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Kurz vor Weihnachten verpasst er ihr einen Strafzettel? Miranda sollte sauer auf den Gesetzeshüter sein. Aber als sie die tiefe Traurigkeit in seinen Augen sieht, hat sie nur noch einen Wunsch: den attraktiven Cop Colin Kirby persönlich vom Fest der Liebe zu überzeugen …
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Seitenzahl: 174
IMPRESSUM
Der Cop unterm Mistelzweig erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2017 by Marie Rydzynski-Ferrarella Originaltitel: „Christmastime Courtship“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA, Band 90 Übersetzung: Stefanie Rose
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A., Roman Rybalko / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 07/2023
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751522038
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Die Weihnachtszeit fängt auch jedes Jahr früher an“, dachte Miranda Steele, als sie auf der Haupteinkaufsstraße im Stau stand und die vielen, mit Einkaufstüten vollbepackten Passanten beobachtete.
Nicht dass sie das stören würde. Weihnachten war eigentlich ihre liebste Zeit im Jahr. Wenn andere nörgelten, dass die Geschäfte schon im Oktober festlich geschmückt wurden, um den Umsatz zu steigern, sah sie darin die Möglichkeit, länger in Weihnachtsstimmung zu sein.
In Momenten wie diesen wurde aber selbst ihr die damit verbundene Hektik zu viel. Sie kam gerade von einer Zehn-Stunden-Schicht im Krankenhaus, zu der sie auch noch eine Stunde früher erschienen war, um die Kinderkrebsstation, auf der sie arbeitete, weihnachtlich zu dekorieren. Das war ihr besonders wichtig, weil sie wusste, dass es für einige der Kinder das letzte Weihnachtsfest sein würde.
Doch auch wenn diese Tatsache traurig und manchmal schwer zu verdauen war, konzentrierte sich Miranda stets auf das Positive. In diesem Fall war das, den Kindern und ihren Familien das beste Weihnachten zu bescheren, das unter diesen Umständen möglich war.
Jeder andere wäre nach einem solchen Tag auf dem Heimweg und würde sich auf ein wohlverdientes, ausgiebiges Schaumbad freuen. Doch dafür hatte Miranda keine Zeit, auch wenn sie sich danach sehnte. Sie musste noch zu Lilys Geburtstagsfeier.
Lily Hayden wurde heute acht. Sie war eines der vielen Kinder, die mit ihren Müttern im Frauenhaus von Bedford lebten, in dem Miranda vier Tage die Woche ehrenamtlich aushalf.
Die restlichen zwei oder drei Feierabende verbracht sie im örtlichen Tierheim, wo sie sich um herrenlose Hunde und Katzen – und manchmal Kaninchen – kümmerte. Sie hatte eben ein Herz für alle Ausgestoßenen und Heimatlosen, ob sie nun zwei oder vier Beine hatten.
Für sie war ihr Tag allerdings einfach nicht lang genug, um all diesen armen Wesen zu helfen. Nervös blickte sie auf die Uhr am Armaturenbrett ihres Autos. Auf keinen Fall durfte sie zu spät kommen.
„Wenn ich nicht rechtzeitig mit diesem Kuchen auftauche, wird Lily denken, dass ich sie völlig vergessen habe. Genau wie ihre Mom“, murmelte Miranda.
Lilys Mutter hatte vor zwei Tagen ihre Tochter im Frauenhaus zurückgelassen, um auf Arbeitssuche zu gehen. Keiner hatte seitdem wieder etwas von ihr gehört. Und so langsam machte Miranda sich Sorgen, dass Gina Hayden einfach alles zu viel geworden war und sie sich abgesetzt hatte mit der Ausrede, ihr kleines Mädchen wäre ohne sie besser dran.
Als der Stau sich endlich auflöste, trat Miranda das Gaspedal durch und bog an der nächsten Ecke scharf rechts ab, wobei sie mit der rechten Hand die Kuchenschachtel auf dem Beifahrersitz festhielt. Da sie nur daran dachte, nicht zu spät zum Frauenhaus zu kommen, bemerkte sie die rot-blauen Lichtsignale hinter ihr nicht, bis sie den schrillen Ton der Sirene hörte und ihr der Schreck in die Glieder fuhr.
