Der Gang nach Canossa - Frederik Berger - E-Book
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Der Gang nach Canossa E-Book

Frederik Berger

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Beschreibung

Ein König im Kampf zwischen Liebe und Treue … König Heinrich IV. wächst in enger Kinderliebe zu seiner Cousine Mathilde von Canossa auf. Von einer Wahrsagerin wird ihnen eine gemeinsame Zukunft prophezeit – doch bald schon scheint sich die Weissagung in einen Fluch zu verwandeln: Eine tödliche Krankheit rafft Heinrichs Vater, den Kaiser, dahin und die Kinder werden getrennt. Kaum hat Heinrich den Thron bestiegen, muss er eine andere heiraten – doch er hört nicht auf, um Mathildes Liebe zu kämpfen. Der Streit mit der römischen Kurie droht ihn schließlich alles zu kosten: Heinrich wird vom Papst exkommuniziert. Um seinen Herrschaftsanspruch zu bewahren, tritt er den beschwerlichen Bußgang nach Canossa an. Hier muss er sich entscheiden: Zwischen Ehre und Macht – oder Schande und Liebe … »Dieses spannende und farbenprächtige Epos wird erzählt von einem der größten Könner des historischen Romans.« Literatur-Report Ein großer historischer Roman über Treue und Verrat, Erniedrigung und Kampf und die Suche nach der wahren Liebe – für alle Fans von Hilary Mantel und Ken Follett.

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Seitenzahl: 844

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Über dieses Buch:

König Heinrich IV. wächst in enger Kinderliebe zu seiner Cousine Mathilde von Canossa auf. Von einer Wahrsagerin wird ihnen eine gemeinsame Zukunft prophezeit – doch bald schon scheint sich die Weissagung in einen Fluch zu verwandeln: Eine tödliche Krankheit rafft Heinrichs Vater, den Kaiser, dahin und die Kinder werden getrennt. Kaum hat Heinrich den Thron bestiegen, muss er eine andere heiraten – doch er hört nicht auf, um Mathildes Liebe zu kämpfen. Der Streit mit der römischen Kurie droht ihn schließlich alles zu kosten: Heinrich wird vom Papst exkommuniziert. Um seinen Herrschaftsanspruch zu bewahren, tritt er den beschwerlichen Bußgang nach Canossa an. Hier muss er sich entscheiden: Zwischen Ehre und Macht – oder Schande und Liebe …

Über den Autor:

Frederik Berger (geboren 1945 in Bad Hersfeld) studierte Literatur- und Sozialwissenschaften und lebte einige Zeit im englischen Cambridge und in der Provence. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler und Journalist, bevor er hauptberuflich Schriftsteller wurde. Neben Gegenwartsromanen, Sachbüchern und zahlreichen Aufsätzen verfasste er verschiedene historische Romane über den Glanz und die Schatten europäischer Adelsfamilien. Frederik Berger reist viel und ist begeisterter Fotograf. Er lebt mit seiner Frau in Schondorf am Ammersee.

Die Website der des Autors: www.frederikberger.de

Der Autor auf Instagram: www.instagram.com/fritzgesing/

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine historische Romantrilogie »Das Siegel der Farnese« mit den Bänden »Die Geliebte des Papstes«, »Die Tochter des Papstes« und »Die Kurtisane des Papstes«. Außerdem erschienen seine opulenten historischen Romane »Die heimliche Päpstin«, »Die Provençalin«, »Der Gang nach Canossa«, »Die Schwestern der Venus«, »Die Madonna von Forlì« und »Der Botschafter des Kaisers«.

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eBook-Neuausgabe November 2024

Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel »Canossa« bei Aufbau Taschenbuch

Copyright © der Originalausgabe 2004 Rütten & Loening Berlin GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/John Erickson, 4zevar und die Digitale Bibliothek München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-489-7

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Frederik Berger

Der Gang nach Canossa

Aus den geheimen Annalen des Lampert von HersfeldHistorischer Roman

dotbooks.

WIDMUNG

Für Patricia

MOTTO

Heinricus imperator augustus

spes mea et unicum solacium fuit,

gloria Romae, decus imperii, lucerna mundi.

Der erhabene Kaiser Heinrich

war meine Hoffnung und mein einziger Trost,

der Ruhm Roms, die Zierde des Reichs, das Licht der Welt.

Vita Heinrici IV. imperatoris

ERSTER TEIL

Die verratene Kindheit

KAPITEL 1

Speyer 1055

Es war ein Tag, wie der kleine Heinrich ihn liebte: Dicke Schichten pulvrigen Schnees bedeckten den Boden, und vom Himmel tanzten die Flocken herab, daß es eine Lust war, ihnen zuzuschauen. Immer wieder fing der Wind sie auf, trieb sie vor sich her, ließ sie schließlich frei, so daß sie sich frech auf den rötlich schimmernden Bart des Vaters niederließen oder die vermummte Mutter und die frierende Tante Beatrix bepuderten. Einige Flocken legten sich kalt und kitzlig auf Heinrichs Lippen, er prüfte ihren wäßrigen Geschmack und versuchte, andere zu fangen. Da ihm dies selten gelang, nahm er eine Handvoll Schnee und warf sie auf Mathilde, seine Cousine, die ihm lachend ein Bein stellte, so daß sie beide umeinander kugelten.

Die Erwachsenen wirkten weniger fröhlich als sie. Der Vater, Kaiser Heinrich der Dritte, schaute mit tiefgefurchter Zornesfalte auf sie herab und forderte seinen Sohn barsch auf, sich gesittet und würdevoll zu verhalten, wie es sich für einen künftigen Herrscher von Gottes Gnaden gehöre. Kopfschüttelnd rief Tante Beatrix »Laß doch die Kinder spielen, freue dich lieber daran, wie gut sie sich verstehen« und versuchte, sich freundschaftlich bei ihm unterzuhaken.

Der Vater knurrte, die Mutter bedachte sie mit einem verärgerten Blick und forderte die noch immer im Schnee liegenden Kinder auf, sich endlich zu erheben. Heinrich sprang empor, zog Mathilde auf die Beine und wollte zum Hafen voraus rennen. Der Vater jedoch griff seine Hand und hielt ihn fest.

Als Heinrich nun den steifen Schritt der Leibwächter nachahmte und den Kinderfrauen zuwinkte, die ihnen mit dem restlichen Hoftroß in achtbarer Entfernung folgten, hatte der Vater offensichtlich genug von seiner Zappelei: Er nahm seinen Kopf zwischen die Hände und richtete ihn auf die riesigen Gemäuer der noch nicht fertiggestellten Basilika aus, die sich hinter ihnen dunkelmächtig erhob. Gehorsam ließ Heinrich seinen Blick wandern über die weißen Hügel, unter denen sich das Baumaterial verbarg, zu den Gerüsten, die wie kahle Äste in den Himmel ragten, und den Steingebirgen, die sich in schier unendlicher Höhe im Flockengestöber verloren.

»Dies wird der Dom, der Gottes Größe und den Ruhm des salischen Geschlechts verkünden soll«, erklärte der Vater mit ernster Stimme. »Dein Großvater, Kaiser Konrad, hat ihn zu bauen begonnen, ich will ihn vollenden, und du sollst ihn erhalten. Wir alle werden hier unsere letzte Ruhestätte finden.«

Heinrich versuchte, brav zu nicken, weil er erwartete, auf diese Weise von der eisernen Klammer der väterlichen Hände befreit zu werden. Die Mutter vor ihm bekreuzigte sich, während Tante Beatrix hell auflachte und spöttisch rief: »Hoffentlich ruhen wir noch nicht so bald.«

Abrupt ließ ihn der Vater los und warf ihr einen Blick zu, der sie verstummen lassen sollte. Sie zog die Augenbrauen hoch und schüttelte verständnislos den Kopf.

Endlich war Heinrich frei. Doch während Mathilde einen Purzelbaum nach dem anderen schlagen durfte, winkte ihn seine Mutter mit verkniffenen Lippen zu sich und befahl ihm, an ihrer Seite zu bleiben. Tante Beatrix hatte sich währenddessen erneut bei dem Vater untergehakt und sprach auf ihn ein: »Die beiden Kinder passen zusammen, wie vom Schöpfer füreinander geschaffen. Ich kann nicht verstehen, warum du dich noch immer sträubst.«

»Mathilde ist zu alt für unseren Sohn«, mischte sich die Mutter ein.

»Das ist nun wirklich kein Grund, Agnes. Du mußt zugeben ...«

»Außerdem sind sie zu nah miteinander verwandt. Darauf liegt kein Segen.«

Tante Beatrix verdrehte die Augen.

»Vergiß nicht«, fuhr die Mutter in ungewohnt belehrendem Ton fort, »daß die Politik eine Rolle spielt. Hättest du nicht deinen bärtigen Gottfried geheiratet ...«

»Es war eine Heirat aus Liebe, meine Gute. Dies kannst du vielleicht nicht verstehen, aber dein Gatte müßte eigentlich ...«

»Ich will nichts mehr davon hören«, unterbrach sie scharf der Vater. »Es ist entschieden.«

»Heinrich, Lieber ...« Die Stimme von Tante Beatrix wurde samtweich.

»Du hörst doch, es ist entschieden.« In den belehrenden Ton der Mutter mischte sich leiser Triumph.

»Kein Wort mehr!« donnerte der Vater.

