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Ein mörderischer Albtraum
Eine kurze Liebesaffäre entwickelt sich zu einem mörderischen Albtraum: Mirandas neuer Freund schleicht sich in ihr Leben, spioniert sie aus, verfolgt sie, verbündet sich mit ihrer Familie. Sie warnt ihre Liebsten vor dem Psychopathen, doch alle halten Miranda für krankhaft eifersüchtig und hysterisch. Erst als ihr kaum noch Luft zum Atmen bleibt, schlägt sie mit dem Mut der Verzweiflung zurück.
Nicci French zeichnet ein genaues und überaus beklemmendes Psychogramm einer totalen Kontrolle - die Geschichte einer tödlichen Obsession.
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Seitenzahl: 481
Nicci French
Der falsche Freund
Thriller
Deutsch von Birgit Moosmüller
Buch
Eine kurze Liebesaffäre entwickelt sich zu einem mörderischen Albtraum: Mirandas neuer Freund schleicht sich in ihr Leben, spioniert sie aus, verfolgt sie, verbündet sich mit ihrer Familie. Sie warnt ihre Liebsten vor dem Psychopathen, doch alle halten Miranda für krankhaft eifersüchtig und hysterisch. Erst als ihr kaum noch Luft zum Atmen bleibt, schlägt sie mit dem Mut der Verzweiflung zurück.
Nicci French zeichnet ein genaues und überaus beklemmendes Psychogramm einer totalen Kontrolle – die Geschichte einer tödlichen Obsession.
Autorin
Nicci French – hinter diesem Namen verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit über 20 Jahren sorgen sie mit ihren außergewöhnlichen Psychothrillern international für Furore und verkauften weltweit über 8 Mio. Exemplare. Besonders beliebt sind die Bände der Frieda-Klein-Serie. Die beiden leben in Südengland.
»Nicci French schreibt brillante Psyothriller, die unter die Haut geht.« Frankfurter Rundschau
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Secret Smile« bei Michael Joseph, an imprint of Penguin Books, London.
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Copyright © 2002 by Joint-Up Writing Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 beim C. Bertelsmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlag: buerosued, München unter Verwendung eines Motivs von plainpicture.com/Goto-Foto/Neville Mountford Hoare Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24604-4V002
www.cbertelsmann.de
www.randomhouse.de
FÜR PATRICK UND NORMA
Ich träume neuerdings immer wieder den gleichen Traum, und jedes Mal kommt es mir vor, als wäre der Traum Realität. Ich bin wieder auf der Schlittschuhbahn, an jenem Nachmittag, als ich Brendan kennen lernte. Ich spüre die Kälte auf meinem Gesicht, ich höre das Kratzen der Kufen auf dem Eis, und dann sehe ich ihn. Er schaut mit diesem seltsamen, für ihn so typischen Blick zu mir herüber, als würde er mich zwar irgendwie wahrnehmen, gleichzeitig aber an etwas anderes denken. Mir fällt jedes Mal von neuem auf, dass er gut aussieht, wenn auch auf eine Art, die wahrscheinlich nicht jeden ansprechen würde: Sein Haar ist so glänzend schwarz wie das Gefieder eines Raben, sein Gesicht oval. Er hat ausgeprägte Wangenknochen und ein markantes Kinn. Seine Miene wirkt amüsiert, als hätte er einen Witz vor allen anderen begriffen. Das gefällt mir an ihm. Wieder sieht er mich an, diesmal genauer, und dann kommt er herüber, um hallo zu sagen. Und in meinem Traum denke ich: Gut. Ich bekomme eine zweite Chance. Es muss nicht passieren. Diesmal kann ich es beenden, bevor es überhaupt richtig angefangen hat.
Aber ich tue es nicht. Ich lächle über das, was er zu mir sagt, und antworte etwas. Was ich sage, weiß ich nicht, ich kann die Worte nicht hören, aber es muss etwas Lustiges sein, denn Brendan lacht und erwidert etwas, woraufhin ich ebenfalls lache. Und so geht es weiter, hin und her. Wir sind wie Schauspieler in einer schon lange laufenden Fernsehserie; wir können unseren Text im Schlaf, und ich weiß genau, was mit diesem Jungen und diesem Mädchen passieren wird. Sie kennen sich noch nicht, aber er ist ein Freund eines Freundes von ihr, weshalb es sie beide wundert, dass sie sich noch nicht über den Weg gelaufen sind. In diesem Traum, von dem ich gleichzeitig weiß und nicht weiß, dass es ein Traum ist, versuche ich mir selbst Einhalt zu gebieten. Eine Schlittschuhbahn ist ein guter Ort zum Kennenlernen, vor allem, wenn weder der Junge noch das Mädchen Schlittschuh laufen können. Das bedeutet nämlich, dass sie sich aneinander lehnen müssen, um sich gegenseitig zu stützen. Der Junge ist fast gezwungen, den Arm um das Mädchen zu legen, und als die beiden trotzdem auf dem Eis landen, helfen sie einander auf und lachen über ihr gemeinsames Missgeschick. Hinterher hilft der Junge dem Mädchen beim Ausziehen der Schlittschuhe, deren Schnürsenkel gefroren sind, und sie legt dabei ihren Fuß auf seinen Schoß, weil es auf diese Weise leichter geht. Als sich die Gruppe aufzulösen beginnt, ist es nur normal, dass er das Mädchen nach seiner Telefonnummer fragt.
Zu ihrer eigenen Überraschung zögert sie kurz. Es hat Spaß gemacht, aber kann sie so etwas im Moment überhaupt gebrauchen? Sie betrachtet den Jungen. Seine Augen glänzen von der Kälte, und er lächelt sie erwartungsvoll an. Da fällt es ihr leichter, ihm die Nummer zu geben, auch wenn ich schon die ganze Zeit schreie, dass sie es nicht tun soll. Aber es ist ein stummes Schreien, und das Mädchen bin ja sowieso ich, bloß dass sie noch nicht weiß, was passieren wird – ich aber schon.
Ich frage mich, wie es kommt, dass ich es bereits weiß. Ich weiß, sie werden zweimal miteinander ausgehen – auf einen Drink, ins Kino – und dann, auf ihrem Sofa, wird sie denken: Na ja, warum eigentlich nicht? Und deswegen denke ich, dass gerade mein Wissen um das, was passieren wird, bedeutet, dass ich nichts daran ändern kann, kein noch so kleines Detail. Ich weiß, dass sie noch zweimal miteinander schlafen werden. Oder dreimal? Immer in der Wohnung des Mädchens. Nach dem zweiten Mal entdeckt sie eine fremde Zahnbürste neben ihrer eigenen. Einen Moment lang ist sie ziemlich perplex. Darüber wird sie erst noch nachdenken müssen. Sie wird nicht viel Gelegenheit dazu haben, denn am nächsten Nachmittag wird ihr die Entscheidung abgenommen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt – wenn das Mädchen nach Hause kommt und die Tür ihrer Wohnung öffnet – wache ich auf.
Nach Wochen grauen Nieselregens endlich wieder ein schöner Herbstnachmittag: ein leuchtend blauer Himmel, der erst jetzt gegen Abend ein wenig von seiner Intensität zu verlieren begann, dazu ein scharfer Wind, der bunte Blätter von den Bäumen wehte. Es war ein langer Tag gewesen, an dem ich die meiste Zeit auf einer Leiter gestanden und eine Zimmerdecke gestrichen hatte. Mein Nacken und mein rechter Arm schmerzten, mein ganzer Körper fühlte sich staubig und verspannt an. An den Handgelenken und im Haar hatte ich weiße Farbspritzer. Ich freute mich auf einen ruhigen Abend allein: ein heißes Bad, ein gemütliches Abendessen im Bademantel vor dem Fernseher. Käsetoast, dachte ich. Kaltes Bier.
Ich öffnete meine Wohnungstür und ging hinein, ließ meine Tasche auf den Boden fallen. In dem Moment sah ich ihn: Brendan saß auf dem Sofa, besser gesagt, er lag, ein Kissen unter den Füßen. Neben ihm auf dem Boden stand eine Tasse Tee, und er las etwas, das er zuklappte, als ich hereinkam.
»Miranda.« Er schwang die Beine von der Couch und stand auf. »So früh habe ich dich gar nicht erwartet.« Mit diesen Worten fasste er mich an den Schultern und küsste mich auf den Mund. »Möchtest du eine Tasse Tee? In der Kanne ist noch welcher. Du siehst ziemlich fertig aus.«
Ich war ratlos, was ich ihn als Erstes fragen sollte. Er wusste doch kaum etwas über meine Arbeit. Was machte er sich da Gedanken, wann ich nach Hause kam? Aber vor allem, was hatte er in meiner Wohnung zu suchen? Er benahm sich, als wäre er bei mir eingezogen.