Verflixt, wieso ausgerechnet heute? dachte sie, als sie ergeben rechts ranfuhr. Ihre rebellische Ader ließ sie kurz mit dem Gedanken spielen, erneut Gas zu geben und der Polizeistreife einfach davonzurasen.
Allerdings saß der Hüter des Gesetzes auf einem schweren Motorrad, und ihr Auto war fünfzehn Jahre alt und nicht in Bestform. Eine Verfolgungsjagd würde sie damit eher nicht für sich entscheiden.
Also seufzte sie nur und wartete brav auf ihren Strafzettel.
Das hier war nicht Colins übliche Streife. Er musste in den nächsten Wochen einen Kollegen vertreten, aber das war ihm egal. Für Colin war eine Route so gut wie jede andere. Immerhin wurde er in Bedford von den Leuten höchstens mal mit bösen Blicken abgeschossen, statt wie in seiner Zeit in Los Angeles oder Afghanistan tatsächlich unter Beschuss zu geraten.
Hier bestand die größte Gefahr darin, vor Langeweile im Dienst einzuschlafen. Allerdings war ihm nach all dem, was er in den letzten zehn Jahren durchgemacht hatte, ein wenig Langeweile durchaus willkommen. Zumindest für eine gewisse Zeit.
Was er aber immer noch nicht mochte, war, sich am Ende einer Unterführung zu verstecken und darauf zu warten, einem arglosen Mitbürger einen Strafzettel verpassen zu können.
Doch so waren hier die Regeln, und im Augenblick ließ sich daran nichts ändern. Vor allem war er wegen Tante Lily in Bedford, bei der er vieles gutzumachen hatte. Sie hatte ihm ein Zuhause gegeben, als ihn alle anderen verlassen hatten, und statt sich dankbar zu zeigen, war er abweisend gewesen und hatte sie vor den Kopf gestoßen. Und das war nicht ihre Schuld gewesen, sondern ganz allein seine.
Allerdings hatte er jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er musste sich um eine Temposünderin kümmern, die noch dazu so unaufmerksam gewesen war, dass sie Colin erst bemerkt hatte, als er die Sirene einschaltete.
Wenigstens war sie keine der Verrückten, die dachten, sie könne sich mit ihm eine Verfolgungsjagd liefern, denn sie fuhr rechts ran.
Auf dem Weg zu ihr wappnete sich Colin für das, was nun unweigerlich folgte. Entweder würde die Fahrerin in Tränen ausbrechen und versuchen, sich um einen Strafzettel zu drücken, indem sie an seine ritterliche Ader appellierte, oder sie würde ihn ankeifen, ob er nichts Besseres zu tun hätte, als brave Bürger wegen minimaler Geschwindigkeitsüberschreitungen zu belästigen, wenn so viele echte Verbrecher frei herumliefen.
Nachdem er das Motorrad hinter dem altersschwachen Wagen abgestellt hatte, ging er zum Fenster an der Beifahrerseite, weil viel Verkehr herrschte und er sich nicht über den Haufen fahren lassen wollte.
Er klopfte an die Scheibe und bedeutete der Fahrerin, sie herunterzulassen. Sie wirkte nervös. Aber da hätte sie eben über die Konsequenzen nachdenken sollen, bevor sie viel zu schnell die Hauptstraße entlanggebrettert war.
„Sie wissen, warum ich Sie angehalten habe?“, fragte er barsch.
Die Frau holte Luft, bevor sie antwortete: „Weil ich zu schnell gefahren bin.“
Etwas überrascht über ihre einfache Antwort, wartete Colin auf den Rest. Doch das war alles gewesen. Sie versuchte nicht, sich herauszureden oder ihn zu beeinflussen.
Das war ungewöhnlich. Normalerweise waren die Menschen hier nicht so gelassen und höflich. Deshalb blieb er wachsam, falls sich ihre Haltung noch ändern sollte.
„Genau“, sagte er. „Sie sind zu schnell gefahren. Gibt es einen speziellen Grund dafür?“
Natürlich gab er ihr damit die perfekte Vorlage, um doch noch mit einer tränenreichen Rührstory aufzuwarten – dass jemand Wichtiges in ihrem Leben gerade einen Herzinfarkt gehabt hatte und sie auf dem Weg ins Krankenhaus war, zum Beispiel. All das hatte er schon Hunderte Male gehört. Manchmal wurden die Ausreden auch noch kreativer.