Tante Beatrix löste sich von ihm und rief: »Was ist dieser Mann für ein sturer Ochse!«

»Wie nennst du mich?«

»Sturer Ochse!« wiederholte Tante Beatrix, wandte sich mit einem hochmütigen Augenaufschlag von ihm ab und legte betont freundschaftlich den Arm um die Schultern der Mutter. »Gütiger Gott, ich müßte ihn ja kennen!«

Vertraulich führte sie die Mutter zur Seite, die sich zwar ängstlich nach dem Vater umschaute, den kleinen Heinrich jedoch einfach stehenließ.

»Wir müssen gemeinsam ...«, hörte er Tante Beatrix noch sagen, bevor der Vater ihnen nachbrüllte: »Weiber, was versteht ihr schon von Reichspolitik und Herrschaftssicherung!«

Die Erwachsenen waren abgelenkt! Heinrich sah eine Möglichkeit, ihrem allzu bekannten Streit und dem drohenden Klammergriff des Vaters zu entkommen: Rasch zog er Mathilde auf die Beine und rannte, sie hinter sich herziehend, durch den tiefen Schnee in Richtung Hafen. Er hörte die Mutter noch mit schwacher Stimme rufen, sie sollten zurückkommen, und den Vater zornig seinen Namen schreien. Kurz schaute er sich um: Zwei Leibwächter setzten sich mitsamt ihren Schilden und klappernden Rüstungen in Bewegung, um sie einzufangen. Doch nach wenigen Schritten rutschte der eine aus, der andere stolperte über sein Schwert und klirrte zu Boden. Heinrich mußte, wie auch Mathilde, lachen und lief weiter in das dichter werdende Flockengewirbel. Als er erneut zurückblickte, sah er nur noch schwache Schemen, die wie Geisterwesen zu tanzen schienen und deren Stimmen immer wieder der Wind verschluckte.

Am Fluß stießen die beiden auf eine Gruppe von Menschen, die sich, ohne sie zu beachten, an den eingefrorenen Booten zu schaffen machten. Lediglich von Hunden wurden sie angebellt. Heinrich bellte zurück und zog Mathilde lachend hinter einen Stapel Holz.

»Dein Vater wird böse sein, wenn wir uns verstecken. Bei dem Schneetreiben findet uns niemand, und wir könnten uns verirren.«

Heinrich fürchtete sich nicht vor dem Verirren; er war froh, der schlechten Stimmung wie auch der unablässigen Aufsicht und Erziehung entronnen zu sein. Außerdem war er gern mit seiner Spielgefährtin allein. Im Gegensatz zu seinen braven Schwestern, die entweder am Rockzipfel der Mutter und der Kinderfrauen hingen oder vor dem Kamin mit irgendwelchen Stofffetzen und Holzpuppen hantierten, ließ sich Mathilde auf seine Balgerei ein, sie liebte Verstecken und Fangen und genoß wie er den Schnee, obwohl sie bisher in Italien gelebt hatte, wo es viel weniger schneite, wie Heinrich bereits wußte.

Sie alle waren kürzlich aus Mathildes Heimat an den Rhein zurückgekehrt. Ihr Stiefvater Gottfried, genannt der Bärtige, der frühere Herzog von Lothringen, hatte den Kaiser, Heinrichs Vater, verraten. Dieser war unverzüglich mit einem Heer über die Alpen geeilt, um den Abtrünnigen zu bestrafen, und es folgten einige Kämpfe um Mantua und Canossa. Gottfried der Bärtige floh ohne Frau und Stieftochter zu seinem Stammsitz nach Verdun, und weil der Vater seinen Widersacher nicht fangen konnte, nahm er Tante Beatrix, die Markgräfin von Tuszien-Canossa, und ihre Tochter Mathilde als Geiseln mit nach Deutschland – so hatte er es ihm erklärt. Die beiden Geiseln trugen allerdings keine Ketten und Fesseln, im Gegenteil: Sie gehörten zum Hof und speisten mit an der kaiserlichen Tafel.

Warum dies alles so war, verstand Heinrich nicht recht. Er mußte aber brav ja sagen, als der Vater ausrief: »Wir sind von Verrätern umgeben, mein Sohn, die Welt ist eine Grube voller Schlangen. Nimm dich vor ihnen in acht!«

Ob er Tante Beatrix meinte – oder gar die Mutter?

»Komm!« rief Heinrich und rannte los. »Wir verstecken uns dort hinter den Bäumen.«

Mathilde folgte ihm zögernd.

Der Auwald, der sich bis an den Hafen heranschob, war wie alles im Frost erstarrt. Den Rhein konnte man zu Fuß überqueren und auch die Sumpfgebiete betreten.

Heinrich warf einen letzten Blick zurück. In der Ferne bewegten sich die Schemen der Leibwächter und Kammerfrauen. Man rief erneut nach ihnen. Mathilde wollte antworten, doch Heinrich legte ihr die Hand auf den Mund, kletterte dann über krachende Äste und kämpfte sich mit ihr ein Stück tiefer in den Wald hinein.

Als die beiden auf eine schmale Schneise stießen, flüsterte er: »Hast du Angst vor Wölfen und Bären? Und den bösen Geistern des Waldes?«

Unsicher schüttelte sie den Kopf, griff seine Hand und wollte ihn zurück zum Vater und den anderen ziehen. Heinrich entwand sich ihr, legte den Finger auf die Lippen und lauschte. Ein wattiges Dämmergrau verschluckte das gelegentliche Fiepen, Rufen oder Schreien verborgener Waldwesen. Um sie herum ein Gewirr bizarrer Baumglieder, schräger Äste, abgebrochener Zweige. Schauten sie genauer hin, entdeckten sie erstarrte Trolle und Dämonen, die nur darauf warteten, sich aus dem Hinterhalt auf sie zu stürzen.

»Heinrich, wir müssen zurück!« Mathilde zog an seinem Arm.

»Der Hafen liegt aber dort!« Heinrich wies in die entgegengesetzte Richtung.

Mathilde schüttelte den Kopf. Sie zerrte ihn hinter sich her, begann sogar zu laufen. Als sie, außer Atem, ein kurze Pause einlegten, hatten sie den Hafen noch immer nicht erreicht. Aus der Schneise war ein verlorener Waldpfad geworden.

Sie hatten sich verirrt!

In Mathildes Augen flackerte Panik auf. Wortlos rannten sie den Weg zurück. Keuchend folgten sie den eigenen Spuren, bis diese unter dem fallenden Schnee verschwunden waren. Mathilde rief nach ihrer Mutter, und Heinrich versuchte zu pfeifen – ohne Erfolg.

Die Schneise mußte doch irgendwohin führen! Zumindest zum Fluß, über den man den Hafen gefunden hätte. Stumm stapften sie, Hand in Hand, durch das Labyrinth des erstarrten Walds. Heinrich begann zu frieren. Mathildes Lippen waren blau angelaufen und bewegten sich im lautlosen Gebet. Aus der Ferne drang ein langgezogenes Heulen herüber, dem ein zweites Heulen antwortete. Als wenige Schritte von ihnen entfernt das Gehölz knackte, schrien sie vor Schreck auf. Ein schweres dunkles Ungeheuer erhob sich unter Schnauben und Keuchen. Sie begannen erneut zu rennen, bis ihnen die Lungen schmerzten.

Plötzlich roch Heinrich etwas Vertrautes – Rauch! Die ferne Ahnung eines Feuers, die Wärme des Kamins! Hatten sie eine menschliche Behausung erreicht und waren in Sicherheit?

Vor ihnen öffnete sich eine kleine Lichtung, und auf einer Aufschüttung duckte sich eine Hütte, aus deren Dachöffnung leichter Rauch quoll. Obwohl Mathilde ihn zurückhalten wollte, stürzte Heinrich laut rufend auf den Eingang zu: »Öffnet die Tür!« Er pochte mit seinen schmalen Fäusten an das Holz.

Zuerst hörte man ein unwilliges Stöhnen, als erwache ein Drache, dann knarrte tatsächlich die Türe auf. Heinrich war so froh, endlich der weglosen Bedrohung entronnen zu sein, daß er seine Ängste vergaß. Mathilde stand zitternd an seiner Seite, drückte seine Hand.

Ein in Pelze gehüllter, zottlig verfilzter Waldmensch baute sich vor ihnen auf. Vor lauter Haaren und Bart konnte man kaum ein Gesicht erkennen.

»Wo kommt ihr Kinder denn her?« Eine tiefe, kollernde Stimme. »Seid ihr ausgesetzt worden?«

»Wir haben uns im Wald verirrt«, antwortete Mathilde. »Eigentlich sind wir nur zum Hafen gerannt ...«

»Zum Hafen? Der ist weit. Paßt niemand auf euch auf?« Der Mann schüttelte verwundert den Kopf. »Dann kommt herein und wärmt euch!«

Vorsichtig traten sie in einen rauchigen, schwach beleuchteten Raum. An der Feuerstelle hockten zwei Gestalten, von denen eine sich hustend erhob. Die andere drehte einen Fleischspieß und stieß seltsame Geräusche aus, die wie das Wiehern eines Esels klangen.

Die hustende Gestalt, eine in Pelzlumpen gehüllte Frau, bückte sich zu ihnen herab und streifte ihnen die Kapuze vom Kopf, um sie besser betrachten zu können, lächelte und entblößte dabei ihre Stummelzähne. »Ihr seid kalt wie ein Eiszapfen«, rief sie, schob sie ein Stück zum Feuer und reichte ihnen einen Becher dampfenden Kräutersuds.

Das heiße Getränk tat Heinrich gut und dämpfte die zunehmende Angst. Mathilde neben ihm klapperte mit den Zähnen. Er hatte von seiner Amme gehört, daß in den Wäldern böse Geister, bestrafte Räuber und fromme Eremiten hausten, außerdem Hexen, die Kinder fraßen. Er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte. Doch auch der Vater betonte, nicht ohne zu grinsen, im Wald müsse ein Mann, wie einst Siegfried, den Drachen bekämpfen und sich gleichzeitig vor Verrätern in acht nehmen, die ihm einen Speer hinterrücks zwischen die Schulterblätter stoßen könnten.