»Was machst du hier?«
»Ich habe mich selbst reingelassen«, antwortete er. »Mit dem Schlüssel unter dem Blumentopf. Das ist doch in Ordnung, oder? Übrigens hast du Farbe im Haar.«
Ich griff nach dem Buch, das auf dem Sofa lag. Ein altes Schulheft mit einem festen roten Einband. Die Farbe war verblasst, der Rücken zerschlissen. Eins von meinen alten Tagebüchern.
»Das ist persönlich«, sagte ich. »Persönlich!«
»Ich konnte nicht widerstehen«, erklärte er mit seinem spitzbübischen Lächeln. Angesichts meiner wütenden Miene hob er entschuldigend die Hände. »Hab schon verstanden, tut mir Leid, es war nicht richtig. Aber ich möchte alles über dich wissen. Ich wollte bloß herausfinden, wie du warst, bevor ich dich kennen lernte.« Er berührte sanft meinen Kopf, als wollte er die Farbe aus meinem Haar entfernen. Ich trat einen Schritt zurück.
»Das hättest du nicht tun sollen.«
Wieder lächelte er.
»Ich werde es nicht wieder tun«, antwortete er halb scherzhaft, halb entschuldigend. »In Ordnung?«
Ich holte tief Luft. Nein, für mich war das nicht in Ordnung.
»Du hast es mit siebzehn geschrieben«, bemerkte er. »Ich finde es schön, mir vorzustellen, wie du mit siebzehn warst.«
Als ich Brendan ansah, schien er bereits in die Ferne zu rücken. Er stand auf dem Bahnsteig, während ich in dem Zug saß, der gerade losfuhr und ihn für immer hinter sich lassen würde. Ich überlegte, wie ich es ausdrücken sollte, damit es so klar und endgültig wie möglich klang. Man kann sagen: »Ich glaube, das mit uns funktioniert nicht mehr«, als wäre die Beziehung eine Maschine, die nicht mehr richtig läuft, weil ein wichtiges Teil verloren gegangen ist. Oder: »Ich glaube, es hat keinen Sinn«, als wäre man gemeinsam unterwegs zu einem bestimmten Ziel und würde plötzlich feststellen, dass der vor einem liegende Weg sich gabelt oder in Felsen und Dornen endet. Man kann auch sagen: »Ich will dich nicht mehr sehen«, womit man natürlich nicht nur sehen, sondern auch berühren, halten, spüren und lieben meint. Und wenn der Betreffende dann fragt, warum – »Warum ist es vorbei?« »Was habe ich falsch gemacht?« –, dann sagt man natürlich nicht zu ihm: »Du gehst mir auf die Nerven«, »Ich kann dein Lachen nicht mehr ertragen«, »Mir gefällt ein anderer«. Nein, natürlich sagt man: »Du hast nichts falsch gemacht. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.« Diese Dinge lernen wir alle irgendwann.
Ehe ich selbst so richtig wusste, was ich tat, sprach ich die Worte aus: »Ich glaube, wir lassen es besser sein.«
Einen Moment lang starrte er mich mit ausdrucksloser Miene an, dann trat er einen Schritt auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Miranda.«
»Tut mir Leid, Brendan.« Ich wollte noch etwas hinzufügen, überlegte es mir dann aber anders.
Er hatte noch immer die Hand auf meiner Schulter.
»Du bist wahrscheinlich total erschöpft«, sagte er. »Wie wär’s, wenn du erst mal ein Bad nimmst und dir saubere Sachen anziehst?«
Ich trat einen Schritt zurück.
»Brendan, ich meine es ernst.«
»Das glaube ich nicht.«
»Bitte?«
»Kriegst du deine Periode?«
»Brendan …«
»Es müsste in etwa so weit sein, oder?«
»Ich spiele keine Spielchen.«
»Miranda.« Seine Stimme hatte einen beschwörenden Ton, als wäre ich ein verängstigtes Pferd, dem er sich mit einem Stück Zucker auf der flachen Hand näherte. »Du kannst es doch nicht einfach so beenden. Dafür waren wir viel zu glücklich. Denk an all unsere wundervollen Tage und Nächte.«
»Acht«, sagte ich.
»Was?«
»Achtmal haben wir uns gesehen. Oder waren es bloß siebenmal?«
»Jedes Mal war irgendwie besonders.«
Ich verkniff mir die Antwort: für mich nicht, auch wenn das die Wahrheit war. Man kann dem anderen nicht sagen, dass es einem nicht viel bedeutet hat. Dass es nur eine Episode war, eine von den Geschichten, die sich eben so ergaben. Stattdessen zuckte ich nur mit den Achseln. Ich wollte nicht mit ihm darüber diskutieren. Ich wollte, dass er ging.
»Wir sind heute mit ein paar von meinen Kumpels auf einen Drink verabredet. Ich habe ihnen gesagt, dass du mitkommst.«
»Was?«
»In einer halben Stunde.«
Ich starrte ihn an.
»Bloß auf einen schnellen Drink.«
»Du willst wirklich, dass wir dahin gehen und so tun, als wären wir noch zusammen?«
»Wir müssen dem Ganzen Zeit lassen«, antwortete er.
Das klang so absurd – wie die heuchlerischen Worte eines Eheberaters, adressiert an ein viele Jahre verheiratetes Paar mit Kindern und einer Hypothek –, dass ich gegen meinen Willen lachen musste. Sofort kam ich mir sehr grausam vor und riss mich am Riemen. Brendan brachte ein verkrampftes Lächeln zustande, das mehr von einer Grimasse hatte – gespannte Lippen über fest zusammengebissenen Zähnen.
»Du kannst da noch lachen«, stieß er schließlich hervor. »Du kannst mir das antun und trotzdem noch lachen.«
»Tut mir Leid.« Meine Stimme klang noch immer ein bisschen zittrig. »Ich habe bloß aus Nervosität gelacht.«
»Hast du deine Schwester auch so behandelt?«
»Meine Schwester?« Die Luft um mich herum schien ein paar Grad abzukühlen.
»Ja. Kerry.« Er sagte den Namen sanft, fast nachdenklich. »Ich habe es in deinem Tagebuch gelesen. Ich weiß Bescheid. Hmm?«
Ich ging zur Tür hinüber und riss sie auf.
»Raus!«, sagte ich.
»Miranda.«
»Geh einfach.«
Er zögerte noch einen Moment, dann ging er. Nachdem ich behutsam die Tür geschlossen hatte, um nicht den Eindruck zu erwecken, als würde ich sie hinter ihm zuschlagen, überfiel mich ein heftiges Gefühl von Übelkeit. Ich hatte mich so auf mein gemütliches Essen vor dem Fernseher gefreut, aber inzwischen war mir der Appetit gründlich vergangen. Ich trank nur ein Glas Wasser und ging ins Bett, fand jedoch keinen Schlaf.
Meine Beziehung mit Brendan war so kurz gewesen, dass meine beste Freundin Laura, die zu der Zeit gerade in Urlaub war, nichts davon mitbekommen hatte. Als sie mich nach ihrer Rückkehr anrief, um mir zu berichten, was für eine wundervolle Zeit sie und Tony gehabt hätten, war die ganze Sache für mich so aus und vorbei, dass ich es gar nicht mehr der Mühe wert fand, Brendan zu erwähnen. Laura erzählte von dem Urlaub, dem Wetter und dem Essen, und ich hörte ihr zu. Als sie mich schließlich fragte, ob es in meinem Leben einen neuen Mann gebe, sagte ich nein. Sie antwortete, das sei aber seltsam, sie habe nämlich etwas Derartiges läuten hören. Ich entgegnete, die Sache sei nicht der Rede wert gewesen und außerdem vorbei, woraufhin sie kichernd meinte, sie wolle alles darüber hören. Ich antwortete, da gebe es nichts zu erzählen. Absolut gar nichts.
Seit Brendans Abgang aus meiner Wohnung waren zwei Wochen vergangen. Es war halb drei Uhr nachmittags, und ich stand auf einer Leiter und streckte mich gerade, um mit meinem Pinsel die Ecke zu erreichen, als plötzlich mein Handy klingelte und mir klar wurde, dass es sich in meiner Jackentasche befand und ich meine Jacke nicht anhatte. Wir arbeiteten gerade an einem Neubau in Blackheath – lauter gerade Linien und viel Glas und Kiefernholz. Ich strich das Holz mit einer besonderen, fast transparenten Farbe auf Ölbasis, die für teures Geld aus Schweden importiert worden war.
Rasch stieg ich von der Leiter und legte den Pinsel auf den Deckel der Dose.