Zugegeben, er war schon ein wenig neugierig, was diese Fahrerin ihm auftischen würde.
„Im Frauenhaus wartet ein Mädchen auf mich. Die Kleine hat heute Geburtstag, und ich bringe ihr einen Kuchen. Die Party fängt in zehn Minuten an, und ich konnte bei der Arbeit erst später weg, als ich dachte. Ich arbeite im Krankenhaus, und wir hatten einen Notfall“, setzte sie als Erklärung nach.
„Wo denn da?“, fragte Colin, gespannt darauf, wie weit sie ihre Geschichte ausschmücken würde.
„Auf der Kinderkrebsstation.“
Das hätte er sich denken können. „Ach, wirklich?“, fragte er, ohne seinen Zweifel zu verbergen.
Doch das schien die Frau nicht zu beeindrucken. Sie zupfte an einem Band, das sie um den Hals trug, und zeigte ihm ihren Dienstausweis. Tatsächlich, vom Krankenhaus. Jetzt fiel ihm auch auf, dass sie noch immer Schwesternkleidung trug.
„Ja, wirklich, Officer“, erwiderte sie höflich. „Und jetzt schreiben Sie mir bitte den Strafzettel, damit ich weiterfahren kann. Ich kann es noch immer pünktlich zur Party schaffen. Ich will nicht, dass Lily denkt, ich hätte sie vergessen. Vor allem heute nicht.“
Er hatte seinen Block bereits gezückt, doch der Name ließ ihn innehalten. „Lily?“, fragte er.
„Ja, so heißt sie. Lily.“
Bemüht, unbeeindruckt auszusehen, blickte Colin die Frau prüfend an und überlegte, ob ihre Geschichte doch stimmte oder ob sie versuchte, ihn reinzulegen. Aber von seiner Tante konnte sie ja wohl wirklich nichts wissen.
„Meine Tante heißt auch Lily“, erklärte er und beobachtete genau ihren Gesichtsausdruck, um zu sehen, ob sie Märchen erzählte.
„Das ist ein hübscher Name“, sagte die Frau, dann wartete sie offenbar wieder darauf, dass er das Knöllchen ausstellte.
Colin zögerte und überdachte die Situation. Und dann tat er etwas, was er normalerweise nie tat. Was er tatsächlich noch nie getan hatte. Er klappte den Block zu.
„Na gut, ich lasse Sie mit einer mündlichen Verwarnung davonkommen“, sagte er. „Passen Sie auf sich auf.“
Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging zurück zu seinem Motorrad.
Eigentlich war die Sache damit für ihn erledigt. Doch er war gerade wieder aufgestiegen, als er sah, dass sich die Autotür öffnete und die Frau aus ihrem Wagen stieg.
„Officer?“, rief sie ihm zu.
Was sollte das jetzt? Er seufzte und stieg wieder von der Maschine.
„Ist noch was, Miss?“, fragte er, nicht besonders um Freundlichkeit bemüht.
Sie trat auf ihn zu und versuchte, ihm durch sein Helmvisier in die Augen zu blicken. Mut hatte sie, das musste man ihr lassen.
„Ich wollte nur Danke sagen.“
Colin gab einen unbestimmten Laut von sich, weil „gern geschehen“ seiner Meinung nach nicht unbedingt zur Situation passte. Er hatte es nicht gern getan, er hatte nur einem Impuls nachgegeben. Und im Nachhinein betrachtet, hätte er nicht mal sagen können, woher der gekommen war.
„Haben Sie eine Karte?“, fragte die Frau.
„Eine Karte?“ Jetzt wusste er gar nicht mehr, was los war.
„Ja, so was wie eine Visitenkarte. Die Polizeibehörde druckt doch so was für ihre Beamten, oder?“
Anstatt ihre Frage zu beantworten oder eine der Karten hervorzuziehen, die er tatsächlich in der Tasche hatte, fragte er: „Wozu brauchen Sie meine Karte? Ich habe nichts getan, wofür Sie mich melden könnten.“
„Ich will Sie doch nicht melden“, erwiderte die Frau überraschend freundlich. „Ich möchte Sie nur gern anrufen können.“
Ach, das war es, dachte Colin. Ein Groupie. Es gab eine Menge Frauen, die auf Männer in Uniform standen. Einige konnten dabei recht lästig werden.