Vorsichtig schaute Heinrich nach dem seltsamen Wesen, das den Fleischspieß drehte und dessen Gesicht an einen verdreckten jungen Mann denken ließ, mit starken Augenbrauen unter einer fliehenden Stirn und einem Pferdegebiß, das diese tierischen Laute ausstieß, die wohl Lachen sein sollten. Hinter seinem Kopf wölbte sich ein Stiernacken, der in einen riesigen Buckel überging!

Die Frau reichte ihnen ein Stück Brot, der Mann säbelte für sie zwei Scheiben Fleisch vom Spieß. Heinrich nahm das Brot und biß hinein. Jetzt erst spürte er seinen Hunger. Ein zweiter Becher wurde ihm gereicht, er schlürfte das Kräutergetränk und spülte das trockene Brot hinunter. Das Fleisch schmeckte zart und gut.

Allmählich wagte er, ebenso wie Mathilde, sich genauer umzusehen. An den Holzwänden hingen neben Pelzen und Fangeisen eine Kutte, wie sie Mönche trugen, sowie ein glänzendes Kruzifix; auf einem in die Wand eingelassenen Regal lagen mehrere Bücher. Sein Blick blieb an dem blutverschmierten Blatt einer schweren Axt hängen, das in einem Holzbock steckte, und jäh fuhr ihm durch den Sinn: Wenn man sie nur fütterte, um sie später zu schlachten und verschlingen zu können ...?

»Wer seid ihr?« fragte der zottlige Mann, der ihnen geduldig beim Essen zuschaute.

Heinrich schluckte seinen letzten Bissen Brot, richtete sich auf und erklärte: »Ich bin König Heinrich.«

Bevor er ergänzen konnte: »Der Sohn des Kaisers«, brach der Zottelmann mitsamt seiner Frau in Gelächter aus. »O guter Gott, der König! Welcher Wink des Schicksals!« Er prustete vor Lachen. Der bucklige Stiernacken wieherte mit.

»Allerdings ein wenig geschrumpft«, stieß der Waldmensch aus, noch immer lachend. »Zwei Königskinder, und sie sind zusammen gekommen, verloren und hungrig!« Er versuchte, wieder ernst zu werden, und bückte sich zu ihnen herab: »Und wer bin ich, ihr Engelchen?« Spott stand in seinen Augen, als er vor Heinrich das Segenszeichen machte, sich reckte und ausrief: »Ich muß der Papst sein!«

KAPITEL 2

Speyer 1055

Vor Kälte und überstandenem Schrecken zitternd, lag Mathilde in ihrem weichen Nachtlager aus Stroh unter mehreren Schichten schwerer Wolldecken. Die Mutter an ihrer Seite hatte ihre Hand gehalten, schien jedoch eingeschlafen zu sein und schnarchte leise. Eine kleine Kerze flackerte vor sich hin und ließ an den kahlen Wänden Gespenster tanzen. Mathilde hatte alle Gebete und Psalmen, die sie auswendig wußte, aufgesagt, aber Gott der Herr, den sie aus den Tiefen ihrer blutigen Schrecken rief, schien ihre verängstigte Stimme zu überhören. ER vertrieb die Gespenster nicht, die Bilder von dunkel schimmernden oder in grellem Weiß überstrahlten Wäldern. Vor ihren Augen sirrten Pfeile von der Sehne, drangen tief ins Fleisch, und Blut schrieb eine Botschaft in den Schnee, die sich langsam im Flockengestöber verlor, als der Leichnam hinweggezerrt wurde.

Mathilde hatte, als sie sich in der Hütte aufwärmten, dem zottligen Alten zu erklären versucht, wer sie waren und warum sie sich verirrt hatten, und ihn anschließend gebeten, sie zurück zum Hafen oder zur Pfalz zu bringen. Sie versprach ihm eine Belohnung und drängte zur Eile, weil sie genau wußte, daß man ihr für das Verschwinden im Wald die Schuld geben würde. Der Alte jedoch reagierte auf ihre Bitten nicht, obwohl er freundlich blieb. Seine Frau entblößte ihre Zahnstummel wie eine höhnisch grinsende Hexe. Der Bucklige hatte das Fleisch vom Spieß gezogen und schlug sein Pferdegebiß hinein.

Heinrich schaute ihm beim Vertilgen seiner Fleischbrocken zu und wärmte seine Hände am Feuer. Die Frau kroch plötzlich nah an die beiden Kinder heran, musterte forschend ihre Gesichter, beobachtete anschließend die Flammen wie den Rauch und drückte die Holzscheite mit einem Stecken auseinander. Als die Flammen sich niederduckten und in das Holz zurückziehen wollten, befahl sie den Kindern zu pusten. Erneut flackerte das Feuer auf, der Rauch kräuselte und wand sich empor, bis er unter dem Dach in Schwaden hängenblieb, schließlich jedoch durch den Rauchabzug emporgerissen wurde in den unsichtbaren Himmel.

»Seht ihr, wie die Flammen sich zueinander neigen, als wollten sie sich verschlingen?« rief die Frau.

Mathilde preßte ihre Hände vor die Brust und bekreuzigte sich knapp.

Die Frau lachte, hustete, krächzte schließlich: »Eure Schicksale sind miteinander verwoben wie die Flammen der beiden Holzscheite; über ihnen liegt ein dunkler Schatten wie der Rauch, der nicht abziehen will ...«

»Schluß damit, Weib!« Der Mann stieß seine Frau zur Seite, half den Kindern auf und gab dem Buckligen einen Wink mit dem Kopf.

Mathilde warf sich in dem knisternden Lager herum und suchte den Blick ihrer Mutter, deren Augen geschlossen blieben. Das Zittern hatte nachgelassen, doch noch immer tanzten die Gespenster, die Kerzenflamme flackerte, als striche ein unsichtbarer Nachtalp vorbei, ein kleiner Rußfaden ringelte sich an die Decke ...

Es hatte aufgehört zu schneien, als der Bucklige mit ihr und Heinrich die Hütte verließ. Seine Mutter hatte ihm einen dicken Pelz über den Rücken geworfen und seinen Kopf unter einer Kapuze verschwinden lassen. Während sie losstapften, schnaubte er durch die Nase, warf den Kopf nickend nach vorne und wieherte. Auch schien er zu humpeln. Er eilte, sich auf einen langen Stecken stützend, voraus, winkte mit fahrigen Bewegungen, um mit ihnen von dem Waldpfad abzubiegen und sich krachend einen Weg durch das Unterholz zu bahnen. Einmal schlug er mit seinem Stecken wild gegen einen Baumstamm, brüllte unartikulierte Laute und wies ins Dickicht, in dem Mathilde jedoch nichts erkennen konnte.

Als sie auf einer Eisfläche zu Boden rutschte, stand er plötzlich breitbeinig über ihr, ließ sich auf die Knie fallen und drückte sie, völlig unerwartet, in den Schnee. Das verunstaltete, schwachsinnig grinsende Gesicht näherte sich ihr, aus seinem Mund lief der Speichel. Mathilde stieß einen Schrei aus. Schon preßte ihr der Bucklige seine Lippen auf den Mund, seine Hand glitt ihren Körper hinab. Nach einem Augenblick gelähmten Schreckens versuchte sie, seinen Kopf wegzudrücken. Heinrich, der zu begreifen schien, was geschah, stürzte sich auf ihn und schlug ihm mit seinen kleinen Fäusten auf den verkrüppelten Rücken.

Der Bucklige schien sich zu besinnen, packte Mathilde an ihrem wollenen Rock, riß sie hoch, und ehe sie sich versah, hatte er sie wie einen Sack geschultert. Sie strampelte mit den Beinen und schlug auf ihn ein. Unter ihr Heinrichs aufgerissene Augen. Kaum war sie über den Buckel wieder nach unten gerutscht, wurde ihr so schlecht, daß sie sich übergeben mußte. Als Heinrich erneut begann, auf den Verrückten einzuschlagen, fiel der auf die Knie, streckte ihnen die Hände flehend entgegen und spuckte wimmernde Laut aus. Heinrich wich zurück. Sofort sprang der Bucklige auf die Füße, griff nach ihren Armen und zerrte sie durch den Wald, ohne darauf zu achten, daß sie sich an Ästen Beulen und Schrammen holten. Schon hörten sie Stimmen, brachen durch ein letztes Dickicht und entdeckten die erlösenden Retter.

Der Kaiser stürzte inmitten seiner Suchmannschaften herbei, stieß die Umstehenden zur Seite, riß seinen Sohn an sich und heulte auf vor Erleichterung und Glück; er nahm ihn auf den Arm und küßte ihn, hob auch Mathilde hoch und bedeckte sie mit feuchten Bartküssen. Als er den Buckligen entdeckte, verzerrte sich sein Gesicht, er setzte die beiden wieder ab und schrie auf ihn ein. Der Bucklige wich grinsend zurück, entblößte seine Zähne, schnaubte und stöhnte ängstlich, humpelte davon, stürzte in den Schnee, raffte sich auf ...

»Bleib stehen!« schrie der Kaiser ihm nach. »Ich will mit dir sprechen!« Als der Bucklige nicht reagierte, begann er zu toben: »Hast du nicht gehört, du verkrüppelter Hurensohn?«

Der Bucklige stolperte wie ein gehetztes Tier auf den Waldrand zu.

