ihre Lehrer eine große Zukunft als Solistin.

Natürlich hatte Carla ihr Instrument auch nach Berlin mitgenommen. Ihr Privatlehrer hatte einen Übungsplan für sie ausgearbeitet und sie bekniet, auch während des Sommers nicht davon abzuweichen. Dieser Ermahnung hätte es allerdings nicht bedurft, denn Carla liebte ihre Geige und vergaß nie zu üben. Was Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein betraf, ähnelte Carla ihrem Vater, der ohne seine Forschungsarbeit auch nicht leben konnte. Rina hatte einmal spöttisch bemerkt, er bedauere es bestimmt, seine Firma nicht wie Carla in einen Geigenkasten packen zu können.

2. Kapitel

Als Carla und ihre Familie später den Speisesaal des Hotels verließen, fanden sie Harald von Breden in der Halle sitzend vor. Der volle Aschenbecher neben ihm deutete an, dass er bereits eine ganze Weile hier gewartet hatte. Carla fragte sich, warum er nicht an ihren Tisch gekommen war – galt dies etwa als unhöflich? Dann aber fiel ihr auf, wie müde und abgespannt er aussah, und sie vermutete, dass Harald erst einmal eine Verschnaufpause gewollt hatte. Das verstand sie sehr gut, wirklich jeder brauchte wohl von Zeit zu Zeit seine fünf Minuten für sich allein. Als er sich nach ihr umdrehte und sie zaghaft anlächelte, wurde ihr Herz warm vor Zuneigung. Harald gab sich ihr gegenüber immer so betont forsch und selbstbewusst, dass sie sich an seiner Seite oft wie ein winziges Mäuschen fühlte. Vermutlich war er von der Baronin in dem Glauben erzogen worden, ein Mann seiner Herkunft müsse durch sein Auftreten imponieren. Doch dass es tief in ihm eine verwundbare Seite gab, fand Carla viel interessanter. Als Redakteur eines Berliner Wochenblatts führte er ein aufregenderes Leben als sie, er begegnete interessanten Menschen und war immer im Bilde darüber, was sich in der Hauptstadt tat. Doch der Preis dafür war hoch. Er musste gegen die ständige Kritik der Baronin kämpfen und sah sich noch dazu den Launen seines Chefredakteurs ausgesetzt, der offensichtlich ein wahrer Choleriker war und ihm nicht einmal ein Abendessen mit der Familie seiner Verlobten gönnen wollte. Als Harald Carlas Vater höflich die Hand schüttelte, war von Müdigkeit jedoch nichts mehr zu spüren. Charmant begrüßte er Rina und bedauerte wortreich, das gemeinsame Abendessen aufgrund eines wichtigen beruflichen Termins verpasst zu haben.

»Aber ich bitte Sie, Herr von Breden, das ist doch nicht der Rede wert«, winkte Rina Fuchs huldvoll ab. Sie nahm eine Zigarette aus ihrem silbernen Etui und ließ sich von Harald Feuer geben.

»Ach wirklich? Das wäre mir neu!« Robert Fuchs hob verwundert die Augenbrauen und wedelte den Zigarettenrauch seiner Frau mit der Hand fort.

»Ich meine nicht deine Karriere, mein Lieber«, konterte Rina. »Ich bin mir sicher, dass Herr von Breden …«

»Harald«, unterbrach sie der junge Mann mit einem entwaffnenden Lächeln. »Wenn Sie erlauben!«

»Dass Harald unsere Carla nicht jeden Abend allein zu Hause lassen wird, wenn die beiden erst einmal verheiratet sind. Bestimmt wird er seine Arbeit bei diesem Wochenblatt dann an den Nagel hängen und mit ihr aufs Land ziehen, habe ich recht?« Sie seufzte. »Das Gut von Breden soll ja das reinste Paradies sein. Dass Ihre Mutter es da vorzieht, den Sommer in der Stadt zu verbringen … Sie müssen Robert und mich später oft nach Pommern einladen!«

»Damit wir mit unseren Enkeln spielen können«, brummte Robert Fuchs. »Die hast du doch gewiss auch schon fest eingeplant, nicht wahr?«

Entsetzt starrte Carla ihre Mutter an, die sich lässig mit ihrer Zigarette zurücklehnte und so tat, als bemerke sie die warnenden Blicke ihres Mannes sowie ihrer Tochter nicht. Manchmal könnte ich sie mit einer Saite meiner Violine erdrosseln, dachte Carla wütend. Was war nur in sie gefahren, Harald so taktlos zu überfallen? Über eine Hochzeit war noch nie geredet worden. Schließlich kannten Carla und Harald sich erst seit zwei Monaten, und wenngleich es auch Anzeichen gab, dass er sich für Carla interessierte, hatte er sie doch noch nicht gefragt, ob sie seine Frau werden wollte. Vermutlich würde er das nach diesem Fauxpas auch nicht mehr tun. Welcher Mann, der auch nur halbwegs bei Verstand war, tat sich eine Schwiegermutter wie Rina an?

Doch Harald wirkte weder verunsichert noch peinlich berührt. Lächelnd drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Nun, ich hoffe, Sie wissen, wie sehr Carla mir am Herzen liegt«, bemerkte er. »Ich würde sie nie vernachlässigen. Aber vergessen wir nicht, dass auch sie ihre Ziele hat, und die lassen sich nicht auf einem abgeschiedenen Gutshof hinter Stettin verwirklichen. Ich habe sie gestern spielen gehört – das Violinkonzert von Brahms, an dem sie und Bellamuti so fleißig arbeiten. Herrlich, ein wahrer Genuss! Ihre Tochter verfügt über eine Begabung, die sie eines Tages weltberühmt machen könnte.«

Haralds glühender Eifer verschlug nicht nur Carlas Mutter für einen Moment die Sprache, auch der Gesichtsausdruck ihres Vaters veränderte sich. Er sah plötzlich besorgt aus. Carla indessen freute sich, weil Harald sich auf ihre Seite stellte und ihren Eltern zu verstehen gab, dass er ihren Wunsch, als Violinistin Karriere zu machen, billigte. Er bewunderte sie für ihr Talent und ermutigte sie, ihr Ziel zu erreichen. Dafür hätte sie ihn gleich hier in der Lobby küssen können.

