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Ich muss verschwinden, sagt er sich und zieht sich schleunigst vom Straßenrand zurück, dem allzu hell beleuchteten, die alte Schlosserei Friedli fest im Auge behaltend. Dann flitzt er um die nächste Ecke und ist weg, läuft und läuft, läuft schnell und schier blind vor Entsetzen, läuft durch die ausgestorbenen Straßen Berns, läuft durch die ganze, verfickte, leere Innenstadt hindurch, läuft mit tränenden Augen und voller Angst in die Unterstadt hinab, vorbei am Wohnsitz des Polizeipräsidenten, immer weiter, getrieben von der Panik, die trotzdem immer größer wird. Er kann sich indessen nicht vorstellen, dass einer, der durch die ganze, nächtlich ausgestorbene Stadt wie ein Irrer läuft, sogar einem Blinden auffallen würde.
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Seitenzahl: 549
Ein guter Politiker wird von der Öffentlichkeit einfach vergessen, fällt ihm ein, wie er auf seine neuen, bereits schmutzigen Halbschuhe hinunter blickt, und er versucht sich zu erinnern, wo er diesen bemerkenswerten Satz wohl gehört oder gelesen haben mag, während Oberst Zumbühl in den Nebel ruft: „Wir haben den strikten Auftrag, jeden Angriff auf unser Land jederzeit abwehren zu können!“, merkt bekümmert, wie Nässe und Kälte durch das bordeauxrote Oberleder seiner teuren Bally dringen und sich seine Zehen wie kalte Kartoffeln anfühlen. Er hätte doch die schwarzen Lederstiefel anziehen sollen, diejenigen mit der warmen Fütterung, die sonst das ganze Jahr über nutzlos in der Garage herum stehen. Lucette, die ihn früher immer rechtzeitig auf solch wichtige Einzelheiten aufmerksam gemacht hat, ist seit einem halben Jahr in Lausanne bei ihrer übergeschnappten Schwester. Die Bally sind bereits hin, und drei Monate vor seiner Wiederwahl nimmt die Zahl der öffentlichen Auftritte naturgemäß sprunghaft zu. Heute Morgen nun, um null-sieben-null-null, dieser Manöverabbruch des Stadtregiments, danach folgt Hundert Jahre Pontonierfahrverein, und was danach kommt, weiß er nicht einmal auswendig. Er verlässt sich blindlings auf seinen Terminkalender, den Alder mit gewohnter Routine zu-sammengestellt hat.
Entschlossen schaut er hoch und blickt an Zumbühls kantigen Hinterkopf mit den abstehenden Ohren und dem sauber ausrasierten Nacken, fragt sich, wie es diese Typen vom Militär eigentlich schaffen, auch mit fünfundfünfzig noch körperlich fit wie Zwanzigjährige zu sein, lässt danach den Blick über die fünfhundert schmutzigen, ausgelaugten Wehrmänner gleiten, die auf dieser schiefen, sumpfigen Bergwiese in fünf präzise abgezirkelte Hunderterpäcklein aufgestellt worden sind, in der vordersten Reihe die Subalternoffiziere in Ruhestellung mit steinernen Mienen, die übereinander gelegten Hände genau auf der Höhe der Geschlechtsteile, dahinter zwei Reihen Unteroffiziere mit leuchtenden Augen und roten Backen, dahinter wiederum, im Morgennebel nur noch schemenhaft erkennbar, die dröge Masse der einfachen Soldaten, deutlich nach ihrer Größe abgestuft, zuhinterst die Kleinsten, denen die feuchten Tarnjacken bis in die Kniekehlen hängen.
Er schielt unauffällig zu Buchser, der bewegungslos links neben ihm steht und gleichgültigen Gesichts den großen, schwarzen Regierungsregenschirm hält. Heute Morgen um sechs sind sie beide in Bern gestartet, sind mit einer Polizeieskorte in strömendem Regen ins Gantrischgebiet hinauf gefahren und haben wie üblich kaum ein Wort miteinander gewechselt. Aber beide wünschen sich jetzt nur noch eines: dass dieser verdammte Anlass, vom Ersten Sekretär aus angeblich wahltaktischen und terminlichen Gründen so früh angelegt, bald zu Ende sein möge.
Regierungsrat Feller sollte zunächst allen Wehrmännern persönlich die Hand drücken, denn die sind schließlich alle wahlberechtigt, so war es vorgesehen, doch Zumbühl war strikte dagegen, hat sachlich vorgerechnet, dass so was mindestens eine Stunde dauern und den Zeitplan des ganzen Manöverabbruchs völlig durcheinander bringen würde. Der alte Fuchs hatte den Braten natürlich gerochen. Beide waren sie seinerzeit in der gleichen Pfadfinderabteilung und in der gleichen Klasse des Städtischen Gymnasiums, im gleichen Jahrgang der Juristischen Fakultät, in der gleichen politischen Partei und anfänglich auch noch bei der gleichen Truppe – und konnten sich trotzdem nie riechen, aus Gründen, die weit zurück liegen müssen und wahrscheinlich irgendwo bei ihren Großvätern zu finden wären. Zumbühl ist damals gleich beim Militär geblieben, und Feller, Charles, ist als hoffnungsvoller Jungpolitiker in die Politik eingestiegen. Immerhin gehört er jetzt seit bald acht Jahren als Bernischer Finanzdirektor der Kantonsregierung an und wird bereits als Graue Eminenz gehandelt; nur Regierungspräsident Brunner sitzt noch länger drin als er.
Er ist also fast ganz oben angekommen und hat sorgfältig gestreute Andeutungen, bald einmal in die Landesregierung hinüber wechseln zu wollen, vehement von sich gewiesen. Aber allein die köstlich verlockende und anregende Vorstellung – Bundesrat Feller – würde ihn gewiss auch noch ermutigen, das steht fest, sobald sich auch nur der Schimmer einer Gelegenheit dazu ergäbe, aus dieser Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen. Das würde er auch noch packen, locker sogar, denn er ist ehrgeizig, wie alle Juristen, und er stellt sich bereits rein gewohnheitsmäßig nur die höchsten Ziele – wie alle Politiker.
Zumbühl spricht immer noch; von Dissuasion ist die Rede. Er spricht eindeutig viel zu lange. Die hinterste Reihe der Soldaten wird sichtbar unruhig. Einer hat sich entschlossen umgedreht und schifft breitbeinig ins Riedgras, andere schwatzen unverhohlen miteinander, viele rauchen hinter vorgehaltener Hand und keiner hört mehr hin. Da ist nichts mehr von Aufmerksamkeit, nichts mehr von Disziplin und nichts mehr von soldatischer Ordnung, noch Haltung festzustellen. Auf dem Gesicht Buchsers zeigt sich ein millimeterfeines Grinsen, das nur Feller richtig interpretieren kann. Höchste Zeit, dass Zumbühl abklemmt, denn außer den Offizieren in der erste Reihe, weil sie müssen, und den Unteroffizieren in der zweiten Reihe, weil sie dürfen, hört längst niemand mehr hin.
Dann aber ist es endlich soweit: Befehle werden in den Nebel gerufen, es wird stramm gestanden, die alte Regimentsfahne zockelt vorbei, und die Blasmusik bläst blechern den Fahnenmarsch. Mit steifen Beinen organisieren die Hauptleute den geordneten Abmarsch.
Feller tritt ungeduldig von einem Bein aufs andere und sieht all die Wahlberechtigten in trägem, plumpem Gleichschritt in die dichte, graue Nebelsuppe entschwinden, ohne dass er auch nur einem einzigen Wahlberechtigten tief in die Augen geblickt hätte. Seine Schuhe starren vor Dreck; er steckt bis zum Hosensaum im Matsch dieser verkrauteten Alpweide und fragt sich, was er sich noch alles zumuten müsse, nur um wieder gewählt zu werden.
Oberst Zumbühl salutiert stramm, bis der allerletzte, winzige Füsilier mit dem viel zu großen, schwarzen Gewehr vorbei geschlurft ist, dann dreht er sich nach Feller um: „So, das wär’s gewesen!“ sagt er, lacht kurz und zeigt dabei seinen üblichen, offenen, immer leicht erstaunten Gesichtsausdruck, als könne er es selber nicht richtig glauben. Als Gymnasiast hatte er damit bei den Mädchen großen Erfolg.
„Ich brauche jetzt einen Kaffee mit Schnaps“, antwortet Feller gedehnt und schaut zum schweren, schwarzen Mercedes hinüber, der einsam auf der nahen Schotterstraße steht. Seine Polizeieskorte – zwei jünglinghafte, pickelgesichtige Polizeibeamte, direkt aus der Rekrutenschule, in neuen, kantigen Uniformen, wartet weiter unten im Bergrestaurant auf ihn. Genau dahin drängt es Feller jetzt mit aller Kraft: an die Wärme.
Er räuspert sich und erklärt, allerdings wenig überzeugend: „Die Truppe ist in Ordnung, Hans.“ Er will Zumbühl die Hand reichen, doch dieser kommt ihm zuvor, salutiert kurz, dreht sich um und geht rasch in die Richtung weg, in die auch seine Truppe entschwunden ist, allerdings nur bis zu seinem wartenden Helikopter, und nicht bis in die leeren Ställe, in denen die Truppe untergebracht ist. Regierungsrat Feller und sein persönlicher Chauffeur Buchser stehen unvermittelt alleine im Regen, beobachten erst unentschlossen, wie das Militärspiel mit klammen Fingern seine kalten Instrumente einpackt, und wenden sich dann schweigend dem Mercedes mit Standheizung zu.