»Holt ihn! Ich will ihn haben! Lebendig oder tot!«

Alle stürzten sie los. Die Hunde zerrten an den Leinen. Zwei berittene Leibwächter gaben ihren Pferden die Sporen, um dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Ein Schütze nahm seine Armbrust, zielte sorgfältig und schoß. Der Pfeil drang tief in den Rücken des Buckligen. Der Länge nach stürzte er in den Schnee, kroch auf allen vieren vorwärts, bäumte sich mit einem ersterbenden Schrei noch einmal auf und rührte sich nicht mehr.

Stumm vor Entsetzen hatte Mathilde, Heinrich an der Hand, zusehen müssen. Voller Angst, ein strafender Gott könnte sie augenblicklich von der Erde vertilgen, stapfte sie mit den anderen auf den Toten zu und beobachtete, wie der Schnee neben seiner Brust sich rot zu färben begann.

Später, als die Hofgesellschaft gemeinsam zu Abend speiste, wurde bereits wieder gelacht. Lediglich die Mütter blieben wortkarg und ernst, und in Heinrichs Augen hielt sich der Schrecken. Er aß kaum etwas und wurde bald zu Bett geschickt, während Mathilde zitterte, als hätte ein Dämon ihre Hand verhext, und keinen Bissen herunterwürgen konnte. Sie sah den Pfeil im Rücken des Toten stecken, auch jetzt noch, während sie wach lag, mit heftig schlagendem Herzen, umtanzt von höhnischen Gespenstern, und sie sah einen weiteren todbringenden Pfeil, einen dahingestreckten Körper und Blut, welches das Wasser einer fröhlich gluckernden Quelle rötlich färbte.

Quälende Erinnerungen, die sich unter einem oberflächlichen Vergessen versteckt hielten, waren wieder aufgetaucht. Vor Jahren hatte der elterliche Hof in den Wäldern westlich von Mantua eine große Wolfsjagd veranstaltet. Als die Hörner das Ende der Jagd verkündeten, war der von ihr innig geliebte Vater nicht zum Lager zurückgekehrt. Man suchte ihn hektisch, und als man ihn entdeckte, stürzte sie als eine der ersten zu ihm: Da lag er, mit dem Kopf im blutigen Wasser einer Quelle, und in seinem Rücken steckte ein vergifteter Pfeil. Sonst schien er unverletzt, seine grauen, gelichteten Haare, mit denen Mathilde als kleines Kind so gern gespielt hatte, kräuselten sich im Nacken.

Nie wurde aufgeklärt, wer Bonifacio von Canossa heimtückisch getötet hatte, kein Schuldiger bestraft und zur Hölle geschickt. Doch gab es Gerüchte, die so unerträglich waren, daß Mathilde sie nie wirklich wahrzuhaben wagte.

Dieser Mordanschlag riß sie aus dem Glück ihrer frühen Jahre, verfolgte sie in ihren Nächten, brachte ihr andauerndes Fieber, entfremdete ihr die Mutter, die nur verhaltene Trauer zeigte und bald darauf ihren entfernten Vetter Gottfried den Bärtigen heiratete, den ehemaligen, vom Kaiser abgesetzten Herzog von Lothringen, der seinen Herzogsrivalen ermordet hatte und dafür lange eingesperrt worden war – sie heiratete ihn heimlich, ohne den Kaiser gefragt zu haben, der aber seine Zustimmung hätte geben müssen und der daher mit einem Heer die Ebene des Po heimsuchte, Mantua einschloß, Canossa belagerte, die Mutter gefangennahm. Der Stiefvater hatte sich mit seinem vierzehnjährigen Sohn feige in sein Stammland abgesetzt. Dies hätte ihr richtiger Vater nie getan.

Ihre Mutter Beatrix und sie hatten Kaiser Heinrich mit kleinem Gefolge nach Deutschland begleiten müssen. Der Kaiser, ein direkter Vetter ihrer Mutter, erinnerte sie beunruhigend an den eigenen Vater. Nicht allein wegen der jähzornigen Ausbrüche oder wegen des gezwirbelten Bartes, auch wegen seines Lachens und weil er sie gerne an die Brust drückte und küßte, ihr abschließend einen zärtlichen Klaps gab – was ihn nicht daran hinderte, Augenblicke später wie ein tollwütiges Tier zu toben und auf alle, die sich in seine Nähe wagten, loszuprügeln, sogar auf Tante Agnes und seine Töchter, selten allerdings auf seinen Sohn Heinrich und ihre Mutter Beatrix. War die Wut verraucht, entschuldigte er sich mit brüchiger Stimme.

Auch diesmal hatte er dem vom Pfeil tödlich Getroffenen noch einen Fußtritt gegeben, dann den Pfeil aus dem Buckel gerissen, seine Hände auf das aus der Wunde sprudelnde Blut gepreßt, sich selbst verflucht und den allmächtigen Vater im Himmel um Hilfe angefleht.

Der Bucklige jedoch, das Gesicht im Schnee verborgen, wurde nicht wieder lebendig.

»Mama!« rief Mathilde leise. Sie hatte sich aufgerichtet und sah die Kerze langsam erlöschen.

Ihre Mutter schlug die Augen auf.

»Ich habe Angst!«

Die Mutter suchte nach einer zweiten Kerze und entzündete sie an den letzten Zuckungen der Flamme.

»Ich kann nicht schlafen.« Mathilde preßte sich an ihren warmen Körper. »Der Bucklige ...«

»Es war eine Sünde, ihn zu töten. Gott wird den Schuldigen strafen.«

»Er hat mich mit seinem Pferdegebiß geküßt. Wollte er mich wirklich ...?«

»Vergiß ihn! Er hat für seine Tat gebüßt.«

»Mama, ich muß an Papas Tod denken.«

Der Körper ihrer Mutter straffte sich, und sie stieß Mathilde von sich. »Ich will nichts davon hören! Es war schwer genug damals. Zuerst das unglückliche Ende deines Vaters, dann gingen deine beiden älteren Geschwister zu den Engeln ... Aber Gott hat uns beauftragt, weiter zu leben, selbst wenn es mitunter schwerfällt. Ich bin noch nicht alt, vielleicht erhört die gnadenreiche Jungfrau mein Flehen ... Du hast einen neuen Vater, von dem wir zur Zeit leider getrennt leben müssen ... sogar einen neuen Bruder ...« Ihre Stimme wurde leiser, unsicher.

Mathilde spürte ein Würgen im Hals. Jedesmal erfaßte sie Übelkeit, wenn sie an ihren Stiefbruder dachte – den alle Gottfried den Buckligen nannten. Die heutigen Geschehnisse hatten ihren schuldbeladenen Widerwillen nur verstärkt.

Sie atmete langsam und tief, bis das Würgen nachließ, und versuchte, an etwas Schönes zu denken, zum Beispiel an die Schneeballschlachten mit Heinrich, die im Gelächter erstickten, wenn sie sich im Schnee balgten und schließlich atemlos aufeinander lagen. Oder daran, wie sie im Hof mit den Hundewelpen spielten. Heinrich liebte Hunde und ging sogar mit den großen, bissigen unbefangen um. Er liebte überhaupt alle Tiere und beobachtete sie stundenlang. Da er bereits pfeifen konnte, versuchte er den Vogelgesang nachzuahmen und freute sich königlich, wenn sie ihm zu antworten schienen. Oder er begab sich in die Pferdeställe und sang den ihn neugierig anschauenden Reittieren ein Kinderlied vor. Dann fütterte er sein Pony, auf dem er gut und ausdauernd reiten konnte, mit Rüben und kraulte seine Ohren. Im Frühling waren sie über duftende Wiesen gelaufen, sie flocht Heinrich eine Krone aus Maßliebchen, Margeriten und Löwenzahn, er nannte sie meine geliebte Frau Gemahlin und Kaiserin, und Arm in Arm stolzierten sie, sie einen Kopf größer als er, zu den Eltern. Alle mußten sie lachen, ihre Mutter und Tante Agnes, die Kanzler und Notare, sogar die Erzbischöfe. Nur der Kaiser nicht: Er blieb ernst, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als wollte er einen unangenehmen Gedanken verscheuchen. Im Grunde, so fand Mathilde, wirkte er nicht böse, sondern traurig.

»Ich werde doch einmal Heinrich heiraten, nicht wahr? Papa hat mir immer versprochen, daß ich Kaiserin werde.«

Die Mutter antwortete nicht.

»Mama ...?«

»Der Kaiser bestimmt, wen Heinrich heiratet.«

»Ich mag ihn, obwohl er jünger ist als ich.«

»Ich weiß, mein Kind.« Sie seufzte.

Mathilde mochte ihn wirklich, den Kleinen – er lachte so ansteckend und war immer fröhlich, und wenn sie ihn tadeln mußte, dann schaute er unter seinen widerspenstigen Haaren so schelmisch, daß sie ihm nie böse sein konnte. Schon die großen blauen Augen, die seine Mutter stets hervorhob, blickten in die Welt, als könnten sie kein Wässerlein trüben, dabei waren sie gar nicht richtig blau, sondern eher graugrün, sie hatte die Iris genau betrachtet – und singen konnte er nicht nur die Gutenachtliedchen der Amme, sondern auch Kinderlieder aus Aquitanien, die Tante Agnes gern vor sich hinsummte, wenn sie vor ihrem Stickzeug saß.