Er stieg wieder auf sein Motorrad. „Das ist keine gute Idee“, sagte er so schroff, dass sie die Botschaft hoffentlich verstand.
„Aber die Kinder im Krankenhaus würden sich so darüber freuen, einen echten Motorradpolizisten kennenzulernen“, sagte die Frau unbeirrt.
Das kam nun wirklich unerwartet. Seit er in Bedford lebte, hatte er nichts mehr mit Kindern zu tun. Und die, denen er in Los Angeles in den Problemvierteln begegnet war, sahen Polizisten als Feinde und flüchteten bei ihrem Anblick. Wenn sie nicht gerade mit Steinen nach ihnen warfen.
„Hören Sie, ich glaube nicht …“
Weiter kam er gar nicht, denn sie redete munter weiter. „Viele der Kinder haben das Krankenhaus schon seit Monaten nicht verlassen können. Es würde sie unglaublich aufbauen, Sie zu treffen.“
Was für eine Masche war das denn? Irgendwas war hier im Busch, aber Colin würde dieser Frau nicht in die Falle gehen.
„Das bezweifle ich“, sagte er kühl und ließ den Motor aufheulen.
„Ich nicht.“ Diese Frau war wirklich hartnäckig. Und sie redete immer noch. „Warum kommen Sie nicht einfach im Krankenhaus vorbei, und wir sehen, wer von uns beiden recht hat? Ich muss das zwar noch mit der Oberschwester abklären, aber sie sagt bestimmt nicht Nein.“
„Aber ich sage Nein.“ Und falls sie das immer noch nicht begriff, fügte er etwas lauter hinzu: „Nein!“
„Aber Officer …“ Sie blickte mit großen Augen zu ihm auf. „Es ist doch Weihnachten!“
Weihnachten? „Wir haben November“, korrigierte er.
„Na gut, bald ist Weihnachten.“
Gab diese Frau niemals auf? So langsam nervte sie.
„Hören Sie, warum steigen Sie nicht einfach wieder in Ihren Wagen und fahren weiter, bevor ich es mir anders überlege mit dem Strafzettel? Und hatten Sie nicht irgendwas von einer Geburtstagsparty für ein kleines Mädchen namens Lily erzählt?“
„Ach du liebe Güte! Lily!“, rief Miranda erschrocken aus. Sie war so begeistert von ihrer Idee gewesen, dass sie ihre aktuelle Mission darüber ganz vergessen hatte. „Sie wird wirklich traurig sein, wenn ich nicht rechtzeitig auftauche.“
Sie drehte auf dem Absatz um und hastete zu ihrem Auto, dessen Motor sie schon anließ, bevor sie die Tür ganz geschlossen hatte.
„Denken Sie an das Tempolimit!“, rief der Motorradpolizist ihr nach.
Mittlerweile hatte der Verkehr sich beruhigt, und Miranda gab sich große Mühe, nicht zu sehr aufs Gas zu treten. Der Officer würde sie bestimmt beobachten, also fädelte sie sich vorschriftsmäßig in den Verkehr ein und achtete darauf, dass die Tachonadel im grünen Bereich blieb.
Auch wenn sie in Eile war, machte sie sich im Geiste eine Notiz, Namen und Nummer des Polizisten, der seine Karte nicht rausrücken wollte, herauszufinden. Hier war das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Alle Ampeln waren auf Grün geschaltet, und so schaffte sie es mit nur fünfzehn Minuten Verspätung, das Frauenhaus zu erreichen. Zum Glück fand sie gleich einen Parkplatz vor der Tür, griff nach der Kuchenschachtel und ihrer übergroßen Handtasche und eilte durch den Haupteingang – wo sie fast mit dem blonden kleinen Mädchen zusammenstieß, das hier auf sie gewartet hatte.
„Du bist da!“, rief Lily überglücklich.