»Hallo?«
»Miranda, hier ist Kerry.«
Das war an sich schon ungewöhnlich. Wir trafen uns relativ regelmäßig, einmal im Monat oder so, meist bei meinen Eltern. Außerdem telefonierten wir etwa einmal die Woche, wobei ich immer diejenige war, die anrief. Sie fragte mich, ob ich abends schon etwas vorhätte. Ich war tatsächlich schon halbwegs verabredet, aber sie meinte, es sei wirklich wichtig, sie würde mich sonst nicht so kurzfristig fragen. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als ja zu sagen. Als ich einen Treffpunkt mit ihr vereinbaren wollte, stellte sich heraus, dass Kerry sich das alles schon genau überlegt hatte. In Camden habe vor kurzem ein ganz schlichtes französisches Restaurant eröffnet, dort werde sie für acht einen Tisch reservieren. Falls ich nichts mehr von ihr hörte, könne ich davon ausgehen, dass es geklappt habe.
Ich war völlig baff. Sie hatte noch nie etwas Derartiges arrangiert. Während ich die Farbe auf die große Kiefernwand klatschte, überlegte ich, was sie mir wohl zu sagen haben könnte. Die entscheidende Frage war natürlich, ob es sich um etwas Positives oder etwas Negatives handeln würde, aber nicht einmal darauf fiel mir eine plausible Antwort ein.
Innerhalb einer Familie ist man mit einem bestimmten Charakter geschlagen. Die anderen machen sich irgendwann ein Bild von einem, und dabei bleibt es dann, egal, was man tut. Man kann ein Kriegsheld werden, und trotzdem reden die Eltern immer nur über irgendeine vermeintlich lustige Angewohnheit, die man im Kindergarten hatte. Manche Menschen ziehen bis nach Australien, um das Bild hinter sich zu lassen, das ihre Familie von ihnen hat – oder von dem sie glauben, dass sie es hat. Das Ganze ist mit einem Raum voller Spiegel vergleichbar, mit Spiegelbildern und Spiegelbildern von Spiegelbildern und endlos so weiter. Man kann Kopfschmerzen davon bekommen.
Ich war nicht nach Australien geflohen, sondern lebte keine zwei Kilometer von dem Haus entfernt, in dem ich aufgewachsen war, und arbeitete für meinen Onkel Bill. Manchmal kann ich gar nicht fassen, dass er mein Onkel ist, weil er so gar keine Ähnlichkeit mit meinem Vater aufweist. Er hat langes Haar, das er hin und wieder zu einem Pferdeschwanz bindet, und rasiert sich so gut wie nie. Noch bemerkenswerter ist, dass sich eine Menge reiche und trendige Leute darum reißen, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Mein Vater bezeichnet ihn nach wie vor als Maler und Tapezierer, und ich kann mich daran erinnern, dass er damals, als ich ein Kind war, mit einer wild zusammengewürfelten Schar von Taugenichtsen arbeitete und meist mit einem verbeulten Lieferwagen herumfuhr, den er sich von irgendjemandem geliehen hatte. Inzwischen aber hat Onkel Bill – wie ich ihn nie nenne – eine richtige Firma, ein großes Büro, eine lukrative Geschäftsverbindung mit einem Architektenteam und eine lange Warteliste, in die man nur schwer Aufnahme findet.
Als ich eine Minute nach acht im La Table eintraf, war Kerry bereits da. Sie hatte ein Glas Weißwein vor sich stehen und daneben einen Kübel mit der Flasche, sodass ich sofort wusste, dass es sich um irgendeine gute Nachricht handeln musste. Sie schien von innen heraus zu strahlen, ihre Augen leuchteten richtig. Außerdem sah sie völlig verändert aus. Ich selbst trug mein Haar immer ziemlich kurz. Das gefiel mir, und außerdem bot es sich in meinem Fall an, weil meine Haare auf diese Weise nicht in Harz landen oder sich um einen Bohrer wickeln konnten, wenn ich arbeitete. Kerry hingegen war nie der Frauentyp gewesen, der einen bestimmten Look verkörperte; ich kannte sie eigentlich nur mit halblangem Haar und praktischer Kleidung. Jetzt hatte sie sich die Haare ebenfalls kurz schneiden lassen, was ihr sehr gut stand. Fast alles an ihr war anders. Sie war stärker geschminkt als sonst, wodurch ihre großen Augen besser zur Geltung kamen. Außerdem trug sie lauter neue Klamotten – eine dunkle Schlaghose, ein weißes Leinenhemd und eine Weste. Mit einer Weste hatte ich sie noch nie gesehen. Sie wirkte elfenhaft und irgendwie erwartungsvoll. Als sie mich entdeckte, winkte sie mich an den Tisch und schenkte mir ein Glas Wein ein.
»Cheers!«, sagte sie. »Du hast übrigens Farbe im Haar.« Am liebsten hätte ich ihr die Antwort gegeben, die mir immer auf der Zunge liegt, wenn ich das zu hören bekomme: dass es ganz normal ist, wenn ich Farbe im Haar habe, weil ich mein halbes Leben mit Streichen verbringe. Aber letztendlich sage ich es nie, und an diesem Abend würde ich es ganz bestimmt nicht sagen. Kerry sah so froh und erwartungsvoll aus. In froher Erwartung. Das konnte nicht sein, oder doch?
»Berufsrisiko«, antwortete ich.
Die Farbe befand sich an meinem Hinterkopf, wo ich sie ohne Spiegel schlecht lokalisieren konnte. Kerry begann in meinem Haar herumzuzupfen. Wir müssen ausgesehen haben wie zwei Schimpansen, die mitten im Lokal ihre Körperpflege betrieben. Ich weiß selbst nicht, wieso ich sie trotzdem gewähren ließ. Schließlich sagte sie, die Farbe gehe nicht ab, was ich irgendwie tröstlich fand. Ich nahm einen Schluck Wein.
»Scheint ein nettes Lokal zu sein«, stellte ich fest.
»Ich war letzte Woche schon mal hier«, erklärte Kerry. »Es ist großartig.«
»Dir geht’s im Moment recht gut, stimmt’s?«
»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich dich angerufen habe«, antwortete sie.
»Das muss ja keinen bestimmen Grund haben«, log ich.
»Ich habe Neuigkeiten für dich«, fuhr sie fort. »Ziemlich überraschende Neuigkeiten.«
Demnach war sie tatsächlich schwanger. Etwas anderes konnte es nicht sein. Was mich allerdings ein wenig erstaunte, war die Tatsache, dass sie Alkohol trank.
»Ich habe einen neuen Freund«, erklärte sie.
»Das freut mich, Kerry. Das ist eine großartige Neuigkeit.«
Ich war noch verwirrter als zuvor. Natürlich freute ich mich für sie, weil ich wusste, dass sie schon längere Zeit keinen Freund mehr gehabt hatte und deswegen bekümmert gewesen war. Meine Eltern hatten sich deswegen auch ein wenig gesorgt, was es für Kerry nicht gerade leichter machte. Trotzdem fand ich es seltsam, dass sie es auf diese förmliche Weise verkündete.
»Das Ganze ist ein bisschen problematisch«, fuhr sie fort. »Deswegen wollte ich zuerst mit dir darüber sprechen.«
»Was könnte daran problematisch sein?«
»Du hast Recht«, pflichtete sie mir sofort bereitwillig bei. »Du hast völlig Recht. Das habe ich auch gesagt. Es dürfte eigentlich überhaupt kein Problem sein, wenn wir keines daraus machen.«
Ich nahm noch einen Schluck Wein und zwang mich, geduldig zu sein. Das war eine weitere Eigenart von Kerry: Sie konnte so unkommunikativ sein, dass sie kein Wort von sich gab, aber auch ins andere Extrem verfallen und unzusammenhängendes Zeug vor sich hin plappern.
»Was für ein Problem?«
»Es ist jemand, den du kennst.«
»Wirklich?«
»Eigentlich sogar mehr als das. Du warst mal mit ihm zusammen. Es ist ein Exfreund von dir.«
Ich gab ihr darauf keine Antwort, weil meine Gedanken zu rasen begannen. Wer konnte das sein? Lucas und ich hatten uns nach einem Riesenkrach getrennt, außerdem lebte er inzwischen mit Cleo zusammen. Die Beziehung mit Paul hatte etwa ein Jahr gedauert, und bestimmt waren er und Kerry sich ein- oder zweimal über den Weg gelaufen. Alles Weitere waren uralte Geschichten. Natürlich hatte es am College ein paar Techtelmechtel gegeben, aber zu der Zeit hatte ich zu Kerry fast keinen Kontakt gehabt. Ich versuchte mir vorzustellen, welch unglaublicher Zufall meine Schwester mit einem Mann aus meiner fernen Vergangenheit zusammengebracht haben könnte, beispielsweise mit Rob. Damals waren die beiden sich nie begegnet, oder doch? Womöglich musste ich ja noch weiter zurückgehen, in die Urvergangenheit meiner Schulzeit. Tom kam mir in den Sinn. Das musste es sein. Vielleicht war sie auf einem Schultreffen gewesen …
»Es ist Brendan«, sagte sie. »Brendan Block.«
»Was? Was meinst du?«
»Ist das nicht erstaunlich? Er wird gleich kommen. Er hat gesagt, er fände es gut, wenn wir drei uns zusammensetzen würden.«
»Das kann nicht sein«, sagte ich.