»Aber schickt es sich denn für die Frau eines Gutsbesitzers, öffentlich Konzerte zu geben?« Rina ließ nicht locker. In ihrer Welt gab es keine mit adeligen Grundbesitzern verheiratete Frauen, die ihr Geld damit verdienten, vor Publikum Geige zu spielen. Nervös drückte nun auch sie ihre Zigarette aus. Dann bestellte sie mit schriller Stimme bei einem der livrierten Pagen Likör. »Was würde Ihre Mutter, die Baronin, sagen, wenn Carla wochenlang durch die Weltgeschichte reiste? Heute Paris, morgen Mailand, dann London oder New York. Ach, was weiß ich? So, wie ich die gnädige Frau einschätze, wäre sie bestimmt dagegen.« Sie sah Carla kopfschüttelnd an. »Davon abgesehen ist meine Kleine für ein solches Leben nicht gemacht. Dafür bräuchte sie ein dickeres Fell, breitere Schultern und die nötigen Ellenbogen.«

»Mutter!«, protestierte Carla nun entrüstet und wandte sich mit einem um Hilfe bittenden Blick an ihren Vater, der der Unterhaltung schweigend zuhörte. Sie fand es eigenartig, dass er Rina nicht längst über den Mund gefahren war. Teilte er etwa ihre Meinung?

»Du weißt doch, wie stolz ich auf dich bin, meine Liebe«, sagte Robert Fuchs nach einigem Zögern. »Und mir ist auch bewusst, dass die Violine momentan dein ganzer Lebensinhalt ist.«

»Was heißt hier momentan? Ich spiele sie, seit ich drei Jahre alt bin!«

»Aber die Zeiten ändern sich, Carla. Sie werden … schwieriger. Du kennst nur deine Musik, aber Geige spielen ist nicht alles, was im Leben zählt. Wer kann schon voraussagen, was in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. Ob die Geschäfte weiterhin so gut laufen wie bisher. Auch wenn Bellamuti dich gerade in den höchsten Tönen lobt, halte ich den Zeitpunkt für ungünstig, gerade jetzt eine Konzertlaufbahn anzustreben.«

Carla schnappte empört nach Luft. Von ihrer Mutter hatte sie nichts anderes erwartet, aber dass ihr nun auch noch ihr Vater in den Rücken fiel, konnte sie nicht begreifen. Was um alles in der Welt hatte ihre musikalische Ausbildung mit seinen Geschäften zu tun? Bevor sie Harald kennengelernt hatte, war es doch beschlossene Sache gewesen, dass sie ihr Glück als freie Künstlerin wagen würde. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sowohl im Konservatorium als auch in zahlreichen Privatstunden. Die Reise nach Berlin waren die ersten Ferien seit Jahren. Und dies auch nur, weil ihr italienischer Privatlehrer Maurizio Bellamuti sich in diesen Tagen auch in der Hauptstadt aufhielt, um im Auftrag der Reichsmusikkammer am Rande der Olympischen Spiele eine Gruppe von Musikern zu betreuen. Er hatte versprochen, Carla an zwei Abenden in der Woche zu unterrichten, bei all seinen Verpflichtungen aber bislang nicht die Zeit dazu gefunden. Gerade als sie an ihn dachte, hörte sie eine bekannte, tiefe Bassstimme. Schwerfällig auf seinen Spazierstock mit dem silbernen Löwenknauf gestützt, aber bis über beide Ohren grinsend, stapfte der Italiener überraschend durch die Hotellounge auf sie zu.

»Da ist ja meine Lieblingsschülerin!«, rief er Carla zu, ohne die verdutzten Blicke der Hotelgäste wahrzunehmen, die den kühlen Spätsommerabend in der Halle ausklingen ließen. Carla hätte sich am liebsten an seiner Schulter ausgeweint, doch dies hätte die These ihrer Mutter bestärkt, dass sie zu verträumt und unselbstständig war, um mit Schwierigkeiten souverän umzugehen.

»Großer Gott, der hat uns gerade noch gefehlt«, flüsterte Rina ihrem Mann zu. »Wusstest du, dass er heute Abend kommen wollte?«

Mit einem Stöhnen wuchtete der Italiener seinen massigen Körper neben Carlas Mutter auf das Sofa, das unter seinem Gewicht beängstigend knarrte. Er tupfte sich den Schweiß von der Stirn, dann fiel sein Blick auf Rinas Glas.

»Likör? Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Bella, aber ich komme gleich um vor Durst! In ganz Berlin scheint heute Abend kein Taxi frei zu sein. Ich musste von meiner Absteige bis zu eurem Nobelhotel zu Fuß gehen! Die ganzen zweihundert Meter. Ist das zu fassen? Aber was tut man nicht alles, um seine hoffnungsvollste Schülerin zu sehen!« Bevor Rina protestieren konnte, ergriff Maurizio Bellamuti ihr Glas und stürzte es hinunter. »Schmeckt nach mehr!«, bemerkte er grinsend.

»Du scheinst trotz des ermüdenden Fußmarsches guter Dinge zu sein«, meinte Carlas Vater ohne große Begeisterung. Er hätte lieber die Unterhaltung mit Carla und Harald fortgesetzt.

»Das bin ich, Fuchs, das bin ich! Aber lass mich erst einmal zu Atem kommen, dann erzähle ich euch alles. Ihr werdet Ziegelsteine staunen.«

»Bauklötze!«, verbesserte Emil den korpulenten Mann lachend. Der Junge liebte Bellamuti, der auch sein Patenonkel war, heiß und innig, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Äußerlich schien der Mailänder die fleischgewordene Karikatur eines südländischen Künstlers zu sein. Er war nicht groß, dafür aber rund wie ein Fass. Seine eng zusammenstehenden Augen sowie die gerundeten Lippen verliehen seinem Apfelgesicht eine melancholische Note, die von einem üppigen Bart sogar noch betont wurde. Maurizio Bellamuti wendete viel Zeit für die Pflege seines ergrauten Haars auf, das er schulterlang trug. Zudem liebte er farbenfrohe Kleidung und kostspielige Accessoires, die seine exzentrische Persönlichkeit ebenso unterstrichen wie die lebhaften Gesten, die jedes seiner Worte begleiteten. Niemals wäre es ihm eingefallen, das Haus ohne den passenden Gehstock und seine schweren Siegelringe zu verlassen. Rina hielt ihn für einen Paradiesvogel und sah es lieber, wenn Carla ihn statt zu Hause im Konservatorium traf. Sie hatte ihm schon oft vorgehalten, dass sein Äußeres zu Klatsch und Tratsch einlud und er Zusammenstöße mit der Staatsgewalt geradezu herausfordere. Wie rasch konnte ein eingefleischter Junggeselle, den man niemals in weiblicher Begleitung antraf, dabei ins Gerede kommen! Als langjähriger Freund der Familie wolle er doch gewiss vermeiden, sie zu kompromittieren. Doch Maurizio Bellamuti schlug Rinas Warnungen stets in den Wind. Er war der Überzeugung, dass ihn das gute Einvernehmen zwischen dem Führer des Deutschen Reiches und dem Duce Mussolini vor allen Angriffen bewahrte. Außerdem hatte er ohnehin vor, einmal wieder nach Italien zu ziehen, um seinen Lebensabend in Mailand zu verbringen. Zuvor aber sollte aus Carla, seiner großen Entdeckung, eine Berühmtheit werden. Ihr Triumph sollte sein Vermächtnis sein, und er arbeitete fast ebenso rastlos dafür wie Carla selbst. Dabei kam ihm zugute, dass er über hervorragende Kontakte verfügte. Für ihn war es daher nur eine Frage der Zeit, bis sein Schützling die Konzertsäle der Welt eroberte.

