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Die Schwergewichtsweltmeisterschaft 1974: Es ist der Boxkampf des Jahrhunderts, den Muhammad Ali und George Foreman austragen. Doch Norman Mailer geht es um mehr. Es gelingt ihm, die Reportage über dieses gewaltige Spektakel zur Kunstform zu erheben, die tief in die Seelen zweier Ausnahmeboxer und des schwarzen Amerikas blicken lässt. Er zeigt einen Muhammad Ali, der eine unglaublich raffinierte physische und psychische Leistung vollbringt, sodass geschieht, was keiner für möglich gehalten hat – Ali besiegt Foreman. Ein mitreißendes Leseerlebnis und ein faszinierendes Stück bester Literatur.
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Seitenzahl: 341
der
Kampf
Titel der Originalausgabe »The Fight«.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisela Stege. Die Übersetzung stammt aus dem Jahr 1976 und folgt der damaligen Rechtschreibung.
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© 2021 Langen Müller Verlag GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
© Deutsche Ausgabe: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1976
Amerikanische Ausgabe: © 1975 by Norman Mailer, Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: STUDIO LZ, Stuttgart
Umschlagmotiv: Boris Schmitz, Düren
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-7844-8386-3
INHALT
Die Toten sterben vor Durst
1 Carnal Indifference
2 Der Schicksalsschlag
3 Der Millionär
4 Eine ganze Reihe von Champs
5 Toter Mann auf den Brettern
6 Unser schwarzer Kissinger
7 Die lange Reise
8 Elmo in Zaire
9 Champion der Paladine
n’Golo
10 Hexenmeister
11 Eine Busfahrt
12 Der Umkleideraum
13 Rechte Gerade
14 Mann in der Takelung
15 Das Lied des Scharfrichters
16 Der Regen kam
17 Eine neue Arena
18 Zwangsaufenthalt in Dakar
19 Glücklich der dreifache Verlierer
Die Toten
sterben vor Durst
1
Carnal Indifference
Es ist immer wieder ein Schock, wenn man ihn sieht. Nicht live, wie im Fernsehen, sondern wenn man ihm gegenübersteht und er in optimaler Verfassung ist. Dann läuft der größte Sportler der Welt Gefahr, auch noch unser schönster Mann zu sein, und das Camp-Vokabular drängt sich auf. Frauen beginnen schwer zu atmen. Männer senken den Blick. Wieder einmal wird ihnen ihre Minderwertigkeit vor Augen geführt. Selbst wenn Ali niemals den Mund aufmachte, um das Gallert der öffentlichen Meinung zum Beben zu bringen – er würde dennoch Liebe und Haß wecken. Denn er ist der Fürst des Himmels – verrät das Schweigen, das ihn umgibt, wenn er brilliert.
Ist er jedoch deprimiert, nimmt seine helle Haut die Farbe des Milchkaffees an, eines mit milchigem Wasser, nicht mit Sahne vermischten Kaffees. Dann hängt das kränkliche Grün eines trüben Morgens in den schlammigen Niederungen des Fleisches. Er sieht aus, als fühle er sich nicht wohl. Und das mag eine zutreffende Beschreibung des Zustandes sein, in dem er sich eines Septembernachmittags, sieben Wochen vor seinem Kampf gegen George Foreman in Kinshasa, in seinem Trainingslager befand.