»Ich weiß, dass es dir ein bisschen seltsam vorkommen muss …«
»Wo habt ihr euch kennen gelernt?«
»Das erzähle ich dir gleich«, antwortete sie. »Ich werde dir alles ganz genau berichten. Aber bevor Bren kommt, wollte ich dir noch schnell etwas anderes sagen.«
»Bren?«
»Meine schöne Miranda, ich möchte, dass du weißt, dass Bren mir alles erzählt hat. Ich hoffe, das ist dir nicht peinlich.«
»Was?«
Kerry beugte sich über den Tisch und legte die Hände auf meine. Aus ihren großen Augen sprach Mitgefühl.
»Miranda, ich weiß, dass eure Trennung sehr schmerzhaft für dich war.« Sie holte tief Luft und drückte meine Hände. »Ich weiß, dass Bren mit dir Schluss gemacht hat. Er hat mir erzählt, wie durcheinander du warst, wie wütend und verletzt. Aber er hofft, dass du inzwischen darüber hinweg bist. Er selbst hat kein Problem damit.«
»Er sagt, er hat kein Problem damit?«
In dem Moment betrat Brendan Block das Restaurant.
Kerry ging Brendan entgegen. Sie trafen sich in der Mitte des Raums, und Brendan beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie innig auf den Mund. Kerry, die neben seiner großen, mächtigen Gestalt sehr klein und zierlich wirkte, schloss für einen Moment die Augen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er nickte und mit leicht schräg gelegtem Kopf zu mir herübersah, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Er begrüßte mich, indem er ein weiteres Mal nickte, und kam dann mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Zögernd erhob ich mich halb von meinem Stuhl, sodass ich, als er mich erreichte, in einer ziemlich lächerlichen Haltung über dem Tisch hing, den Stuhl in den Kniekehlen.
»Miranda«, sagte er, legte die Hände fest auf meine Schultern, wodurch meine Haltung noch ein wenig gebückter wurde, und blickte mir tief in die Augen. »Oh, Miranda.«
Er beugte sich zu mir herunter, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken, kam dabei aber meinem Mund viel zu nahe. Inzwischen war es Kerry gelungen, den Arm um Brendans Taille zu schlingen. Sie beugte sich ebenfalls zu mir herunter, und einen schrecklichen Moment lang waren unsere Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, sodass ich den Schweiß in der Vertiefung über Brendans Oberlippe ebenso deutlich sehen konnte wie die kleine Narbe in Kerrys Augenbraue, wo ich sie mit einem Plastikspaten getroffen hatte, als ich vier und sie sechs war. Außerdem konnte ich seine Seife und ihr Parfüm riechen und noch einen anderen, leicht säuerlichen Geruch, der zwischen uns in der Luft hing. Ich wand mich aus Brendans Griff und sank erleichtert zurück auf meinen Stuhl.
»Dann hat Kerry es dir also schon gesagt?« Inzwischen hatte er sich zwischen mir und Kerry niedergelassen, sodass wir zu dritt nur einen kleinen Teil des Tisches in Anspruch nahmen und so dicht nebeneinander saßen, dass unsere Knie sich berührten. Während er sprach, legte er eine Hand auf Kerrys Oberschenkel, und sie blickte mit ihren leuchtenden Augen zu ihm auf.
»Ja. Aber ich …«
»Und es ist wirklich in Ordnung?«
»Wieso sollte es nicht in Ordnung sein?« Ich hörte selbst, wie genervt und angespannt ich klang. Jeder Mensch auf dieser Welt wäre in einer solchen Situation ein wenig genervt und angespannt gewesen. Ich sah die beiden einen Blick wechseln. »Wirklich, ich habe kein Problem damit.«
»Ich weiß, dass das sehr schwer für dich sein muss.«
»Es ist überhaupt nicht schwer für mich«, widersprach ich.
»Das ist sehr großzügig von dir«, sagte Brendan. »Ich habe mit nichts anderem gerechnet. Du bist einfach ein großzügiger Mensch. Das habe ich zu Derek und Marcia auch gesagt. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich deinetwegen keine Sorgen zu machen brauchen.«
»Mum und Dad?«
»Ja«, antwortete Kerry. »Sie haben Bren vor ein paar Tagen kennen gelernt. Sie fanden ihn sehr sympathisch. Wie sollte es auch anders sein? Troy mochte ihn auch, und du weißt ja, wie schwer es ist, Gnade vor seinen Augen zu finden.«
Brendan lächelte bescheiden. »Ein lieber Junge«, bemerkte er.
»Und du hast ihnen gesagt …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Mir war plötzlich eingefallen, dass meine Eltern vorgestern Abend angerufen, nacheinander mit mir gesprochen und mich beide gefragt hatten, wie ich mich im Moment fühlte. Ein Nerv unter meinem linken Auge begann leicht zu zucken.
»Dass du es sicher verstehen würdest, weil du eine Frau mit einem großen Herzen bist«, sagte Brendan.
Die Vorstellung, dass sie hinter meinem Rücken darüber gesprochen hatten, wie ich ihrer Meinung nach reagieren würde, ließ die Wut in mir hochsteigen.
»Wenn ich mich richtig erinnere …«
Brendan hielt eine Hand hoch – eine große, weiße Hand mit haarigen Gelenken. Haarige Gelenke, fleischige Ohrläppchen, ein dicker Hals. Bei mir kamen Erinnerungen hoch, die ich ganz schnell wieder verdrängte. »Lass uns jetzt nicht weiter darüber sprechen«, sagte er. »Gib der Sache Zeit.«
»Miranda«, mischte sich Kerry mit flehender Stimme ein. »Bren hat ihnen bloß gesagt, was wir beide für nötig hielten.« Als ich zu ihr hinüberblickte, sah ich auf ihrem Gesicht wieder diesen ungewohnten Ausdruck strahlenden Glücks. Ich schluckte meine Antwort hinunter und starrte auf die Speisekarte.
»Sollen wir dann langsam mal bestellen?«
»Gute Idee. Ich glaube, ich nehme die Daurade«, sagte Brendan und rollte dabei das »R« ganz weit hinten im Hals.
Ich hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit mehr.
»Ich werde mich auf ein einfaches Steak mit Pommes beschränken«, erklärte ich. »Ohne die Pommes.«
»Machst du dir immer noch Sorgen wegen deines Gewichts?«
»Was?«
»Das brauchst du wirklich nicht«, fuhr Brendan fort. »Du siehst gut aus. Nicht wahr, Kerry?«
»Ja. Miranda sieht immer gut aus.« Einen Moment lang wirkte ihre Miene leicht säuerlich, als hätte sie in ihrem Leben schon zu oft gesagt: »Miranda sieht immer gut aus.« Dann fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich nehme den Lachs und einen grünen Salat.«
»Wie wär’s mit einer Flasche Chablis?«, fragte Brendan. »Oder möchtest du zu deinem Steak lieber ein Glas Rotwein, Mirrie?«
Das war noch so eine Sache. Mir hatte der Name Miranda immer gefallen, weil man ihn nicht abkürzen konnte. Bis ich Brendan kennen lernte. »Mirrie.« Das klang wie ein Druckfehler.
»Weiß ist okay.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Ich umklammerte mit einer Hand die Tischkante. »Danke.«
Kerry stand auf, um zur Toilette zu gehen. Während sie sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, sah Brendan ihr nach. Dabei hatte er wieder dieses kleine Lächeln auf den Lippen. In dem Moment trat der Kellner an den Tisch, und Brendan bestellte für uns. Dann wandte er sich wieder mir zu.
»Also …«
»Miranda.«
Lächelnd legte er seine Hand über die meine.
»Ihr beide seid sehr unterschiedlich«, bemerkte er.
»Ich weiß.«
»Nein, ich wollte damit sagen, dass es zwischen euch Unterschiede gibt, von denen ihr unmöglich etwas wissen könnt.«
»Was?«
»Nur ich kann in der Hinsicht Vergleiche ziehen.« Noch immer lächelte er mich liebevoll an.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand. Rasch entzog ich ihm meine Hand.