Feller wird das leise Gefühl nicht los, dass dieser unangenehme Umstand, alleine im Regen zurückgelassen worden zu sein, kein gutes Omen sei; er hätte den Wahlkampf nicht bei der Truppe des Stadtregiments beginnen sollen; etwas Einfacheres wäre besser gewesen, etwas Unverfänglicheres, wie zum Beispiel die berufstätigen Ehefrauen, die anonymen Alkoholiker, die pensionierten Lehrer oder etwas in dieser Währung. Zudem ist weit und breit keine Presse zu sehen, nicht der geringste Pressefotograf, nicht einmal ein Redaktionspraktikant mit dem dicken Mikrophon vom nächstgelegenen Lokalradio. Nichts. Mehrmals hat Feller seinen Ersten Sekretär darauf hingewiesen, stets konsequent dafür zu sorgen, dass immer und überall die Presse und die Medien dabei sind; sein Ziel ist Publizität, und er will ja nicht umsonst arbeiten.
Während er Buchser, der ihm die hintere Wagentür offen hält, zunickt und einsteigt, erinnert er sich an ein Gespräch mit Brunner, der ihm ganz offen gesagt hat: „Ich fühle mich nicht verpflichtet, um jeden Preis unter den Leuten sein zu müssen, denn ich lasse mich doch nicht öffentlich verheizen?“ Irgendwie macht ihm diese Haltung jetzt Eindruck, denn der Wahlauftakt bei der Truppe hat ganz eindeutig nicht nach seinen Wünschen hingehauen. Nun, als bernischer Regierungsrat ist er so oder so isoliert; damit muss er sich abfinden können, und da braucht er sich gar nichts vorzumachen. So hoch oben ist die Luft dünn, und das muss einer erst einmal selber erfahren haben. Unkomplizierte Umgänglichkeit, herzliche Kontaktfreudigkeit und unbeschwerte Geselligkeit kann man als Regierungsrat gleich von vornherein vergessen; die sprichwörtliche Steifigkeit des Amtes und die deutlich sichtbare Distanziertheit der Würde sind nicht nur unumgängliche Voraussetzungen für diese politische Aufgabe, sie werden vor allem vom Wählerpublikum erwartet und unabwendbar verlangt. Das Bild ist wichtig, das man in der Öffentlichkeit abgibt, die Optik, nicht die Inhalte. Die Inhalte sind völlig unwichtig und nahezu bedeutungslos, denn sie sind kommunikationstechnisch gesehen nur unnötiger Ballast. Niemand interessiert sich für politische Inhalte, nicht einmal die Parlamentarier, und die Presse schon gar nicht. Sie ist es ja, die diese banalen Äußerlichkeiten für die Politik überhaupt erst bedeutend und sogar entscheidend gemacht hat.
Lene will ausziehen, und sie zieht tatsächlich aus! Sie schleppt mit verbissenem Gesicht drei prall gefüllte Papiertragetaschen von der Migros aus ihrem Zimmer und sagt kein Wort mehr. Sie hat alles gesagt, was es zu sagen gibt. Der Krach ist total. Andi macht einen letzten Versuch mit Kaffee. Andi, der Kaffeekönig, so hat ihn Lene in besseren Tagen mal genannt. Gagu der Depp zeigt sich natürlich nicht; er liegt noch immer in Dodos breitem Bett und schnarcht laut. Und da haben wir denn auch gleich den wunden Punkt. „Die Kaffeemaschine nehme ich mit!“ erklärt Lene wütend. „Ich habe sie schließlich angeschafft!“
Das ist zwar richtig, aber so ganz richtig nun auch wieder nicht. Die Idee stammt von Andi, und bezahlt hat sie Lenes Alter. 3'969 Hämmer hat er für das glänzende Wunderding hingelegt, keinen mehr, und keinen weniger, ohne mit der Wimper zu zucken, denn so viel war ihm damals die Aufrechterhaltung der spärlichen Kommunikation mit seiner Tochter wert. Auf diese Weise kam die Wohngemeinschaft zu ihrer Cimbali, das neben der Glotze am intensivsten genutzte Gerät im Hause, der Stolz der ganzen Gruppe, ein italienisches Ungetüm mit hervorragenden inneren Qualitäten. Ihr Verlust wird sie alle sehr schmerzen, das ist bereits absehbar, denn so eine feine Maschine kommt nie wieder; so etwas gibt es nur einmal im Leben. Andi sieht sich bereits zu den ekelhaften Melitta-Filtern zurück kehren, zu dieser deutschen Kaffee-Methode, wo die Hälfte des Aromas in der Luft verpufft.
Lene will ihre Taschen bei der Wohnungstür hinstellen. Sie fallen jedoch immer wieder um, so gibt sie der einen Tasche einen wütenden Fußtritt. Die bunten, dicken Ordner purzeln heraus, die gesammelten Vorlesungsnotizen einer ewigen Studentin, mein Arsch, denkt Andi. Er darf gar nicht erst hinsehen; das Ganze ist einfach too much. „Was machen wir jetzt?“ fragt Fipo im zerknautschten rosa Pyjama unsicher zu Dodo gewandt, die auch im Pyjama am Tisch sitzt – in Gagus Pyjama, nota bene. Niemand weiß eine Antwort, weil sich noch niemand über die Bedeutung dieser Frage im Klaren ist. Klar ist nur, dass sie mit Geld zu tun hat: 1'200.- kostet die 5-Zimmer-Abbruch-Wohnung im Monat. Geteilt durch fünf macht 240.- netto. Das ist der Anteil für jeden, ohne die Nebenkosten. Allein für die Aufteilung der Nebenkosten muss man ein mathematisches Genie sein. Heizung, Elektrizität, Wasser, Telefon, Versicherung, Kaminfeger, Reparaturen und Kabelanschluss läppern sich zu einem saftigen Betrag zusammen. De facto muss 390.- brutto hingeblättert werden, à fonds perdu. Doch am Schluss geht es trotzdem nie auf; es geht einfach nie auf, das Menschliche nicht mitberechnet.
Lene hat bisher immer die Administration gemacht, weil sie einen schönen Taschenrechner besitzt, der auf schmale Papierstreifen die unwiderlegbaren Zahlen schwarz auf weiß ausdrucken kann. Jeder konnte nachrechnen, wenn er wollte, und es ging trotzdem nie auf. Und ausgerechnet Lene zieht aus.
Andi stellt die kleinen, braunen Tassen mit dem Kaffee auf den Tisch, perfekten Espresso, profimäßig gemacht, und fragt versuchsweise zu Dodo hin: „Und was sagt Gagu dazu?“ Dodo gibt gar nicht erst Auskunft, denn auch sie fühlt sich schwer erniedrigt. „Lieben ist ein Menschenrecht“, hat sie behauptet, und: „So was kann man niemandem verbieten!“
Eigentlich ist ja niemand ernsthaft dagegen. Aber in diesem speziellen Fall ist es sehr schwierig, die wirklichen Gründe des ganzen Kraches hinter den wahren Gründen herauszulesen. Fipo hat es versucht; er hat sich mit seinem Gleichgewichts-Argument nur lächerlich gemacht. Dodo hat ein sehr bedenkliches, äußerst ungeschicktes Eifersuchts-Argument vorgebracht, und genau das hat den ganzen Kracht von gestern Abend überhaupt erst so richtig in Fahrt gebracht. Selbst Andis ansonsten stets hoch gelobte, ausgleichende Wirkung auf die ganze Gruppe versagte ihren Dienst. Somit haben sich all die denkbaren Ursachen ein flottes Stelldichein gegeben, und deshalb hat das Pulver gezündet, ist die Bombe geplatzt und die ganze Chose hoch gegangen, wie man sagt.
Jetzt die Trümmer, das Trümmerfrühstück. Gagu der Depp zeigt sich natürlich nicht – wohlweislich. Man geht während seiner Absenz davon aus, dass eigentlich er die ganze Schuld zu tragen hätte, denn der Mann ist im Allgemeinen nun mal der Verführer, auch im vorliegenden Zweifelsfall; den Mann verführt die Frau, das ist ein altes Handlungsmuster, das seit jeher immer wieder abläuft, auch wenn die Frau – Dodo mit ihrer aktuellen Torschlusspanik im Besonderen – zuweilen tüchtig nachhelfen mag. Tatsache ist, dass es Lene einfach nicht mehr erträgt, Gagu und Dodo im Nebenzimmer keuchen zu hören, dazu diese endlosen, spitzen Schreie und das unstrukturierte Gestöhne, jeweils mindestens eine geschlagene Stunde lang, begleitet von spürbaren Erschütterungen in der ganzen Wohnung – selbst draußen, auf der Terrasse – und dazu das rhythmische Geknarre des alten Bettgestells, einfach tierisch. Das hält auf die Dauer niemand aus, der, die Hand am eigenen Geschlechtsteil, ganz alleine in seinem Bett liegen muss. Ist das nicht verständlich?
„Wo willst du hin?“ fragt Fipo Lene mitleidvoll und stellt seine schiefe Birne noch schiefer als üblich. „Ich suche mir eine andere WG, eine anständige WG“, antwortet Lene tonlos und starrt in ihr Kaffeetässchen. „Eine reine Frauen-WG, wo nicht ständig penetriert wird wie in einem Bordell.“ Andi kichert, und Dodo lacht hämisch auf, doch alle wissen: Es ist nicht einfach, denn nichts ist einfach, und manchmal wird es direkt komplex. „Kannst ja die Cimbali vorläufig noch hier lassen“, schlägt Andi vorsichtig vor, doch Lene geht gar nicht mehr darauf ein. Die Kaffeemaschine ist nicht ihr dringendstes Problem. „Wird schwierig sein“, meint Fipo nachdenklich, „das Angebot auf dem Wohnungsmarkt ist ziemlich knapp.“
Da hat er recht. So eine Wohnung gibt’s kaum noch. Der Wohnungsmarkt ist stadtweit total ausgetrocknet, und die ehemaligen Altwohnungen, die es überhaupt noch gibt, sind längst alle zu Tode saniert und somit unbezahlbar geworden. Auch diese Wohnung wird bald einmal das Zeitliche segnen müssen; es ist alles nur noch eine Frage der Gnadenfrist, denn das alte Haus liegt mitten in der Stadt. Bus- und Tramstation liegen gleich daneben. Das Mattenhofquartier hat städtebauliche Zukunft.
