Ein dunkler Abgrund - Nicci French - E-Book
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Ein dunkler Abgrund E-Book

Nicci French

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Beschreibung

Der atemlos spannende Thriller der Bestsellerautoren: Tess ist sicher, dass ihre kleine Tochter ein schreckliches Verbrechen beobachtet hat. Doch wer glaubt schon einem Kind …

Ihre dreijährige Tochter ist für Tess das Wichtigste auf der Welt. Doch seit der Trennung von Poppys Vater kann sie nicht mehr ständig in ihrer Nähe sein, um auf sie achtzugeben. Als sie eines Tages unter all den bunten, fröhlichen Kinderzeichnungen ein Bild aus schwarzer Kreide findet – eine Zeichnung so simpel und brutal, dass Tess sie nicht verstehen kann – da ist sie sicher, dass Poppy während des Wochenendes beim Vater etwas Furchtbares mitansehen musste. Niemand will ihr glauben, denn handelt es sich nicht bloß um die Krakelei eines Kindes? Doch eine Mutter kennt ihre Tochter. Und Tess wird die Wahrheit herausfinden. Ihre Suche führt sie in ungeahnte dunkle Abgründe, und bald ist nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr, sondern auch das ihres Kindes …

»Nicci French – das ist einfach immer wieder eine Garantie für spannende Unterhaltung.« hr4

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Seitenzahl: 548

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Zum Buch:

Der neue geniale Thriller der Bestsellerautoren: Tess ist sicher, dass ihre kleine Tochter ein schreckliches Verbrechen beobachtet hat. Doch wer glaubt schon einem Kind …

Ihre dreijährige Tochter ist für Tess das Wichtigste auf der Welt. Doch seit der Trennung von Poppys Vater kann sie nicht mehr ständig in ihrer Nähe sein, um auf sie achtzugeben. Als sie eines Tages unter all den bunten, fröhlichen Kinderzeichnungen ein Bild aus schwarzer Kreide findet – eine Zeichnung so simpel und brutal, dass Tess sie nicht verstehen kann – da ist sie sicher, dass Poppy während des Wochenendes beim Vater etwas Furchtbares mitansehen musste. Niemand will ihr glauben, denn handelt es sich nicht bloß um die Krakelei eines Kindes? Doch eine Mutter kennt ihre Tochter. Und Tess wird die Wahrheit herausfinden. Ihre Suche führt sie in ungeahnte dunkle Abgründe, und bald ist nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr, sondern auch das ihres Kindes …

»Nicci French – das ist einfach immer wieder eine Garantie für spannende Unterhaltung.« hr4

Zu den Autoren:

Nicci French – hinter diesem Namen verbirgt sich das Ehepaar Nicci Gerrard und Sean French. Seit über zwanzig Jahren sorgen sie mit ihren außergewöhnlichen Thrillern international für Furore und verkauften weltweit über acht Millionen Exemplare. Die beiden leben in Südengland. Zuletzt erschien die achtteilige Bestsellerserie um Ermittlerin Frieda Klein sowie der Stand-Alone-Thriller Eine bittere Wahrheit, der sofort nach Erscheinen in die SPIEGEL-Bestsellerliste und in die Krimi-Bestenliste (Deutschlandfunk Kultur) einstieg. Mit ihrem neuen Thriller Ein dunkler Abgrund halten sie ihre Leser*innen erneut in Atem.

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NICCI FRENCH

EIN DUNKLER ABGRUND

THRILLER

Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Unheard bei Simon & Schuster, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2021 Nicci French

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Irmgard Perkounigg

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: mauritius images / Steve Vidler; www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24119-3V003

www.cbertelsmann.de

Für Patricia die Tapfere

1

Es heißt, man kann im Traum nicht sterben, aber gestern Nacht kam es mir doch so vor. Ich stürzte in die Tiefe, so wie sie, und erst kurz bevor ich auf dem Asphalt aufschlug – dunkel rauschte er mir entgegen –, wachte ich auf, keuchend und schweißgebadet. Ich hatte es nicht überstanden. Es ging wieder los.

Ich versuchte, ans Meer zu denken, ruhiges Wasser, blauen Himmel, einen Wald, wo der Wind sanft durchs Laub strich. Es funktionierte nicht.

Ich war wach, aber gleichzeitig noch in meinem Traum. Ich war wieder da, wo alles anfing.

Ich saß in einem Café am Fenster, nicht weit vom Broadway Market. Da ich früh dran war, sah ich Jason und Poppy, bevor sie mich sahen. Einen kurzen Moment schien es mir, als hätte sich nichts verändert. Poppy ritt auf Jasons Schultern, hielt sich dabei an seinen Ohren fest und riss vor Vergnügen den Mund auf, während ihr prächtiges rotes Haar wie eine Fahne im leichten Wind wehte: der Vater mit seiner kleinen Tochter, auf dem Weg zur wartenden Mutter.

Obwohl ich direkt von Aidan kam und mich an diesem wunderbar warmen Maitag nach meinem Fußmarsch zum Café so richtig lebendig fühlte, erfüllt von Hoffnung, Begehren, Erregung und der freudigen Ahnung, dass das Leben gerade neu anfing, empfand ich in dem Moment einen Anflug von Traurigkeit. Poppy war so klein, so verletzlich und vertrauensvoll. Und wir beide, Jason und ich, hatten ihr das angetan – ihre Welt entzweigerissen. Doch gemeinsam würden wir dafür sorgen, dass alles wieder besser wurde.

Ich beobachtete, wie sie näher kamen. Jason hielt Poppy an den Beinen fest, damit sie sicher saß, und machte den Eindruck, als würde er singen. Er besaß eine schöne Stimme. Unter der Dusche hatte er immer laut gesungen. Wahrscheinlich tat er das nach wie vor.

Als sie am Fenster vorbeigingen und er mich entdeckte, bedachte er mich mit jenem vertrauten, komischen halben Lächeln, als gäbe es zwischen uns einen privaten Scherz, den nur wir beide verstanden, wie damals in unserer Anfangszeit. Er stellte Poppys kleine Tasche für die Übernachtung auf den Gehsteig, damit er sie hochstemmen und anschließend auf dem Boden absetzen konnte. Poppy deutete aufgeregt in meine Richtung und presste dann das Gesicht gegen die Scheibe, sodass ihre Nase platt gedrückt wurde und ihr Atem das Glas beschlagen ließ. »Mummy«, sagte sie lautlos.

Ich stand auf und ging ihr entgegen. An der Tür nahm ich sie in den Arm, und sie schmiegte das Gesicht an meine Schulter. Sie roch nach Sägemehl und Baumharz. Ich war davon ausgegangen, dass Jason gleich wieder aufbrechen würde, doch er bestellte Kaffee für sich und heiße Schokolade für Poppy, und wir ließen uns alle drei am Tisch nieder. Während Poppy sich auf meinen Schoß kuschelte, betrachtete ich Jason mit leichtem Unbehagen. Ich war immer sehr darauf bedacht, jegliches Wetteifern um ihre Zuneigung zu vermeiden. Aber er lächelte nur.

Jason sah nach wie vor gut aus, auch wenn sein ordentlich getrimmter Bart erste graue Sprenkel aufwies und seine Figur kompakter wirkte. Inzwischen war er ein erwachsener Mann, Schuldirektor, jemand von Rang und Namen, aber ich konnte noch immer den jungen Mann erkennen, in den ich mich verliebt hatte – und der sich in mich verliebt hatte.

Schlagartig erinnerte ich mich sehr lebhaft an jenen ersten Abend vor all den Jahren. Es war so schnell passiert, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ich der Meinung war, dass ich mich nie wieder mit einem Mann einlassen wollte. Ich hatte gerade eine Trennung hinter mir, die mich unglaublich mitgenommen hatte. Der Freund, mit dem ich sieben Jahre lang zusammen gewesen war – meine erste richtige Liebe –, hatte mich wegen einer engen Freundin von mir verlassen, einem Mädchen, das ich fast schon mein Leben lang kannte. Ich verlor sie beide. Sogar die Vergangenheit, die ich mit ihnen teilte, erschien mir durch ihre Lügen vergiftet. Von mir war nur noch ein verletzliches, wundes, matschiges Häufchen Mensch übrig.

Doch an einem Frühlingstag wie diesem, voller Blüten und frischem grünem Laub, hatte mich meine Freundin Gina dazu überredet, mit ihr auf eine Party zu gehen. Sie meinte, das werde mir guttun, und sie akzeptiere kein Nein. Sie wartete neben mir, während ich in ein Kleid schlüpfte, das eher wie ein Sack aussah, rasch durch mein langes, rotes Haar bürstete und mich dann standhaft weigerte, mich zu schminken. Jason war auf der Party, ein großer, schlaksiger Typ mit grauen Augen, einem Grübchen im damals noch bartlosen Kinn und einem ausgewaschenen blauen Baumwollhemd. Ich wusste noch genau, wie er mich angesehen und nicht mehr weggeschaut hatte. Wir kamen ins Gespräch. Wir tanzten miteinander, und ich spürte die Hitze seines Körpers. Plötzlich dachte ich: Also ist mein Leben doch nicht ruiniert. Ich bin immer noch begehrenswert und fähig, jemanden zu begehren. Mein Freund war ein Mistkerl, meine Freundin das Allerletzte, aber ich kann trotzdem noch lachen und tanzen und Sex haben und spüren, wie in mir das Leben pulsiert. Ich kann neu anfangen.