Nun blickten ihn alle erwartungsvoll an und warteten, was er ihnen zu sagen hatte.

»Ich habe heute Nachmittag erfahren, dass eine der Violinistinnen, die bei den Abschlussfeierlichkeiten der Spiele im Olympiastadium spielen sollte, nicht auftreten kann«, erklärte der Mailänder gestenreich. »Weißt du, was das bedeutet, mein Kind?«

Carla wurde prompt hellhörig. Sie war am Eröffnungstag der Spiele mit ihren Eltern und Emil im Olympiastadion gewesen. Die Begeisterung der etwa hunderttausend Menschen war wie ein Sog gewesen, dem sie sich nicht hatte entziehen können. Hoch über ihren Köpfen war der Zeppelin Hindenburg über die Tribünen geschwebt, während unterhalb der Arena das Olympische Sinfonieorchester gespielt hatte. Es war brillant gewesen.

»Willst du damit sagen, Carla könnte tatsächlich anstelle dieser Frau auftreten?«, erkundigte sich Robert Fuchs vorsichtig.

Maurizio nickte eifrig. »Ich habe meine Verbindungen spielen lassen. Einfach war es nicht, die Herren von der Reichsmusikkammer berichten dem Propagandaministerium und dort …« Anstatt weiterzusprechen schickte er einen prüfenden Blick in Haralds Richtung. Er war nicht glücklich darüber, dass ein Mann in Carlas Leben getreten war. Dabei galt sein Misstrauen nicht einmal Harald persönlich. Für den Mailänder waren einfach alle, die um seine Schülerin herumscharwenzelten und ihr kostbare Zeit zum Üben raubten, Störenfriede. Dass Harald als Zeitungsreporter ebenfalls schwer beschäftigt war und Carla nur selten sah, ließ er nicht gelten. Carla vermutete zudem, dass zwischen den beiden Männern eine gewisse Eifersucht herrschte. Beide liebten sie auf ihre Weise, beide unterstützten ihre Pläne. Aber Bellamuti ließ keinen Zweifel daran, dass er keine Konkurrenz dulden würde, die sich so intensiv in Carlas Leben einmischen könnte, wie er es schon seit zehn Jahren tat.

»Sie können ganz offen vor mir reden, Herr Bellamuti«, sagte Harald, um Freundlichkeit bemüht. »Wie Sie wissen, gehöre ich schon fast zur Familie!«

Maurizio Bellamuti zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Na, dann können Sie mir ja auch ein Bier besorgen, junger Mann. Noch besser einen Rotwein! Und lassen Sie sich Zeit! Ich vermute, dass Carla noch hier sein wird, wenn Sie zurückkehren!«

»Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich nicht Ihr Laufbursche bin«, knurrte Harald verärgert. »Also steigen Sie von Ihrem hohen Ross herunter. Sie mögen Carlas Geigenlehrer sein, aber ich bin bald … ihr Ehemann!«

Rina schlug sich mit der flachen Hand auf den Mund, um den spitzen Schrei zu dämpfen, der ihren Lippen entwich. »Heißt das etwa … Ich meine …« Hilfesuchend blickte sie sich nach ihrem Mann um. »Will er damit etwa sagen …«

Carla verspürte ein leichtes Schwindelgefühl, als Harald ihre Hand nahm. Er lächelte unsicher. »Eigentlich wollte ich dich erst morgen bei unserem gemeinsamen Abendessen fragen, aber warum es noch weiter aufschieben? Du weißt doch schon lange, wie sehr ich dich bewundere. Ich möchte, dass du meine Frau wirst.«

Robert Fuchs bestellte französischen Champagner zum Anstoßen, Rina plapperte etwas von einem wunderschönen Brautkleid, das sie in einem Laden Unter den Linden gesehen habe und Maurizio klopfte während der nächsten halben Stunde fortwährend mit seinem Spazierstock auf, als versuchte er, ein Loch in den Fußboden zu schlagen, in das er Harald hineinstopfen konnte. Dessen Heiratsantrag hatte seine gute Laune restlos vertrieben, aber am meisten musste es ihn wurmen, dass sein Vorschlag, Carla bei den Schlussfeierlichkeiten der Olympischen Spiele vor Tausenden von Menschen auf der Geige spielen zu lassen, völlig übergangen worden war. Die Hoteldirektorin und ihr Sohn gehörten zu den ersten, die dem jungen Paar alles Gute wünschten.

»Ich nehme an, Sie möchten heute Abend noch ein wenig ausgehen, um zu feiern?« Sie schürzte ihre dezent geschminkten Lippen und zwinkerte ausgerechnet Maurizio Bellamuti zu, der ihr aber mit säuerlicher Miene die kalte Schulter zeigte. »Mal überlegen: Sie könnten ins Varietétheater in der Lutherstraße gehen. Dort kann man sich köstlich amüsieren. Aber wenn Sie etwas zu feiern haben, empfehle ich Ihnen wärmstens das Residenz-Casino, unser Resi.« Fast ein wenig verlegen fügte sie hinzu: »Dorthin gehe ich selbst von Zeit zu Zeit mit meinen Kindern, und während der Olympiade geben sich sogar ganz berühmte Leute die Klinke in die Hand. Schauspieler, Sängerinnen …«

»Madonna, sehe ich so aus, als würde ich gerne tanzen?«, nuschelte Bellamuti beleidigt, während alle anderen den Vorschlag mit Begeisterung aufnahmen. »Außerdem wollten Carla und ich an unserem Brahms weiterarbeiten.«

»Aber doch nicht am Abend ihrer Verlobung, du Spielverderber!«, rief Rina. »Das hat Zeit! Heute Abend sollen die Sektkorken knallen!«

Nach kurzer Beratung kam man überein, Bellamuti mit Emil ins Capitol zu schicken, wo ein Film mit dem jungen Schauspieler Heinz Rühmann gezeigt wurde, den der Junge besonders mochte. Nach kurzem Protest gab sich der Italiener geschlagen, obwohl er Kinos ebenso wenig leiden konnte wie Tanzlokale. Der Rest der Familie begab sich gut gelaunt zum Residenz-Capitol.