Sie sitzen im ersten Stock des alten Hauses. Der zweite Stock steht schon lange leer und wird gar nicht mehr vermietet, wie auch die große Werkstatt im Erdgeschoss nicht mehr, denn ein voll vermietetes Haus bringt weniger ein als ein leeres. Die Spekulanten sind ja keine Deppen, die wissen, wie der Hase läuft. Sie lassen sie hier drin vertragslos schmoren, nur damit niemand auf die Idee kommt, das leere Haus zu besetzen und den richtigen Ärger überhaupt erst zu provozieren.
Gedrückte Stimmung, kann man sagen. Andi steht an der Cimbali und schaut sich die Leute in der engen Küche nachdenklich an. Fipo ist eine Null – aber in Ordnung. Schafft als Securitas-Wächter. War früher mal bei der Kredit-Bank, hat er erzählt, soll aber die Lehre abgebrochen haben und ist nach Indien getrampt. Sieht aus wie der schiefe Turm von Pisa.
Dodo ist eindeutig die Tüchtigste von allen, hat etwas Mutter-haftes an sich, mit einem leichten Stich ins Giftige. Krankenschwester in der Insel mit den unglaublichsten Arbeitszeiten. Sie schläft neuerdings mit Gagu wie eine Ertrinkende. Wahrscheinlich hat sie einen gigantischen Nachholbedarf. Sie ist ziemlich breit und schwer, und wenn ihre achtzig-neunzig Kilos mal in Fahrt kommen, dann wankt das alte Haus. Dabei sind die beiden erst vor einem Monat auf den Geschmack gekommen, komischerweise, erst nachdem sie miteinander völlig ahnungslos eine Woche Toscana durchgezogen haben. Erst dort hat’s offenbar „gefunkt“ zwischen ihnen, wie man einem solchen Erdbeben verharmlosend zu sagen pflegt.
Lene wäre gar nicht übel, wenn sie nicht immer so kompliziert täte. Sie ist eben viel zu intellektuell und kommt aus viel zu gutem Hause. Das macht die Dinge oft schwieriger, als sie eigentlich sind. Geduldig hat man ihr zugehört, wenn sie ihre unverständlichen Theorien entwickelt hat, hat aus reiner Höflichkeit eher ungeschickte Einwände und etliche unnötige Fragen vorzubringen gewagt, welche die Zeit, die sie benötigte, um alles klar und richtig zu stellen, glatt verdoppelt hat. Immerhin kommt ihr das eindeutige Verdienst zu, das Niveau der WG enorm angehoben zu haben, denn wo sonst käme Andrea dazu – Lene nennt ihn nie Andi, wie alle andern, sondern stets bei seinem richtigen Namen – über Herrschaftsprinzipien, Machtmechanismen, Verhaltensmuster, Erziehungsmerkmale und Traumatologie zu diskutieren? Lene studiert Psychologie, und das seit geschlagenen zehn Jahren. Ein Klassemädchen, ehrlich, wenn auch in gewissen praktischen Bereichen ein bisschen eingeschränkt.
Der größte Depp der Wohngemeinschaft ist zweifellos Gagu, der abgestürzte Journalist und Freizeit-Flaneur. Deshalb heißt er ja überhaupt erst Gagu der Depp, an einem Stück ausgesprochen, also Gaguderdepp, aber nur, wenn er nicht dabei ist. Andi kennt ihn am besten, weil er am längsten mit ihm in der WG wohnt. Gagu ist damals gleich mit eingezogen, kaum hat er davon gehört, dass Andi eigenhändig beim alten Friedli, dem Schlosser, angefragt hat. Und um der Sache einen seriösen Anstrich zu geben, hat sich Andi gleich als Handlanger und Hilfsschlosser anstellen lassen, kurz bevor Friedli den Schirm zugemacht hat – und mit ihm auch sein ganzer, traditionsreicher Handwerksbetrieb, die weit herum bekannte Kunstschlosserei Friedli im Mattenhof. Was machte man seinerzeit nicht alles für die gute Wohnung im zweiten Stock der Schlosserei?
Nach Friedlis Abgang zügelte Andi vom zweiten Stock in den ersten Stock hinunter, in Friedlis ehemalige Wohnung, denn damals kostete sie nur 600.-, also die Hälfte, und Andi konnte es sich leisten, die verschwenderischen fünf Zimmer bloß mit Gagu zu teilen. Aber kaum war Friedli unter dem Boden, kamen die Turbulenzen mit seinen Erben, und jeder dieser beiden verschlagenen Taugenichtse mit ihren fabrikneuen BMW’s wollte gleich den großen Reibach machen, versteht sich. Der Mietzins wurde verdoppelt, und jetzt sitzen die Alibimieter zu fünft in Friedlis ehemaliger Wohnung.
Seit mehreren Jahren schon sollte das Haus eigentlich abgebrochen sein, aber die Erben warten noch immer zäh auf die besten Angebote für das Grundstück in bester Stadtlage. Und sie haben recht damit, denn die Grundstückpreise steigen und steigen auf gar wundervolle Weise, stündlich, täglich, wöchentlich, ohne dass sie dafür auch nur einen kleinen Finger krumm machen müssten.
Gagu war mal ein richtiger Sportreporter, der fleißig berichtete und dem die Sportler nur so hinterher liefen wegen der Publizität. Bis er diesen langen Artikel schrieb, den er noch heute jedem zeigt, der ihn sehen will. Darin steht, wie das mit der Knete im Sportgeschehen läuft, mit der ganzen Politik, mit den Verbänden, mit der Medizin, der Chemie und mit dem Glücksspiel, mit den Drogen, mit dem Interesse des Militärs, der Medien, der Politik, der Gauner, Schlitzohren und Halunken und vor allem immer wieder mit der Wirtschaft, also wer mit wem und was und wie und wo und vor allem wieviel, denn nicht die Sportler, der Spitzensport und die Spitzenleistungen sind das Wichtigste und Zentralste am ganzen Geschäft, sondern natürlich die Höhe der Beträge, die fließen, der Einsätze, der Investitionen, also der Summen, die heimlich oder ganz offen verschoben werden, der Preise, die zu bezahlen sind, der Mengen, die dabei heraus schauen, der Gewinne, die locken, und die Zahlen überhaupt. Die Frage, wer den guten Schnitt macht und wer davon überhaupt etwas sieht und wer nicht, wer einstreichen kann, wer den großen Reibach macht und wer schließlich im Geld schwimmt, steht ganz hinten an im ganzen Zirkus, schön diskret versteckt, verborgen vor den Blicken einer enthusiastischen Öffentlichkeit, versteht sich, und wer leidet, wer krampft, wer schwitzt, wer sich quält, wer das Risiko hat, wer blechen muss und wer am Schluss leer ausgeht, ist dabei noch gar nicht erörtert, das versteht sich von selbst.
Das muss ein sehr kompliziertes Geflecht sein, aus dem Andi nie richtig klug geworden ist; auf jeden Fall scheint das Ganze ziemlich beschissen zu sein, wie fast alles in diesem Land. Gagu kann sich noch heute darüber aufregen, selbst wenn sie alle, vor den Fernseher hingelümmelt, ein dämliches Fußballspiel anschauen.
Jedenfalls war Gagu damals seine goldene Stelle blitzartig los und damit überhaupt jede denkbare Stelle im dicht gewobenen Medienbusiness. Er ernährt sich heute ausschließlich von kärglichen Film-, Buch-, Theater- und Ausstellungsbesprechungen, die einzige Sparte, die ihm als freiem Journalisten noch geblieben ist, eine Sparte, die offenbar niemand liest oder zumindest niemandem weh tut. Da geht es ja nur um wenig Geld, und da kann man keinen Schaden anrichten. Kultur habe halt eine Hofnarrenfunktionsfreiheit, oder so ähnlich, erklärt Gagu im gegebenen Moment.
Eigentlich ein wirrer Typ und immer mindestens zehn Schritte daneben. Aber jetzt hat er ja die Dodo in der Pfanne, und das scheint das ganz große Erlebnis zu sein. Monstermäßig.
„Will jemand noch einen Kaffee?“ fragt Andi ganz unbestimmt und ganz allgemein, um ja niemanden noch mehr zu beleidigen. Doch alle schütteln nur stumm den Kopf. „Ich muss gehen“, murmelt Fipo und steht niedergeschlagen auf. „Ich auch“, schluckt Dodo und erhebt sich trotzig. Halb sieben Uhr morgens. Tolle Stimmung. Andi setzt sich sachte neben Lene, die wie immer ihre schwarze Jacke trägt und sich somit bereits reisefertig angezogen hat. Er legt ihr den rechten Arm über die Schultern, doch sie schütteln ihn gleich wieder ab. Mit Entrüstung. „Verdammte Fickereien!“ sagt sie. „Und das im Zeitalter von Aids!“ Sie wendet sich Andi zu und zeigt ihr energischstes Gesicht: „Und du, Andrea? Willst du nicht endlich schlafen gehen?“
Das ist eine berechtigte Frage. Andi hat die ganze Nacht Taxi gefahren, von acht Uhr abends bis sechs Uhr morgens, und das bei einem richtigen Sauwetter. Allein deshalb hatten die Leute eine Saulaune. Das kommt immer wieder vor, schubweise, je-der Taxichauffeur kennt das. Deshalb fragt er Lene ganz nebenbei: „Ist Vollmond?“ Aber Lene weiß es nicht; sie zuckt die Achseln. Andi erklärt: „Wenn Vollmond ist, dann verstehe ich das Ganze. Den Krach hier, meine ich. So etwas gibt es nur bei Vollmond. Beim letzten Vollmond, da hatte ich einen Fahrgast, der wollte nichts anderes als die ganze Nacht in der Stadt herum gefahren werden, nur damit er seinen Müll im Kopf loswerden konnte, damit ihm jemand zuhören musste. Das war ich; ich konnte ihm ja nicht ausweichen. Hat ihn fünfhundert gekostet, diese Nacht.“ „Ich gehe jetzt“, erwidert Lene.