»Brendan, hör zu …«
»Hallo, Liebes«, sagte er über meinen Kopf hinweg und stand auf, um den Stuhl für Kerry herauszuziehen. Nachdem sie wieder Platz genommen hatte, tätschelte er ihr kurz den Kopf. Unser Essen wurde serviert. Mein Steak war fett und blutig und rutschte mir immer wieder weg, als ich es zu schneiden versuchte. Brendan sah eine Weile zu, wie ich mich damit abmühte, und gab dann einer Kellnerin, die gerade vorbeiging, ein Zeichen. Nachdem er auf Französisch etwas zu ihr gesagt hatte, das ich nicht verstand, brachte sie mir ein anderes Messer.
»Brendan hat eine Weile in Paris gelebt«, erklärte Kerry.
»Aha.«
»Aber das weißt du ja wahrscheinlich?« Sie hob den Kopf und sah mich kurz an. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. War er misstrauisch, abweisend, triumphierend oder einfach nur neugierig?
»Nein, davon wusste ich nichts.« Ich wusste überhaupt nur sehr wenig über Brendan. Er hatte mir erzählt, dass er sich gerade nach einem neuen Job umsehe. Außerdem hatte er etwas von einem Psychologiekurs erwähnt und dass er ein paar Monate durch Europa gereist sei, aber darüber hinaus konnte ich mich an keine Details aus seinem Leben erinnern. Ich war nie in seiner Wohnung gewesen, hatte keinen seiner Freunde kennen gelernt. Über seine Vergangenheit hatte er nicht gesprochen, und was seine Zukunftspläne betraf, war er ziemlich vage geblieben. Natürlich waren wir nur so kurz zusammen gewesen und hatten uns gerade erst der Phase genähert, in der man einander von seinem Leben erzählt, als ich ihn dabei ertappt hatte, wie er sich auf seine eigene Art über mein Leben informierte.
Endlich schaffte ich es, mir ein Stück von meinem Steak in den Mund zu schieben. Während ich energisch darauf herumkaute, zog Brendan behutsam mit Daumen und Zeigefinger einen dünnen Knochen aus seinem Mund und legte ihn vorsichtig auf den Rand seines Tellers, ehe er den Rest mit Weißwein hinunterspülte. Ich wandte den Blick ab.
»Nun erzähl mal«, sagte ich zu Kerry. »Wie habt ihr beide euch kennen gelernt?«
»Oh«, sagte sie und blickte von der Seite zu Brendan auf. »Eigentlich ganz zufällig.«
»Nenn es nicht Zufall. Es war Schicksal«, widersprach Brendan.
»Eines Abends bin ich nach der Arbeit noch zum Luftschnappen in den Park, als es plötzlich zu regnen anfing und dieser Mann …«
»Damit meint sie mich …«
Kerry kicherte glücklich. »Ja. Bren. Er hat gesagt, ich käme ihm bekannt vor. ›Sind Sie nicht Kerry Cotton?‹, hat er mich gefragt.«
»Natürlich kannte ich ihr Gesicht von dem Foto, das ich bei dir gesehen hatte«, erklärte Brendan. »Und plötzlich stand sie vor mir im Regen.«
»Er hat mir erzählt, dass er dich kennt«, fuhr Kerry fort. »Nicht dass ihr … du weißt schon, was, sondern bloß, dass er dich kennt. Dann hat er mir angeboten, seinen Schirm mit mir zu teilen …«
»Ich bin nun mal ein Gentleman«, bemerkte Brendan. »Du kennst mich ja, Mirrie.«
»Gemeinsam sind wir weiter durch den Park spaziert, obwohl es mittlerweile wie aus Kübeln goss. Nach einer Weile waren wir klatschnass, in unseren Schuhen stand schon das Wasser.«
»Trotzdem sind wir weiter durch den Regen spaziert.« Brendan streichelte Kerry übers Haar. »Nicht wahr?«
»Wir waren völlig durchnässt, deswegen habe ich ihn eingeladen, mit zu mir zu kommen und sich ein bisschen aufzuwärmen …«
»Ich habe ihr das Haar frottiert«, fügte Brendan hinzu.
»Das reicht«, sagte ich mit einer abwehrenden Handbewegung und tat, als müsste ich lachen. »Wir belassen es beim Aufwärmen, okay?«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass du jetzt Bescheid weißt«, erklärte Kerry. »Als ich das mit euch beiden erfuhr, dachte ich eine Weile, das würde alles ruinieren. Ich könnte nie etwas tun, das dich verletzt, das weißt du doch, oder?« Sie wirkte in dem Moment erstaunlich hübsch: zart, schlank und strahlend. Ich spürte plötzlich einen leichten Schmerz in der Brust.
»Du verdienst es, glücklich zu sein«, sagte ich, wobei ich Brendan bewusst den Rücken zuwandte und nur Kerry ansprach.
»Ich bin glücklich«, antwortete sie. »Wir kennen uns zwar erst seit ein paar Tagen, zehn, um genau zu sein, und es ist ja noch nicht so lange her, dass ihr beide – na ja, du weißt schon … Deswegen sollte ich das jetzt vielleicht nicht sagen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein.«
»Ich freue mich für dich.« Zehn Tage, dachte ich.
Wir aßen weiter, tranken unseren Wein, stießen miteinander an. Ich lächelte und nickte, sagte an den richtigen Stellen ja und nein und versuchte dabei die ganze Zeit krampfhaft, nicht nachzudenken und die Erinnerungen an bestimmte Dinge nicht hochkommen zu lassen: den leichten Bauchansatz über seinen Boxershorts, die schwarzen Haare auf seinen Schultern.
Schließlich warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und tat sehr überrascht, obwohl es erst halb zehn war. Ich erklärte, dass ich am nächsten Tag früh rausmüsse und eine lange Fahrt vor mir hätte, deswegen bliebe leider keine Zeit mehr für einen Kaffee … Dann folgte eine lange Abschiedsprozedur. Kerry nahm mich fest in den Arm, Brendan küsste mich wieder knapp neben den Mund, und ich widerstand dem Drang, die feuchte Stelle mit dem Handrücken abzuwischen. Beide meinten, wir müssten das unbedingt bald wiederholen, und dankten mir, weil ich mich so großartig verhalten hätte; das sei so lieb von mir, einfach wunderbar.
Brendan begleitete mich zur Tür.
»Es hat geregnet«, bemerkte er.
Ich ignorierte seine Worte.
»Wirklich ein unglaublicher Zufall«, sagte ich.
»Was?«
»Ich trenne mich von dir, und ein paar Tage später triffst du meine Schwester auf der Straße, und schon seid ihr zusammen. Kaum zu glauben.«
»Es gibt im Leben keine Zufälle«, entgegnete Brendan. »Vielleicht ist es gar nicht so überraschend, dass ich mich in eine Frau verliebt habe, die aussieht wie du.«
Ich sah über Brendans Schulter zu Kerry hinüber, die noch am Tisch saß. Sie lächelte nervös und drehte dann den Kopf weg. Als ich mich wieder an Brendan wandte, bemühte ich mich, ebenfalls zu lächeln, damit unsere Unterhaltung auf Kerry einen freundlichen Eindruck machte.
»Soll das irgendeine seltsame Art von Scherz sein, Brendan?«
Er wirkte verblüfft und ein bisschen beleidigt.
»Ein Scherz?«
»Kann es sein, dass du nur mit meiner Schwester spielst, um es mir auf diese Weise heimzuzahlen?«
»Das klingt ganz schön egozentrisch«, antwortete Brendan, »wenn du mir die Bemerkung erlaubst.«
»Tu ihr bloß nicht weh«, sagte ich. »Sie hat es verdient, glücklich zu sein.«
»Verlass dich auf mich. Ich weiß genau, was ich tun muss, um sie glücklich zu machen.«
Ich konnte seine Gegenwart keine Sekunde länger ertragen. Draußen atmete ich erst mal tief durch. Die kalte Luft tat mir gut. Während ich durch die nassen Straßen nach Hause marschierte, gingen mir immer wieder dieselben Fragen durch den Kopf. Hatte er sich ernsthaft in Kerry verliebt? Spielte es wirklich eine Rolle, wie sie sich kennen gelernt hatten? Ich beschleunigte mein Tempo, bis meine Beine von der Anstrengung schmerzten.