Wir waren in eine Kneipe in der Camden High Street gegangen. Ich weiß noch, dass ich einen Tequila trank und mich schummrig fühlte und dass mir durch den Kopf ging, dass ich aufpassen musste und mich nicht zum Narren machen durfte, nicht schon wieder. Jason legte seine Hand auf meine und eröffnete mir, dass er eine Freundin habe. Es war, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Schlagartig war ich wieder nüchtern. Ich erklärte, dass ich nichts mit jemandem anfangen wolle, der in einer Beziehung sei. Ich wisse, wie es sich anfühle, betrogen zu werden. Jason nickte und küsste mich auf die Wange, allerdings ein bisschen zu nah am Mund. Wir verabschiedeten uns. Ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen.

Am nächsten Tag schrieb er mir eine Nachricht. Ich erinnerte mich noch an jedes Wort: Habe mich gerade getrennt. Kein Druck. Würde dich aber gerne sehen.

Nun saßen wir hier, Jahre später, mit unserer schönen dreijährigen Tochter, und im Juli würde sich unsere Trennung zum ersten Mal jähren. So viel versprochen, so viel verloren. Eine Scheidung hatte es nicht gegeben, weil wir nie verheiratet waren. Aber wir hatten zusammen ein Kind in die Welt gesetzt und zusammen in einem Haus gewohnt, das Leben miteinander geteilt.

Die junge Barfrau mit dem frischen Gesicht brachte uns die Getränke an den Tisch. Die große Tasse heiße Schokolade stellte sie vor Poppy ab.

»Ich schätze mal, die ist für dich, junge Dame.«

Poppy warf ihr einen finsteren Blick zu, der die Frau sichtlich aus der Fassung brachte.

»Sie ist ein bisschen müde«, erklärte Jason.

»Ich bin nicht müde!«, widersprach Poppy entschieden, wirkte dabei aber auf diese typische Art hibbelig. Da braute sich etwas zusammen.

Die Frau zog die Augenbrauen hoch und entfernte sich.

»Wie war euer Wochenende?«, fragte ich.

Jason sah Poppy an. »Wie war es, Poppy?«

»Es hat regnet.«

»Nicht die ganze Zeit.«

»Es hat regnet, regnet, regnet!«

»Ich weiß, Liebes. Du und ich und Emily haben Spiele gespielt. Und du hast Bilder gemalt und mit Emily gekocht.«

Emily war Jasons Frau, seine Ehefrau. Dieses Mal hatte er geheiratet. Poppy war auf der Hochzeit gewesen. Ich hatte ihr ein gelbes Kleid genäht und ihr am Vorabend die Haare gewaschen. Später sah ich dann das Foto von den dreien, eine komplette neue Familie, ohne mich.

»Das hört sich doch gut an.« Ich bemühte mich zu klingen, als meinte ich es wirklich so. Was ich ja auch tat, zumindest redete ich mir das ein. Wie könnte ich nicht wollen, dass Poppy Spaß hatte? Ich sah meinen Ex-Partner an. »Danke, Jason.«

Jason lächelte wieder sein kleines, verschwörerisches Lächeln, mit dem er mich einlud, seine Komplizin zu sein: Er und ich gegen den Rest der Welt. So war er immer gewesen.

»Wir machen das recht gut, oder?«

»Was meinst du?«

»Uns beide.« Er deutete auf Poppy, die ihre Tasse heiße Schokolade gefährlich schief hielt. »Viele vermasseln es. Sie wenden sich gegeneinander. Das haben wir nicht getan.«

Mein Blick wanderte zu Poppy. Ihr Mund war schokoladeverschmiert, und sie blies gerade vorsichtig in ihr Getränk. Oft schien sie ganz in ihre eigene Welt versunken zu sein, ohne darauf zu achten, was um sie herum geschah, doch in Wirklichkeit war sie ein menschlicher Schwamm, der alles aufsaugte. Man wusste nie so genau, was sie sah, hörte, mitbekam.

»Nein, haben wir nicht.«

»Und werden wir auch nicht.«

Als wir damals beschlossen hatten, uns zu trennen, legten wir Grundregeln fest: Nie wollten wir vor Poppy streiten. Nie um sie wetteifern. Nie versuchen, ihre Zuneigung mit Sonderbehandlungen und Spielsachen zu erkaufen. Nie inkonsequent sein, was ihr Verhalten oder den Ablauf ihrer Tage betraf. Nie irgendwelche Meinungsverschiedenheiten in unsere Beziehung zu ihr einfließen lassen. Nie den anderen ihr gegenüber kritisieren. Im Hinblick auf ihre Erziehung immer zusammenarbeiten. Stets davon ausgehen, dass ihr Wohlergehen unser oberstes Ziel war, und einander als Eltern vertrauen. Und so weiter. Es gab eine ganze Litanei solcher Regeln, sie ergaben fast so etwas wie ein Selbsthilfebuch. Jason schrieb sie alle auf und mailte sie mir, als handelte es sich dabei um einen Vertrag. Und im Großen und Ganzen hielten wir uns auch daran.

Ich betrachtete den Mann, der der Vater meines Kindes war. Er hatte sich nie gerne Kleidung gekauft, sondern das lieber mir überlassen. Die Jacke, die er trug, hatte ich ihm vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt. Das gemusterte Hemd stammte aber nicht von mir. Ich war auch nicht dabei gewesen, als er das Paar weiche Lederschuhe aussuchte. Nachdenklich faltete ich eine Papierserviette auseinander und wischte damit Poppys Schokoladenmund sauber.

»Sollen wir langsam los, Schätzchen?«

Nachdem wir alle vom Tisch aufgestanden waren, beugte er sich zu mir herüber, fast, als wollte er mich küssen, doch stattdessen flüsterte er mir etwas ins Ohr.

»Was?«

»Alles wird gut.«

»Was?«, fragte Poppy.

»Wir verabschieden uns bloß«, erklärte Jason.

Der gemeinschaftlich genutzte Flur vor meiner Wohnung lag immer voller Werbesendungen. Außerdem hatte Bernie, der oben wohnte, sein Rad dort stehen. Als ich die Tür öffnete, hob er es gerade von seiner Halterung.

»Tess!«, begrüßte er mich, als wäre ich monatelang weg gewesen. »Und Poppy!« Mit besorgter Miene beugte er sich vor. »Ist alles in Ordnung?«

Er war etwa in meinem Alter, Mitte dreißig, ein dünner Mann mit schlammbraunen Augen, braunem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und einem flaumigen braunen Bart. An der linken Hand fehlten ihm die vorderen Glieder zweier Finger, was Poppy immer wieder faszinierend fand. Er hatte die Angewohnheit, einem grundsätzlich ein wenig zu nah auf die Pelle zu rücken. Als er sich nun zu Poppy hinunterbeugte, trat sie einen Schritt zurück und starrte ihn mit großen, runden Augen an.

»Sie ist müde«, erklärte ich, während ich mit der Fußspitze durch die über den Boden verteilte Post fuhr. Ein paar der Umschläge waren an mich adressiert: weitere Rechnungen.

»Wenn ich was tun kann …«

Ich murmelte etwas, von dem ich hoffte, dass es zugleich höflich und entmutigend klang.

Vor der Wohnungstür wartete unsere Katze. Als ich bei Jason ausgezogen war, hatte ich Sunny mitgenommen, außerdem meine Nähmaschine und mein Werkzeug, sonst so gut wie nichts: keine Bilder, keine Möbel, auch nicht die bunt zusammengewürfelten Teller und Gläser, die Weihnachtsdekoration und all die anderen Dinge, die wir im Lauf der Jahre gemeinsam ausgesucht hatten und die mich bloß an die anfängliche Zeit des Glücks erinnert hätten – und daran, wie es uns langsam entglitten war. Unter all das musste ich einen Schlussstrich ziehen, doch Sunny hätte ich nicht bei Jason und Emily in Brixton zurücklassen können, obwohl er schon als kleiner Kater in dem Haus gelebt hatte. Er war mein Gefährte, wenn auch inzwischen alt, fett und struppig, mit ausgeblichenem orangerotem Fell, missbilligenden grünen Augen, hinkendem Gang und einem ausgefransten Ohr.

Poppy hievte Sunny hoch, wobei seine herabbaumelnden Beine ein wenig ungut zwischen ihren Armen hingen, und schleppte ihn in ihr Zimmer. Es war der erste Raum, den ich hergerichtet hatte, als wir eingezogen waren. Ich hatte Regalböden montiert, die himmelblauen Vorhänge genäht, das Bett zusammengebaut und dafür Bettwäsche, bunte Tagesdecken und den kleinen Korbstuhl gekauft. Poppy hatte mir geholfen, die Wandfarben auszusuchen, und als ich sie dann mit der Rolle auftrug, stand sie neben mir und malte mit dem Pinsel, den ich für sie besorgt hatte, kleine saubere Striche.

Ich packte Poppys Tasche aus, stopfte die Latzhose in eine Schublade und warf die getragenen T-Shirts, Slips und Socken in eine Ecke, um sie nachher in die Wäsche zu geben. Den knautschigen Teddy mit den Knopfaugen und die schon etwas schäbige Lumpenpuppe Milly mit dem roten Plüschrock und den Haaren aus orangeroter Wolle legte ich ins Bett, wo ich sie gemäß Poppys strengen Anweisungen bis zum Bauch zudeckte. Poppy ging nicht ins Bett, wenn die beiden nicht links und rechts von ihr lagen. Anschließend stellte ich Poppys Lieblingsbilderbücher zurück in ihr kleines Bücherregal und legte das Mäppchen mit ihren Stiften und Malkreiden auf den Schreibtisch.