Sie will aufstehen, doch Andi hält sie am Arm zurück. Sie schaut ihn an wie eine Lehrerin ihren ungezogenen Schüler. „Hör mal“, setzt Andi träge an, „ist es dir wirklich ernst damit?“ Sie nickt langsam und schaut weg. „Ich meine“, fährt er sanft und sachte fort, „das wird sich wieder legen. Noch heute Abend kehrst du doch zurück, und alles ist wieder okay.“ Sie tätschelt stumm seine Wange. Das Heulen steht ihr sichtlich zuvorderst. „Du kannst doch nicht einfach verreisen, Lene, finde ich, das kannst du doch einfach nicht bringen? Wir alle brauchen dich, du bist ein Klassestück, ehrlich! Wir hängen an dir, und so weiter! Ohne dich ist diese WG nichts, ein Haufen Scheiße nur!“
Lene zieht ein zerknülltes Papiertaschentuch aus dem Ärmel und schnäuzt sich. „Ich gehe jetzt“, wiederholt sie.
„Pferde?“ Halter stöhnt geschlagen auf. „Hippotherapie“, erklärt seine Frau kühl und blickt verärgert an die alte Balkendecke über den Frühstückstisch, als sei sie überrascht darüber, dass ihr Gatte so schwer von Begriff ist. Dieser zieht umständlich seinen Morgenmantel zurecht, um etwas Zeit zu gewinnen. „Hippowas?“ Halter schnappt nach Luft und verwirft die Arme. Er weiß indessen ganz genau, dass die Schlacht bereits verloren ist, noch bevor sie überhaupt begonnen hat. „Wo wollen wir diese Gäule überhaupt unterbringen? In der Garage vielleicht?“ Er hat seine Stimme bis an die Grenze des Zulässigen erhoben, und diese Grenze sitzt tief, etwa da, wo andere Leute sagen: Garçon, ein Café crème, bitte!
Seine Frau schüttelt säuerlich den Kopf mit der brandneuen Frisur, der letzte Chic, schwarz und weiß gemischt mit etwas Grün, hinten kurz und vorne lang, was aussieht als hätte ihr jemand eine hässliche Fasnachtsperücke verkehrt aufgesetzt und was ihn, Halter, mindestes sFr. 250.- gekostet hat. „Wir lassen einen Pferdestall bauen.“ „Einen Pferdestall?“ Halter hat einen Ton angeschlagen, als habe er das Wort „Pferdestall“ überhaupt noch nie gehört. „Was ist denn schon dabei?“ fragt sie ungeduldig zurück und schaut ihren Gatten dabei überrascht an. „Hier hat’s überall Pferdeställe, mein Lieber. Alle haben Pferdeställe, weil es hier nun mal Pferde gibt. Wir leben schließlich auf dem Land, mon vieux.“
Das ist leider völlig richtig. Hier oben auf dem Frienisberg haben all die neureichen Neuzuzüger im Umkreis von zwanzig Kilometern diese verdammten Klepper, weil sie schon alle ihre philippinischen Hängebauchschweine, ihre neukaledonischen Pfauen, ihre Berner Sennenhunde, ihre Sibirischen Weißkopfgänse, aber auch ihre englischen Luxus Range Rovers, ihre japanischen Bambushaine und ihre tropischen Wintergärten besitzen. Das Nonplusultra sind jetzt pflegeleichte Gäule aus dem Jura, am besten von amischen Züchtern, die noch ihr urtümliches Berndeutsch reden, Tiere, welche die Leute meist nicht einmal selber besorgen können. Dafür stellen sie die Lümmel der Umgebung ein, die gleich gemerkt haben, dass in diesem Bereich gewaltig abgesahnt werden kann, und auf ihren glänzenden japanischen Motorrädern gleich noch die gelangweilten Töchter abschleppen.
Dies Mal Pferde. Vorletztes Jahr war es ein geheiztes, gedecktes Schwimmbad, dessen Bau, Unterhalt und Energieaufwand ein Heidengeld gekostet haben und noch kosten werden. Im Jahr zuvor war es eine neue Küche, nur das Beste vom Besten, konzipiert von Küchenprofis für Küchenprofis. Trotzdem wird weiterhin meist nur Tiefgefrorenes in den Mikrowellenherd geschoben – wenn überhaupt. Letztes Jahr ein komplett neuer Garten mit integriertem biologischem Gemüseanbau, eine richtige High-Tech-Anlage. Damals soll Gartenarbeit die beste Therapie gewesen sein, auch wenn Halter im neuen Gemüsegarten einen ganzen Sommer lang nur einen spanischen Hilfsgärtner hat herumstehen sehen. Seine Frau aber hat damals ka-tegorisch behauptet, ihr Analytiker habe erklärt, Gartenarbeit sei für die Mädchen das Beste überhaupt, was ihnen jemals ge-schehen könne, wegen des wunderbaren Ausgleichs, wegen des Bezugs zur Natur, wegen des biologischen Rhythmus’ und wegen ihrer haptischen Bedürfnisse, und er, Halter, Alfons, Bankdirektor, hat von vornherein gewusst, dass dieser Gemüsegarten ein Flop sein wird. Dieses Jahr wuchert dort üppig und biologisch einwandfrei sämtliches Unkraut der Umgebung, nachdem er sich erstaunlich standhaft geweigert hat, sich ein weiteres Jahr von der alternativen Gartenbaufirma ausplündern zu lassen.
Der erste finanzielle Hammer war nicht etwa der Erwerb der ganzen Liegenschaft, sondern der Abriss des angeblich untypisch angebauten Oekonomieteils gewesen, damit der Wohntrakt – ehemalige, spätbarocke Campagne – vorteilhafter zur Geltung komme. Dafür gleich anschließend Anbau einer spätkapitalistischen Doppelgarage, geheizt und klimatisiert, und eben dieses Schwimmbades, auch geheizt und klimatisiert, ge-gen alle hinterhältigen Einwände des misstrauischen Denkmalschutzes. Allein die Anwälte haben ihn ein halbes Vermögen gekostet, sein halbes Vermögen, um genau zu sein. 2,4 Millionen hat er bislang für die Hütte hingeblättert, auf zehn Jahre verteilt, denn immer ist etwas Neues hinzu gekommen.
Zuerst kam dieser unwiderstehliche Drang aufs Land hinaus, denn das war schick, nachdem Bern von Autobahnen völlig eingeschlossen worden ist. Also: Total überrissene 1,2 Millionen für ein herunter gekommenes, riesiges Bauerngut, früher mal Landsitz einer der vielen degenerierten bernischen Patrizierfamilien, inklusive zehn schiefe Hektaren vergammelten Umschwungs. Danach der lange, teure Umbau, neue Böden und Decken und Wände, neues Dach und neue Fassaden, neuer Keller und neuer Dachboden, Originalparkett und Originaltäferung, neue Heizung, Rekonstruktion des pompösen Zugangsbereiches und der ganzen Gartenanlage, aufwändige Kanalisation mit eigener Kläranlage, typischer Niederstamm-Obstgarten als Anbiederung an die Überreste bäuerlicher Umgebung (Golden Delicious und Granny Smith), Terrasse, Wintergarten, Mobiliar aus Auktionen bei Stuker, Doppelgarage, wie schon erwähnt, Hallenbad und so weiter und so fort, macht zusammen 2,4 Große. Zweikommavier Millionen! Halter hat sich damals aus reiner Gutmütigkeit fast ruinieren lassen! Reines Wohlwollen! Allein für den Frieden in der Familie!
Und jetzt das. Ein Pferdestall mit Pferden drin, dazu natürlich eine überdimensionierte Weide genau dort, wo heute die teuren, neuen Apfelbäume noch klein, schutz- und hilflos stehen. Seine Apfelbäume! Das einzige, was er eigentlich mag am Ganzen. „Die Bäume sind futsch.“ „Sind dir diese Bäume wichtiger als deine Töchter?“ Halter seufzt, so tief er kann. „Wo soll dieser Stall zu stehen kommen?“ „Hinter der Garage. Das Einfachste der Welt.“
Er sieht schon wieder die Herren vom Denkmalschutz auftauchen und furchtbare Drohungen ausstoßen, milchgesichtige Patriziersöhne, Dres.phil., die sich auf diese perfide Weise am Lauf der Geschichte rächen. „Minder sagt, Hippotherapie sei das Beste gegen Anorexie.“ Minder, natürlich. Ihr Analytiker. Das Arschloch hätte er fast vergessen. Halter verflucht still den Tag, da seine Frau mit dieser beschissenen Analyse angefangen hat. Er erinnert sich genau: In der Woche zuvor hatte er den direktorialen Posten an der Kantonalen Kreditbank übernommen, hatte bis zum Hals in Verpflichtungen gesteckt, die Mädchen waren zwölf und vierzehn, bekamen plötzlich Brüste, und seine Frau – wenn er überhaupt noch von „seiner“ Frau sprechen darf – erklärte ihm, sie wolle jetzt endlich leben. Ganz genau so: „Ich will jetzt endlich leben.“
Es ist natürlich dieser Minder gewesen, der ihr eingeredet hat, auf dem Lande sei alles anders, alles besser, alles gesünder, al-les ungezwungener, und die beiden blassen und reichlich faden Mädchen würden da richtig aufblühen und so weiter und so fort. Und jetzt? Jetzt hängen dieselben beiden Mädchen als ausgewachsene Frauen mit leidenden Mienen leidenschaftslos zu Hause herum, denn im nächst gelegenen Kaff ist es natürlich noch langweiliger als zu Hause, wo sie nahezu alles vorfinden, was das Leben so bietet. Dabei haben zu Beginn sogar mal Jazztanz, Jazzgymnastik, Malkurse, Felsklettern, Ballett und Fallschirmspringen zur Diskussion gestanden. Aber das war alles nichts, weil viel zu anstrengend.