»Arme principessa, das hätte nicht passieren dürfen«, flüsterte Bellamuti. Traurig starrte er dem Taxi mit seiner Lieblingsschülerin nach, bis es von der Dunkelheit verschluckt wurde. Erst als Emil sich über den Nieselregen beschwerte und ungeduldig an seinem voluminösen Regenmantel zupfte, erwachte der Italiener aus seiner Starre. Behutsam legte er seinen Arm um die Schultern des Jungen. »Ich fürchte, deine Schwester rast blind in ihr Unglück!«

Emil blickte den dicken Mann verwundert an. »Warum, Maurizio? Wegen diesem Harald? Der scheint doch ein ganz netter Kerl zu sein. Er hat versprochen, mir eine Autogrammkarte von Jesse Owens zu besorgen!«

Maurizio Bellamuti begann zu lachen. Wild und rau wie noch nie zuvor in seinem Leben.

3. Kapitel

Als Carla zu ihrem Tisch zurückkehrte, brannten ihre Füße wie Feuer, doch das kümmerte sie nicht weiter.

»Na, glücklich?«, wollte ihre Mutter wissen, die sie auf der Tanzfläche keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. »Ihr seid aber auch ein hübsches Paar, du und Harald. Das wird die Baronin nicht anders sehen.«

Carla nickte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so ausgelassen getanzt zu haben. Aber wie oft erlebte sie auch Nächte wie diese? Die Hoteldirektorin hatte nicht übertrieben, der Tanzpalast war einmalig. Wohin man auch blickte, sah man fröhlich feiernde Menschen. Auf der Bühne wechselten sich drei Orchester ab, deren Musiker nicht nur die bekannten Schlager, sondern hauptsächlich mitreißende Rhythmen aus Amerika spielten. Carla hätte nicht geglaubt, dass sie diese mögen würde, stellte aber zu ihrer Überraschung fest, dass sie gar nicht genug davon bekommen konnte. Sie war nur froh, dass Bellamuti nicht sah, wie begeistert sie in den Applaus der Gäste einstimmte. Der Mailänder hätte die flotte Jazzmusik bestimmt als barbarische Folter für sein Gehör beschimpft. Ihr aber gefiel jeder Takt, den sie mit den Füßen unter dem Tisch begleitete. Sie fühlte sich so leicht und frei, dass sie am liebsten laut gejubelt hätte, eine Erfahrung, die neu für sie war und ihr Herzklopfen bescherte. Bellamuti hatte ihr beigebracht, die Musik ernst zu nehmen und ihr Spiel zu studieren, zu analysieren, dabei aber auch niemals zufrieden mit sich zu sein. Was für eine Wohltat war es, sich den herrlichen Rhythmen einfach nur hinzugeben, nicht über Tonfolgen und Kadenzen nachgrübeln zu müssen, sondern einfach zu genießen. Wer hier einkehrte, dachte nicht an Morgen, sondern nur an diese eine Nacht.

Die schillernde Atmosphäre des Saals trug noch zusätzlich dazu bei, die Nacht zum Tag zu machen. Die Wand- und Deckenbeleuchtung bestand aus einer verwirrenden Anzahl von Glühlampen, die für originelle Lichtspiele sorgten. In unmittelbarer Nähe der Bar gab es ein Wasserbecken mit Fontänen, welche sich im Takt der Musik bewegten wie die Schlangen eines indischen Fakirs. Ihr Tanz war nicht nur hübsch anzusehen, sondern erfrischte auch die von Zigaretten- und Pfeifentabak geschwängerte Luft. Männer in weißen Jacketts balancierten geschickt Tabletts durch den Zigarrennebel oder sausten mit Servierwagen von Tisch zu Tisch. Viele sammelten mit Nummern versehene Blechbüchsen ein. Harald hatte Carla erklärt, dass der Tanzpalast über sein eigenes Rohrpostsystem verfügte, das es den Gästen erlaubte, auf bequeme Weise Tabak, Streichhölzer, Schokolade oder Eau de Cologne zu bestellen. Der Gast füllte am Tisch einen Zettel aus und legte ihn mit etwas Geld in eine Dose. Carlas Vater machte sogleich die Probe aufs Exempel, musste aber fast eine Stunde warten, bevor er sein Kästchen Tabak in Empfang nehmen konnte. Zusätzlich zu den Büchsen gehörte zu jedem der nummerierten Tische noch ein eigener Telefonapparat. So war es möglich, von Tisch zu Tisch zu telefonieren.

»Da hört sich doch alles auf«, urteilte Fuchs stirnrunzelnd. »In meiner Jugend bemühte sich ein Herr noch persönlich an den Tisch einer Dame, um sie um den nächsten Tanz zu bitten. Er musste ihr in die Augen schauen! Heutzutage ruft er sie einfach an. Hat sie keine Lust, nimmt sie nicht ab. Gefällt ihm ihre Stimme nicht, wählt er einfach eine andere Nummer.«

»Aus dir soll jemand schlau werden«, sagte Rina mit einem sehnsuchtsvollen Blick auf den Tischapparat, der seit ihrer Ankunft kein einziges Mal geläutet hatte. »Predigst du uns nicht immer, dass wir uns dem Fortschritt nicht verschließen dürfen?«

»Mag sein, aber das gilt nicht für die Anstandsregeln!« Fuchs senkte die Stimme. »Nehmen wir nur mal diese Musik. Die jungen Leute springen umher, als wären ihre Schuhe voller Ameisen.« Er schnaubte abfällig. »Na ja, mir soll’s recht sein. Nach den Spielen werden dieselben Musiker, denen du heute zuhörst, nur noch Wiener Walzer aufführen dürfen, darauf gebe ich dir Brief und Siegel. Diese Jazzmusik erlauben die Herren dort oben doch nur, solange die ausländische Presse im Land ist!«

Rina erhob warnend den Zeigefinger. »Robert, du hast uns etwas versprochen …«

»Ach was, bei diesem Getöse versteht man doch eh kaum sein eigenes Wort! Wer sollte da lange Ohren machen?« Wie um seine Worte Lügen zu strafen, klingelte plötzlich das Telefon. Erschrocken starrten Carla und ihre Mutter auf den schwarzen Apparat vor ihnen.