Ganz unten in der Tasche lag ein Stapel Blätter mit Poppys Bildern vom Wochenende. Ich ließ mich auf dem Bett nieder.

»Zeigst du mir deine Zeichnungen?«

Poppy setzte sich neben mich. Die Katze glitt von ihrem Schoß. Ich blickte auf die kleine Gestalt hinunter: helle Haut, dunkle Augen, richtig rotes Haar, intensiver rot als meines. Ein wildes, forderndes, fröhliches kleines Mädchen, das noch nicht begriff, was in ihrem Leben passierte. Bei dem Gedanken spürte ich ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust.

Das erste Bild bestand aus einem weit oben aufgetragenen Fleck aus leuchtendem Orange, unter dem sich Streifen aus blauen Tupfen reihten.

»Ist das die Sonne?«

»Es hat regnet«, antwortete Poppy.

»Ein schönes Bild.«

Als Nächstes folgte eine Kreatur, bei der es sich wohl um einen Löwen oder ein Pferd handelte, dann eine Prinzessin, ein Haus, alles in Gelb-, Rot- und Blautönen.

»Die sind großartig. Ich werde mir eins aussuchen und übers Bett hängen, damit ich es immer anschauen und an dich denken kann.«

Poppy schien das nicht zu beeindrucken.

Ich legte das Blatt mit dem bunten Haus zur Seite und kam zum letzten Bild. Es war so anders, dass ich mich einen Moment fragte, ob da irgendein Versehen vorlag und die Zeichnung von jemand anderem stammte. Sie war ausschließlich mit schwarzer Kreide angefertigt und wirkte schlicht, elementar, brutal. Man erkannte ein Gebäude, das wie ein Turm aussah, vielleicht ein Leuchtturm, und dicht neben dem oberen Teil des Turms – wenn es denn einer war – eine von Poppys dreieckigen Gestalten, mit Armen und Beinen, die wie zornige Stöckchen von ihr abstanden, und einem dichten Wirrwarr aus Schwarz um den Kopf. Die Figur war schräg eingezeichnet, mit dem Kopf nach unten.

»Ist das ein Turm?«

»Ja, ein Turm.«

Ich war mir nicht sicher, ob Poppy nicht nur wiederholte, was ich gesagt hatte. Ich deutete auf die Figur.

»Wer ist das?«

Poppy legte einen Finger auf den Kopf mit dem schwarzen Wirrwarr rundherum.

»Ich hab ihre Haare malt.«

»Gemalt«, verbesserte ich leise. »Aber wer ist das? Ein Engel? Eine Fee?«

»Eine Fee, eine gute Fee!«

»Kann sie fliegen?«

»Nein.«

»Ist es eine Geschichte? Ein Märchen?«

»Sie war im Turm.«

»Wie Rapunzel?«

»Sie«, sagte Poppy und deutete auf die gezeichnete Figur.

»Nein, ich meine, ist das jemand in einer Geschichte?«

»Er hat sie tot macht.«

»Was?«

»Tot macht, tot macht!«

»Schatz, was sagst du da? Wer?«

Aber nun war Poppy verwirrt und erklärte, sie habe Hunger. Dann verkündete sie plötzlich, sie wäre lieber eine Katze gewesen, und fing zu weinen an. Ich legte die Bilder auf den Schreibtisch. Nur das eine, mit schwarzer Kreide gezeichnete, nahm ich mit.

2

Ich träumte, dass jemand nach mir rief, doch dann wurde mir dumpf bewusst, dass es kein Traum war. Noch halb schlafend glitt ich aus dem Bett, wankte hinüber in Poppys Zimmer und schaltete die Nachttischlampe an. Poppy hatte sich aufgesetzt. Ihr Haar war wild zerzaust, ihr Gesicht in Kummerfalten gelegt. Ich konnte riechen und spüren, was passiert war.

»Mach dir deswegen keine Gedanken. Jetzt sorgen wir erst mal dafür, dass du wieder sauber und trocken bist, und dann beziehe ich dir das Bett frisch.«

»Ich hab macht.«

»Was?«

»Ins Bett macht.«

»Das ist doch nur ein kleines Missgeschick.«

Allerdings hatte Poppy schon monatelang nicht mehr ins Bett gemacht. Das ging mir durch den Kopf, während ich ihr einen sauberen Schlafanzug überstreifte und anschließend das Bett abzog.

»Schlüpf drüben bei mir unter die Decke«, sagte ich zu ihr, »bis ich hier fertig bin. Nimm Teddy und Milly mit.«

»Ich hab macht! Ich hab macht!« Sie verzog das Gesicht und begann zu schluchzen.

»Das ist doch nicht schlimm.«

»Nicht hauen!«

»Dich hauen! Was sagst du denn da? Auf keinen Fall! Ich schlage dich doch nie, mein Schatz. Komm mit.«

Den Rest der Nacht verbrachte Poppy bei mir. Sie schmiegte ihren kräftigen, warmen Körper eng an mich und drehte sich ein paarmal herum, bis sie bequem lag. Ihr Atem roch wie frisches Heu.

»Bist du noch tot?«

Ich stieß ein überraschtes Lachen aus.

»Ich war doch nie tot!«

»Du hast nicht sterbt?«

»Nein, ich bin nicht gestorben, mein Schatz. Ich bin hier. Schlaf jetzt.«

Poppy schlief bis fünf Uhr morgens. Als an den Rändern der Vorhänge das erste fahle Licht hereinfiel, erwachte sie mit einem so heftigen Ruck, dass ich davon ebenfalls geweckt wurde. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und starrte mich an, als wäre ich eine Fremde.

»Entschuldige, dass ich so früh anrufe, Jason, aber ich würde gern wissen, ob im Lauf des Wochenendes etwas passiert ist – irgendetwas, das Poppy verstört oder verängstigt haben könnte.«

Ich saß unten im Wintergarten – einem Raum, der nur aus Glas und Stahlträgern bestand und der Grund war, warum ich das Haus überhaupt gekauft hatte, trotz der schäbigen Schlafzimmer und der winzigen, seitlich angebauten Küche – und sprach leise ins Telefon, damit Poppy nichts mitbekam. Draußen im Garten hockten zwei Distelfinken im Vogelhäuschen.

»Es ist noch nicht mal halb sieben.«

»Ich dachte, du bist schon auf. Du stehst doch sonst immer früh auf.«

»Es ist nichts passiert. Nichts hat sie verstört. Es geht ihr gut. Du solltest aufhören, dir wegen jeder Kleinigkeit Sorgen zu machen.«

»Es ist keine Kleinigkeit. Sie benimmt sich seltsam. Und sie hat ins Bett gemacht.«

»Sie ist noch ein kleines Kind, Tess.«

Ich dachte an die Zeichnung. An das, was sie gesagt hatte. An die Art, wie sie sich an mich geklammert hatte.

»Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Ich muss aufhören.«

»Klar«, antwortete ich müde. »Ich meine, du hast recht. Es tut mir leid. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen.«

Ich fütterte Sunny und räumte die Spülmaschine aus. Anschließend zog ich Poppy etwas an (die gestreifte Baumwollhose, die ich ein paar Wochen zuvor für sie genäht hatte, ein weites T-Shirt, ihre Jeansjacke und grüne Turnschuhe), danach war ich selber an der Reihe (rostrotes Hemdblusenkleid, Jeansjacke, Stiefeletten). Ich bürstete Poppys rotes Haar und flocht es zu Zöpfen, begleitet von lautem Protestgeschrei. Nachdem ich auch noch mein eigenes, nicht ganz so rotes Haar gebürstet und zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, machte ich für uns beide Porridge. Hinterher packte ich Poppys Pausenmahlzeit (Sandwich, Karotten- und Gurkenscheiben, Apfel) in ihre Pausenbox und mein Mittagessen (dito) in die meine. Kurz bevor wir aufbrachen, verstaute ich die Zeichnung in meinem Rucksack.

Um Viertel vor acht lieferte ich Poppy bei Gina ab. Ich kannte Gina seit der Schulzeit: Wir waren miteinander in Urlaub gefahren, hatten zusammen in einem Haus gewohnt und uns unsere Geheimnisse anvertraut. Wir hatten miterlebt, wie die andere sich verliebte, Trennungen durchmachte, sich auf spektakuläre Weise betrank oder zudröhnte. Wir hatten uns gestritten und wieder versöhnt. Eine Weile war Carlie Teil unseres kleinen Freundschaftsbundes gewesen, bis sie mir dann den Freund ausspannte – weshalb Gina nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte und immer noch voller eisiger Verachtung von ihr sprach. Gina und ich waren zur selben Zeit schwanger gewesen und hatten unsere Kinder knapp hintereinander zur Welt gebracht.

Manchmal kam es mir vor, als wären wir eher Schwestern als Freundinnen, verbunden durch eine gemeinsame Vergangenheit. Sie stellte einen der Gründe dar, warum ich nach London Fields gezogen war. Ihr Sohn Jake ging mit Poppy in den Kindergarten. Gina hatte inzwischen ein zweites Kind bekommen, die kleine Nellie, ein sechs Monate altes Mädchen mit stämmigen Beinen, rosigen Pausbacken, die mich immer an rote Äpfel erinnerten, und einer kräftigen Stimme, mit der sie wie ein beschleunigendes Motorrad röhren konnte.