Sein Sparring an jenem Tag war schwunglos. Schlimmer. Er ließ sich immer wieder von dummen Schlägen treffen, von Schlägen, denen er normalerweise ausgewichen wäre, und das paßte nicht zu ihm! Ali beim Training zu beobachten ist eine Kunst, die man im Laufe der Jahre erlernen muß. Andere Champions suchen sich Sparringspartner, die den Stil ihres nächsten Gegners zu imitieren verstehen, und nehmen, wenn sie es sich leisten können, einen Boxer hinzu, der ihnen selber angemessen erscheint: einen, den sie nach Belieben mit Schlägen eindecken können, einen, mit dem ihnen das Boxen Spaß macht. Ali tat das auch, aber in umgekehrter Reihenfolge. Vor seinem zweiten Kampf gegen Sonny Liston war Jimmy Ellis sein Favorit gewesen, ein trickreicher Künstler, der mit Sonny nichts gemeinsam hatte. Als Boxer unterschieden sich Ellis und Liston in ihren Bewegungen so sehr, daß einer dem anderen keinen Teller Suppe hätte reichen können, ohne alles zu verschütten. Natürlich hatte Ali für diesen Kampf noch andere Sparringspartner. Beispielsweise Shotgun Sheldon. Da hing Ali in den Seilen, während Sheldon hundert Schläge in seinem Bauch landete: So bereitete er Magen und Rippen auf Listons Angriffe vor. Darin sah er seine Pflicht. Doch wenn ihm das Sparring Spaß machen sollte, boxte er lieber mit Jimmy Ellis – als hätte er es gar nicht nötig, Sonnys Stil zu studieren.
Boxer benutzen ihre Trainingszeit im allgemeinen dazu, die Zuverlässigkeit ihrer Reflexe zu schulen; etwa so, wie ein durchschnittlicher Skiläufer nach einer Woche Arbeit an seinem Parallelschwung allmählich überzeugt ist, daß er eines Tages wie ein Experte aussehen wird. In späteren Jahren konzentrierte sich Ali jedoch immer weniger auf das Forcieren seines eigenen Tempos und immer mehr auf den Ausbau seiner Fähigkeit, Schläge einzustecken. Jetzt bestand seine Kunst zum Teil darin, jedem Kopftreffer ein wenig von seiner Wucht zu nehmen und den Rest des Aufpralls zu verteilen. Das tut allerdings jeder Boxer, ja ein junger Fighter würde nicht lange durchhalten, wenn er mit dem Hals nicht im selben Sekundenbruchteil, da er getroffen wird, jedem Schlag folgen könnte; aber bei Ali schien es so, als erziehe er sein Nervensystem dazu, den Schock schneller weiterzuleiten, als andere Boxer dies vermochten.
Vielleicht ist jede Krankheit nur die Folge einer unterbrochenen Verbindung zwischen Körper und Geist. Auf eine so plötzliche Krankheit wie einen Knockout trifft das jedenfalls mit Sicherheit zu. Der Verstand kann den Gliedern keine Befehle mehr erteilen. Das Extrem dieser Theorie, aufgestellt von Cus D’Amato, als er Floyd Patterson und José Torres managte, lautet sogar: Ein Faustkämpfer, der fest zum Sieg entschlossen ist, kann niemals k. o. geschlagen werden, wenn er den Schlag kommen sieht, denn dann kommt es nicht zu dieser drastischen Unterbrechung der Kommunikation. Der Schlag mag ihn schmerzen, kann ihn aber nicht ausschalten. Eine Fünferkombination dagegen, in der jeder Schlag ein Treffer ist, wird den Gegner mit Sicherheit betäuben. So leicht die einzelnen Schläge auch ausfallen mögen – die Wirkung läßt nicht auf sich warten. Die plötzliche Überlastung des Nachrichtenzentrums muß jenen schockartigen Verwirrungszustand auslösen, der uns gemeinhin als Koma bekannt ist.