»Nun nimm doch ab«, sagte Fuchs, dessen Stimme auf einmal weitaus weniger gelassen klang. »Vielleicht will ja jemand Carla zum Tanz auffordern.«

Rina zögerte einen Moment, tat dann aber wie geheißen. Sie war blass geworden; nervös klimperte sie mit den Augenlidern. Ohne sich zu melden, lauschte sie, wobei sie ihr rechtes Ohr mit der Hand gegen den Geräuschpegel des Saales abschirmen musste, um überhaupt genug zu hören. Schließlich hauchte sie in die Muschel: »Ich habe verstanden!« Mit einem Achselzucken reichte sie den Hörer an ihren Mann weiter. »Für dich, Robert!«

Das Gespräch dauerte nicht lange. Nach nur wenigen Sekunden erklärte Fuchs eisig, dass der Anrufer eine falsche Nummer gewählt habe, und knallte den Hörer auf.

»Habe ich nicht gesagt, dass diese blöden Tischtelefonapparate die Pest sind? Nicht einmal wählen können die Leute!« Argwöhnisch blickte er über die Schulter. Doch keiner der Gäste, die in ihrer Nähe die Musik und den Champagner genossen, sah auch nur zu ihnen herüber.

Rina reckte angriffslustig das Kinn. »Darf man erfahren, wer das war?«

»Habe ich dir doch gesagt: Falsch verbunden!«

»Und warum kannte der Mann deinen Namen? Er hat ausdrücklich nach Herrn Dr. Robert Fuchs gefragt. Außerdem könnte ich schwören, dass ich diese Stimme schon einmal gehört habe.«

Fuchs sah sie an wie ein auf frischer Tat ertappter Ladendieb. Mit fahrigen Bewegungen lockerte er seine Krawatte, dann seufzte er. »Also schön, bevor du weiterhin Detektiv spielst: Es war Hagenberg!«

Rina gab einen gereizten Ton von sich, der zum Ausdruck brachte, dass sie etwas Ähnliches schon vermutet hatte. Doktor Otto Hagenberg war Botaniker und gehörte wie Bellamuti zu den Menschen, die seit vielen Jahren eng mit Carlas Familie verbunden waren. Wie auch Maurizio, lebte Hagenberg in seiner ganz eigenen Welt, in der es jedoch nicht um Musik, sondern um Versuche an Pflanzen ging. Er galt als schwierig und unbeholfen im Umgang mit Menschen, doch dass er seinen Kompagnon sogar bis in ein Tanzlokal verfolgte, war neu.

»Vermutlich hat man ihm im Hotel mitgeteilt, wo wir heute Abend zu finden sind«, erklärte Fuchs, als er die fragenden Blicke seiner Frau und Tochter bemerkte. Er rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Er wird behauptet haben, es gehe um Leben und Tod, damit sie ihn verbinden.« Mit fliegenden Fingern stopfte er Tabak in seine Pfeife. »Dabei ist alles in bester Ordnung. Ich hätte die Firma bestimmt nicht verlassen, wenn es anders wäre!«

»Du hättest diesem schrecklichen Mann gar nicht erst sagen sollen, wo wir wohnen«, meinte Carla, welche plötzlich von der Schreckensvision heimgesucht wurde, der Botaniker könnte vor ihrem Tisch auftauchen und wild auf ihren Vater einreden. »Gottlob bist du ihn rasch losgeworden.«

Fuchs starrte gedankenverloren auf die Pfeife in seiner Hand, verzichtete aber darauf, sie anzuzünden.

»Bitte sag, dass er nicht nach Berlin kommt!«, flehte Carla. »Ich möchte ihn nicht zu meiner Verlobungsfeier einladen müssen.« Fuchs versprach schließlich, dass sein Geschäftspartner bestimmt kein weiteres Mal stören würde, weil er ihm bei der nächsten Gelegenheit mit Nachdruck klarmachen wollte, wie unpassend das war, aber Carla hörte ihm längst nicht mehr zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Cocktailbar, wo Harald mit einigen Bekannten plauderte. Nach ihrem letzten Tanz hatte er angeboten, sie den Damen und Herren vorzustellen, doch als sie erfahren hatte, dass seine Freunde der Filmbranche angehörten, hatte sie sich plötzlich geniert und die Begegnung abgelehnt. Worüber sollte jemand wie sie schon mit solchen Leuten reden? Die würden sie doch nur prüfend ansehen und sich fragen, was ein gut aussehender und wohlhabender Bursche wie Harald von Breden nur an einer so wenig glamourösen Erscheinung fand. Je länger Harald indes fortblieb, desto mehr bedauerte Carla ihren Entschluss. Was mochte Harald von ihr denken? Hatte sie ihn blamiert? Wenn sie nach der Hochzeit mit Harald in Berlin leben wollte, musste sie sich daran gewöhnen, mit Presseleuten, Filmschauspielerinnen und Adeligen zu verkehren, ob ihr das nun gefiel oder nicht. Nach einer Weile dachte Carla nicht mehr an Hagenberg und ihre Eltern. Stattdessen beobachtete sie, wie die beiden Männer mit ihrer Begleitung lachend an ihren Tisch zurückkehrten, während Harald mit einer auffallend gut aussehenden, etwas älteren Dame an der Bar zurückblieb. Er schien darüber allerdings nicht sehr glücklich zu sein. Mehrmals versuchte er, das Gespräch zu beenden und sich zu verabschieden, doch die Unbekannte schien ihn nicht entkommen lassen zu wollen. Als er schließlich verstohlen in Carlas Richtung wies, legte die Frau den Kopf in den Nacken und lachte. Allmählich regte sich in Carla Ärger. Sie sah ja ein, dass Harald als höflicher Mensch eine alte Bekannte nicht vor den Kopf stoßen wollte, aber was sich dort an der Bar abspielte, wurde allmählich peinlich – auch für sie. Mit klopfendem Herzen überlegte sie, ob sie zu den beiden gehen und Harald fragen sollte, wie lange er sie denn noch alleine bei ihren Eltern sitzen lassen wollte, aber sie traute sich nicht. Sie war nicht gut darin, eine Szene zu machen, was nicht nur daran lag, dass ihre Erfahrungen mit Rendezvous sich auf ein, zwei Verabredungen mit ehemaligen Studenten aus der Verbindung ihres Vaters beschränkte. Sie verfügte nun mal nicht über Rinas überschäumendes Temperament. Dieses hatte sie ebenso wenig geerbt wie den Modegeschmack ihrer Mutter. Die Unbekannte an der Bar hätte sie vermutlich ausgelacht. Sie trug ein figurbetontes scharlachrotes, tief ausgeschnittenes Abendkleid, das bei jeder ihrer Bewegungen glitzerte, und der schwarze Turban auf ihrem Kopf verlieh ihr etwas Geheimnisvolles. Unwillkürlich fragte sich Carla, wie ihr Haar darunter aussehen mochte. War es platinblond und fiel in Wellen über die zierlichen Schultern? Oder entsprach die Farbe den pechschwarzen geschwungenen Augenbrauen? Ganz egal, bestimmt war es wunderschön und so schillernd wie die gesamte Erscheinung.