Diese grundsätzliche und grundlegende Tatenlosigkeit seiner beiden mittlerweile erwachsenen Töchter zieht sich nun schon seit Jahren dahin; genau genommen hat Halter diesen verrückten Familienzirkus schon seit sechsundzwanzig Jahren am Hals. Immer wieder muss er sich fragen, womit er sich das wohl verdient haben mag. Aber das fragt er natürlich nicht laut; er sagt stattdessen: „Ich muss mich langsam fragen, Elisabeth, wie weit wir uns privat noch ins finanzielle Abenteuer stürzen wollen. Du weißt, ich arbeite vielleicht noch vier Jahre, dann ist Ende Feuer.“ „Wir verkaufen einfach das Haus in der Stadt, Alfons.“
Das Haus in der Stadt! Auch das noch! Sein Haus! Das Haus, das er gegen seinen Willen hat verlassen müssen, das Haus seiner Familie, von seinem eigenen, stolzen Großvater erbaut, nach dem Verkauf der Schokoladefabrik in der Matte unten („Lerne mit Halters Schokoladebildchen die Welt kennen!“), purer Jugendstil, das herrliche, herrschaftliche Haus seiner un-beschwerten Kindheit! „Einfach so?“ „Einfach so.“
Früher hat Halter tatsächlich noch vage an die Familie als Keimzelle des Staates geglaubt („Zu Hause muss? soll? darf? kann? beginnen, was leuchten soll im Vaterland!“), so, wie man sich das damals in aller Unschuld noch vorgestellt hat. Aber die persönlichen Erfahrungen haben ihn unbarmherzig eines Besseren belehrt. Heute sieht er sich einer feindseligen Front von drei erwachsenen Frauen ausgesetzt, die sich nur noch für eines interessieren: für seine Kohle. Eine Scheidung käme ihn – das hat ihm sein Anwalt Francis Clerc längst vorgerechnet – ebenso teuer zu stehen, wie die gegenwärtigen Lebenshaltungskosten seiner Familie, und die liegen bei 25'000.- im Monat. Lange Zeit noch hat er gehofft, dass seine beiden Töchter bald einmal ausziehen würden, wie das andernorts üblich ist, dass sie sich einem flotten jungen Leutnant anhängen würden, der in der glücklichen Lage ist, ihre enormen Unterhaltskosten zu übernehmen. Aber er hat sich gründlich getäuscht. Die beiden Gören sitzen seit Jahren völlig tatenlos zu Hause herum, dreiundzwanzig- und fünfundzwanzigjährig, und es scheint ihnen an nichts zu mangeln. Sie interessieren sich nicht im Geringsten für Männer, kümmern sich ausschließlich um gesunde Ernährung und um die Farbe ihres Teints. Allfällige, zum Vornherein hoffnungslose Ausbildungsversuche haben die beiden bereits im Abklärungs- und Vorstadium abgebrochen; nicht einmal Autofahren haben sie lernen wollen. Allenfalls ausgedehnte Ferienreisen können sie zeitweise aus ihrer Lethargie holen, aber sie dürfen nicht zu lange dauern und nicht zu anstrengend sein.
Seine Frau sitzt ihm in resoluter Haltung gegenüber und schaut ihn missbilligend aus einem makellosen Make-up an. Allein ihr Styling kostet ihn mindestens 2'000.- pro Monat. Mindestens. „Na gut“, erklärt er, längst geschlagen, „aber ich will damit nichts zu tun haben. Ich habe keine Zeit dafür. Du besprichst dich mit dem Architekten und hältst mich aus der ganzen Sache heraus.“ Seine Frau nickt gelassen, als ob er gesagt hätte: Heute muss der Gärtner den Rasen mähen. Er ist einfach viel zu nachgiebig, findet er wieder einmal verärgert, und er könnte sich deswegen selber ohrfeigen.
Im Korridor tänzeln ihm seine beiden Töchter wie zufällig entgegen. „Papa!“ (Früher haben sie „Vati“ zu ihm gesagt; neuerdings finden sie „Papa“ mit Betonung auf dem zweiten a viel schicker, und erst noch auf Hochdeutsch ausgesprochen, also „Phaphaa“.) „Phaphaa, wie findest du die Idee?“ zwitschert die eine. „Welche Idee?“
„Na, die Pferde!“ flötet die andere. „Welche Pferde?“ „Jetzt tu nicht so, Phaphaa, du weißt ganz genau, was wir meinen!“ Halter tut, als ob er sich endlich entsinne: „Ach so! Die Pferde!“
Seine beiden Töchter sind erwachsene Frauen, die sich immer noch wie pubertierende Backfische aufführen. Ist das normal? Nein, das ist ein wahrer Jammer, und Halter spielt in diesem furchtbaren Spiel gegen die Wirklichkeit einfach mit! Doch es ist durchaus wahrscheinlich, nimmt Halter zumindest an, dass die beiden viel raffinierter sind, als er jemals ahnen kann; die Gören nehmen ihn schließlich nach Noten aus. Das muss man nüchtern betrachten.
„Was sagst du dazu?“ „Zum Stichwort ‚Pferd’ fällt mir nichts ein.“ „Sei kein Spielverderber!“ (Da haben wir’s: Es ist alles nur ein Spiel! Das Spiel heißt: Wir klopfen Phaphaa erst windelweich, machen ihn nudelfertig und nehmen ihn dann bis aufs Hemd aus.) „Besprecht das bitte mit eurer Mutter; ich habe keine Zeit.“
Sie stellen sich ihm taktisch lug in den Weg, so dass er nicht einfach weiter gehen kann, weil sie gleich gemerkt haben, dass er ihnen ausweichen und möglichst schnell verschwinden möchte. In dieser Familientragödie ist schließlich er selber der ewige Verlierer, und es gehört zu den Regeln dieses grausamen Spiels, dass er bis zur bitteren Niederlage gequält werden muss. „Bist du dafür?“ „Ich hasse Pferde.“ „Warum?“ „Sind viel zu groß. Fressen zu viel. Arbeiten zu wenig.“ „Spielverderber!“ „Ihr kriegt die Pferde. Ich habe eurer Mutter gesagt, sie soll sich darum kümmern.“ Früher wären ihm die beiden jetzt jauchzend um den Hals gefallen, genau in dem Augenblick nämlich, da sie gecheckt haben, dass er das Spiel verloren hat. Heutzutage verschwinden sie still und leise und ebenso schnell, wie sie aufgetaucht sind, blitzartig und lautlos wie zwei gut ausgebildete Terroristen. Ihre Sache ist geritzt.
Im Bad schwimmt Halter zunächst zehn Minuten hin und her, wie ihm der Arzt empfohlen hat, und klammert sich danach schwer atmend an den Bassinrand. Was macht er falsch? Warum hängen seine Töchter immer noch hier herum? Er hat ihnen jede denkbare Möglichkeit geboten: Sprachaufenthalte, Sportkurse, Erlebnisreisen, und gerne hätte er sich mal mit einem jungen Mann angefreundet, den die eine oder die andere nach Hause geschleppt hätte. Doch jedes Mal, wenn er dieses Thema ganz behutsam andeutet und nicht einmal richtig anschneidet, schlägt ihm aus drei Frauengesichtern der blanke Hass entgegen, die nackte Abneigung, die totale Ablehnung, die offene Feindseligkeit. Was soll er gegen diese verwünschte weibliche Dreieinigkeit machen, wie soll er sich dazu stellen, zu dieser verdammten weiblichen Dreifaltigkeit, wie soll er dagegen ankommen? Der Graben zwischen ihm und den drei Frauen ist abgrundtief, und die groteske Vorstellung, später einmal, nach seiner Pensionierung zum Beispiel, mit seiner Frau alleine hier oben leben zu müssen, ist geradezu unvorstellbar unerträglich. Bereits warnt ihn der Arzt nach umfangreichen Tests vor Stress und sonstigen Anstrengungen; er ist körperlich nicht mehr voll da, und das mit neunundfünfzig Jahren! Das Herz macht neuerdings ganz komische Sprünge und Töne, und auch mit seinem Blut ist offenbar etwas nicht mehr in Ordnung. Er kann nur hoffen, es noch vier Jahre lang zu schaffen, und er könnte immer gleich kotzen, wenn er an seinen kränklichen, aufgedunsenen Leib denkt. Was ist doch die Körperlichkeit für ein verdammter Ballast! Schon als Kind hat er Turnen und Turnlehrer gehasst!
Eigentlich sollte Andi jetzt schlafen gehen, denn am Mittag muss er bereits wieder fahren. Aber er schafft es nicht, jetzt schon vom Küchentisch aufzustehen und in sein Zimmer hinüber zu gehen. Außer Gagu, den er in Dodos Zimmer schnarchen hört, sind alle weg.
Um Lene braucht sich Andi keine Sorge zu machen; die kriegt ihr Geld von ihrem Vater und hat noch nie im Leben gearbeitet; die weiß gar nicht, was das ist. Menschen, die arbeiten müssen um zu leben, kommen für sie nur in Büchern vor. Als Andi ihr einmal vorgeschlagen hat, so wie er mit Taxifahren Geld zu verdienen, weil sie mit ihrem Alten wieder einmal im Clinch lag, fand sie diese Aussicht öde und langweilig. Sie hat es nun mal nicht nötig zu arbeiten, und Andi hat volles Verständnis dafür. Er würde gerne mit ihr tauschen. Arbeiten geht einem auf die Dauer mächtig auf den Wecker, besonders Taxifahren. Die lausigen 18 bis 19 Hunderter, die monatlich für all das Gehetze heraus schauen, sind nicht gerade das Gelbe vom Ei. Zieht er alles ab, was ihm automatisch aus der Tasche gezogen wird, allein durch den Umstand, dass er überhaupt existiert, bleiben ihm nur noch knappe tausend Mäuse pro Monat zum Leben, das heißt, für den Food und die Klamotten und all das, was der Mensch sowieso benötigt. Pro Monat! Nichts da von sparen; keinen müden Rappen bringt er bei diesem Way of life auf die hohe Kante. Die vage, etwas wässerige Idee, irgendwann mal das Wirtepatent zu machen, um endlich in seinen fernen Lebenstraum einsteigen zu können, verblasst allmählich am endlosen Horizont. Er schafft es finanziell einfach nicht, ein paar läppische Monate frei zu machen, um die bescheidene Ausbildung zum Wirt hinter sich zu bringen.