»Er hat die Stimme eines Engels«, hatte Mathildes Mutter einmal zur Kaiserin gesagt, als Heinrich mit klarem Gesang in das Summen eingefallen war, und Tante Agnes’ Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

»Mama ...«

»Mein Kind – nun hör doch: Solange wir Geiseln sind ...« Als wisse sie nicht mehr, was sie sagen wollte, unterbrach sie sich und zog Mathilde erneut an ihre warme Brust. Ihre Stimme wurde weich: »Ich werde noch einmal mit dem Kaiser sprechen – obwohl er mir und insbesondere deinem Stiefvater gegenüber mißtrauisch ist. Im Grunde kann ich ihn verstehen. Ich denke, er hat bereits andere Pläne ...« Sie schaute nachdenklich in die Kerzenflamme. »Es gäbe keine bessere Lösung – ach, mein Mädchen, wenn du wüßtest ...«

KAPITEL 3

Goslar 1056

Beatrix von Tuszien-Canossa beobachtete vom Palasfenster zu Goslar die beiden Kinder, die im Atrium vor der Pfalzkapelle Fangen spielten. Ein knappes Jahr lang waren sie und ihre Tochter Mathilde Geiseln des kaiserlichen Vetters gewesen, bis ihr die Versöhnung zwischen Heinrich, dem unangefochtenen Herrscher, und Gottfried, ihrem stolzen Gemahl, gelungen war. Hatte das zahlreich versammelte Gefolge des Kaisers demnächst seine Herbstjagd beendet, durften sie endlich nach Italien zurückkehren, unter dessen Himmel sie, die Markgräfin von Tuszien-Canossa, und er, der ehemalige und zukünftige Herzog von Lothringen, das Sagen hatten. Lediglich eins war ihr bisher noch nicht gelungen: den Kaiser davon zu überzeugen, daß ihre Tochter Mathilde und sein Sohn Heinrich aus vielerlei Gründen zusammengehörten.

»Ich krieg dich!« schrie der kleine Heinrich und stürmte an den von Kaiserin Agnes geliebten Rosen vorbei auf Mathilde zu, die ihm geschickt auswich, hinter einer Arkadensäule verschwand und sich dann von dem jungen König um diese Säule jagen ließ. Mit ihnen tobte ausgelassen bellend ein junger Hund, den sein Vater ihm kürzlich zu seiner großen Freude geschenkt hatte.

Struppig und verdreckt, wie Heinrich bereits war, stieß er an die Kante einer Platte und fiel der Länge lang hin. Er raffte sich stöhnend auf, schob den herbeidrängenden Hund zur Seite und betrachtete das aufgeschrammte Knie. Die Kinderfrauen eilten zu ihm, um seine Wunde zu reinigen. Sein Gesicht vor Schmerz verzogen, humpelte er einige Schritte, ohne eine Träne, ohne jegliches Geschrei.

Mathilde stand unterdessen neben einem Rosenstock, wagte sogar, einen Stengel zu brechen und an der Blüte zu riechen, während sie beobachtete, wie die Frauen vor Heinrich knieten, auf die Wunde spuckten und heidnische Zaubersprüche herunterleierten. Der Junge stieß sie nach einer Weile zur Seite und humpelte lächelnd auf Mathilde zu, als müßte er sich für den Sturz entschuldigen.

Stolz blickte Beatrix auf ihre Tochter. Das rotblonde Mädchen, gleichmäßig gewachsen, bewegte sich noch etwas schlaksig, man konnte jedoch bereits erahnen, daß sie sich mit ihren gleichmäßigen Zähnen, den dichten, langen Haaren und dem kräftigen Körperbau zu einer begehrenswerten und vermutlich fruchtbaren Frau entwickeln würde. Ihre strahlenden Augen versprachen einen guten Charakter, und ihre Körpersäfte schienen im Gleichgewicht zu sein, so daß, blieb ihr die Gnade des Herrn erhalten, keine Gefahr bestand, sie könnte ihren Geschwistern in den Himmel folgen.

Langsam streckte Mathilde dem kleinen Heinrich die Rose entgegen, und als er zugreifen wollte, zog sie die Blume hastig zurück. Bevor sie weglaufen konnte, stürzte er sich auf sie, und eine Weile rangen die beiden spielerisch um den Besitz der Blüte – bis sie gleichzeitig aufschrien und die Rose zu Boden fiel. Während der Hund an ihr schnupperte, begutachteten sie gegenseitig ihre Hände. Offensichtlich hatten sie sich gestochen, denn nun lutschte jeder dem anderen das Blut von den Fingern. Wenn dies kein Omen war! Wenn dieses kindliche Spiel nicht darauf hinwies, daß Heinrich und Mathilde füreinander bestimmt waren! Bereits die unschuldigen Kinder vereinten ihr Blut!

Beatrix nahm sich vor, ein letztes Mal mit dem Kaiser zu sprechen, nachdrücklich und in aller Offenheit. Selbstverständlich wußte sie, daß Heinrich andere Ziele mit seinem Sohn verfolgte, aber für einen so mächtigen Mann wie den Kaiser mußte es möglich sein, die bei der Rückkehr aus Italien vereinbarte Heiratsabsicht mit der erst fünfjährigen, trotz ihrer dunklen Haare blassen und wahrscheinlich kränkelnden Bertha von Turin zu lösen – zumal er sich in der Zwischenzeit mit ihrem Gottfried ausgesöhnt hatte.

Auf ihr weibliches Geschick war Beatrix stolz. Als Geiseln hatte ihr kaiserlicher Vetter sie und ihre Tochter mit sich geschleppt, und doch durften sie wie hofierte Gäste aus dem reichen Italien an seiner Tafel sitzen, direkt neben ihm. Nicht nur der kleine Heinrich, sondern auch sein Vater verliebten sich in Mathilde. Der Kaiser schmatzte sie häufig genug ab, mehr zumindest als seine eigenen Töchter, die in ihrer frömmelnden Verhuschtheit ihrer Mutter Agnes ähnelten.

Als Beatrix endlich gelungen war, den Kaiser mit seinem mächtigsten Vasallen zu versöhnen, triumphierte sie innerlich. Vermutlich hatte Heinrich die bedeutendsten Fürsten und Bischöfe des Reichs hier in Goslar versammelt, um etwas Wichtiges zu verkünden, und nicht allein, um mit ihnen auf Eberjagd zu gehen. Es weilte sogar Papst Victor am Hof, der ehemalige Bischof von Eichstätt, vom Kaiser selbst auf den Stuhl Petri gesetzt und ihm daher zu Dank und Gefolgschaft verpflichtet; außerdem Abt Hugo von Cluny, der Taufpate des kleinen Heinrich, hochverehrt als Erneuerer des Christentums und heimlicher pontifex maximus. Wenn dies nichts bedeutete!

Das heftige Bellen der Hundemeute, die im Wirtschaftshof vor dem Palas zusammengeführt wurde, lenkte sie ab. Man begann, zur Jagdpfalz nach Bodfeld aufzubrechen. Der Oktober stand vor der Tür, die Schweine mästeten sich an Eicheln und Bucheckern, wagten sich, frech und verfressen, bis an die Waldränder. Seit Tagen schon waren die Hunde unruhig und brachen während der Nächte in ein höllisches Heul- und Bellkonzert aus, das ihr manche Stunde Schlaf raubte.

Sogar Gottfried war davon aufgewacht. Er schien der Jagd entgegen zu fiebern, im Gegensatz zu ihr, die seit dem Mord an ihrem ersten Gemahl Bonifacio nie mehr im Gefolge der Männer durch die Wälder geritten war und nicht einmal an einer Falkenjagd teilnahm. Gottfried warf sich mehrfach herum, und als er bemerkte, daß sie nicht schlief, wanderte seine warme, kräftige Hand über ihre Brüste; bald zog er sie an sich und drang nach wenigen Küssen in sie ein.

Nachdem sie so lange einander hatten entbehren müssen, war Gottfried ausgehungert wie ein Wolf und bewies ihr jede Nacht, daß er sie unbändig begehrte. Ihr ging es kaum anders. Häufig hielt sie sich für sündig, weil sie so viel Spaß am ehelichen Beiwohnen empfand. Zudem störte sie, daß Mathilde und sogar Gottfrieds buckliger Sohn im gleichen Raum nächtigen mußten. In Mantua oder auf der Burg von Canossa schliefen die Kinder selbstverständlich in eigenen Räumen. Dabei war die Kaiserpfalz zu Goslar ein prächtiger Bau, Heinrichs Stolz, mit einem beeindruckenden Reichssaal, geschmückten Kaminen und zahlreichen Teppichen an den Wänden – da kannte sie ganz andere Burgen, zugige Holzschuppen mit halbfertigen Bergfrieden und läppischen Palisadenwällen. Wenn man allerdings – wie der Kaiser – ein solch zahlreiches Gefolge um sich versammelte, konnte der Raum knapp werden. Schlimmer würde es in Bodfeld zugehen, das allein für die Jagd eingerichtet war. Bis auf die Kaiserin schliefen dort alle Frauen in einem Raum, nebenan die Dienerschaft, und in wenigen weiteren Räumen schnarchten die Männer, mit Bier und Met abgefüllt, die Bäuche vollgeschlagen mit Wildschweinfleisch – es stank wie im Hundezwinger, und das gemeinschaftliche Sägen und Säuseln erst ...

Mathilde und Heinrich rannten erneut schreiend und lachend um die Rosenbeete, als Kaiserin Agnes, eingerahmt von Papst Victor und seinem kurialen Begleiter, Archidiakon Hildebrand, aus der Kapelle traten, in der sie eine Andacht abgehalten hatten. Dieser Hildebrand trug auf seinen Schultern einen mächtigen, bis auf die Tonsur rasierten Schädel, der so gar nicht zu der Statur und Größe seines Körpers passen wollte. Auch sein hageres, bartloses Gesicht war nicht gerade von Schönheit geprägt, sein Blick allerdings schlug jeden in Bann, dem er entgegentrat: Aus seinen flammenden Augen sprachen das Wissen und der Wille eines eifernden Propheten.