Ich denke oft über die Rollenverteilung innerhalb der Familie nach, über den Unterschied, den es für einen selbst macht. Wäre ich ein anderer Mensch geworden, wenn ich das älteste Kind gewesen wäre? Wie wäre es Kerry ergangen, wenn sie statt meiner die Mittlere gewesen wäre? Wäre sie dann selbstbewusster und extrovertierter geworden, mehr so wie ich – beziehungsweise wie die Person, die meine Familie in mir sah? Und Troy, das Baby der Familie, der neun Jahre nach mir kam? Was hätte es für ihn bedeutet, wenn er nicht diese Sonderstellung als Nachkömmling und offensichtlicher Unfall eingenommen hätte? Oder wenn er zumindest Brüder gehabt hätte, die ihm hätten zeigen können, wie man mit dem Fußball schießt, seine Fäuste gebraucht und brutale Computerspiele spielt, statt zwei Schwestern, die ihn als Kleinkind verhätschelten und später ignorierten?
Aber wir mussten mit dem zurechtkommen, was uns gegeben worden war. Kerry war als die Erste gezwungen gewesen, die Rolle der Anführerin zu übernehmen, auch wenn sie diese Rolle hasste. Und ich als die Zweite hatte es kaum erwarten können, erwachsen zu werden, und war immer erpicht darauf gewesen, die Erste zu sein, hatte immer versucht, meine Schwester zur Seite zu drängen, um sie zu überholen. Und Troy war als der Dritte und einzige Junge in vieler Hinsicht der Letzte, andererseits aber auch fast schon wieder der Erste: schmalschultrig, verträumt, weltfremd, seltsam.
In meiner Wohnung angekommen, ging ich gleich ins Bett. Obwohl ich am nächsten Tag früh rausmusste, konnte ich eine ganze Weile nicht einschlafen. Ich wechselte immer wieder die Position und wendete das Kissen, um eine kühlere Stelle zu finden. Es gab in meiner Wohnung kein Foto von Kerry, aber da ich Brendans Geschichte sowieso nicht geglaubt hatte, spielte dieses Detail im Grunde keine Rolle. Er hatte sich an Kerry herangemacht, weil sie meine Schwester war. Aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet, hatte das sogar etwas Romantisches.
Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause fuhr, schienen die Gebäude im Nieselregen zu schwanken, und die Skyline der Stadt wirkte weich und verschwommen. Im Sommer wäre es um diese Zeit noch hell gewesen, aber nun zogen die Leute bereits die Vorhänge zu und schalteten das Licht an. In meiner Wohnung befreite ich mich aus meinem Overall und stellte mich unter die lauwarme Dusche. Dann schlüpfte ich in eine bequeme Jeans und ein Langarmshirt. Ich stellte mich vor den Spiegel und zog den Bauch ein. Was hatte Brendan über mein Gewicht gesagt? Ich betrachtete mich von der Seite, unzufrieden mit dem, was ich sah. Vielleicht sollte ich anfangen zu joggen. Jeden Morgen vor der Arbeit eine Runde laufen. Was für eine schreckliche Vorstellung.
Ich wollte mich gerade auf dem Weg zu Laura machen, als das Telefon klingelte.
»Miranda?«
»Hallo, Mum.«
»Ich hab’s schon ein paarmal bei dir probiert, dich aber nie erwischt. Ich konnte dir nicht mal was aufs Band sprechen.«
»Mein Anrufbeantworter hat den Geist aufgegeben.«
»Wie geht es dir? Alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens.«
»Wirklich?«
Ich hatte nicht vor, ihr zu Hilfe zu kommen.
»Es geht mir gut, Mum. Ich bin bloß ein bisschen müde. Jetzt, wo Bill nicht da ist, habe ich ziemlich viel zu tun. Wie geht’s dir und Dad?«
»Ich habe mit Kerry gesprochen. Sie hat gesagt, ihr hättet einen schönen Abend miteinander verbracht.«
»Ja, es war schön, sie zu sehen.« Inzwischen tat sie mir fast schon ein bisschen Leid, deswegen fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu: »Und Brendan.«
»Miranda, du bist in dieser Sache wirklich sehr tapfer. Uns ist durchaus bewusst, wie schwer das für dich sein muss. Ich wünschte nur, du hättest uns davon erzählt, als es passierte. Es ist für mich ein schrecklicher Gedanke, nicht zu wissen, wenn es dir schlecht geht.«
»Da gab es nichts zu erzählen. Ihr macht euch alle eine völlig falsche Vorstellung davon. In Wirklichkeit war das ganz anders.«
»Falls es dich irgendwie tröstet, Kerry ist völlig verwandelt. Du hast es ja selbst gesehen, sie ist ein ganz anderer Mensch. Ich bin darüber sehr glücklich, aber gleichzeitig macht es mir auch ein bisschen Angst.«
»Du meinst, weil Brendan sie wieder verlassen könnte?«
»Oh, sag so was nicht! Immerhin sieht es ja so aus, als würde er sie ebenfalls vergöttern.« Ich schwieg einen Moment zu lang, weshalb sie in scharfem Ton hinzufügte: »Miranda? Bist du anderer Meinung?«
»Sie machen beide einen sehr glücklichen Eindruck.«
»Und dir geht es wirklich gut?«
»Ja, wirklich. Aber ich muss weg, bin schon ein bisschen spät dran.«
»Eine Frage noch, bevor du losstartest: Hättest du Zeit, am Sonntag zu uns zum Mittagessen zu kommen? Dann wären wir mal alle zusammen.«
»Du meinst, mit Brendan?«
»Mit Kerry und Brendan, ja.«
Mein Magen zog sich zusammen.
»Ich weiß noch nicht, ob ich da kann.«
»Mir ist klar, wie schwer das für dich ist, Miranda, aber ich halte es für wichtig. Für Kerry, meine ich.«
»Es ist nicht schwer für mich. Überhaupt nicht. Ich weiß bloß noch nicht, ob ich Zeit habe, das ist alles.«
»Wir können es auch am Samstagmittag machen. Oder am Abend, wenn dir das besser passt.«
»Also gut. Am Sonntag«, gab ich mich geschlagen.
»Ein ganz zwangloses Essen. Du wirst dich bestimmt wohl fühlen.«
»Natürlich werde ich das. Da habe ich nicht die geringsten Bedenken. Ihr macht euch von der ganzen Sache eine völlig falsche Vorstellung.«
»Du kannst gerne jemanden mitbringen.«
»Was?«
»Einen Mann. Du weißt schon. Falls es jemanden gibt …«
»Da gibt es zurzeit niemanden, Mum.«
»Ich nehme an, dafür ist es auch noch zu früh.«
»Ich muss jetzt wirklich weg, Mum.«
»Miranda?«
»Ja?«
»Oh, ich weiß auch nicht. Es ist bloß … du warst immer der Glückspilz von euch beiden. Vielleicht ist jetzt mal
Kerry an der Reihe. Steh ihr nicht im Weg.«
»Das ist doch albern.«
»Bitte.«
Ich stellte mir vor, wie sie mit angespannter Miene den Hörer umklammerte, während ihr wie immer eine Haarsträhne über die gerunzelte Stirn fiel.
»Ich bin sicher, das wird alles ganz wunderbar«, sagte ich, um sie endlich zufrieden zu stellen. »Ich verspreche dir, dass ich Kerrys Glück nicht im Weg stehen werde. Aber jetzt muss ich wirklich los. Wir sehen uns ja morgen, wenn ich Troy abhole.«
»Vielen Dank, meine liebe Miranda«, sagte sie in pathetischem Ton. »Vielen Dank!«
»Ich kenne ihn nicht, oder?«
Wir saßen im Schneidersitz auf dem Boden, den Rücken gegen das Sofa gelehnt, und futterten Ofenkartoffeln. Laura aß die ihre nur mit Sauerrahm, aber ich hatte meine oben ein wenig gespalten und quetschte mehrere große Butterkeile hinein, um das Ganze anschließend mit geriebenem Käse zu bestreuen. Allein schon der Anblick hatte etwas Wohltuendes. Draußen war es dunkel und nasskalt.
»Nein, dafür war die Zeit zu kurz. Es ging erst los, nachdem du nach Barcelona aufgebrochen warst, und als du zurückkamst, war es schon wieder vorbei.«
»Du hast Schluss gemacht?«
»Ja.«
»Was hast du dann für ein Problem damit?«
»Gar keines«, antwortete ich, noch bevor sie die Frage zu Ende gesprochen hatte.
»Doch, ich sehe es dir an.«
Ich überlegte einen Moment.