Eine Weile beobachtete Carla die Fremde noch, dann hatte sie genug. Sie fühlte sich zurückgesetzt und fragte sich, ob das, was in ihrer Brust brodelte, Eifersucht war. Unmöglich, redete sie sich selbst gut zu. Dazu bestand nun wirklich kein Anlass. Die Frau mit dem Turban mochte eine Schönheit sein, aber Harald sah nicht so aus, als ob er ihr verfallen wäre. Doch warum zum Teufel ließ er sie nicht einfach stehen?

»Sieht die Dame bei Harald nicht ein wenig der Garbo ähnlich?«, flüsterte Rina entzückt. Sie schien keineswegs irritiert, weil eine fremde Frau ihren zukünftigen Schwiegersohn so dreist in Beschlag nahm. »Wenn mich nicht alles täuscht, wohnt sie auch in unserem Hotel. Ich habe sie gestern am Empfang gesehen, sie führte einen entzückenden Pudel an der Leine. Der Kleine trug das gleiche Smaragdhalsband wie sie, nur kleiner natürlich.«

Carla spitzte die Ohren. Das aufdringliche Weib wohnte auch noch in ihrem Hotel. Wenn das kein schlechtes Zeichen war.

»Diese alte Schachtel redet auf den armen Jungen ein wie ein Wasserfall«, bemerkte Fuchs. Er schien erleichtert, dass ihn niemand mehr auf Hagenberg ansprach.

Carlas Mutter pflichtete ihm bei. »Nun ja, vermutlich will er nur höflich sein, und gleich hast du ihn wieder. Heute Abend sollte nichts dein Glück stören!« Die Weise, wie Rina das Wort Glück betonte, erinnerte Carla an einen Knochen, der einem Hund vorgeworfen wurde, um ihn bei Laune zu halten. Noch vor einer halben Stunde hätte sie die Frage, ob sie denn glücklich sei, mit einem seligen Lächeln beantwortet, nun sah es aber ganz anders in ihr aus. Das Orchester spielte längst wieder, doch anstatt zu tanzen, saß sie ohne ihren Verlobten herum und tat sich leid. Erwartete sie einfach zu viel und vergaß, dass Harald bereit war, Opfer zu bringen, indem er ein Mädchen aus der rheinischen Provinz all den lebensfrohen Frauen vorzog, denen er tagtäglich in Berlin begegnete?

»Na endlich«, sagte Carlas Vater, als Harald sich ein paar Minuten später zu ihnen gesellte. Er schenkte seinem zukünftigen Schwiegersohn ein wenig Sekt nach. »Wir dachten schon, die ältere Dame an der Bar will mit Ihnen durchbrennen!« Er blickte erwartungsvoll in die Runde, aber sein Scherz entlockte keinem am Tisch auch nur ein Grinsen. Fuchs verstand es einfach nicht, gelungene Witze zu machen. Wenn andere indessen über etwas lachten, was er sagte, war meistens er derjenige, der nicht begriff, warum.

Harald hauchte Carla einen Kuss auf die Wange und entschuldigte sich wortreich für seine lange Abwesenheit. »Diese Leute arbeiten alle für die Ufa«, erklärte er anschließend. »Einer der Herren ist Regisseur, ich habe erst kürzlich ein Interview mit ihm geführt. Er wird bald zu einer Reise an den Nil aufbrechen, um Drehorte für eine neue Filmproduktion zu suchen. Ein Mammutprojekt, in das vermutlich fast eine Million Reichsmark fließen werden!«

»Ach, dann gehört die Dame mit dem Turban auch zum Film?«, erkundigte sich Rina. »Wie aufregend. Sie hat ja auch etwas … Exotisches an sich, nicht wahr?« Sie nippte an ihrem Glas. »Wird sie vielleicht die Hauptrolle spielen? Ach, bitte verraten Sie es mir doch, Harald, ich sage es auch bestimmt nicht weiter!«

»Nun, das steht noch gar nicht fest«, wehrte Harald ab. »Trotzdem hätte mein Chef mich in hohem Bogen hinausgeworfen, wenn ich der Dame nicht ein paar Fragen gestellt hätte.« Seufzend strich er sich das Haar zurück. »Das ist nun einmal das Los des Zeitungsredakteurs. Ich bin heilfroh, dass Carla so verständnisvoll ist.«

Carla rang sich ein Lächeln ab. Sie hatte nicht einmal geahnt, wie verständnisvoll sie war. Aber so musste es wohl sein, wenn sie stillschweigend ertrug, wie ihr Verlobter Interviews mit alternden Filmdiven führte, während ihr Vater seinen Geschäftspartner am Telefon eines Tanzlokals anfauchte.

4. Kapitel

Harald von Breden bezahlte den Taxifahrer und wies ihn an, auf ihn zu warten. Dann half er Carla aus dem Automobil und begleitete sie und ihre Eltern bis zur Eingangstür. Durch eines der Fenster fiel ein schwacher Lichtschein auf die regennasse Straße. Der Nachtportier war also noch am Empfang.

»Gehen Sie morgen ins Stadion?«, erkundigte sich Harald höflich, als er Fuchs die Hand reichte, um ihm eine gute Nacht zu wünschen.