Er kocht gerne, und er kocht gut. Aber er bedient auch gerne Gäste, doch vom Kochen versteht er eindeutig am meisten. Er hat es täglich bei seiner Mutter abgeschaut, schon als kleines Kind, auf einem Stuhl neben dem Herd stehend, zu Hause in Bümpliz an der Bethlehemstraße. Brodi, gelatine e sughi, minestre, principi, salse, uova, paste e pastelle, ripieni, fritti, lesso, tramessi, umidi, rifreddi, erbaggi e legumi, piatti di pesce, arrosti, torte e dolci al cucchiaio und gelati – einfach rundweg alles. Seine Mutter war ein Genie, das bleibt unbestritten, wie alle italienischen Mütter.
Er kocht gerne für Leute, kocht für die Leute hier, und sie mögen, was er ihnen vorsetzt. Wenn er die Zeit dazu hat. Sein Traum ist eine kleine Beiz mit einigen Tischen, egal wo, aber so könnte er sein Leben fortan verbringen, so könnte er es sich vorstellen. Einkaufen, kochen, servieren, aufräumen, putzen, einkaufen, kochen, servieren aufräumen, putzen, immer gleich, immer gleich gut, Tag für Tag, immer gleich freundlich, immer gleich beliebt und möglichst belebt – das wär’s. Für ihn wäre dies das Nonplusultra. Das Maximum. So könnte er locker den Rest seines Lebens verbringen. Gagu sagt zwar mit Recht, das reiche wirtschaftlich gesehen nirgendwo hin, weniger als vierzig Plätze, das sei finanziell gesehen der schnelle Untergang, aber so könnte er es machen, so könnte er sich die Sache vorstellen. Eine kleine Beiz mit acht oder zehn Tischen und ein paar Leute, alles Freunde, die regelmäßig zu ihm essen kommen, genau so müsste es sein.
Er hört drüben Gagu rumoren, sich im Bett wälzen, sich die Nase schnäuzen und schließlich in Dodos Zimmer herum tappen und seine Unterwäsche zusammen suchen. Dann taucht er verschlafen auf, in einer alten, ausgebleichten, schlaffen, langen Unterhose, die grauen Haare wirr nach allen Seiten. Er schaut Andi verdutzt an: „Bin ich zu früh aufgestanden?“ fragt er verstört. „Es ist neun“, antwortet Andi. „Erst neun?“ Gagu schüttelt den Kopf, als ob er die Welt nicht mehr verstünde, murmelt Unverständliches und irrt ziellos in der engen Küche herum, unschlüssig darüber, ob er nicht doch wieder ins warme Bett zurück kehren sollte. „Wie steht’s?“ fragt er und meint damit den Krach von gestern Abend. „Lene ist gegangen.“ „Ehrlich?“ Er sieht richtig erschrocken aus und schaut Andi ungläubig an: „Wie findest du das?“
Er stellt die Tasse unter die blitzblanke Cimbali, lässt die Maschine laufen und dreht sich nach Andi um: „Sag mal ganz ehrlich:“ – er blickt Andi aus seinen zerknautschten Augen so eindringlich wie möglich an – „Hab’ ich was falsch gemacht?“ Andi schüttelt langsam den Kopf, antwortet aber nicht darauf. „Ich meine“, fährt Gagu deshalb fort, „ich habe doch mit der ganzen Sache nichts zu tun, mal ehrlich? Wirklich. Was kann ich dafür, dass Lene, sexuell gesehen, so frustriert ist?“ Warum schnappt sie sich nicht endlich einen Macker für die Pfanne? Warum tut sie immer so pingelig in dieser Abteilung? Was ist denn falsch am Vögeln? Sobald ich die Dodo knattere, kriegt sie gleich einen Schreikrampf! Ich meine, wo gibt es denn so was?“ „Sie hat gesagt, sie gehe da hin, wo nicht ständig penetriert wird wie in einem Bordell.“ Gagu lacht spröde. „Hat sie das gesagt? Wie in einem Bordell?“ „Sie will eine reine Frauen-WG suchen.“
Gagu steht verloren vor der Cimbali und hat seinen Kaffee völlig vergessen. Er denkt lange nach; er denkt insgesamt gesehen überhaupt viel zu viel und viel zu lange nach. Dann fragt er: „Glaubst du, sie kommt wieder zurück?“ Andi schüttelt den Kopf, und zwar mit Bestimmtheit: „Die ist weg. Du kennst sie. Wenn sie wütend ist, kann sie niemand bremsen.“ Gagu nickt: „Schade. Ich habe sie irgendwie gemocht, trotz ihres Alten.“ „Ich auch.“ „Was machen wir jetzt? Ich meine, ihr Weggang kostet uns alle glatt einen Lappen zusätzlich!“ „Mindestens. Und sie will die Cimbali mitnehmen.“ Gagu, wie vom Blitz getroffen: „Was? Sie will uns die Cimbali wegnehmen?“ Jetzt erst sieht er richtig erschrocken aus, und auch seine Augen sind heute Morgen erstmals richtig weit geöffnet. Andi erklärt sachlich und achselzuckend: „Sie hat mit Recht gesagt, die Maschine gehöre ihr.“
Gagu seufzt; er sieht schwere Zeiten herauf kommen. Er weiß genau, dass nichts so heikel ist, wie neue, zuverlässige WG-Partner zu finden. Neue Bewohner sind immer ein Risiko und immer eine Belastung der fragilen Verhältnisse. Nichts ist schlechter für eine WG als diese abrupten Wechsel. „Wir müssen“, setzt jetzt Gagu deshalb vorsichtig an, „die Rechnung neu mischen und schauen, ob wir die Wohnung zu viert durchbringen können. Vielleicht geht’s auf.“ „Vielleicht nicht.“ „Vielleicht doch.“ „Glaube nicht.“ „Möglich wär’s.“ „Ich kann keinen zusätzlichen Stützers aufbringen.“ „Bei mir ist es eigentlich dasselbe, denn auf mehr als 15 Hunderter komme ich einfach nicht.“
Gagu macht es mit 1500.- brutto, ein Meisterwerk. Allerdings ohne Krankenkasse und ähnlichen Luxus, und seine Zähne sind völlig im Eimer. Er schaut sich um: „Hast du aufgeschrieben, was ich einkaufen muss?“ fragt er beiläufig. „Hier.“ Andi schiebt ihm den Zettel hin. Gagu überfliegt ihn und nickt. Er kauft immer für die ganze WG ein und macht das gerne. Das bringe Bewegung in sein Leben, sagt er jeweils augenzwinkernd. Jeden Morgen trottelt er zwei Stunden lang durch das ganze Quartier und kennt deshalb im Mattenhof alle günstigen Einkaufsmöglichkeiten und Sonderangebote. Er gehört bereits zum Quartierbild, nennt die Kinder beim Vornamen und schwatzt mit den Müttern über die Probleme des Alltags. Er spricht sogar einige Brocken Türkisch, Portugiesisch und Serbisch. Die Leute mögen ihn, denn manchmal verschenkt er Freikarten fürs Kino, wenn er welche hat. Als freischaffender Kulturberichterstatter hat er jeweils freien Zugang zu vielen kulturellen Veranstaltungen und kriegt zudem immer die neuesten Bücher, die er jeweils großzügig und natürlich ungelesen nach links und rechts verschenkt, denn auch er kriegt sie immer gratis und von den Verlagen gleich kistenweise zugesandt. Er arbeitet nachmittags an seiner Schreibmaschine, und abends ist er unterwegs, besucht Vorstellungen, Vorführungen, Vorlesungen, Aufführungen und Ausstellungen, kommt aber regelmäßig vor Mitternacht wieder nach Hause, denn das kulturelle Leben Berns schweift nicht aus. Er schreibt immer lieb, ist nie jemandem böse, lobt auch in den zweifelhaftesten Fällen, und das ist der einzige und wahre Grund, warum er sich in der freien Mitarbeit so lange halten kann. Man könnte meinen, er habe endlich etwas gelernt nach seinem berühmten Sportartikel, aber Andi weiß genau, dass Gagu der Depp insgeheim nur auf Rache sinnt: Irgendwann will er es der Bande heimzahlen. „Dann werden aber die Fetzen fliegen!“ pflegt er zu drohen, wenn er besoffen ist, aber um welche oder um wessen Fetzen es sich dabei handeln wird, weiß er allerdings noch nicht. Vielleicht will er es tief im Innersten gar nicht wirklich wissen?
„Ich lege mich jetzt erst mal ein wenig hin“, erklärt Andi gähnend. „Stell deinen Wecker!“ warnt Gagu. Andi nickt, streckt sich und geht in sein Zimmer. Er belegt das größte und schönste Zimmer, weil er sozusagen der Gründervater der WG ist. Von diesem Zimmer aus kann er sogar auf eine kleine Terrasse hinaus gehen, auf das Flachdach der ehemaligen Werkstätte. Im Sommer stellen sie den Küchentisch fürs Abendessen hinaus, trotz des gewaltigen Verkehrs, der pausenlos um das alte Haus herum tost, trotz des entsprechenden Lärms und Gestanks. Café Chaos wird das von ihnen genannt, und als sie einmal dort draußen die Musik haben laufen lassen (Lucio Dalla), ist absurderweise sofort die Polizei gekommen und hat ihnen dreißig Franken Buße wegen Lärmbelästigung abgenommen. Wo bleibt da die Logik?