Gina arbeitete für eine Wohltätigkeitsorganisation und war drei Monate nach der Geburt ins Berufsleben zurückgekehrt. Ihr Ehemann Laurie arbeitete von zu Hause aus und übernahm den Großteil der Kinderbetreuung. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt arbeitete. Es schien ihm wirklich Spaß zu machen, sich um die Kinder zu kümmern. Ständig war er mit ihnen am Backen oder Malen oder unternahm mit ihnen Ausflüge zu seltsamen Veranstaltungen, von denen er im Internet las. Ein paar Monate zuvor hatten Poppy und ich ihn mal zu einem surrealen Kaninchen-Geschicklichkeitsturnier in Barking begleitet und zugesehen, wie ernst dreinblickende Mädchen im Teenageralter ihre perplexen Hasen an Leinen über – besser gesagt, meistens durch – Miniaturhindernisse zerrten. Laurie war von schmächtiger Gestalt, doch ich war es gewohnt, ihn mit Nellie im Tragetuch und Jake auf der Hüfte zu sehen. Zwei- bis dreimal die Woche brachten er oder Gina – aber fast immer er – Poppy und Jake in den Kindergarten und holten sie auch wieder ab. An meinen freien Tagen war ich an der Reihe. Während Jason zum Direktor aufgestiegen war, hatte ich mich nach Poppys Geburt seitwärts bewegt und war Teilzeit-Grundschullehrerin geworden, für ein Gehalt, das meine Unkosten mal mehr, mal weniger deckte. Wie hatte das geschehen können, fragte ich mich, wo wir doch auf gleicher Höhe gestartet waren? Wie hatte ich das zulassen können?

An diesem Morgen wollte Poppy nicht bleiben. Sie schlang die Arme um meine Beine und klammerte sich verzweifelt an mir fest. Ich musste sie regelrecht von mir wegziehen.

»Keine Sorge.« Laurie schob mich sanft zur Tür hinaus. »Sobald du außer Sichtweite bist, geht es ihr wieder gut.«

»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte ich zu Nadine, während wir beide unsere Sandwiches verspeisten. Nadine arbeitete als Inklusionsbeauftragte an der Schule in East London, wo ich Drittklässler unterrichtete. Sie war groß und kräftig, hatte dunkles, sehr kurz geschnittenes Haar und trug gern Kreolen, Lederjacken und Bikerstiefel. Jedes Mal, wenn ich sie zu Hause besuchte, wunderte ich mich darüber, wie viel Lärm und Chaos ihre drei Söhne veranstalteten und wie ruhig sie dabei blieb, als befände sie sich in ihrem ganz eigenen, von allem abgeschotteten Raum. Die Kinder an der Schule hatten ziemlichen Respekt vor ihr, und ich war begeistert von ihr und wollte gerne mehr so sein wie sie – unerschütterlich, selbstbewusst, sicher, verheiratet.

Ich zog die Zeichnung aus dem Rucksack.

»So was kenne ich sonst nicht von ihr.«

Ich erzählte Nadine, was Poppy gesagt, dass sie ins Bett gemacht und wie sie sich an mich geklammert hatte. Nadine hörte mir aufmerksam zu und lächelte dann.

»Es ist nur diese eine Zeichnung, ein einmaliges Missgeschick im Bett. Meinst du nicht, dass du im Moment vielleicht ein bisschen übervorsichtig bist, nach allem, was du im Zusammenhang mit der Scheidung durchgemacht hast?«

»Es war gar keine Scheidung.«

»Aber so ähnlich. Es war eine Krise in deinem Leben, und auch in ihrem. Deswegen löst schon eine Kleinigkeit bei dir Angstgefühle aus.«

»Was ist mit ›er hat sie tot macht‹?«

Sie lachte.

»Du solltest mal hören, was meine Jungs so dahersagen. Sie saugen alles auf, Sachen, bei denen du gar nicht mitbekommst, dass sie sie hören oder sehen. Sie schnappen etwas auf, was jemand im Vorbeigehen auf der Straße sagt oder im Fernsehen oder wo auch immer.«

Ich erhob mich.

»Bestimmt hast du recht.«

»Wenn du dir weiterhin Sorgen machst, kannst du jederzeit mit Alex reden.«

Alex war Nadines Partner und von Beruf Psychotherapeut.

»Er hätte nichts dagegen?«

»Du kannst ihn fragen.«

»Schon gut. Ich werde sie einfach im Auge behalten.«

Als ich Poppy bei Gina und Laurie abholte, stürmte sie mit leuchtenden Augen auf mich zu. Sie hatte gelbe Farbe an der Wange und Gras im Haar. Aufgeregt warf sie sich in meine Arme und lehnte sich dann zurück, um mir die Bildchen zu zeigen, die sie sich auf den Bauch geklebt hatte.

»Wie es aussieht, hatte sie Spaß.«

Laurie wirkte nachdenklich.

»Ja, ich schätze schon.«

»War alles in Ordnung?«

»Sie hatten eine kleine Auseinandersetzung, aber jetzt scheint wohl wieder alles gut zu sein.«

Ich stellte Poppy auf den Boden und wandte mich dann in leiserem Ton wieder an Laurie. Als Lehrerin hatte ich immer versucht, sofort einzuschreiten, wenn ich mitbekam, dass Kinder andere schikanierten. Ich hatte mir geschworen, nie eine von den Müttern zu werden, die nicht wahrhaben wollten, dass auch ihre eigenen Kinder zu so etwas fähig waren.

»Was ist passiert?«

»Jake hat sich ein bisschen aufgeregt.«

»Hat Poppy ihm was getan?«

»Keine Ahnung. Jake hat geweint. Ich glaube, Poppy hat etwas zu ihm gesagt.«

»Was denn?«

»Was genau es war, weiß ich nicht.« Laurie zog die Schultern ein wenig hoch und lächelte mich an, wobei sich in seiner linken Wange ein Grübchen bildete. »Jake hat nur gesagt, dass es etwas Schlimmes war. Er hat geweint.«

»Darf ich Jake danach fragen?«

Laurie schüttelte den Kopf. »Besser nicht, ich hab ihn gerade erst beruhigt. Keine Sorge, wahrscheinlich hat er es schon wieder vergessen. Wir wissen doch beide, wie sie in dem Alter sind.«

Während unseres kurzen Fußmarsches nach Hause versuchte ich mich zu entspannen, aber es gelang mir nicht. Als wir die kleine Grünfläche erreichten, von der es nur noch ein Katzensprung bis zu unserer Wohnung war, blieb ich stehen und ging in die Knie, sodass ich Poppy direkt in die Augen sehen konnte.

»Hattest du Spaß mit Jake?«

»Er hat weint«, stellte Poppy nüchtern fest.

»Ja, ich weiß. Warum?«

»Er hat weint.«

»Hast du etwas gesagt, das ihn zum Weinen brachte?«

»Ich hab Hunger«, wechselte Poppy das Thema. »Viel Hunger.«

Es hatte keinen Sinn, weiter nachzuhaken.

»Das ist gut«, antwortete ich. »Weil wir nämlich gleich mit Aidan grillen werden. Das wird bestimmt nett, meinst du nicht auch?«

Ich fand selbst, dass ich mich lächerlich aufführte. Ich benahm mich genau wie die Glucke, die ich nie hatte werden wollen.

3

Aidan kam mit Essen und mehreren Päckchen schnell brennender Grillkohle. Die Lebensmittel lud er auf dem Küchentisch ab: aufgespießte Maiskolben, rote Paprikaschoten, zwei Scheiben Thunfisch, eine Fischfrikadelle für Poppy, grünen Salat, Tomaten, eine Flasche Weißwein.

»Dir ist aber schon klar, dass wir nur zu dritt sind?«, fragte ich vorsichtig.

»Es ist der erste Grillabend des Jahres«, entgegnete Aidan mit feierlicher Miene. »Das muss angemessen begangen werden.«

Ich wandte mich an Poppy. »Magst du beim Herrichten helfen?«

»Nein«, antwortete Poppy entschieden.

Aidan wirkte ein bisschen enttäuscht.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Schon gut. Nur Männer dürfen in die Nähe eines Grills. Das ist ein Gesetz.«

Der Grill war im Verlauf des Winters zusammengebrochen, sodass Aidan erst mal einige Zeit darauf verwenden musste, ihn wieder in Ordnung zu bringen, ehe er ihn anheizen konnte. Ich ging mit Poppy hinein, drückte ihr ein Malbuch und Kreiden in die Hand und setzte sie an ihren kleinen roten Tisch, auf den dazugehörigen roten Stuhl. Sofort machte sie sich mit großer Konzentration an die Arbeit und produzierte in schneller Abfolge ein Bild nach dem anderen: eine Seite mit violetten Streifen, eine mit grünen und gelben Schleifen und Kreisen, dann einen orangegelben Klecks, von dem ich wusste, dass er Sunny darstellte, denn Sunny war das Motiv, das sie am häufigsten auf Papier bannte. Ich blickte ihr über die Schulter: Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf.