Den beiden folgte, ins Gespräch vertieft mit dem grauhaarigen Bremer Erzbischof Adalbert, der rundliche, meist gutgelaunt lächelnde Abt Hugo, ein offenkundiger Liebhaber burgundischen Weins. Hinter ihnen schritt Erzbischof Anno von Köln, mit verbissener Miene, in schlechter Stimmung, wie so häufig, in Begleitung seines wohlgebauten Scriptors, der, wenn sie sich richtig erinnerte, Lampert hieß. Beatrix haßte Anno, den zur Zeit einflußreichsten Berater des Kaisers – weil er sich offen gegen die Versöhnung mit Gottfried ausgesprochen und ihre Ehe eine sündige, ja inzestuöse Buhlschaft genannt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er eine Verbindung zwischen Mathilde und dem kleinen Heinrich befürwortete, denn er unterstellte ihrem Gottfried, wenn auch unausgesprochen, er strebe den Königstitel an.

Die Kinder tobten, gefolgt von dem bellenden Hund, um die Säulen, ohne sich an dem Heiligen Vater und seinem Gefolge zu stören. Kaiserin Agnes blieb stirnrunzelnd stehen und rief: »Kinder! Gebt Ruhe!« Papst Victor lächelte nur. Abt Hugo und Erzbischof Adalbert blickten mit freundlichem Sanftmut auf Heinrich und Mathilde; nicht dagegen Erzbischof Anno und schon gar nicht Archidiakon Hildebrand, der seine Lippen zusammenpreßte und zwischen dessen Augen sich eine tiefe Falte bildete. Seine buschigen Augenbrauen waren fast zusammengewachsen. Erneut stellte Beatrix fest, daß dieser häßliche Mann eine seltsame Macht ausstrahlte. Wüßte sie nicht, wer der pontifex maximus und wer sein Archidiakon war, und könnte sie die beiden nicht an ihren Gewändern unterscheiden, so hielte sie zweifelsohne Hildebrand für den Papst. Der Heilige Vater lächelte bescheiden, sprach selten und leise – Hildebrand dagegen sprach häufig und laut, lächelte nie, trug sein Haupt aufrecht und durchbohrte mit seinem Blick jeden, den er ansprach. Selbst Gottfried schlug die Augen nieder, begegnete er dem Römer, und äußerte ihr gegenüber, diesen Mann dürfe man nicht aus den Augen lassen und nie unterschätzen.

»Kinder, bitte! Der Heilige Vater ...«

Heinrich und Mathilde schienen die Worte der Kaiserin nicht zu hören.

»Laß sie spielen, meine Tochter«, sagte der Papst, »du weißt doch, was Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn ihrer ist das Reich Gottes.«

In diesem Augenblick legten sich zwei Hände um Beatrix’ Augen, und ein heißer Atem strich an ihrem Ohr entlang.

»Wer bin ich?«

»O Heinrich, hast du mich erschreckt!«

Der Kaiser gab lachend ihre Augen frei, hielt jedoch ihren Körper umschlungen und zog sie ein Stück vom Fenster zurück. Sein Kinn lag auf ihrer Schulter, der Bart strich über ihren Hals.

»Meine liebste Cousine, meine Kindheitsgespielin ...«, flüsterte er.

»Warum warst du nicht in der Andacht?« Beatrix versuchte sich zu befreien. Der Kaiser jedoch preßte sie nur fester an sich.

»Eine Messe am Tag reicht mir.«

»Ob sie wirklich reicht, damit dir deine zahlreichen Sünden vergeben werden?«

Er lachte. »Du bist noch immer die freche Beatrix. Stolz – und schön.«

Sie erwiderte sein Lachen. »Und du der draufgängerische Heinrich, der sich alles nimmt.« Erneut versuchte sie, diesmal mit wenig Nachdruck, sich zu befreien.

Er ließ seine Hände über ihren Bauch und die Hüften gleiten.

»Heinrich, wenn uns jemand sieht!«

Er küßte sie auf den Hals.

»Hast du beobachtet, wie unsere Kinder so lieb miteinander spielen. Sie mögen sich wirklich, Heinrich.« Mit einem Ruck entzog sie sich seinen Händen und drehte sich, um ihm in die Augen zu schauen. »Wir durften nicht heiraten, obwohl wir uns liebten. Heinrich, begehe nicht den gleichen Fehler wie dein Vater! Du kannst die beiden glücklich machen und deinem Sohn langfristig die Herrschaft sichern, wenn ...«

Heinrich packte sie unsanft an den Schultern. »Warum hast du dich dem lothringischen Bastard an den Hals geworfen? Und mich dadurch verraten? Du hast mich doch gezwungen, das Bündnis mit Turin zu suchen. Jetzt kann ich nicht mehr zurück, ein Kaiser steht zu seinem Wort. Außerdem: Garantierst du mir, daß dein bärtiger Gottfried mir nicht in den Rücken fällt? Mir ist seit langem klar, daß er mich beerben will – er kennt keine Skrupel, schreckt nicht einmal vor Mord zurück, das weißt du genau. Er würde auch dich fallenlassen – und meinen Sohn erdolchen!«

Beatrix hörte nicht auf seine Worte. Selbstredend war Heinrich eifersüchtig auf Gottfried, mißtraute ihm, fürchtete seine Konkurrenz, aber gerade deswegen müßte er versuchen, Tuszien und Lothringen an sich zu binden. »Wenn das Haus Canossa hinter dir steht, Heinrich, wird jeder Zug nach Rom einem Triumphzug gleichen, kein Papst würde sich dir oder deinem Sohn je entgegenstellen, und die Normannen in Süditalien könntest du mit breiter Unterstützung niederhalten. Die Lombarden sind ohnehin kaisertreu. Adelheid von Turin allein kann dir also nie gefährlich werden. Überlaß ihr eine reiche Grafschaft, dann wird sie die Kränkung schnell vergessen – und ich sorge dafür, daß Gottfrieds Sohn die kleine Bertha trösten darf. Er wird einmal der mächtigste Vasall im Reich ...«

»Wer will schon diesen buckligen Krüppel heiraten?« Der Kaiser schüttelte den Kopf. »Dies wäre eine doppelte Beleidigung.«

Beatrix schaute ihn flehend an. Sie näherte sich ihm, legte ihm zärtlich die Hand auf seine Wange. »Heinrich, denk an unsere Kindheit! Tu es für uns beide!«

Unversehens verkrampfte sich sein Gesicht, seine Augen schienen feucht zu werden – da riß er sie an sich und küßte sie leidenschaftlich auf den Mund. Zuerst wehrte sie sich, schließlich gab sie nach. Noch einmal, nach langen Jahren, spürte sie diesen Mann, den sie nicht hatte lieben dürfen, weil sie zu nahe verwandt waren und ihre Eltern ihnen ein anderes Schicksal zugedacht hatten. Während er sie küßte, fühlte sie mit allen Sinnen die gemeinsame Kindheit und Jugend zurückkehren: die langen Ausritte und die Ballspiele, die satten Wiesen am Rand der gluckernden Bäche, die süßen Erdbeeren, die sie sich gegenseitig in den Mund steckten, und die Kirschen, die sie sich über die Ohren hängten; sie sah den abendlichen Glutball der Sonne über dem Horizont versinken und hörte das Rauschen des Winds in den Wäldern, sie hörte ihre Zähne die Walnußschalen knacken, und wenn sie gemeinsam mit Heinrich auf Pilzsuche ging, faßten sie sich an den Händen; gemeinsam verloren sie sich in einer dunklen, verwirrenden Welt voller Abenteuer, in der neben wohlschmeckenden auch giftige Pilze wuchsen. In ihrer Erinnerung waren die Menschen ihres Gefolges ausgelöscht, lediglich sie allein krochen durch das Unterholz, liefen an Bächen entlang und legten sich in kühles Gras. Dort küßten sie sich, und die Küsse waren so süß wie reife Erdbeeren ...

Doch nun beschwor Heinrichs Kuß nicht nur die Süße vergangener Tage. Beatrix nahm gleichzeitig etwas anderes wahr, einen bitteren Geschmack und den Geruch nach Fäulnis und Verwesung.

Sie entzog Heinrich ihre Lippen. Stumm barg er seinen Kopf an ihrer Brust, wie ein hilfloses, verzweifeltes Kind.

KAPITEL 4

Goslar und Bodfeld 1056

Agnes von Poitou, die Kaiserin, begab sich nach der Andacht mit dem Heiligen Vater und den höchsten geistlichen Würdenträgern zum Palas, wo man sich zum Aufbruch nach Bodfeld rüstete. Im Atrium tobten und lärmten der zukünftige König und seine tuszische Verwandte, ohne die ruhige Würde an den Tag zu legen, die sie – zumal unter den Augen des Heiligen Vaters – bereits in ihrem Alter zu zeigen hatten. Aber brauchte sie sich zu wundern? Heinrichs Vater hatte noch nie geziemende Ehrfurcht und Demut vor den höchsten Dienern Gottes bewiesen, und Beatrix, seine leichtlebige Cousine, sah man eher selten in der Messe oder beim Gebet. Auch diesmal waren beide der Andacht ferngeblieben, obwohl gerade der Kaiser Fürbitten vor dem Weltenrichter benötigte, wenn ihm sein Seelenheil am Herzen lag, und zwar Fürsprecher apostolischer Sittenreinheit, keine simonistischen Sünder.