Nun sah es aus, als entwickle Ali diese Methode weiter bis zu einem Punkt, da er die Schläge schneller absorbieren konnte als andere Boxer, da er den Schock buchstäblich durch mehr Körperteile ableiten oder ihn den bestmöglichen Weg entlangschicken konnte. Als trainiere er sich in der Fähigkeit, diese Kombination von fünf Schlägen (oder sechs, oder sieben!) einzustecken und trotzdem sofort in der Lage zu sein, den Aufprall an jeden Arm, jedes Organ, jedes Bein weiterzugeben und so die Prügel zu verkraften, während sein Verstand klar blieb. Es war ein Erlebnis, zu beobachten, wie Ali Schläge einsteckte. Er hing in den Seilen und fäustelte mit seinem Sparringspartner wie eine Katzenmutter, die sich gutmütig ihrer Jungen erwehrt. Dann ließ Ali seinen Handschuh plötzlich hochschnellen und den Schlag des Gegners an diesem Handschuh entlang vom Kopf abgleiten; und wiederholte diesen Trick aus den verschiedensten Winkeln, als bestehe die zweite Hälfte der Kunst, Schläge einzustecken, aus der Kenntnis aller Kurven, die ein Schlag nehmen kann, wenn er von den Handschuhen abgleiten und trotzdem am Körper landen soll; immer wieder probierte Ali aus, wie man derartigen Schlägen die Wirkung nehmen oder den Handschuh, der den Schlag ausführte, abfangen konnte. Immer wieder vervollkommnete er seine Fähigkeit, die Bomben, die auf ihn zukamen, intuitiv abzufangen, zu mildern, zu verwandeln, abzutäuschen, abzudrehen, zu verfälschen, abzulenken, abzuwenden, abzuwehren und abzuhalten, und all das mit einem Minimum an Bewegung, mit dem Rücken in den Seilen, beide Hände lässig erhoben. Er trainierte beharrlich nach einem Drehbuch, das ihn als zutiefst erschöpften Boxer zeichnete, in der zwölften Runde eines Fünfzehn-Runden- Kampfes sogar zu müde, um die Arme zu heben. Dieses Training hat ihn bei seinem ersten Kampf gegen Frazier möglicherweise vor dem K. o. gerettet, dieses Training hat ihm seither in jedem Kampf geholfen. Seine Ecke brüllte: »Hör endlich auf, rumzuspielen!«, die Kampfrichter punkteten gegen ihn, weil er in den Seilen hing, die Sportreporter berichteten, er sei nicht mehr der alte Ali, während er die ganze Zeit doch nur ganz bewußt seine Methoden verbesserte.
An jenem Nachmittag in Deer Lake jedoch sah es aus, als lerne er sehr wenig hinzu. Er wurde ständig von dummen Schlägen getroffen, die ihn offenbar überraschten. Er war nicht lässig, sondern schwerfällig. Er wirkte gelangweilt. Mürrisch bewies er bei seiner Arbeit jenen Mangel an Begeisterung, den ein Ehemann zeigt, der sich zwingt, trotz sexueller Gleichgültigkeit mit seiner eigenen Frau zu schlafen.
Der erste Sparringspartner, Larry Holmes, ein junger, hellhäutiger Schwarzer mit einer Profi-Laufbahn von neun Siegen und keiner Niederlage, boxte drei Runden lang aggressiv und traf Ali häufiger als dieser ihn. Das wäre an sich nicht einmal so ungewöhnlich gewesen – Ali teilte manchmal in einer ganzen Runde nur einen einzigen Schlag aus –, an diesem Nachmittag jedoch schien es, als wisse Ali nicht, was er mit Holmes anfangen sollte. Ali trug den gleichen angeekelten Ausdruck zur Schau wie Sugar Ray Robinson gegen Ende seiner Laufbahn, wenn er eins auf die Nase bekam: eine Grimasse der Geringschätzung für seinen Beruf, als könne man, wenn man nicht aufpaßte, das gute Aussehen verlieren. Das Wetter war heiß an diesem Nachmittag, und im Trainingssaal war es noch heißer. Er war angefüllt mit Touristen, über hundert, die alle einen Dollar Eintritt bezahlt hatten – es herrschte spätsommerliche Apathie. Hin und wieder machte Ali Miene, Holmes für seine Impertinenz zu strafen, doch Holmes wollte unbedingt etwas von ihm lernen. Er wehrte sich mit dem Eifer eines jungen Profis, der eine große Zukunft für sich voraussieht. Ali hätte ihm natürlich eine Lektion erteilen können, schien aber in die Tiefen einer Depression versunken zu sein und boxte auch so. Seine Stärke im Ring beruhte zum Teil auf dem Verharren in