„Natürlich bin ich da“, erwiderte Miranda und küsste Lily auf den Scheitel. „Das habe ich doch versprochen. Ich würde doch deinen Geburtstag nicht verpassen.“
Aufgeregt trippelte Lily neben ihr her und betrachtete die Schachtel. „Ist da ein Kuchen drin?“
„Oh nein, du hast es erraten“, antwortete Miranda und tat so, als wäre sie enttäuscht, dass ihr Geheimnis aufgeflogen war. „Wie bist du denn darauf gekommen?“
„Die Schachtel“, erwiderte Lily ernst, dann brach sie in Kichern aus. „Und ich rieche Kuchen.“
„Nun ja, da du es erraten hat, darfst du den Kuchen wohl auch behalten“, erklärte Miranda.
Lily platzte fast vor Aufregung. „Kann ich ihn tragen?“
„Er ist ziemlich schwer. Wie wäre es, wenn ich ihn in den Speisesaal trage, und du machst dann die Schachtel auf und stellst den Kuchen auf den Tisch?“
„Okay!“ Wie immer war Lily bereit, allem zu folgen, was Miranda vorschlug.
„Was für ein Kuchen ist es?“, fragte sie auf dem Weg, ohne die Schachtel einmal aus den Augen zu lassen.
„Ein Geburtstagskuchen“, erwiderte Miranda todernst.
Wieder kicherte die Kleine fröhlich. „Das weiß ich doch, Dummerchen. Ich meine, was für ein Geburtstagskuchen?“
„Ein leckerer“, spielte Miranda das Spiel weiter.
„Und außerdem?“
„Ein Zitronenkuchen mit Vanilleguss“, verriet Miranda schließlich, als sie die Tür zum Speisesaal erreichten.
Lily machte große Augen. „Aber das ist mein absoluter Lieblingskuchen auf der ganzen Welt!“
„Nein, so ein Zufall! Das habe ich nicht gewusst.“
„Doch, hast du.“
Miranda lächelte dem Kind liebevoll zu. „Ja, ich denke, ich habe es gewusst. Rate mal, was ich noch mitgebracht habe.“
„Kerzen?“, flüsterte Lily hoffnungsvoll.
„Genau. Acht bunte und eine dicke Glückskerze.“
Statt einer Antwort schob Lily einen ihrer dünnen Arme unter Mirandas und umarmte ihn fest. Es versetze Miranda einen Stich ins Herz. Lily war so ein liebes Kind. Andere Kinder hätten sich Spielsachen gewünscht oder teure Videogames und wären nicht halb so aufgeregt gewesen wie Lily, deren größtes Glück ein Geburtstagskuchen war – mit Kerzen.
Jetzt kam auch Amelia Sellers heran, die große, knochige Frau, die das Frauenhaus leitete. Ihr Lächeln war warm und herzlich – und möglicherweise auch ein wenig erleichtert.
„Lily hat sich den ganzen Tag hierauf gefreut“, sagte sie statt einer Begrüßung.
„Ich auch“, versicherte Miranda sowohl der Leiterin als auch Lily, die mit großen bewundernden Augen zu ihr aufblickte.
„Ich habe den Tisch gedeckt“, verkündete Amelia. „Lasst uns anfangen.“
Wie versprochen, durfte Lily die Schachtel öffnen und den Kuchen auf die Platte stellen. Miranda verteilte die Kerzen so, dass Lily sie alle auf einmal würde ausblasen können. Während sie sie anzündete, ließ Amelia die anderen Kinder und Frauen herein.
„Also gut“, sagte sie in die Runde, als alle Kerzen brannten. „Erst singen wir!“
Sie stimmte die ersten Takte von „Happy Birthday“ an, und die kleine Gruppe fiel mehr laut als melodisch begeistert ein. Lily strahlte übers ganze Gesicht.
Nach dem Lied sagte Miranda: „Und jetzt, Lily, wünsch dir was und blas die Kerzen aus. Du darfst den Wunsch aber nicht laut sagen.“
Lily nickte, schloss die Augen und dachte offenbar gründlich nach, was sie sich wünschen würde. Dann blickte sie zu Miranda auf und lächelte, atmete tief ein, beugte sich zum Kuchen vor und blies mit aller Kraft. Die Kerzen flackerten und gingen dann aus.
„Du hast sie alle erwischt“, rief Miranda und klatschte in die Hände. Die anderen Kinder und Erwachsenen schlossen sich dem Beifall an und jubelten.