Die Kaiserin schämte sich vor dem Heiligen Vater, weil ihr Sohn nicht einmal ihrer Ermahnung folgte. Der Papst jedoch, mild wie der Heiland selbst, ließ sich vom kindlichen Toben nicht stören – im Gegensatz zu seinem römischen Begleiter Hildebrand, der seinen Unmut beim Eintreten in den Palas mit vernehmlicher Stimme kundtat: »Wer die Rute spart, versündigt sich an den Kindern. So steht es in der Heiligen Schrift.« Er warf einen beifallheischenden Blick auf Erzbischof Anno, der stumm nickte. Agnes wollte den Römer für seine anmaßende Bemerkung zurechtweisen, doch fiel ihr nicht die passende Erwiderung ein, außerdem verschloß sein Blick ihr die Lippen. Glühende Röte flog über ihre Wangen, bevor sie in blutleerer Kälte erbleichten.

Der Heilige Vater und seine Begleiter begaben sich zu ihren Unterkünften, in denen sie sich für die Reise umkleiden wollten, während Agnes in das Atrium zurückkehrte, um freier atmen zu können und nach der Rose zu schauen, die sie, in den Staub geworfen, am Boden hatte liegen sehen. Die Männer waren achtlos über sie hinweg geschritten – über die Blume Mariens, das Zeichen hingebungsvoller Liebe. Selbst der Heilige Vater! Allein Abt Hugo hatte seinen Schritt verlängert, um die zartrosa Blüte nicht endgültig im Staub zu zertreten.

Als Agnes sich bücken wollte, eilte Mathilde herbei, hob die Blume auf und reichte sie ihr. Welch armseliger, trauriger Anblick! Das Mädchen schaute schuldbewußt. Der kleine Heinrich, der, seinen Hund auf dem Arm, ebenfalls hinzugetreten war, berichtete, die Rose habe mit ihren Stacheln beide gestochen. »Es ist sogar Blut geflossen«, erklärte er gewichtig und hielt seiner Mutter die verschmutzten Finger entgegen. In einer plötzlichen Anwandlung überfließender Liebe drückte sie den ihr verbliebenen Sohn an sich, wobei sie der Hund abzulecken begann. Weil sie schleckende Hunde nicht vertragen konnte, wandte sie sich Mathilde zu, die flüsterte: »Ich war es, die die Rose abgebrochen und hingeworfen hat. Entschuldige, Tante Agnes, ich weiß, daß du Rosen so liebst.«

Alles verschwamm vor ihren Augen, so sehr überwältigte sie eine unerklärliche Trauer. Sie preßte nun beide Kinder samt Hund an sich und betete stumm das Ave Maria. Als sie wieder klar sehen konnte, entdeckte sie im Fenster des Palas’ Beatrix und hinter ihr den Kaiser. Während der Heilige Vater mit den Gottesfürchtigen betete, schoß es Agnes durch den Sinn, traf sich ihr Gemahl mit seiner Cousine ... Sie unterbrach ihren Gedanken, schloß kurz die Augen, um sich besser beherrschen zu können, schickte die Kinder in den Wirtschaftshof, wo der Aufbruch nach Bodfeld vorbereitet wurde, und eilte, ohne ein zweites Mal emporzuschauen, in ihre Kemenate.

Während sie umgekleidet wurde, sprach sie ununterbrochen das Pater noster, das Ave Maria und Credo, um den Haßanfall, der sie durchtobte, zu übertönen. Zu häufig hatte Beatrix während des vergangenen Jahres den Kaiser umschmeichelt – wenn sie nicht gerade mit ihm stritt –, zu häufig diskutierte Heinrich während der Mahlzeiten mit seiner Cousine, während er sie, seine Gemahlin, wie Luft behandelte – und es gab sogar Nächte, in denen er dem Ehelager fernblieb, ohne am nächsten Morgen Gründe anzugeben. Zuweilen erklärte er, er habe die Nacht nach einer erfolgreichen Jagd im Freien verbracht oder das ius primae noctis in Anspruch genommen – was letztlich nichts anderes bedeutete, als daß seine Brunst wieder ein neues, unschuldiges Opfer gefunden hatte ...

Agnes forderte ihre Kammerfrauen auf, sich zu beeilen. Der Zorn über den Kaiser verrauchte nur langsam. Dabei sorgte sie sich um ihn, betete täglich um sein Seelenheil ebenso wie um sein leibliches Wohlergehen, denn sie hatte während der letzten Wochen mehrfach beobachten müssen, daß seine Wutausbrüche abnahmen, die düsteren Stimmungen dagegen sich vermehrten. Seine gelbe Galle schien sich in schwarze zu verwandeln. Heinrich sah zudem blaß aus, stocherte appetitlos im Fleisch herum und spuckte sogar gelegentlich Blut. Statt seinen Leibarzt zu rufen und einen Aderlaß vornehmen zu lassen, fluchte er. Er haßte Ärzte. Gleichzeitig leugnete er sogar vor ihr, seiner engsten Gefährtin, sein Unwohlsein.

Warum er nach einem schönen Sommer ohne Unwetter und andere göttliche Warnungen kränkelte, wunderte sie: Womöglich war er die Zielscheibe einer Verwünschung oder eines Fluchs, oder der gerechte Weltenrichter hatte beschlossen, ihn für eine der vielen Missetaten zu bestrafen, die er in seiner jähzornigen und herrischen Art begangen hatte, für den Tod des buckligen Lebensretters in Speyer zum Beispiel oder für das Absetzen von drei Päpsten nach der Synode von Sutri, als er sich in Rom zum Kaiser hatte krönen lassen. Heinrich, von Gottes Gnaden erhabener Kaiser der Römer – wenn ihm nun der allmächtige Gott seine Gnade entzog, wenn die Römer und all die anderen Mächtigen im Reich ihm die Gefolgschaft aufkündigten?

Ein letztes Mal sprach Agnes den Kranz der drei Gebete und eilte in den Hof. Ein Teil des Gefolges war bereits aufgebrochen, der Kaiser selbst, in Begleitung von Gottfried dem Bärtigen, Beatrix und den Kindern, zwängte sich soeben im Staub der Pferdehufe durch das Tor. Der Jagdtroß begann ihm zu folgen.

Als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, brach Agnes nach Bodfeld auf. Sie mochte diese Pfalz nicht, weil sie eng und nicht zu beheizen war. Das feuchte Stroh der Betten stank erbärmlich, ganze Flohheerscharen stürzten sich ausgehungert auf die Ankommenden, die sich in wenige Räume drängen mußten; sie selbst hatte für sich und den Kaiser lediglich ein kleines Schlafgemach.

Abends mit ihrem Gefolge in Bodfeld angekommen, richtete sie sich so gut es ging ein, ließ frische Kräuter ausstreuen und legte sich trotz des Lärms bald schlafen. Erstaunlich früh erschien ihr Gemahl, fiel stumm neben sie, schnarchte nicht einmal. Als die ersten Morgenstrahlen, die durch die Ritzen der Läden fielen, sie weckten, starrte Heinrich bereits mit tiefliegenden Augen an die Decke. Sie erhob sich und rief leise nach ihren Kammerfrauen.

»Sag den anderen, sie sollen ohne mich losreiten«, befahl der Kaiser mit schwacher Stimme. »Ich folge ihnen später. Wenn ich mich besser fühle.« Worauf er den ganzen Tag liegenblieb, jegliche ärztliche Konsultation verweigerte, nur Wasser oder ihre Kräuteraufgüsse trank. Seine eingefallenen Wangen glühten vor Fieber, sein Atem rasselte, er mußte verstärkt husten und spuckte Blut.

Und nun begannen Tage, die Agnes lediglich dadurch überstand, daß sie sich vermehrt zu Beichte und Gebet zurückzog. Der Kaiser verließ auch am zweiten Tag sein Bettlager nicht, Schüttelfrost erfaßte ihn, und während mancher Stunden schien er nicht bei Bewußtsein zu sein. Der endlich zugelassene Leibarzt betrachtete ernst seinen dunklen Urin und wollte ihn zur Ader lassen, was der Kranke sogar jetzt noch verweigerte.

Ein Großteil des Hofstaates wurde nach Goslar zurückgeschickt. Papst Victor, assistiert von Archidiakon Hildebrand sowie den Erzbischöfen Anno von Köln und Adalbert von Bremen, las Messen zur Genesung des Herrschers. Die meisten kaiserlichen Kampf- und Jagdgenossen, vorneweg der feiste Rudolf von Rheinfelden und der kantige Otto von Northeim, ließen sich dennoch nicht von ihrer liebsten Tätigkeit abhalten, schleppten abends ihre erlegten Eber an und ließen Bier und Met in Strömen fließen. Obwohl des Kaisers Erdenwallen zu enden drohte, wurde getafelt und gezecht, gesungen und krakeelt.

Allein Gottfried der Bärtige beteiligte sich nicht an der Jagd, was Agnes wunderte. Offensichtlich war er fromm geworden oder wollte sich, angestiftet von seiner Gemahlin, dem Heiligen Vater und seinem strengen Begleiter als gehorsamer Sohn der Kirche andienen – was immer er damit bezweckte. Ernst hockte er in jeder Messe, zu seiner Linken sein schüchterner buckliger Sohn, zu seiner Rechten Beatrix mit ihrem hochmütigen Gesichtsausdruck und Mathilde, von deren Seite der kleine Heinrich nicht weichen wollte. Agnes saß, eingerahmt von ihren Töchtern, nicht weit von ihnen entfernt, fror und fühlte, wie die Tränen sie übermannten und über ihre Wangen rannen.