Man muss sich das erst mal vorstellen; Lene hat sich damals mit den beiden Tschuggern fast geprügelt deswegen, die, wie sie immer wieder beschwichtigend betont haben, ja nur ihre Pflicht erfüllen. „Wir müssen nun mal jeder Anzeige nachgehen, so will es das Gesetz!“ haben sie entschuldigend erklärt. „Ein klarer Vorwand“, war Gagus Kommentar dazu.
Andi legt sich angezogen auf sein Bett und blickt an die Decke. Wieder einmal muss er sich fragen, wie lange das noch weitergehen kann. Seit gut zwölf Jahren wohnt er jetzt hier im Mattenhof, und die Vorstellung, das Wohnproblem neu definieren zu müssen, macht ihn völlig matt. Wahrscheinlich wird er tatsächlich, wie Gagu schon lange prophezeit hat, in einem teuren Neubau am Stadtrand landen, wie alle andern Besitzlosen auch, in einer winzigen Anderthalb-Zimmer-Wohnung im zehnten Stockwerk einer anonymen Überbauung ohne Herz und ohne Seele, mit Blick auf das gegenüber liegende Hochhaus. Doch am liebsten möchte er hier, in diesem Haus im Mattenhof, unten in der ehemaligen Werkstatt, seine zukünftige Beiz eröffnen – wenn es nach ihm ginge. Doch das kleine Grundstück ist mittlerweile auf 12,5 Millionen oben, und das alte Haus, das darauf steht, zählt gar nicht mehr, das ist völlig wertlos geworden. Wer kann so etwas überhaupt bezahlen?
Das zentrale Sitzungszimmer der Kreditbank des Kantons Bern (KBKB) ist äußerst karg eingerichtet: ein langer Tisch mit Chromstahlfüßen, die Tischplatte mit einem schlichten, grauen Kunststoffbezug, sechs einfache Stühle auf jeder Seite mit Sitzflächen aus hellem Pressfournier, am Kopfende ein beweglicher Sessel mit grauem Stoffüberzug, an der Wand dahinter ein einfacher Stuhl mit klappbarer Schreibfläche, dazu kahle, weiße Wände, in die weiße Decke eingelassene Neonleuchten hinter wabenförmigen, weißen Blenden, die ein gleichmäßiges, angenehm helles Licht verbreiten, eine vorhanglose Fensterfront mit hochgezogenen Innenstoren zur Bundesgasse hin und eine rechteckige Uhr mit digitaler, roter Anzeige an der Wand gegenüber der Fensterfront, der Fußboden von einem dunkelgrauen Spannteppich bedeckt. Halter hat nach dem Umbau veranlasst, dass alles Überflüssige aus der Inneneinrichtung seiner Vorgänger definitiv entfernt werde; selbst die Bilder (Erni, Lindi, Hug und Falk) sind in einem Lager tief im Keller gelandet.
Die jungenhaften Abteilungsleiter haben ihre umfangreichen Unterlagen vor sich ausgebreitet, Auszüge, Grafiken, Statistiken und Prognosen, geben sich uniform und diszipliniert, was eine ruhige Konferenzatmosphäre bewirkt, wie Halter sie trotz der gegenwärtig etwas angespannten Lage durchgesetzt hat. Keine Zigaretten, keine Kaugummis und keine Getränke, aber auch keine auffälligen Frisuren oder Bekleidungen, sondern konzentrierte, effektive und effiziente Arbeit auf Grund gut vorbereiteter, transparenter und sachbezogener Entscheidungshilfen. Halter sitzt in entspannter Haltung am Kopfende des Tisches, leitet die Sitzung meist nur durch bloßes Nicken, hört aufmerksam zu, sagt kein Wort zuviel, wie er es auch von seinen Mitarbeitern verlangt. Das sind sein Stil, sein Werk und sein Klima. Hinter ihm sitzt Frau Grobet und protokolliert geräuschlos. Das Ganze ist ein lebender Organismus in Funktion; Halter hat sich seine Bank immer als Tanker vorgestellt, der auf hoher, zuweilen bewegter See stets ruhig seinen Kurs hält.
Die Kreditbank des Kantons ist die eine der beiden staatlichen Banken, die kleinere, gegründet zu einer Zeit, als der Kanton den privaten Banken nicht mehr trauen konnte, noch trauen mochte, eine relativ kleine Bank, die fast ausschließlich davon lebt, dass der Kanton alle seine Kreditgeschäfte nur über sie abwickelt. Eine ruhige Insel ist die Bank im tückischen Meer des hektischen Geldgeschäftes bis heute geblieben, fast eine politische Utopie, weil staatlich kontrolliert, doch der Verwaltungsrat der Bank, den Regierungsrat Feller als bernischer Finanzdirektor kraft seines Amtes präsidiert, fordert heute imperativ, dass sich auch die Kreditbank intensiver dem Geldgeschäft, also dem Geldverdienen zuwende und somit mehr Risiken eingehe, um solcherart zu besseren, also positiveren Bilanzen zu kommen.
So hat Halter neue Leute eingestellt, lauter nervöse Fachleute des Geldverdienens, geschult in der harten Wirklichkeit des privaten Bankensektors und der Wirtschaft, junge Leute zumeist, die ein Heidengeld kosten und von denen erwartet wird, dass die geforderten Bewegungen endlich einsetzen. Nach oben, versteht sich. Die ruhige Zeit ist somit auch für die betuliche Kreditbank endgültig vorbei, und die teuer bezahlten Arbeitsplätze sind Schleudersitze geworden. Halter schaut sich die uniformen Männer der Reihe nach an. Allesamt sind sie knallharte Spezialisten, die sich klares Denken gewöhnt sind, denen man nichts vormachen kann und die zu handeln wissen, sobald es der Zeitpunkt erfordert (kokaingestützt, aber das kann Halter nicht ahnen). Er hat, so findet er, eine gute Crew zusammengekriegt, ähnlich einem Fußballtrainer mit einer ausgesprochen jungen, aber vielversprechenden Fußballmannschaft, denn die Bilanz ist im letzten Jahr um satte 16% gewachsen, und die Bilanzsumme wurde auf 16,9 Milliarden ausgeweitet.
Das ist in der Tat überaus beachtlich, doch dass er keine Ahnung hat, was für Menschen sich hinter dem professionellen Gehabe verbergen, stört ihn gewiss nicht, denn die Maschinen des Hochseedampfers müssen ununterbrochen laufen, das ist alles. Noch fehlen auf Grund früherer Fehldispositionen die eindeutigen Belege, dass der eingeschlagene Kurs stimmt, doch Halter ist zuversichtlich, denn er ist dabei, die ehemals verschlafene, danach durch Krisen und Skandale geschüttelte Regionalbank wieder auf Vordermann zu bringen. Der Verwaltungsrat wird ihm jedenfalls nichts vorwerfen können.
Pünktlich um zwölf Uhr ist die Sitzung beendet. Man nickt sich freundlich zu und verlässt rasch den Raum. Halter wendet sich nach Frau Grobet um und stellt den Augenkontakt her. Sie nickt stumm und steht auf, klappt ihre lederne Schreibmappe zusammen und packt sie resolut unter den Arm. „Wir sehen uns heute Nachmittag wieder, Frau Grobet.“ Sie nickt erneut, wünscht guten Appetit und verlässt den Raum auch. Nur Halter bleibt noch eine Weile sitzen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken, schaut zum Fenster hinaus, blickt durch den Schleier eines feinen Nieselregens an die Fassade des Ostflügels des Bundeshauses hinüber und fragt sich, ob er tat-sächlich Appetit verspüre, oder ob er in der kurzen Mittagspause nicht besser die Routineangelegenheiten erledigen sollte. Dazu benötigt er jedoch, so fällt ihm ein, seine Sekretärin, Frau Grobet, und die ist soeben gegangen.
Also entschließt er sich, doch essen zu gehen, obwohl er kaum Hunger verspürt. Aber er braucht jetzt eine Zäsur; am liebsten würde er jetzt etwas ganz anderes machen. Sein nächster Termin ist bei Feller, dem Präsidenten des Verwaltungsrates, und zwar privat, also nicht offiziell. Er muss diese wichtige Sitzung die für morgen angesagt ist und von der es kein Protokoll geben wird, gründlich vorbereiten, und dazu braucht er etwas Abstand von der bankinternen Arbeit.
Halter steht auf, zieht das Gilet straff, knöpft seine Jacke zu und prüft den Sitz der Krawatte, geht danach in sein Büro hinüber und bestellt ein Taxi. Er nimmt sich vor, einen ruhigen Gasthof außerhalb der Stadt aufzusuchen, wo er sich zuweilen mit Geschäftspartnern einfindet, ein gepflegtes, etwas abgelegenes Haus mit renommierter Küche (nouvelle cuisine traditionelle contemporaine). Im Sommer sitzt man unter alten Kastanienbäumen, und im Winter in geschmackvoll hergerichteten, kleinen Stuben in ländlichem Stil. Eine Weile überlegt er, ob er Hut und Mantel mitnehmen sollte, unterlässt es jedoch, denn das Taxi wird ihn direkt vor die Eingangstüre des Restaurants bringen.
Vor dem Hause wartet es bereits, und Halter steigt hinten ein, noch bevor ihn der Fahrer bemerken kann. Halter nennt das Fahrziel, und der Wagen fährt gleich los, verlässt die Stadt und gelangt im Ostring auf die Autobahn. Eine gute Viertelstunde Fahrt bei zunehmendem Nebel, und der Chauffeur, ein deutlich ungepflegt wirkender Mann mit langen, widerlich klebrigen, schwarzen Haaren, pickelnarbigem Gesicht und flinken Augen, dreht sich nach Halter um und sagt überflüssigerweise: „Sauwetter“. Das kann Halter selber sehen, deshalb antwortet er gar nicht erst und nickt stattdessen nur kurz, denn er verspürt keine Lust, mit dem Taxichauffeur ein Gespräch über das Wetter zu führen.