»Ja, stimmt. Irgendwie habe ich bei der Sache ein ungutes Gefühl. Es kommt mir fast ein bisschen wie Inzest vor. Außerdem nervt mich, dass Mum und Dad und wahrscheinlich auch der Rest der Welt glauben, dass er mir das Herz gebrochen hat. Bei dem Gedanken kriege ich so eine Wut, dass ich am liebsten alles kurz und klein schlagen würde.«
»Ich verstehe, dass dich das ärgert, aber irgendwo ist es doch auch lustig.«
»Nein«, widersprach ich. »Ganz und gar nicht. Sie nennt ihn ›Bren‹.«
»Tja …«
»Und er nennt mich ›Mirrie‹.«
»Familienstress«, meinte Laura vage. Sie wischte sich ein wenig Sauerrahm vom Kinn.
»Mirrie«, wiederholte ich. »Unglaublich. Oder findest du, dass ich überreagiere?«
»Vielleicht ein bisschen.«
»Wahrscheinlich hast du Recht.«
Von meiner Kartoffel war inzwischen nur noch die knusprige Schale übrig. Ich gab noch einmal Butter darauf und biss ein Stück ab. Dann nahm ich einen großen Schluck Wein. Am liebsten hätte ich mich gar nicht mehr von der Stelle bewegt. Hier im Raum war es warm, ich war satt und angenehm müde, während draußen der Wind in den Bäumen raschelte und die Autos durch große Pfützen fuhren.
»Wie läuft’s mit Tony?«, erkundigte ich mich.
»Oh. Gut. Glaube ich.«
Ich sah sie an. Sie hatte sich ihr glänzendes schwarzes Haar hinter die Ohren geschoben und sah in dem Moment sehr jung aus.
»Du glaubst? Was heißt das?«
»Es läuft gut. Du weißt schon, ganz normal eben. Nur manchmal …« Sie hielt inne.
»Manchmal?«
»Manchmal frage ich mich, wie es weitergehen soll.« Mit gerunzelter Stirn schenkte sie uns den Rest des Weins ein. »Ich meine, wir sind nun schon fast drei Jahre zusammen. Sollen wir einfach so weitermachen? Ich glaube, Tony hätte nichts dagegen, Jahr für Jahr so weiterzuleben, vertraut wie ein altes Ehepaar, bloß mit separaten Wohnungen. Oder wir entschließen uns doch irgendwann dazu, zusammenzuleben – richtig, meine ich. Unter einem Dach. Mit einem gemeinsamen Kühlschrank und gemeinsamem Geschirr. Einer gemeinsamen Bücher- und CD-Sammlung. Du verstehst mich schon. Und wenn nicht, wieso sind wir dann überhaupt noch zusammen? Man muss sich doch irgendwie vorwärts bewegen, meinst du nicht auch?«
»Ich weiß nicht. Ich hatte noch nie eine so lange Beziehung.«
»Das ist noch so ein Punkt. In deinem Leben passiert so viel Dramatisches und Aufregendes.«
»Findest du?«
»Bei dir gibt es immer wieder etwas Neues, und alte Geschichten gehen zu Ende.«
»Dafür passieren gewisse andere Dinge bei mir überhaupt nicht.«
»Stimmt«, räumte sie zögernd ein. »Aber ich bin doch erst sechsundzwanzig. Ist dieser Teil meines Lebens wirklich schon ganz vorbei? War’s das?«
»Würdest du denn gern mit ihm zusammenziehen?«
»Na ja, manchmal denke ich mir, es wäre …«
Aber in dem Moment hörten wir einen Schlüssel im Schloss, und die Tür schwang auf.
»Hallo!«, rief Tony fröhlich, ließ draußen in der Diele seine Tasche fallen und entledigte sich schwungvoll seiner Schuhe. Man hörte sie nacheinander über den Holzboden schlittern. Mit feuchtem Haar und von der Luft geröteten Wangen kam er in den Raum. »Oh, hallo, Miranda. Wie geht’s dir?«
Er beugte sich zu Laura hinunter und küsste sie, woraufhin sie eine Hand an seine Wange legte und ihn anlächelte. Für mich sah das nicht so schlecht aus.
Ich hatte den Lieferwagen noch nicht mal richtig geparkt, als er bereits zur Tür herausstürmte und den Gartenweg entlanggelaufen kam. Er konnte nicht winken, weil er mit der einen Hand eine prall gefüllte Plastiktüte hielt und mit der anderen seinen Rucksack, aber sein blasses Gesicht strahlte, und er rief mir grinsend etwas zu, das ich nicht hören konnte. Dann stolperte er und wäre beinahe gestürzt. Sein Rucksack knallte gegen seine Beine, aber er hörte nicht auf zu lächeln und gleichzeitig Worte zu formen. Manchmal tat es fast mehr weh, Troy glücklich zu sehen als traurig.
»Hallo, junger Mann«, sagte ich, als er auf den Beifahrersitz kletterte und sein Rucksack sich dabei irgendwie mit seinem mageren Körper verhedderte. »Wie geht’s?«
»Gut. Richtig gut.« Er schnallte den Sicherheitsgurt um sich und sein Gepäck. »Ich bringe mir gerade das Gitarrespielen bei, musst du wissen. Erinnerst du dich noch an deine alte Gitarre? Ich habe sie in der Rumpelkammer gefunden. Sie ist ziemlich ramponiert, aber das spielt im Moment noch keine große Rolle. Egal, auf jeden Fall habe ich mir gedacht, dass ich uns heute was Schönes zum Abendessen koche, okay? Die Zutaten sind in der Tüte. Du hast doch keine anderen Pläne, oder?«
»Nein«, antwortete ich. »Natürlich nicht. Was soll’s denn geben?«
»Erst mal herzhafte Pfannkuchen«, informierte er mich. »Ich habe sie in einem von Mums Kochbüchern entdeckt. Angeblich sind sie total einfach. Ich weiß noch nicht, womit ich sie füllen werde, aber du hast bestimmt irgendwas, das ich reintun kann. Vielleicht Käse? Oder Thunfisch. Sogar du musst doch in irgendeinem Schrank eine Dose Thunfisch haben. Dann Kebab. Da muss ich vorher eine Marinade zubereiten, es könnte also eine Weile dauern. Das mache ich gleich als Erstes, wenn wir bei dir sind. Über die Nachspeise habe ich noch nicht nachgedacht. Willst du überhaupt eine? Vielleicht reichen uns die Vorspeise und der Kebab. Ich könnte uns natürlich einen Milchreis kochen. Ach nein, Reis gibt es ja schon zum Kebab, dann ist das wohl keine so gute Idee.«
»Lieber keine Nachspeise«, sagte ich. Ich sah schon vor meinem geistigen Auge, welches Chaos meiner Küche bevorstand.
Troy und ich treffen uns jeden Donnerstag. Wir ziehen das seit zwei Jahren ziemlich konsequent durch. Angefangen haben wir mit diesem Arrangement, als er fünfzehn war und in großen Schwierigkeiten steckte. Ich hole ihn nach der Arbeit bei Mum und Dad ab und bringe ihn abends wieder zurück oder lasse ihn auf meiner schon etwas durchgelegenen Ausziehcouch schlafen. Manchmal gehen wir ins Kino oder in ein Konzert. Gelegentlich unternehmen wir auch etwas mit meinen Freunden. Den Donnerstag zuvor waren wir mit Laura, Tony und ein paar anderen in einem Pub, aber es handelte sich um einen seiner lethargischen Tage, sodass er nach dem ersten Schluck Bier einfach den Kopf auf den Tisch legte und einschlief. Manchmal wirkt er schrecklich schüchtern, an anderen Tagen ist ihm einfach alles egal. Dann greift er mitten im Gespräch nach einem Buch, dreht sich um und verschwindet damit. Weil ihm gerade danach ist.
Ziemlich oft fahren wir einfach zu mir in die Wohnung und machen irgendwas miteinander. Seit ein paar Wochen ist er total versessen aufs Kochen, mit unterschiedlichem Erfolg. Er kann sich sehr schnell für etwas Neues begeistern, aber ebenso rasch flaut sein Enthusiasmus auch wieder ab. Es gab beispielsweise mal eine Phase, in der er nur Patiencen legen wollte. Solange er ein Spiel nicht beendet hatte, war er zu nichts anderem zu gebrauchen. Wenn es aufging, betrachtete er das als gutes Omen, was aber fast nie der Fall war. Im Sommer entdeckte er sein Faible für große Puzzles. Einmal brachte er eines mit, das sich »Das schwierigste Puzzle der Welt« nannte. Es bestand aus Tausenden von winzigen, beidseitig bedruckten Teilchen, und man wusste nicht, wie das fertige Bild aussehen sollte. Wochenlang konnte ich meinen Tisch nicht benutzen, weil darauf das angefangene Puzzle lag, außen herum die bereits fertigen Kanten und in der Mitte das langsam entstehende Bild einer Straßenszene. Von einem Tag auf den anderen fand er das Ganze dann plötzlich langweilig. »Was hat es eigentlich für einen Sinn, solche Puzzles zusammenzusetzen?«, fragte er mich. »Erst sitzt man ewig daran, und wenn man dann endlich fertig ist, nimmt man es wieder auseinander und legt es zurück in die Schachtel.« Obwohl er schon so viel Zeit darauf verwendet hatte, brachte er es nicht zu Ende. Es befindet sich noch immer in einer Schachtel unter meinem Bett.