seiner jeweiligen Stimmung. Obwohl sich, wenn er mit der Presse sprach, so automatisch ein harter, hysterischer Ton in seine Stimme einschlich, wie andere Männer sich eine Zigarette anzünden, war er im Ring niemals hektisch, zumindest nicht seit seinem Kampf gegen Liston 1964 in Miami, als er die Weltmeisterschaft im Schwergewichtsboxen errang. Nein, wie Marlon Brando in einer Rolle zu leben scheint, als sei sie ein natürlicher Ausdruck seiner Stimmung, so verhielt sich Ali beim Boxen. War seine Stimmung schlecht, blieb er lethargisch, boxte er aus einem Widerwillen gegen die Langeweile seines Berufes heraus. Oft trainierte er einen ganzen Nachmittag lang in dieser schlechten Laune. Der Unterschied heute war nur der, daß er in unerwartete Schläge hineinlief – ein Weltuntergang für Ali! Verärgert zahlte er es Holmes dann heim, indem er ihn in den Schwitzkasten nahm. Im Laufe der Jahre hatte sich Ali zu einem der besten Ringer unter den Boxern entwickelt. Doch hätte man Karatetricks im Boxring zugelassen, wäre Ali darin ebenfalls Bester geworden. Sein Credo lautete anscheinend, daß ihm beim Boxen nichts, aber auch gar nichts fremd war. Jetzt allerdings beschränkte sich seine Kunst auf einen Ringkampf mit Holmes. Sobald sich die beiden trennten, ging Holmes wieder auf ihn los. Gegen Ende der drei Runden begann ihn Ali mit kurzen Stechschlägen einzudecken. Holmes ihn ebenso.
Alis nächster Sparringspartner, Eddie »Bossman« Jones, ein Halbschwergewicht, war eine dunkle, kleinere Ausgabe von George Foreman. Er sah nicht aus, als sei er einssechsundsiebzig groß, und Ali spielte mit ihm herum. Ali, bei Jones (ein Boxer, der an andere plattfüßig herumstehende und drauflosdreschende Boxer erinnerte) ganz in seinem Element, hing in den Seilen, steckte Bossmans Schläge ein, wenn es ihm paßte, blockte sie ab, wenn es ihm beliebte. Nach der Anstrengung, die ihn dies zu kosten schien, hätte Ali Abnehmer am Fließband sein können, der das Produkt ablehnte oder akzeptierte: »Dies hier geht durch, das da nicht.« Soweit es sich beim Boxen um Fleischeslust handelt, Körper gegen Körper, war Ali Meister seines Fachs. Das Einstecken brachte ihm Genuß, den ästhetischen Genuß der Schläge, die er blockierte oder abgleiten ließ, den libidinösen Genuß, daß Bossman Jones auf seinen Magen einhämmerte. Eine ganze Runde lang bearbeitete ihn Bossman, und Ali beschäftigte sich mit sich selbst. In der zweiten dieser beiden Runden löste sich Ali während der letzten Minuten von den Seilen und ließ sich zum erstenmal an diesem Nachmittag herbei, selbst Schläge auszuteilen. Mit seinem ganzen Meisterrepertoire deckte er den anderen ein, linke Gerade mit geschlossenem Handschuh, linke Gerade mit geöffneter Faust, linke Gerade mit einer Drehung des Handschuhs nach rechts, linke Gerade mit einer Wendung nach links, dann eine Reihe rechter Angriffsschläge, angeboten wie Gerade, dann wieder Uppercuts und leichte Haken mit beiden Händen aus aufrechter Position und in vollem Tempo. Aus jedem Schlag machte er etwas anderes.
Jetzt machte sich Alis Trainer Bundini mit anfeuernden Rufen aus der Ecke bemerkbar. »Ja, weiter so!« schrie er zufrieden. Doch Ali schlug nicht mit voller Kraft, sondern bepflasterte Bossman Jones mit einem Schlaghagel, ting, ting, bing, bap, bing, ting, bap! Und Bossmans Kopf schnappte vor und zurück wie ein lederner Sandsack. »Weiter so!« Irgendwie war es abstoßend, so etwas mitanzusehen – als säße der Kopf des Mannes auf einer Töpferscheibe und werde zu einem Sandsack geformt. Obwohl er kein einziges Mal hart getroffen wurde, war Jones (ein Beweis für die Theorie Cus D’Amatos) bei Ausgang der Runde groggy. Und glücklich. Er war dem Boß nützlich gewesen. Er besaß ein Gesicht, aus dem man schließen konnte, daß Tausende von Treffern an seiner Persönlichkeit abgeglitten waren, das gutmütige Strahlen eines Schwerarbeiters, dem schon vor langem die Intelligenz herausgeprügelt worden ist.