Seit ihrer Ankunft in Bodfeld hatte der Allmächtige auf ihr Beten nicht mehr geantwortet. Bis auf ihren Beichtvater Dietrich, den Bischof von Augsburg, beruhigte und tröstete sie kaum jemand. Ja, einige der Mächtigen schienen sie sogar zu meiden, so insbesondere der ständig verschnupfte Anno von Köln, den der Kaiser kürzlich zum Erzbischof ernannt hatte. Auch Beatrix hatte sich von ihr zurückgezogen, nicht jedoch von dem Kranken. Ohne daß Agnes dies verhindern konnte, pflegte Beatrix ihren Vetter täglich, ließ sich kalte Tücher reichen, um seine Stirn zu kühlen, und sprach auf ihn ein.

Einmal hatte Agnes gelauscht. Beatrix sprach von der Treue ihres Gemahls dem Kaiser gegenüber, ferner von den Verlockungen des Fleisches, denen sie erlegen seien – wobei Agnes nicht verstand, wen Beatrix mit sie meinte: sich und Gottfried oder gar sich und den Kaiser. Sie sprach von der zupackenden Klugheit und kräftigen Gesundheit ihrer Tochter Mathilde und der Zuneigung, die der kleine Heinrich für sie empfinde. Als der Kaiser unwillig stöhnte und nach Wasser verlangte, beschwor sie die gemeinsamen Kindertage, ihre Spiele, ihre unvergessenen Freuden.

Agnes zog sich zurück, ohne die Fortführung dieses Gesprächs zu unterbinden. Im Hof herrschte drängende Enge. Das Gebell der Hunde schmerzte sie regelrecht. Es stank nach Wildschweinblut, vor ihr entleerten sich die Zugochsen, Pferde peitschten mit ihrem Schweif nach all den blutsaugenden Insekten – und dann der Hundekot! Sie mußte den über den Boden schleifenden Saum ihres Kleids heben. Die Männer verhandelten lauthals gestikulierend miteinander. Der Schwabe Rudolf von Rheinfelden führte das große Wort, ihm widersprach der Sachse Otto von Northeim, Erzbischof Anno mischte sich ständig ein und belehrte beide mit erhobenem Zeigefinger.

Als Agnes sich ihnen näherte, verstummten sie. Der Kapellan, der neben Anno stand, verneigte sich als einziger vor ihr, half ihr sogar, sich einen Weg durch die bedrängenden Pferdeleiber und die bellenden Hunde zu bahnen. Als er sie schweigend bis zum Palas geführt hatte, fragte sie nach seinem Namen.

»Lampert – geboren zu Bamberg, Scriptor des Erzbischofs von Köln, ein treuer Diener des Kaisers und der Kaiserin.« Er verbeugte sich erneut tief. »Bewandert im kanonischen Recht, ein Liebhaber der römischen Literatur und Rhetorik.« Schließlich brachte er sogar einige Wort der Verehrung in ihrer Muttersprache heraus und betonte, gern trete er in ihre persönlichen Dienste, bevor er sich zurückzog.

Die Anfangsverse eines Liedes, das ihre Amme stets gesungen hatte, kamen ihr in den Sinn; leise sang sie O dame mal mariée tu cherches un oiseau du paradis ... und mußte einen Tränenausbruch bekämpfen. »Lampert – ein höflicher Mann und gelehrt, wie selten in diesen kalten und barbarischen Landen!« flüsterte sie. »Seinen Namen muß ich mir merken.«

Nachts fand sie kaum Schlaf.

Weil der Kaiser ohne Unterbrechung gepflegt werden mußte, ließ sie für sich und ihre Töchter ein Gelaß abtrennen. Eigentlich hätte auch der kleine Heinrich unter ihrer Obhut nächtigen müssen. Er war nun fast sechs Jahre alt ... Agnes wagte kaum, daran zu denken, daß er womöglich bald König würde, ein Kind noch ... Sie selbst war vom Kaiser zur Regentin designiert worden, im Falle des Falles ... Wo hielt sich der kleine Heinrich eigentlich versteckt? Inzwischen war das Durcheinander so groß, daß sie nicht einmal wußte, wo der Thronfolger sich herumtrieb. Immer schon war er gern weggelaufen und hatte trotzig auf seinem Willen beharrt ... Sie fragte ihre Kammerfrau, schickte einige Knechte, nach ihm zu suchen, und erfuhr schließlich von ihrem Beichtvater, Erzbischof Anno habe den zukünftigen Herrscher unter seine Fittiche genommen – wobei Bischof Dietrich anzüglich lächelte.

Am dritten Oktober erwachte Agnes von dem heftigen Lärm, der bereits herrschte, obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war. Mit bleischweren Gliedern erhob sie sich, ließ sich einen Pelzumhang über die Schultern legen und das Fenster öffnen. Eine kalte Herbstbrise wehte herein. Im Licht von Fackeln wurden Pferde gesattelt, Hundemeuten zusammengeführt, Ochsenkarren beladen. Sie traf auf dem Gang Beatrix, die bereits angekleidet war und ihr berichtete, das verbliebene Jagdgefolge ziehe nach Goslar ab. Der Heilige Vater bereite die Letzte Ölung für den Kaiser vor.

»Ich sah soeben nach Heinrich, liebe Agnes; wir müssen damit rechnen, daß er in Kürze der sterblichen Natur seinen Tribut zollt.«

KAPITEL 5

Bodfeld 1056

Der Kaiser bäumte sich noch einmal auf.

Alle, die in Bodfeld weilten, rief er in der Aula zusammen, an erster Stelle seinen Sohn und Nachfolger Heinrich. Der Junge, der mit Mathilde den Keilflug nach Süden fliegender Kraniche beobachtet und ihren Trompetenrufen gelauscht hatte, wurde gesäubert und gekämmt. Fidus, sein Hund, saß brav auf seinen Hinterpfoten, schaute interessiert zu und bellte gelegentlich, als wolle er seine Zustimmung ausdrücken. Man warf über Heinrichs Kittel einen schweren, mit Edelsteinen geschmückten Umhang, der auf der Schulter mit einer Fibel zusammengehalten wurde. Dieser Umhang war ein Geschenk des Kaisers von Konstantinopel zu seiner Taufe, Heinrich hatte ihn zum erstenmal bei seiner Krönung getragen. Damals schleifte er über den Boden, mittlerweile endete er einen Fingerbreit darüber, wenn sich Heinrich richtig streckte.

Wozu er dieses wertvolle Gewand über seinem schmutzigen Kittel tragen sollte, erfuhr er nicht. Daß sein Vater krank war, hatte er freilich bemerkt, auch, daß seine Mutter, häufig den Tränen nah, ihn entweder zurechtwies oder an sich drückte. Meist spielte er jedoch mit Mathilde. Wenn sie vom Toben müde waren, verzogen sie sich in eine Ecke, in der niemand sie beobachten konnte, gelegentlich sogar an den Waldrand, und Mathilde erzählte von der himmelstürmenden und uneinnehmbaren Burg von Canossa mit ihren drei Umfassungsmauern, von den Seen um Mantua und den wildreichen Wäldern am Po, in denen ihr Vater häufig gejagt hatte, bis er ermordet wurde, getötet von einem vergifteten Pfeil, als er sich durstig über eine Quelle beugte.

Heinrich mußte, wenn er diese Geschichte hörte, stets an den Buckligen denken, der letzten Winter von einem Armbrustschützen seines Vaters hingestreckt worden war – und dann versuchte er, Mathilde in das geheimnisvolle Dunkel des Waldes hineinzuziehen. Der Wald lockte ihn mit einer unbezwingbaren Macht. Später, wenn er erwachsen war, würde er auf die Jagd gehen wie alle Männer; doch im Grunde tat ihm das Wild leid, das gehetzt wurde und blutig sterben mußte. Er beobachtete es viel lieber: die Drosseln, die so schön sangen, die sich neugierig nähernden Rotkehlchen, die scheuen Rehe mit ihren staksigen Kitzen, die halbwilden Schweine, die sich an Bucheckern und Eicheln gütlich taten. Wenn er Auerochsen begegnete, kletterte er schnell auf einen Baum. Einmal hatten er und Mathilde einen Hirsch entdeckt, der ein weit verzweigtes Geweih trug und der seinen Brunftruf durch die Lüfte schickte. Sie klammerten sich aneinander, als der Hirsch sich einige Schritte auf sie zu bewegte und witternd seine Nüstern hob.

»Er trägt Christus zwischen seinem Geweih«, flüsterte Mathilde, »das hat mir mein Beichtvater erzählt. Man muß nur fromm sein und genau hinschauen.«

Heinrich sah keinen Christus, sondern einen wahren König der Tiere: mit dieser muskelstarrenden Brust und dem stolz hochgereckten Kopf, auf dem die riesige Krone saß, eine gefährliche Waffe für Nebenbuhler und Neugierige. Und für Jäger und ihre Hunde. Sollte tatsächlich der Heiland unversehens auftauchen? Vielleicht hatte Mathilde recht: Der König der Wälder trug und schützte Gottes Sohn, ebenso wie sein Vater Stütze und Schutzmacht des dreieinigen Gottes war – und bald er selbst!

Nachdem man Heinrichs Umhang abgeklopft und gerichtet hatte, erschien Erzbischof Anno von Köln, wie meist schwer erkältet und mit einem Tropfen unter der Nase, und führte ihn in die Aula. Noch immer erfuhr Heinrich nicht, was eigentlich geschehen sollte. Offensichtlich war es etwas Wichtiges, denn alle Würdenträger hatten ihre vornehme Kleidung übergeworfen und schauten ihn ernst und bedeutend an. Ein Kapellan reichte Anno ein Tüchlein, aber dieser wies es unwirsch zurück und hob seinen bestickten Ärmel zur Nase.