Carlas Vater unterdrückte ein Gähnen. »Um halb elf beginnt die Vorrunde im Weitsprung. Emil ist schon gespannt wie ein Flitzebogen, wer die Goldmedaille einheimst, dieser Owens oder unser Luz aus Leipzig. Die Damen begleiten uns, und anschließend gehen wir noch ein wenig Flanieren oder trinken eine Berliner Weiße. Sie brauchen sich also nicht um uns zu kümmern. Seien Sie einfach pünktlich im Lokal.« Er nickte Harald anerkennend zu. »Das Restaurant, das Sie ausgewählt haben, ist eine piekfeine Adresse, alle Achtung. Es ist sehr großzügig von Ihnen, uns dorthin auszuführen!«

»Und gewiss war es schwierig, dieser Tage einen Tisch für eine ganze Abendgesellschaft zu bekommen«, pflichtete Rina ihrem Mann kichernd bei. Nicht nur ihre rosigen Wangen ließen erkennen, dass ihr der viele Sekt ein wenig zu Kopf gestiegen war.

»Aber ich bitte Sie, Herr Doktor!«, wehrte Harald ab. »Ich möchte, dass Ihnen diese Tage in Berlin in bester Erinnerung bleiben.« Er zwinkerte Carla charmant zu. »Dir ganz besonders, mein Engel! Ich weiß natürlich, dass du dir deine Verlobung anders vorgestellt hast, aber ich verspreche dir, dass wir alles nachholen.« Blumen, ein Ring für das Mädchen, notierte er in Gedanken. »Das Horcher ist wirklich ein vorzügliches Speiselokal, du wirst sehen.«

»Wenn es den Ansprüchen der Baronin genügt, wird es auch für uns gut genug sein«, sagte Rina. Sie hakte sich bei Carla unter. »Apropos, du solltest nicht versäumen, in der Stadt eine hübsche Kleinigkeit für Frau von Breden zu kaufen.«

»Ach, das ist doch nicht nötig«, wehrte Harald ab.

»Wir bestehen darauf! Carla möchte doch nicht mit leeren Händen dastehen, wenn sie endlich die Bekanntschaft der Frau Baronin macht.«

Harald wartete, bis die Familie seiner Verlobten im Innern des Gebäudes verschwunden war. Ohne Eile steckte er sich eine Zigarette an, um seine Nerven zu beruhigen.

Die Nacht war noch nicht zu Ende, jedenfalls nicht für ihn.

Er hatte sich durch seine eigene Dummheit in eine unangenehme Situation gebracht und konnte nur darauf hoffen, dass der von ihm gewählte Ausweg aus dem Dilemma keine Sackgasse war. Während er den Rauch seiner Zigarette in die tintenschwarze Nacht blies, überlegte er kurz, ob er zu weit ging. Was, wenn Carla Verdacht geschöpft hatte? Noch schien sie zu glauben, was er ihr erzählte, doch sie war nicht so dumm, wie sie manchmal tat. Wenn er so weitermachte wie bisher, würde sie den Braten bald riechen.

»Na, was ist denn nun, Meister?« Die Stimme des Taxifahrers klang gereizt. Er hatte die Scheibe heruntergekurbelt und warf Harald einen verständnislosen Blick zu. »Wollen Sie die ganze Nacht hier herumstehen oder mit mir zurückfahren? Mein Geld ist es ja nicht, was Sie verpulvern …!«

»Halten Sie die Klappe, ich muss nachdenken«, fauchte Harald zurück. In der Lounge des Hotels erloschen nach und nach die letzten Lichter, was bedeutete, dass er handeln musste. Auf keinen Fall wollte er den Nachtportier herausklingeln. Er würde dem Burschen sowieso ein paar Scheine zustecken müssen, damit er den Mund hielt.

Harald schickte das Taxi fort, ihm fehlte ohnehin das Geld, um sich bis nach Hause fahren zu lassen. Keine fünf Minuten später stand er vor dem Zimmer, dessen Nummer er sich im Tanzpalast eingeprägt hatte – Nummer 49. Er klopfte nur ein einziges Mal an, denn das Letzte, was er wollte, war, jemanden um diese Zeit aufzuwecken. Was er vorhatte, war riskant genug. Er hatte keine Ahnung, auf welcher Etage Carla wohnte. Was, wenn ausgerechnet jetzt eine der Zimmertüren aufging und sie vor ihm stand? Oder gar ihr Vater?

Die Frau, die ihn hereinbat, saß vor einem zierlichen Frisiertisch und bürstete ihr langes Haar, was sie allerdings nicht davon abhielt, Harald ungeniert von Kopf bis Fuß zu mustern. »Du hast ein wenig Fett angesetzt«, meinte sie kritisch. »Das ist mir schon im Tanzlokal aufgefallen!«

Harald warf Hut und Mantel auf einen Stuhl, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. Er war nicht gekommen, um zu streiten, obwohl ihm in diesem Augenblick genau danach der Sinn stand. Schweigend sah er sie an. Alle Welt nannte sie nur »Diva« – nicht, weil sie als Schauspielerin große Erfolge gefeiert hatte, sondern weil sie sich benahm, als könnte sie sich alles erlauben. Dabei war es ein Glücksfall für sie gewesen, dass dem reichen Idioten, der sie geheiratet hatte, niemals aufgefallen war, über wie wenig Talent sie wirklich verfügte. Seit Jahren hatte die Diva keinen Fuß mehr in die Ufa-Studios gesetzt, aber an der Bar des Tanzpalasts hatte er gehört, Propagandaminister Goebbels habe sie persönlich nach Berlin gebeten, um eine Rolle zu besetzen. Wenn dies mehr als ein Gerücht war, lohnte es sich auf jeden Fall doppelt, seine alte Bekanntschaft mit der Frau aufzufrischen.

Die Diva bürstete weiter, was ihm die Zeit gab, sich in Ruhe umzuschauen. Das Zimmer war geräumig, geschmackvoll eingerichtet und hübsch dekoriert. Verstörend fand er nur die Unordnung im Raum: Über allen Stuhllehnen hingen Kleider, Blusen und Seidenstrümpfe. Er hätte gern auf dem Sofa Platz genommen, doch es war voller Schuhe.

»Wie pikant, dass deine … Freunde und ich im selben Hotel wohnen, nicht wahr?« Endlich legte die Frau ihre Bürste zur Seite. »Wenn sie dich auf dem Korridor gesehen hätten …« Als sie aufstand, stieg Harald ein Hauch ihres Parfüms in die Nase. Etwas Ausländisches, das er ordinär, aber auch anziehend fand. Er fragte sich, ob Carla sich freuen würde, wenn er ihr so einen Duft zum Geschenk machte.