Im Garten kämpfte Aidan noch immer mit einem Bein des klapprigen, verrosteten Grills. Es war vermutlich an der Zeit, einen neuen zu kaufen. Aidan trug eine ausgewaschene schwarze Jeans, ein Jeanshemd, das er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte, und abgewetzte Turnschuhe. Sein dunkelbraunes Haar begann sich kaum merklich zu lichten. Seine runden Brillengläser verliehen ihm ein gelehrtes, leicht verblüfftes, fast etwas eulenhaftes Aussehen. Er arbeitete für eine Beraterfirma im Bereich der alternativen Energien. Am Telefon hörte ich ihn manchmal mit Kollegen über Kapazitätsfaktoren, Einspeisungstarife und andere Dinge sprechen, die ich nicht verstand. Er war ein ordentlicher, sanftmütiger, höflicher und ein wenig schüchterner Mann, der sich nie in den Vordergrund drängte, nie jemanden unterbrach und auch nie die Stimme erhob, also in jeder Hinsicht das Gegenteil von Jason. Ich mochte alles an ihm, vor allem die Art, wie er seinen Mitmenschen zuhörte, mit einem Gesichtsausdruck beflissener Konzentration. Poppy gegenüber benahm er sich genauso. Ich machte die Weinflasche auf, schenkte uns je ein Glas ein und ging damit nach draußen. Aidan hatte es inzwischen geschafft, den Grill zu stabilisieren, und zündete gerade die Kohle an. Er trat einen Schritt zurück, und ich reichte ihm eines der Gläser.

»Was meinst du, wann wir essen können?«

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Gegen sieben. Tut mir leid. Ist das zu spät für Poppy?«

»Nein, das passt schon.«

»Hallo!«

Wir wandten beide den Kopf, um herauszufinden, woher die Stimme kam. Bernie lehnte sich aus seinem Fenster.

»Das ist Aidan, und das ist mein Nachbar, Bernie«, stellte ich die beiden vor.

»Ich hab dich schon gesehen«, antwortete Bernie, »kommen und gehen.«

Er sagte das in einem Ton, als würde er Buch führen.

Aidan hob grüßend eine Hand. »Sollen wir ihn einladen?«, fragte er mich im Flüsterton.

»Nein.«

»Grillabend«, stellte Bernie fest.

»Ja. Ich hoffe, der Rauch zieht nicht …«

»Falls ihr gerade überlegt, ob ihr mich runterbitten sollt, macht euch keine Gedanken, ich bekomme Damenbesuch.«

Das Fenster wurde geschlossen. Aidan sah mich fragend an.

»Er hat mehrere solcher Damen«, erklärte ich. »Einige von ihnen sind sehr laut. Man hört sie durch die Decke. Glaubst du, ich kann ihn bitten, ein wenig leiser zu sein? Es ist mir unangenehm.«

»Hört Poppy es auch?«

»Keine Ahnung. Ich hoffe nicht.« Ich registrierte sein Lächeln. »Ich weiß«, fuhr ich fort, »das klingt komisch, aber im Moment scheint mir alles ein bisschen aus dem Lot zu sein.«

Er stieß die Kohle mit dem Schürhaken an und beobachtete, wie sie aufleuchtete. »Was ist los?«

Ich nahm einen Schluck Wein.

»Entschuldige, dass ich dich damit nerve. Manchmal kommt Poppy in seltsamer Stimmung von ihrem Vater zurück, dann mache ich mir Sorgen und fühle mich schuldig, weil wir ihr das angetan haben. Kannst du das nachvollziehen?«

Aidan sah durchs Fenster zu Poppy hinein, die immer noch ganz in ihre Malerei vertieft war, das Gesicht vor Anstrengung in Falten gelegt, die Zungenspitze an der Lippe.

»Du denkst, es geht ihr nicht gut?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich wünschte, ich könnte dir etwas Hilfreiches sagen, aber wahrscheinlich verhält es sich wie mit schlechtem Wetter. Es geht vorüber. Mir ist klar, dass das kein großer Trost ist, wenn man gerade im Regen steht, aber irgendwann hört es zu regnen auf.«

»Ja, wahrscheinlich«, antwortete ich unsicher.

Er hob die Hände. »Tut mir leid, vielleicht ist das mit dem Wetter kein guter Vergleich.«

Ich beugte mich vor und küsste ihn auf seine stoppelige Wange. Er roch gut.

»Du brauchst dich deswegen nicht zu entschuldigen. Ich weiß, dass es kompliziert ist mit Poppy und mir. Ständig sage ich dir im letzten Moment ab oder schicke dich mitten in der Nacht heim. Und oft bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich komme mit Altlasten.«

Aidan berührte mich mit der freien Hand am Hinterkopf und ließ die Finger dann meinen Nacken hinuntergleiten.

»Ich habe mir Arbeit mitgebracht, die ich nach dem Essen erledigen muss. Ist es dir recht, wenn ich danach noch bleibe? Zumindest ein bisschen. Ich meine, natürlich nur, wenn du das möchtest.«

»Ich möchte, dass du bleibst. Aber nicht über Nacht.«

»Schon gut.«

»Noch nicht.«

Poppy verspeiste ihre Fischfrikadelle, weigerte sich jedoch hartnäckig, Salat oder Gemüse zu essen. Hinterher verputzte sie eine Schüssel Schokoeis und verkündete dann, ihr tue der Bauch weh. Ich brachte sie nach oben, zog sie aus, half ihr in die Wanne, seifte ihren kleinen Körper ein, blies ein paar Seifenblasen für sie, hob sie dann wieder heraus und wickelte sie in ein Handtuch. Nachdem ich ihr in den Schlafanzug geholfen hatte, las ich ihr etwas vor, wobei sie die Zeilen mitsprach, die sie schon auswendig konnte. Als ich das Buch schließlich weglegte, erklärte Poppy, sie sei nicht müde. Mit starrem Blick erklärte sie mir, ich müsse bleiben. Einen Moment später war sie eingeschlafen.

Während Aidan sich durch seinen Stapel Unterlagen kämpfte, trug ich die Reste unserer Mahlzeit vom Garten ins Haus und räumte auf. Irgendwann blickte er hoch und fragte, ob er helfen könne.

»Es fühlt sich schlecht an«, meinte er, »wenn der Mann arbeitet und die Frau abwäscht.«

»Das sollte sich auch schlecht anfühlen«, erwiderte ich. »Zumindest meistens. Aber heute Abend ist es okay. Ich möchte etwas tun. Mach ruhig mit deiner Arbeit weiter.«

Nachdem alles aufgeräumt war, hievte ich meine Nähmaschine und das Kostüm, das ich für Poppy nähte, auf den Tisch. Sie war in ein paar Wochen zu einer Geburtstagsfeier eingeladen und wollte als goldene Hexe gehen. Ich war nicht ganz sicher, was goldene Hexen trugen, doch Poppy hatte da sehr konkrete Vorstellungen. Wir waren in ein paar Läden in Spitalfields gewesen, wo sich in den Regalen Stoffballen in allen Farben stapelten. Poppy hatte sich schließlich für ein glitzerndes Material in Blau und Gold entschieden, das einem fast in den Augen wehtat. Jetzt nähte ich ihr daraus einen Kapuzenumhang. Ich schob den Stoff auf die Nähplatte und überprüfte die Fadenspannung.

Plötzlich spürte ich Aidan hinter mir. Er legte mir die Hände auf die Schultern und küsste meinen Scheitel. Mit einem leisen Seufzen lehnte ich mich an ihn.

Meine Beziehung mit Jason ließ sich anhand des Verlaufs unseres Sexlebens nachverfolgen, angefangen in den frühen Tagen, als wir die Finger nicht voneinander lassen konnten und es sich fast brutal und gefährlich anfühlte, bis hin zu den letzten Monaten, in denen es beinahe war, als würden wir uns für einen Arztbesuch vorbereiten, wenn wir uns beide auf unserer jeweiligen Bettseite auszogen wie vor einer Untersuchung. Ich dachte daran, wie ich vor Jahren mal das Licht ausgeschaltet hatte und Jason es daraufhin wieder anknipste: »Ich muss dich anschauen«, sagte er damals. In den letzten Jahren hatte er das Licht immer ausgeschaltet. Inzwischen fragte ich mich, ob er es tat, weil er sich dann vorstellen konnte, ich wäre eine andere.

Mit Aidan hatte ich entdeckt, wie es sich anfühlte, wieder begehrt zu werden – und auch selbst wieder zu begehren. Mein Körper war zum Leben erwacht. Ich ließ Poppys Hexenmantel liegen, stand auf, und wir umarmten uns.

»Schläft sie?«, fragte er.

Ich zog ihn nach oben, in mein Schlafzimmer, wo ich die Tür mit dem Fuß zuschob.

»Tief und fest. Trotzdem sollten wir leise sein.«

»Man möchte ja auch Bernie nicht stören. Wenn wir ihn hören können, hört er uns bestimmt auch.«

Aidan ließ nicht zu, dass ich mich selbst auszog. Ich hatte das Gefühl, dass er jeden Zentimeter von mir sehen wollte, jeden Zentimeter berühren. Dann lag ich unter der Decke und verfolgte, wie er sich seinerseits auszog, seine Sachen zusammenfaltete und auf den Stuhl legte, obenauf Uhr und Brille. Es war schwer, leise zu sein. Ich zog die Decke über uns, sodass wir in unserer eigenen dunklen Höhle lagen. Doch selbst dann machte ich mir noch Sorgen, wir könnten Poppy geweckt haben, und lauschte angespannt, ob aus ihrem Schlafzimmer irgendein Geräusch drang.