Im Moos verlässt das Taxi die Autobahn, und am Rande des unübersichtlichen Parkplatzes vor dem einsam gelegenen Gasthaus lässt Halter anhalten, bezahlt, steigt aus und schaut gedankenverloren dem Wagen nach, dessen rote Rücklichter schnell im Nebel verschwinden. Der Bankdirektor blickt in ei-ne flache, neblige Gegend mit weichem Untergrund, in ein ehemaliges Moor mit schweren, abgeernteten Böden. Bereits spürt er Kälte und Nässe durch seinen feinen englischen Maßanzug kriechen, und er beschließt, rasch zum Restaurant zu gehen, um diesem unfreundlichen Wetter zu entkommen.
Aber das Restaurant ist geschlossen. Verblüfft liest Halter das Schild an der Türe, HEUTE RUHETAG, und begreift allmählich, dass er in der Patsche sitzt. Hätte er doch zuvor angerufen! Seine ganze Gelassenheit ist mit einem Mal dahin. Er blickt zurück: Natürlich ist das Taxi längst verschwunden. Er schaut sich um: Kein Fahrzeug und kein Mensch weit und breit. Das hätte ihm doch gleich auffallen müssen! Er drückt die Türklinke: vergeblich. Die Tür ist verschlossen; kein Laut ist zu hören. Er hält nach einer Telefonkabine Ausschau, geht um das ganze Haus herum und kehrt auf die kleine, leere Landstraße zurück, an der das Restaurant steht: nichts. Es ist nicht zu fassen. Sein Anzug ist feucht, die Schuhe sind schmutzig. Ungläubig blickt er an sich herunter: Wo ist er nur gelandet!
Vor dem Eingang des angeschlossenen Gasthauses versucht er sich zu orientieren, kann jedoch wegen des Nebels keine fünfzig Meter weit sehen. Immerhin weiß er, wo er sich befindet, und er beschließt, zu Fuß zum nächsten Dorf zu gehen, das seiner Meinung nach über die schmale Straße, die vom Parkplatz rechtwinklig zur Autobahn führt, in höchstens fünf oder zehn Minuten zu erreichen sein müsste. Kopfschüttelnd macht er sich auf den Weg. Er steckt, was er sonst nie tun würde, seine Hände in die Jackentaschen, nachdem er unbeholfen den Jackenkragen hochgeschlagen hat, was man eigentlich nicht tut und was gegen jeden Stil und gegen jede Sitte verstößt. Irgendwann muss er ja auf irgendwas stoßen, sagt er sich, belustigt von der Vorstellung, dafür erst stundenlang im Nebel herum irren zu müssen. Er hätte Hut und Mantel doch mitnehmen sollen, oder zumindest den großen Schirm, sagt er sich im Nachhinein verärgert. Aber wer hätte sich eine solch unerwartete Lage überhaupt verstellen können?
Das Sträßchen steigt langsam an und endet überraschend vor einem schmalen Autobahnübergang, wie er vielleicht für Wanderer konzipiert worden ist. Halter steigt die Betonstufen hoch, hört auf die scharfen Geräusche der unter ihm vorbei fahrenden Fahrzeuge, die kurz aus dem Nebel auftauchen und gleich wieder darin verschwinden, als habe sie die Erde verschluckt. Auf der anderen Seite der schmalen Brücke trifft er auf einen aufgeweichten Feldweg. Er überlegt kurz, ob er einfach umkehren sollte, verwirft aber den Gedanken und geht seufzend den Feldweg entlang, der durch scheinbar endlos weite Felder führt, versucht dem ärgsten Matsch und den ärgsten Pfützen auszuweichen, und je länger er durch den Nebel irrt, desto weicher wird der Boden, desto tiefer werden die Traktorspuren, und Halter wird allmählich klar, dass er den falschen Weg erwischt hat, ja, dass er sich richtig verirrt hat. Die Hosenbeine sind mit Kot verschmiert, die feinen Halbschuhe mit der Ledersohle zwei Dreckklumpen, und der feine, teure Anzug ist jetzt völlig durchnässt. Er steckt tief in Schlamm und Dreck, nicht nur bildlich gesprochen, stellt er überrascht und ratlos fest.
Plötzlich ist da ein Waldrand, und der Feldweg wird zum Waldweg. Doch Halter will sich nicht lange mit Überlegungen aufhalten, denn sobald er stehen bleibt, spürt er sofort die unangenehm feuchte Kälte, der er erbarmungslos ausgesetzt ist. Er stapft also tapfer weiter durch den Dreck. Und dann trifft er auf eine Art Lagerstätte. An einem kleinen Feuer, dass erstaunlicherweise trotz des feinen Dauerregens munter vor sich hin mottet und qualmt, sitzt ein Mann auf einem umgesägten Baum und pellt mit einem alten Militärtaschenmesser eine harte, schwarzbraune Wurst aus ihrer Haut. Seine Hände sind groß und kräftig, und man sieht ihnen die schwere Waldarbeit an. Er hat einen braunen Hut mit breiter Krempe auf und über den Schultern eine steife Armeeplane, die ihn vor dem Regen schützt. Zwischen seinen Beinen liegt ein alter Armeetornister aufgeklappt; Halter erkennt eine feldgraue, abgewetzte Gamelle und eine kleine Thermosflasche aus Aluminium. Seine großen, hohen Stiefel hat er Waldmensch auf Spälten gestellt und die Ellenbogen breit auf die Oberschenkel gestützt. Ein Bild zum Verweilen.
Der Mann hat ruckartig aufgeblickt und in seiner Schälarbeit inne gehalten. Er glotzt Halter mit offenem Mund an. „Grüß Gott!“ sagt Halter freundlich. Er macht dazu zwei unsichere Schritte zum Feuer hin und hält seine klammen Hände darüber, reibt die Handflächen gegeneinander und fragt überflüssigerweise: „Darf ich?“ Der Waldarbeiter antwortet nicht und schaut ihn nur von oben bis unten überrascht an. Halter kann ihn verstehen; auch er wäre überrascht, sich hier in diesem Aufzug anzutreffen, und während er mit einer gewissen inneren Verzweiflung seine Hände wärmt und seufzend zu den Baumwipfeln hinauf schaut, öffnet der Waldmensch endlich seinen Mund: „Was machet Ihr da?“ „Ich habe mich verlaufen.“ „Hä?“ „Ja, ich habe mich verirrt. Verstehen Sie? Ich bin vom Weg abgekommen. Haben Sie vielleicht ein Fahrzeug?“ „Hä?“ „Ein Fahrzeug?“ „Dort!“ grunzt der Kerl und deutet eine Kopfbewegung an. Halter dreht sich um und entdeckt ein schiefes, rostiges Mofa, das an eine Tanne lehnt. Er schüttelt enttäuscht den Kopf, denn das Mofa bringt ihn gewiss nicht weiter. So nimmt er all seinen Mut zusammen und fragt: „Wo komme ich hin, wenn ich da weiter gehe?“ fragt er und zeigt vage in die Richtung des sumpfigen Waldweges. „Hä?“ „Wo führt dieser Weg hin?“ Der Mann dreht sich schwerfällig um und blickt überrascht auf den Weg, als ob er ihn zum ersten Mal sähe. „Dieser Weg?“ Halter nickt.
Diese Frage ist dem Waldarbeiter noch nie gestellt worden, und deshalb muss er erst lange überlegen. „Zum Spycher“, sagt er endlich und zeigt eine unregelmäßige Reihe brauner Zähne. „So? Spycher? Ist das ein Dorf? Oder ein Weiler? Oder ein Flecken?“ Der Mann dreht sich wieder nach Haltern um und schaut ihn entsetzt an, als ob Halter nicht alle Tassen im Schrank hätte. „Ein Flecken?“ fragt er entgeistert. „Was ist es dann?“ fragt Halter. Der Mann schüttelt den Kopf ob so viel Unsinn. So was Blödes hat er noch gar nie gehört: der Spycher ein Dorf! Da werden seine Leute aber was zum Lachen haben, heute Abend, in der Wirtschaft, wenn er ihnen das erzählen wird! „Der Spycher ist denk’ der Spycher!“ „Ein Bauer?“ „Heja, denk’!“ Der Waldarbeiter seufzt. Das ist ihm noch nie passiert! So ein Löl! Der Spycher ein Dorf! Aus der Stadt, natürlich. In der Stadt hat es nur Löli, das weiß man längst.
Jeder der kräftigen Pontoniere hält einen schweren Stachel oder ein mächtiges Ruder in der Rechten, am Boden aufgestellt, und blickt während des Singens neugierig zwischen dem Dirigenten und Feller, der etwas zurückversetzt neben den gebeugten Ehrenveteranen steht, hin und her. Sie haben noch nie einen Regierungsrat von so nahe gesehen.
Das Pontonierfahrerlied ertönt, und zwar mit der nötigen Inbrunst, laut und lauter von Herzen. Muetibuben, fällt Feller ein, und er versucht herauszufinden, wie er auf dieses Stichwort gekommen ist. Etwa vierzig erwachsene Männer hat er vor sich, allesamt solide Berufsleute, kräftige, schaffige, ältere Burschen mit breiten, offenen Gesichtern, meist in bäuerlicher und dörflicher Umgebung aufgewachsen, schlau bis schlaumeierisch, Handwerker und Gewerbetreibende, politisch, wirtschaftlich und kulturell kaum informiert, die Basis dieses rückständigen Kantons, seine Grundlage, sein alemannischer Bodensatz. Ihre einzige, echte Bindung ist ihre Mutterbindung, Mutterbuben allesamt, im Schutze von breiten, geblümten oder gestreiften Küchenschürzen aufgewachsen; ihre einzige und wahre Heimat ist ein gewaltiger Frauenhintern in der Nähe des Kochherds. Ausschließlich für ihn leben und arbeiten sie ihr ganzes Leben lang, und eigentlich zählt für sie nur das.