Miranda spürte, wie jemand an ihrer Schwesternkleidung zupfte. Als sie nach unten blickte, sah sie das erwartungsvolle Gesicht einen kleinen Jungen, der Paul hieß.
„Können wir jetzt den Kuchen auch essen?“, fragte er.
„Aber sicher“, sagte sie „Doch Lily bekommt das erste Stück.“
Sie nahm die neun Kerzen vom Kuchen und legte sie auf eine Serviette, dann schnitt sie ein extra großes Stück für Lily ab. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Lily die Kerzen in die Serviette wickelte und in ihre Jeanstasche steckte. Eine Erinnerung an ihren großen Tag.
„Bitte schön“, sagte Miranda und schob ihr den Teller hin.
„Danke“, sagte Lily und aß den Kuchen dann langsam und genüsslich, während die anderen Kinder ihre Stücke heißhungrig verschlangen.
„Das war der beste Kuchen, den ich je gegessen habe“, erklärte Lily, als sie endlich lange nach den anderen fertig war.
Inzwischen war der Kuchen alle, doch das hatte Miranda erwartet. Sie schob Lily ihren eigenen Teller hin. „Möchtest du noch ein Stück?“
Lily betrachtete das Stück sehnsüchtig, doch sie schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.“
„Wieso nicht?“
„Das ist doch dein Stück!“
Gerührt lächelte Miranda ihr zu. Die Kleine war wirklich etwas ganz Besonderes.
„Aber ich habe es extra für dich aufgehoben“, sagte sie. „Ich habe mir nämlich schon gedacht, dass der Kuchen schnell weg ist. Also keine Widerrede, greif zu. Das ist dein Kuchen.“
„Wirklich?“, fragte Lily unsicher.
„Wirklich“, versicherte Miranda. „Ich bin die Erwachsene, du musst tun, was ich sage.“
Strahlend machte sich Lily über ihr zweites Stück her.
Als sie fertig war, räumte Miranda die Teller ab.
Lily umarmte sie fest. „Das war der beste Kuchen der Welt!“
„Das freut mich. Übrigens, ich habe hier noch etwas für dich.“
„Für mich?“, rief Lily überrascht. Offenbar hatte sie nach dem Kuchen nicht noch ein Geschenk erwartet. „Was denn?“
Miranda kramte in ihrer Tasche und holte das Geschenk hervor, das sie heute früh noch vor ihrer Schicht liebevoll eingepackt hatte.
„Mach es doch auf und finde es heraus“, schlug sie vor.
Lily hielt das Päckchen, als könne sie sich nicht entscheiden, das Geschenk auszupacken oder es einfach eine Weile bewundernd anzustarren. Schließlich siegte ihre Neugier und sie löste vorsichtig an einer Stelle den Klebestreifen und schob das Papier zur Seite – dann quietschte sie vor Freude.
„Ein Hund!“
„Na ja, einen echten Hund darfst du hier im Frauenhaus nicht halten, deshalb habe ich dir einen aus Plüsch mitgebracht. Aber eines Tages, wenn du wieder in einem richtigen Haus wohnst, bringe ich dir einen echten“, versprach sie.
Im Tierheim gab es leider so viele herrenlose Hunde, dass sie problemlos genau den richtigen für dieses kleine Mädchen finden würde.
Wieder schlang Lily die Arme um sie und drückte sie fest. „Danke für meinen Kuchen und meine Kerzen und meinen Hund. Danke für alles! Ich wünschte nur, meine Mom wäre auch hier.“
Den Tränen nahe drückte Miranda die Kleine an sich. Wenn sie doch nur mehr für sie tun könnte!
Und dann kam ihr eine Idee. Sie musste den Motorradpolizisten finden. Nicht, um ihn ins Krankenhaus mitzunehmen – das hob sie sich für später auf –, sondern damit er ihr half, herauszufinden, wo Lilys Mutter steckte. Der Mann hatte doch ganz andere Mittel und Wege als sie.
Wenn sie ihn gefunden hatte, musste sie einfach an seinen Gerechtigkeitssinn oder seine Menschlichkeit appellieren – oder an was auch immer ihn dazu bewegen würde, nach Lilys Mutter zu suchen.
Lächelnd strich sie Lily über die blonden Locken. Endlich hatte sie eine Lösung für dieses Problem gefunden.