Schließlich drehte ich mich auf die Seite und legte die Handfläche auf Aidans Wange. Ohne Brille sah er anders aus, jünger und weniger beherrscht.

»Es tut mir leid, aber du musst jetzt gehen. Ist das ein Problem für dich? Ich möchte dieses Mal alles richtig machen.«

Aidan gab mir keine Antwort, beugte sich aber zu mir herüber und küsste mich, woraufhin ich mich aufsetzte und – eingehüllt in die Bettdecke – zusah, wie er sich anzog. Es gefiel mir, dass er alles, was er tat, ordentlich und ohne Eile erledigte. Selbst beim Schließen seines Gürtels und beim Schnüren seiner Schuhe legte er diese bedächtige Art an den Tag. Ich wartete, bis die Haustür ins Schloss fiel, ehe ich aufstand, meine Schlafanzughose und ein T-Shirt anzog und in Poppys Zimmer ging. Sie lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet.

Als Poppy noch ein Baby war, hatte ich sie manchmal beobachtet, während sie in ihrem Bettchen schlief, und sie dann aufgeweckt, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, dass sie nicht mehr atmete. Selbst jetzt musste ich mich beherrschen, sie nicht aus dem Bett zu heben und fest in den Arm zu nehmen. Ich musste an ihre finstere schwarze Zeichnung denken – an die Gestalt, die aus der Höhe herabstürzte. Ein leichter Schauder durchlief mich.

»Ich beschütze dich«, flüsterte ich leise, bevor ich in mein Bett zurückkehrte.

4

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag Poppy neben mir. Sie war aus ihrem Zimmer herübergepatscht und neben mich ins Bett geschlüpft, ohne mich zu wecken. Ich hatte schon immer einen guten Schlaf. Bis sie zur Welt kam, schlief ich am Wochenende meistens zehn Stunden oder mehr. Damals lag ich oft am späten Vormittag noch im Bett, während Jason loszog, um die Zeitung und Gebäck zu kaufen. Das schien mir sehr lange her zu sein. Im Moment fühlte ich mich noch ganz benommen von den Emotionen des Vortags und den beklemmenden Träumen, die mich nachts geplagt hatten, auch wenn ich mich jetzt an keine Einzelheiten mehr erinnern konnte, nur an ein Gefühl von beängstigendem Chaos. Ich musste mich erst mal sammeln, mir ins Gedächtnis rufen, dass ich frei hatte. Gut. Ich kuschelte mich noch einmal in mein Kissen und schloss für ein paar wunderbare Sekunden die Augen, ehe ich schließlich aus dem Bett glitt und ins Bad tappte, wo ich mich duschte und rasch fertig machte. Dann weckte ich Poppy und zog ihr eine Jeans und ein leuchtend rotes T-Shirt an, was eine schwierige Angelegenheit war, weil Poppy sich hartnäckig sträubte.

Nachdem ich den Wasserkessel für meinen Kaffee aufgesetzt hatte, gab ich Milch und Haferflocken in einen Topf. Während ich umrührte, hörte ich oben vertraute Geräusche, Poppys Geplapper – sie führte ständig Selbstgespräche – und dann das Federn ihrer Matratze. Sie sprang mal wieder auf ihrem Bett herum. Als das federnde Geräusch verstummte, folgte ein anderes, das ich nicht kannte, eher ein Knallen. Es war erneut zu hören, diesmal lauter, dann richtig laut, als würde etwas brechen. Ich stürmte hinauf in Poppys Zimmer, wo sie gerade dabei war, einen Gegenstand mit voller Wucht an die Wand zu donnern. Es handelte sich dabei um eine kleine hölzerne Kuh. Sie knallte das Spielzeug so heftig gegen die Wand, dass es dort eine Delle hinterließ.

»Poppy, hör auf!«

Poppy wandte den Kopf und starrte mich mit wildem Blick an.

»Fickefotze«, rief sie. »Fickefotze!«

Ich sank auf die Knie, packte sie und drückte sie fest an mich. In erster Linie wollte ich sie dadurch beruhigen, zugleich aber auch am Weitermachen hindern und zum Schweigen bringen.

»Was sagst du denn da, Poppy? Woher hast du das?«

Ich hielt sie ein Stück von mir weg, um ihr Gelegenheit zum Antworten zu geben. Den Gesichtsausdruck, den ich dabei zu sehen bekam, kannte ich von ihr nicht. Ihr Mund war auf eine Art verzogen, die mir Angst machte.

»Poppy, was ist los?«

»Er hat sie tot macht!«

»Hör auf, Poppy. Hör auf!«

»Fickefotze, Fickefotze, Fickefotze!«

Ein Geruch stieg mir in die Nase. Es roch angebrannt.

»Warte einen Moment.«

Ich ließ Poppy los und rannte hinunter in die Küche, wo ich einen überkochenden Topf mit Blasen schlagendem, spritzendem Porridge vorfand. Ich drehte das Gas ab, holte tief Luft und versuchte, mich zu beruhigen. Es kam mir vor, als wäre gerade eine Bombe explodiert, nein, zwei: eine in Poppys Zimmer und eine in der Küche.

So gelassen, wie ich nur konnte, verteilte ich das, was von dem Haferbrei noch übrig war, auf zwei Schüsseln, stellte beide auf den Tisch, fügte jeweils einen Schuss Milch hinzu, um das Porridge abzukühlen, und je einen Teelöffel Honig, um es zu süßen. Dann holte ich Poppy nach unten. Während wir aßen, überlegte ich krampfhaft, was ich tun sollte, konnte jedoch keinen klaren Gedanken fassen. Das Wichtigste zuerst, dachte ich schließlich. Ich bemühte mich um den beruhigendsten Tonfall, den ich zustande brachte.

»Hör zu, Poppy, mein Schatz, was du da vorhin gesagt hast … Weißt du noch, gerade eben? Das darfst du nicht zu anderen Leuten sagen. Im Kindergarten darfst du das nicht sagen. Hörst du?«

»Warum?«

»Die anderen werden sonst traurig. Zu mir kannst du alles sagen, was du willst, aber nicht zu anderen.«

»Bist du traurig?« Sie beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Hast du weint?«

»Nein, Poppy, ich bin nicht traurig. Aber im Kindergarten darfst du es nicht sagen.«

»Sonst sind alle traurig.«

»Ja, genau, richtig.« Ich wartete ein paar Augenblicke. »Von wem hast du denn das Wort?«

»Denn das Wort?«

Ich gab auf. Statt weiter nachzuhaken, schenkte ich ihr ein Glas Saft ein. Während sie damit beschäftigt war – teils, indem sie daraus trank, teils, indem sie damit herumspielte –, schnappte ich mir das Telefon und ging vor die Tür. Ich wählte die Nummer. Es klickte, dann meldete sich eine männliche Stimme.

»Hallo, Alex, hier ist Tess. Nadine hat gesagt, ich darf dich anrufen. Ich muss dich um einen riesengroßen Gefallen bitten.«

5

Du findest es wahrscheinlich albern, dass ich deswegen deine Zeit verschwende.«

»Nein«, widersprach Alex.

Lieber wäre es mir gewesen, wenn er Ja gesagt hätte. Eigentlich wollte ich hören, dass der Vorfall nichts zu bedeuten habe, dass alles in Ordnung sei und sich das Ganze von selbst wieder geben werde.

Nach dem Telefonat hatte ich Laurie angerufen und ihm erklärt, dass ich Poppy an diesem Morgen erst später in den Kindergarten bringen und daher auch Jake nicht mitnehmen könne, beide aber wie üblich abholen würde, falls das für ihn in Ordnung sei. Dann schickte ich Alex wie von ihm gewünscht eine Mail, in der ich sämtliche ungewöhnlichen Verhaltensweisen auflistete, die Poppy seit dem Wochenende an den Tag gelegt hatte: die Zeichnung, das Schimpfwort, das Bettnässen, ihre verstärkte Anhänglichkeit. Ich hatte ein Foto von der schwarzen Kreidezeichnung gemacht und fügte es der Nachricht bei. Poppy erklärte ich, wir würden vor dem Kindergarten jemanden besuchen.

»Eine gute Fee?«

»Nein, bloß einen Freund.«

Als wir in den Bus nach Primrose Hill stiegen, kletterte Poppy die Treppe hoch und setzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, wo sie die kurzen Beine baumeln ließ und mit freudiger, interessierter Miene nach draußen spähte, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Sie deutete auf die Elster in der Platane, den kleinen Hund, der sein Herrchen verloren zu haben schien, den Jungen, der auf seinem Fahrrad Kunststücke vollführte, das silberfarbene Auto, die Schäfchenwolken am ansonsten blauen Himmel, die Schar Schulkinder in ihren gelben Warnwesten, die Mülltonne, die vermutlich ein Fuchs in der Nacht umgestoßen hatte, sodass der Inhalt über den Gehsteig verteilt lag. Fasziniert betrachtete ich das blasse, sommersprossige Gesicht meiner Tochter. Ihr rotes Haar leuchtete, ihre Augen blitzten. Sie erschien mir wie eine kleine, hell lodernde Flamme.