»Mir wäre schon was Passendes eingefallen«, schnaubte Harald verächtlich. »Vergiss nicht, dass ich für eine Zeitung arbeite!«

»Oh, wie könnte ich das vergessen? Immerhin war ich es, die dir die Anstellung beim Völkischen Beobachter besorgt hat. Ich erinnere mich auch, dass sich deine Dankbarkeit in Grenzen hielt. Weiß dieses Mädchen eigentlich, wie nahe wir uns einmal gestanden haben?«

Harald schwieg, bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren. Keinesfalls durfte er die Diva spüren lassen, wie sehr er sie verabscheute, weil sie seine dunkelsten Geheimnisse kannte, sich aber trotzdem mit ihm traf. Ihre Vorliebe für protzige Juwelen und ausgefallene Kleidung wie den albernen Turban, den sie an der Bar des Residenz-Capitols getragen hatte, verachtete er, und er hasste auch ihre Art, mit ihm zu spielen. Andererseits ließ sich nicht abstreiten, dass sie ihm hin und wieder nützlich war.

»Du hast also eine neue Eroberung gemacht und brauchst Geld?« Sie kam sofort auf den Punkt, als könnte sie in seinen Gedanken wie in einem Buch lesen.

Harald atmete tief durch. Nicht den Beleidigten spielen, befahl er sich. Sie lud ihn ein, weil er gut aussah, blendende Manieren hatte und über einen wachen Verstand verfügte. Doch er machte sich nichts vor: Sobald er sie langweilte, würde sie ihn fortschicken. Seinen Preis würde er ihr später nennen, sobald sie bekommen hatte, was sie von ihm wollte. So lauteten die Regeln, und bis heute hatte keiner von beiden sie gebrochen.

Die Diva näherte sich ihm mit einem gierigen Lächeln auf den Lippen, wobei sie bei jedem Schritt eine Schleife ihres hauchdünnen Seidenmantels öffnete, bis dieser ihr wie von selbst von den schmalen Schultern glitt. Unter dem Negligé war sie nackt.

»Wenn du Geld brauchst«, flüsterte sie ihm zu, »dann verdien es dir!«

Als Fuchs die Tür ihres Hotelzimmers aufschloss, fuhr mit knatterndem Motor ein Automobil am Haus vorbei. Bestimmt Haralds Taxi, ging es ihm durch den Kopf. Auf dem Korridor mit seinen knarrenden Dielen war alles still, doch unten auf der Straße schien das Nachtleben noch in vollem Gange zu sein. Ganz von fern drang die Melodie des Schlagers Ich bin auf der Welt, um glücklich zu sein an sein Ohr, den Emil so gern im Radio hörte. Nachdenklich lauschte er, bis Rina ihn darüber in Kenntnis setzte, dass sie Kopfschmerzen habe und keinen Takt Musik mehr ertrug. Sie verschwand sogleich im Badezimmer, wo sie ihr Necessaire nach Tabletten durchwühlte. Fuchs drückte sein Ohr an die Verbindungstür zum Nebenzimmer, verwarf aber die Idee, nach seinem Sohn zu sehen. Gewiss schlief der Junge nach seinem Kinobesuch längst, und er wollte ihn nicht wecken. Emil litt ohnehin seit geraumer Zeit unter Schlafstörungen, die für einen Jungen seines Alters ungewöhnlich waren und ihrem Hausarzt gar nicht gefielen. Trotz seiner Sportbegeisterung war Emil kränklich und viel zu dünn für sein Alter, was für Fuchs eindeutig daher rührte, dass das Kind von Rina allzu sehr in Watte gepackt wurde. Ihre Angst, er könnte sich verletzen, war schon fast krankhaft. Hier in Berlin blühte Emil jedoch geradezu auf und schlief für gewöhnlich ein, sobald sein Kopf das Kissen berührte.

Das ist die Berliner Luft, zitierte Fuchs eine beliebte Operettenmelodie. Er hängte das Jackett seines schwarzen Abendanzugs über einen Bügel und wollte soeben die Schranktür öffnen, als er den Brief entdeckte. Er lag direkt vor ihm auf dem Fußboden. Jemand musste ihn während seiner Abwesenheit unter der Tür durchgeschoben haben.

Fuchs spürte, wie sein Mund trocken wurde. Sein Herz schlug schneller, und seine Hand zitterte, als er sich nach dem Umschlag bückte. Verstohlen lauschte er auf die Geräusche, die Rina im Badezimmer von sich gab. Sie gurgelte mit Mundwasser, ein Ritual, auf dass sie nicht einmal um zwei Uhr in der Früh verzichten wollte. Niemals wäre sie mit schlechtem Atem ins Bett geschlüpft.

Eine Weile starrte Fuchs den Brief nur an, als hoffte er, das Papier würde sich auflösen wie Schnee in der Sonne, wenn er es nur lange genug in den Händen hielt. Er wusste genau, wer ihm geschrieben hatte: dieselbe Person, die ihn im Tanzlokal am Telefon hatte sprechen wollen. Es war nicht Hagenberg gewesen, das hatte er nur behauptet, um seine Familie in Sicherheit zu wiegen. Die Wahrheit konnte er ihnen nicht sagen, weil er damit nicht nur sein, sondern auch ihr Leben bedrohte. Seine Firma, Carlas Zukunft als Ehefrau dieses jungen Reporters, kurzum alles, was sie sich in mühevoller Arbeit aufgebaut hatten, konnte mit einem Schlag zunichtegemacht werden, wenn die falschen Leute auf ihn aufmerksam wurden. Natürlich konnte er so tun, als habe ihn der Brief nie erreicht. Aber sein Verfasser war hartnäckig. Er würde einen weiteren schicken, und dann noch einen. So lange, bis Fuchs reagierte. Aus diesem Grund musste er eine Entscheidung treffen, so schwer es ihm auch fiel, das war er seiner Familie schuldig. Carla stand kurz vor der Hochzeit mit einem Baron, und diese Heirat stellte eine Lebensversicherung dar, einen Schutz, für den er selbst vermutlich nicht mehr lange würde sorgen können. Carlas Sicherheit durfte um keinen Preis gefährdet werden.

Fuchs dachte nach, wobei er den Brief unschlüssig in der Hand zerknüllte. Sein Verfasser war also ebenfalls im Tanzpalast gewesen. Er hatte sie dort beobachtet, und als Fuchs ihn am Telefon barsch abgewimmelt hatte, war er auf die Idee mit dem Brief gekommen. »Dieser Idiot«, murmelte Fuchs. »Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Er bringt uns alle in Gefahr!«