Was ist bei ihm schief gelaufen? Das fragt meine Mutter manchmal, vor allem, wenn Troy stumm und in sich gekehrt in seinem Zimmer sitzt und sein Gesicht aussieht wie eine trotzige Maske. Er war von Anfang an ein sehr gescheites Kind gewesen, manchmal sogar auf verblüffende Weise: Er hatte schon mit einem Jahr ganze Sätze gesprochen, mit drei Jahren Lesen gelernt und später alle seine Lehrer mit seinen Fähigkeiten beeindruckt. Meine Eltern hatten vor ihren Freunden mit ihm angegeben. Er war bei Veranstaltungen zur Schau gestellt und mit Schulpreisen überhäuft worden. Das Lokalblatt hatte mehrfach über ihn berichtet, und am Ende wurde er in eine Klasse gesteckt, in der alle anderen Kinder ein, zwei Jahr älter waren als er – und einen halben Meter größer, weil er anscheinend nicht wuchs. Er war ein extrem kleiner Junge mit knochigen Knien und abstehenden Ohren.
Irgendwann begannen die Schikanen. Ich meine damit nicht nur, dass er auf dem Schulhof herumgeschubst und als Streber verspottet wurde. Nein, er wurde von einer Gruppe von Jungs systematisch gequält und von allen anderen geschnitten. Seine Peiniger nannten ihn »Troy Boy«, sperrten ihn auf der Schultoilette ein, banden ihn hinter dem Fahrradschuppen an einen Baum, warfen seine Bücher in den Dreck und trampelten darauf herum, ließen im Klassenzimmer Zettel herumgehen, auf denen sie ihn als Waschlappen und Tunte bezeichneten. Sie boxten ihn in den Magen, verfolgten ihn auf seinem Heimweg von der Schule. Er erzählte niemandem davon – und Kerry und ich waren so viel älter als er, dass wir zu dem Zeitpunkt bereits in einer anderen Welt lebten und nichts davon mitbekamen. Er beschwerte sich auch nicht bei seinen Lehrern oder unseren Eltern, die nur wussten, dass er still und »anders« war als die anderen Jungs in seiner Klasse. Er arbeitete einfach noch härter und eignete sich eine pedantische und leicht sarkastische Art an, die ihn nur noch mehr isolierte.
Als er dreizehn war, wurden meine Eltern in die Schule zitiert, weil man ihn dabei erwischt hatte, wie er auf dem Schulhof ein paar Jungs mit Knallkörpern bewarf. Er raste und heulte vor Wut und beschimpfte jeden, der in seine Nähe kam, als würden die Qualen von acht Jahren Schikane plötzlich alle auf einmal aus ihm herausbrechen. Er wurde für eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen. Während dieser Woche »beichtete« er Mum alles, woraufhin sie in die Schule stürmte und einen Aufstand machte. Mehrere Jungs mussten vor dem Direktor erscheinen und wurden für ihr Verhalten bestraft. Aber wie soll man Kindern beibringen, jemanden zu mögen, noch dazu, wenn dieser Jemand so ist wie mein kleiner Bruder: schüchtern und voller Angst, in seinem sozialen Verhalten gestört und durch seine besondere Art von Intelligenz gehandikapt? Und wie ist ein Schaden wieder gutzumachen, der bis in die Grundfesten reicht? Ein Haus kann man in einem solchen Fall abreißen und neu aufbauen, aber bei einem Menschen geht das natürlich nicht.
Ich hatte mittlerweile meine Ausbildung am College abgeschlossen. Wie ernst die Lage tatsächlich war, begriff ich erst, als Troy seinen Abschluss machen sollte. Vielleicht hatte ich es einfach nicht sehen wollen. Alle rechneten damit, dass er hervorragend abschneiden würde. Er selbst sagte, es sei gut gelaufen, äußerte sich ansonsten aber nur sehr vage über die einzelnen Prüfungen. Wie sich herausstellte, war er zu keiner einzigen erschienen. Stattdessen hatte er sich in einen Park in der Nähe seiner Schule gesetzt, die Enten mit Brot gefüttert, den Müll am Rand des Teichs betrachtet und hin und wieder auf seine Uhr gesehen. Als es schließlich herauskam, waren meine Eltern völlig ratlos. Ich kann mich noch an einen Nachmittag erinnern, als Mum weinte und ihn immer wieder fragte, was sie denn falsch gemacht habe, ob sie wirklich so eine schlechte Mutter gewesen sei, und Troy einfach nur schweigend dasaß, während seine Miene eine Mischung aus Triumph und Scham zeigte, die mich erschreckte. Der Schulpsychologe, den meine Eltern hinzuzogen, erklärte, es handle sich um einen Hilferuf. Ein paar Monate später sagte er, die Verletzungen, die Troy sich selbst zufügte – Dutzende von flachen Schnitten an den Unterarmen –, seien gleichermaßen ein Hilferuf, und dass er an manchen Tagen einfach nicht aus dem Bett komme, sei ebenfalls so zu interpretieren.
Troy kehrte nicht an die Schule zurück. Er bekam einen Privatlehrer und jede Menge Therapiesitzungen. Dreimal die Woche geht er zu einer Frau mit ein paar Buchstaben hinter ihrem Namen, um mit ihr über seine Probleme zu sprechen. Ab und zu frage ich ihn, wie diese fünfundvierzig Minuten dauernden Sitzungen ablaufen, aber meist zuckt er nur grinsend mit den Achseln. »Oft schlafe ich einfach«, hat er einmal geantwortet. »Ich lege mich auf die Couch und schließe die Augen, und plötzlich sagt eine Stimme zu mir, dass meine Sitzung vorbei ist.«
»Wie geht’s dir denn so?«, fragte ich, während ich uns eine Kanne Tee machte und er rote Paprikaschoten in Streifen schnitt. In der Küche herrschte bereits Verwüstung. Ein Topf mit Reis kochte so wild vor sich hin, dass der Dampf immer wieder den Deckel hochdrückte und Wasser über den Rand schwappte. Der Tisch war mit Eierschalen übersät, in der Spüle stapelten sich Schüsseln und Löffel. Der Boden war mit Mehl bestäubt, als hätte es in meiner Küche leicht geschneit.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Leute immer in einem besonders vorsichtigen, taktvollen Ton mit mir sprechen, wenn sie mich fragen, wie es mir geht?«
»Tut mir Leid«, sagte ich.
»Es langweilt mich zu Tode, immer nur über mich zu sprechen. Wie geht’s denn dir?«
»Passt schon.«
»Nein, ich will es wirklich wissen. Das ist der Deal. Ich sage es dir, du sagst es mir.«
»Eigentlich trifft es ›passt schon‹ im Moment ziemlich genau. Bei mir gibt’s zurzeit nicht viel zu berichten.«
Er nickte. »Brendan will mir das Fischen beibringen«, erklärte er.
»Ich wusste gar nicht, dass du dich dafür interessierst.«
»Tu ich ja auch nicht. Ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet. Aber er sagt, wir könnten irgendwann ans Meer fahren, wo ein Freund von ihm ein Boot liegen hat, und damit Makrelen fischen. Er sagt, man zieht sie einfach aus dem Wasser, eine nach der anderen, und dann brät man sie über dem Feuer.«
»Klingt gut.«
»Er sagt, es mache sogar bei Regen Spaß, in einem Boot zu sitzen und zu warten, bis einer angebissen hat.«
»Demnach hast du ihn schon oft getroffen?«
»Ein paarmal.«
»Und du magst ihn?«
»Ja. Allerdings kann ich ihn mir nicht als deinen Freund vorstellen.«
»Warum nicht?«
Er zuckte mit den Achseln. »Er ist nicht dein Stil.«
»Was ist denn mein Stil?«
»Du bist eher der Katzen- als der Hundetyp.«
»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du sprichst.«
»Er hat mehr von einem Hund als von einer Katze, findest du nicht? Eifrig und um Aufmerksamkeit bemüht. Katzen sind unabhängiger und hochnäsiger.«
»Dann bin ich also hochnäsig?«
»Zu mir nicht. Aber zu Leuten, die du nicht so gut kennst.«
»Und was bist dann du?«
»Ein Otter«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.