Das Warehouse war ein ehemaliger, erst vor ein paar Jahren renovierter Industriebau, der nun ganz aus Stahl, Glas und Holz bestand. Im Empfangsbereich begrüßte uns eine Frau mit einer dunklen Lockenmähne, die sich als Paz vorstellte. Sie trug ein gelbes Tupfenkleid und riesige Ohrringe. Poppy blickte mit großen Augen zu ihr auf.

»Bist du eine Hexe?«

Paz grinste. »Nein. Jedenfalls keine böse.« Sie sprach mit einem leichten Akzent. Spanisch, dachte ich. »Hast du Angst vor Hexen?«

Poppy überlegte. »Ja. Als ich eine Hexe war.«

Paz wirkte verwirrt.

»Alex erwartet Sie«, wandte sie sich an mich. »Hier entlang, bitte.«

Ich hatte Alex Penrose schon etliche Male getroffen, allerdings immer nur auf Partys oder bei anderen gesellschaftlichen Anlässen. Ich kannte ihn als sehr dünnen, sehr hochgewachsenen Mann, der aufmerksam Wein ausschenkte, gern exzentrische Hemden trug, Witze mit überraschend unanständigen Pointen erzählte und mit viel Elan, aber wenig Eleganz tanzte. Nun begegnete ich einem anderen Alex Penrose. Mit ernster, höflicher Miene gab er mir kurz die Hand, als begegneten wir uns zum ersten Mal, und beugte sich dann aus seiner ungewöhnlichen Höhe hinunter, um Poppy zu begrüßen.

»Hallo, es freut mich, dich kennenzulernen.«

Er sprach in respektvollem Ton mit ihr, als wäre sie eine kleine Erwachsene.

Der Raum, in dem er uns empfing, wirkte nicht wie ein Sprechzimmer. Am Fenster stand ein knautschiges Sofa, vor dem ein gestreifter Teppich lag. An den Wänden hingen Poster, auf einem Tisch waren Kinderbücher und Spielsachen ausgebreitet.

»Wie ich höre, malst du gern«, sagte Alex. »Vielleicht magst du ja etwas für mich malen.«

Er deutete auf eine Schachtel voller dicker Wachsmalkreiden. Poppy musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Etwas für Mummy, nicht für dich.«

Alex lachte. »In Ordnung. Vielleicht kann Mummy unten warten, dann wird es eine Überraschung für sie.« Anscheinend verriet meine Miene meine Bedenken, aber Poppy schien keine zu haben, denn sie saß bereits am Tisch, eine orangegelbe Wachsmalkreide in der Hand, die Stirn vor Konzentration gerunzelt.

»Nicht schauen!«, ermahnte sie mich streng.

»Wir brauchen nicht lang«, sagte Alex an mich gewandt.

Ich saß in einem viel zu tiefen Sessel, gefangen in seiner ausladenden Weichheit. Es war erst kurz nach neun und das Warehouse leer. Sein Tag hatte noch nicht begonnen. Ich versuchte, eine der auf dem Tisch ausgebreiteten Zeitungen zu lesen, doch die Worte ergaben für mich keinen Sinn, sodass ich sie schnell wieder weglegte. Während ich mich zurücksinken ließ, schlug ich die Hände vors Gesicht, weil ich spürte, dass mir heiße Tränen in die Augen stiegen. Mein ganzer Körper fühlte sich flau an vor Angst, als hätten sich meine Knochen aufgelöst. Wie war es möglich, dass ich nun hier saß, in diesem Zentrum für Psychotherapie und geistige Gesundheit, während ein Therapeut, der sich auf Traumata bei Kindern spezialisiert hatte, meine Tochter unter die Lupe nahm?

Noch vor ein paar Tagen hätte ich Jason recht gegeben, dass wir trotz allem – trotz der Trennung, der schmerzhaften Umsiedlung in ein anderes Zuhause in einem anderen Teil von London, der vorsichtigen Umstrukturierung von Poppys Leben in Zeit, die sie mit Daddy, und Zeit, die sie mit Mummy verbrachte, und trotz des niederschmetternden Gefühls, dass wir unsere Tochter so früh in ihrem Leben im Stich gelassen hatten –, dass wir es trotz alledem geschafft hatten. Es würde nicht spurlos an Poppy vorübergehen, sie aber auch nicht ernsthaft schädigen. Bis vor Kurzem hatte sie auf so wundersame Weise unversehrt gewirkt, so lieb und lebhaft, dass ich dachte, wir hätten es tatsächlich geschafft, es tatsächlich überstanden. Allmählich war ich davon ausgegangen, dass ich wieder glücklich werden könnte, nachdem mir das Glück in den letzten Jahren nach und nach abhandengekommen war. Ich hatte sogar zugelassen, dass ich mich wieder verliebte, mich begehrenswert, schön und umsorgt fühlte.

Doch nun das, aus heiterem Himmel: diese Hässlichkeit. Was war an dem einen Wochenende bei Jason passiert? Was hatte aus der fröhlichen, in sich ruhenden Poppy ein ängstliches kleines Mädchen gemacht, das nicht einschlafen wollte, ins Bett nässte, Bilder vom Tod malte und mit verzerrtem Mund und böse funkelnden Augen »Fickefotze« rief?

Ich nahm die Hände vom Gesicht und ließ mich von dem Licht blenden, das durch die Glasfront hereinfiel. Draußen auf dem grasbewachsenen Hang blühten Blumen. In den sich belaubenden Ästen bauten Vögel ihre Nester. Ich wünschte, Alex würde lächelnd auf mich zukommen und sagen: Deiner Tochter fehlt gar nichts, es geht ihr rundum gut. Aber falls er es tatsächlich täte, würde ich ihm nicht glauben. Ich wusste, dass da etwas war. Bloß was?

Ich hörte eine Tür aufgehen, eine plappernde Stimme, dann tauchte Poppy oben an der Treppe auf, mit Alex an ihrer Seite. Sie war so klein und er so groß und dünn. Als sie die Treppe hinunterstiegen, nahm er sie an der Hand. In der anderen hielt sie ein paar Blätter.

Ich hievte mich aus dem tiefen Sessel.

»Da seid ihr ja!« Meine Stimme klang blechern.

»Ich hab malt!«, verkündete Poppy triumphierend. Sie drückte mir mehrere Bilder in die Hand.

Ich strich sie auf dem Tisch glatt, voller Angst, ich könnte bedrohliches schwarzes Gekritzel sehen, doch mir leuchteten lauter bunte Farben entgegen. Da war ein Fuchs, oder zumindest etwas Orangerotes mit einem Auge. Ein Regenbogen, schief und kühn, mit der Sonne auf der einen Seite und Regen auf der anderen. Die Anfänge eines Hauses: ein Rechteck, versehen mit zwei Fenstern und einer Tür, daneben ein Baum. Die vierte Zeichnung zeigte drei Dreiecke mit Kreisen obendrauf, aus denen jeweils ein wilder Wirrwarr aus Haar herausspross. Auf einer Seite prangte ein riesiger gelber Kreis.

»Da bist du«, erklärte Poppy und deutete dabei auf das kleinste Dreieck. »Da« – sie zeigte auf das wesentlich größere – »bin ich.«

»Wer ist dann die dritte Person? Ist das Daddy?«

»Daddy wohnt nicht bei uns. Daddy wohnt bei Emily. Das ist die Fee.«

»Und Sunny?«

Poppy starrte mich an. Mit vorwurfsvoller Miene legte sie ihren kurzen, dicken Zeigefinger auf den riesigen gelben Kreis. »Da.«

»Ja, klar.«

»Möchtest du einen Aufkleber, Poppy?« Paz war zu uns getreten.

»Ja! Auf den Arm und auf den Bauch.«

»Dann komm, und lass uns welche aussuchen.«

Alex wartete, bis die beiden außer Hörweite waren.

»Dir ist klar, dass es sich hierbei nicht um eine offizielle Beurteilung handelt?«

»Ja, aber was ist dein Eindruck? Ist mit ihr alles in Ordnung?«

»Deine Tochter ist ein kluges, freundliches, neugieriges, extrovertiertes Kind, Tess.«

»Ich weiß. Aber geht es ihr gut?«

»Ich sage dir das unter sämtlichen üblichen Vorbehalten«, er hielt einen langen, knochigen Finger hoch, »aber ich habe keine Anzeichen für Missbrauch gefunden. Ich meine, für sexuellen Missbrauch.«

Vor Anspannung konnte ich nur flach und keuchend atmen. Ich musste mich setzen.

»Ich habe keine körperliche Untersuchung durchgeführt, aber du sagtest ja am Telefon, dass im Genitalbereich keine wunden Stellen zu sehen sind.«

Ich nickte. Mir war schwindlig. Auf der anderen Seite des großen Raums wühlte Poppy in einem Korb.

»Nein«, bestätigte ich. »Wobei ich natürlich nicht genau weiß, wonach ich Ausschau halten müsste.«

»Mir ist nichts Beunruhigendes aufgefallen, kein sexualisiertes Verhalten. Sie wirkt auf mich auch nicht gehemmt.« Er gestattete sich ein Lächeln. »Um es mal milde auszudrücken: Sie ist sehr mitteilsam. Andererseits …« Wieder reckte er den knochigen Finger in die Höhe. »Alles, was du mir beschrieben hast – die Schlafstörung, das Bettnässen, die Anhänglichkeit, der zornige Ausbruch –, kann symptomatisch für irgendeine Art von Trauma sein. Oder es hat überhaupt nichts zu bedeuten.«

»Du weißt es also nicht.«

»Ohne weitere Informationen kann ich dir einfach nichts Genaueres sagen. Kleine Kinder sind sehr empfänglich für ihre Umgebung. Auf diese Weise lernen sie. Das weißt du selbst so gut wie ich.«

Ich überlegte einen Moment. Ich fühlte mich niedergeschlagen und kam mir außerdem dumm vor, weil ich nicht recht einschätzen konnte, ob das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht war.

»Du meinst also, das alles hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten.«

Alex überlegte nun seinerseits einen Moment.

»Nicht direkt. Ich will damit nur sagen, dass ich keinen Anlass zu der Annahme sehe, dass ihr jemand etwas angetan hat. Trotzdem könnte sie vielleicht etwas beobachtet haben. Oder sie spürt nur etwas.«

»Wie meinst du das?«

»Du sagst, das Ganze hat angefangen, nachdem sie von ihrem Vater zurückkam.«

»Ja.«

»Wie ist ihr Verhältnis zu ihm?«

»Gut. Bestens. Jason ist wie immer – ich meine, du kennst ihn ja. Es geht ihm gut. Er …« Ich hielt inne und rieb mir das Gesicht. Meine Augen fühlten sich sandig an. »Ach, ich weiß es doch auch nicht. Nicht mehr. Normalerweise verbringt sie während der Woche jeweils einen Tag bei ihm, außerdem jedes zweite Wochenende, sodass ich über diesen Teil ihres Lebens nicht mehr Bescheid weiß. Sie ist erst drei, aber was mit ihr passiert, wenn sie nicht hier ist, kann ich nicht sagen. Es gibt einen Teil von ihr, den ich bereits verloren habe.«

»Das ist schwer.«

»Er ist ein guter Vater. Er vergöttert Poppy.«

Vor meinem geistigen Auge sah ich Poppy auf Jasons breiten Schultern reiten, beide Hände an seinen Ohren, und mit ihm lachen, während er sie die sonnige Straße entlangtrug, mir entgegen.

»Und da ist nur Jason?«

»Du meinst … ach so, verstehe. Nein. Er ist verheiratet. Nach unserer Trennung hat er ziemlich schnell geheiratet. Emily ist sehr viel jünger als er.« Ich schnitt eine Grimasse. »Überraschung, Überraschung! Wie auch immer, ich kenne sie nicht wirklich gut, aber sie wirkt recht lieb. Lieb – das ist kein Ausdruck, den ich normalerweise für eine Frau verwende. Aber für sie scheint er mir passend.«

Ich sprach zu viel und zu schnell und holte tief Luft, um mich zu beruhigen.

»Was soll ich tun?«, fragte ich.

»Behalte Poppy im Auge. Vielleicht möchtest du die Leute im Kindergarten über deine Bedenken informieren.«

»Ja, das mache ich.«

Er schwieg erneut einen Moment, als überlegte er.

»Derartiges Verhalten bei einem Kleinkind«, fuhr er schließlich fort, »kann auch mit etwas anderem zu tun haben.«

»Woran denkst du dabei?«

»Ich hatte ja schon erwähnt, dass Kinder sehr viel mitbekommen. Wie geht es denn dir eigentlich?«

»Mir?« Ich fühlte mich plötzlich befangen. »Gut. Ich tue, was ich kann. Manchmal ist es schwierig.«

Er kommentierte meine Worte nicht. Stattdessen zog er ein Stück Papier aus der Tasche und faltete es auseinander.

»Dieses Bild hat Poppy auch noch gemacht«, bemerkte er, während er es mir reichte.

Ich betrachtete es. Es handelte sich um eine Frau, das erkannte ich an den Haaren und dem dreieckigen Kleid. Zusätzlich hatte Poppy eine Reihe von vertikalen Linien gezogen, die die Frau fast bedeckten.

»Was stellt das dar?«, fragte ich.

Alex blickte in die Richtung, wo Poppy neben Paz stand.

»Laut Poppy bist das du.«

»Und was bedeuten die Linien?«

»Sie hat gesagt, das sei ein Käfig, wie im Zoo.«

»Ein Käfig?«, fragte ich erschrocken. »Warum hat sie mich in einen Käfig gesteckt?«

»Ein Käfig kann dazu da sein, jemanden einzusperren«, erklärte er. »Er kann aber auch etwas aussperren.«

»Und in diesem Fall?«

»Keine Ahnung.«

6

Als ich vor dem Kindergarten Poppys Hand losließ, stürzte sie sich sofort in das Getümmel auf dem Spielplatz. Ich sah ihr ein paar Augenblicke nach. Mit dem roten T-Shirt und ihrem leuchtenden Haar war sie trotz der vielen kleinen Gestalten leicht auszumachen. Außerdem hörte ich ihr selbstbewusstes, kehliges Lachen. Mir wurde bewusst, wie angespannt ich nach ihr Ausschau hielt, als wartete ich auf etwas. Würde Poppy gleich irgendeine Obszönität rufen oder jemanden schubsen? Würde ihre Fröhlichkeit in etwas Düsteres, womöglich sogar Gewalttätiges umschlagen?

Ich wandte mich ab und ging hinein ins Klassenzimmer, wo Poppys Kindergärtnerin Lotty gerade ihr Sandwich aß. Sie schien mir beunruhigend jung zu sein, Anfang zwanzig vielleicht, und hatte die glatte Haut eines Kindes, doch sie wirkte immer gut gelaunt und ruhig. Poppy vergötterte sie.

Plötzlich fiel es mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Es laut auszusprechen, ließ es auf grimmige Weise real werden, als würde ich etwas Schlafendes zum Leben erwecken. Ich erzählte ihr alles. Lotty hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, den Kopf zur Seite geneigt. Ihr Sandwich hatte sie weggelegt.

»Bestimmt beunruhigt Sie das sehr«, sagte sie, nachdem ich geendet hatte.

Ich brachte kein Wort heraus, wandte lediglich den Kopf ab und nickte.

»Ich kann dazu erst mal nur sagen, dass mir bisher nichts Ungewöhnliches aufgefallen ist, aber natürlich werde ich nun, da Sie mir das erzählt haben, besonders gut aufpassen.«

»Poppy kommt hier klar?«

»Sie ist gescheit, steckt voller Energie und macht überall mit. Hin und wieder kann sie auch überdreht sein, übermütig und laut, aber das ist kein Grund zur Sorge. Soweit ich es beurteilen kann, geht es ihr gut.«

Ich schluckte. »Ich nehme an, Sie werden Ihre Jugendschutzbeauftragte informieren?«

»Das ist Vorschrift«, antwortete sie, »wie Ihnen ja bekannt sein dürfte.«

»Wer wird sonst noch darüber Bescheid wissen?«

»Abgesehen von ihr noch die Kindergartenleiterin sowie deren Stellvertreterin. Das war’s dann wohl.«

»Und Sie werden ein Auge auf sie haben?«

»Natürlich.«

»Und es mir sagen, wenn es etwas gibt, das ich wissen muss?«

»Auf jeden Fall. Aber ich bin davon überzeugt, dass da nichts ist.«

Ich biss die Zähne zusammen. Wie konnte sie da so sicher sein? »Danke.«

Nach diesem Gespräch blieb ich einen Moment draußen auf dem Hof stehen, in der seidigen Wärme des Tages. Auf dem Spielplatz rannte Poppy vorbei, ohne mich zu bemerken, zielstrebig und mit strahlendem Gesicht.

Ich wandte mich zum Gehen. Trotz der Tatsache, dass sowohl Alex als auch Poppys Erzieherin auf ihre jeweilige Art gelassen und beruhigend gewesen waren, schien es mir, als hätte ich etwas in Gang gesetzt.

Aber was hatte ich eigentlich in Erfahrung gebracht? Nichts, mal davon abgesehen, dass es vermutlich keinen Grund zur Sorge gab. Poppy ging es gut, und ich war eine übervorsichtige alleinerziehende Mutter, eine von der Sorte, mit der ich in meinem Beruf oft zu tun hatte und über die sich Jason immer aufregte.

Was hatten sie mir geraten? Nichts, außer abzuwarten und die Augen offenzuhalten und zu versuchen, mir keine allzu großen Sorgen zu machen.

Ich hatte drei Stunden Zeit, bis ich Poppy und Jake wieder abholen musste, und wusste nicht, wie ich diese Zeit verbringen sollte. Normalerweise wäre ich nach Hause gegangen und hätte ein bisschen Yoga gemacht oder wäre gejoggt, um anschließend an Poppys Hexenkostüm weiterzuarbeiten. Oder ich hätte eine Runde durch die Secondhandläden gedreht, auf der Suche nach Sachen, die ich noch für die Wohnung brauchte. Oder mich mit einer Freundin getroffen. Ein-, zweimal war ich sogar ins Kino gegangen, hatte mich in die hinterste Reihe gesetzt und in der Dunkelheit die verbotene Freude des Alleinseins genossen. Eigentlich aber sollte ich mich um den wachsenden Berg von Rechnungen und Mahnungen kümmern.

Doch ich wollte nichts davon machen, weil ich von einer brennenden Unruhe erfüllt war. Hätte ich noch geraucht, dann hätte ich mir jetzt eine Zigarette nach der anderen angezündet, nur um die Zeit totzuschlagen.