Die letzten drei Runden sparrte er mit Roy Williams, den Zuschauern als Schwergewichtsmeister von Pennsylvania vorgestellt, und dieser nun hatte Alis Körpergröße, ein dunkler, sanfter, verschlafen wirkender Mann, mit so großem Respekt vor seinem Brotherrn, daß er boxte, als sei er ganz von der Angst beherrscht, Alis Charisma zu verletzen. Williams schlug in die Luft, und Ali begann mit ihm zu ringen. Anscheinend arbeitete er jetzt mehr mit Ringergriffen als mit Boxhieben, fast so, als wolle er seine Arme an Roy Williams’ Kraft messen. Drei langsame Runden hindurch steckte der Kopf des Schwergewichtsmeisters von Pennsylvania in der Umklammerung von Alis Bizeps. Es sah aus wie das Endstadium einer Straßenprügelei, wenn sich nicht viel mehr abspielt als beiderseitiges heftiges Keuchen.
Ali hatte jetzt acht Runden geboxt, fünf davon leicht, zu leicht, um bereits so erschöpft zu sein – die grünliche Tönung seiner Haut ließ auf eine nicht ganz intakte Leber schließen. Die Touristen, in der Hauptsache weiße Fabrikarbeiter in geblümten Sporthemden, dazwischen hier und da auch mal ein Bart oder ein Radfahrer, wirkten apathisch. Man mußte schon mit Alis Methoden vertraut sein, um auch nur im entferntesten zu ahnen, um was es bei diesem Training ging. Gegen Mitte der letzten Runde machte sich dann wieder Bundini bemerkbar. Den Lesern der Sportberichte kein Unbekannter (schließlich war er der Erfinder des »Schwirren wie ein Schmetterling, zustechen wie eine Biene«), bewies er an durchschnittlichen Tagen pro Kubikzoll mehr Intensität als Ali und trompetete jetzt mit einer Stimme los, die kein Zuschauer jemals vergessen wird, denn sie war nicht nur heiser und bösartig, sondern ließ außerdem ahnen, daß ihr in unserer Atmosphäre keine Schallisolierung gewachsen ist. Bundini beschwor alle guten Geister. »Los doch, zeig den Trommelwirbel! Gib’s ihm! Gib’s ihm!« heulte er, den Kopf zurückgeworfen, mit den weit aufgerissenen, hin- und herzuckenden Augen ektoplasmische Ungeheuer aufspießend. Ali reagierte nicht. Er und Roy Williams blieben im Clinch, rangen, hämmerten gelegentlich aufeinander ein. Von Kunst keine Spur. Nur die schwerfälligen Bemühungen erschöpfter Boxer, die dem Taumeln übermüdeter Möbelpacker gleichen. »Leg endlich los!« schrie Bundini ihn an. »Gib’s ihm doch endlich!« Sekunden tickten vorüber. Bundini wollte einen Trommelwirbel – wegen der Kampfmoral, damit Ali abends ein gutes Gewissen haben konnte, damit eine gute Gewohnheit erhalten blieb, damit – wenn schließlich aus keinem anderen Grund – dieser miesen Stimmung endlich ein Ende gesetzt wurde »Los, gib’s ihm! Greif ihn doch an. Come on, baby! Mach ihn fertig, damit wir fertig werden! Auf die Bretter mit ihm! Auf die Bretter mit ihm! Auf die Bretter mit ihm!« tönte Bundini während der letzten Sekunden der achten und damit der Endrunde, und Ali und Williams plagten sich ihrem Feierabend entgegen. Kein Derwisch. Kein Trommelwirbel. Der Gong. Es war kein schönes Training gewesen. Ali wirkte mürrisch und verschnupft.
Und auch, als er eine Stunde später für ein Interview bereit war, wirkte er noch nicht viel glücklicher. Lang ausgestreckt lag er auf der Couch im Ankleideraum, von der Anstrengung des Trainings so stark gezeichnet, daß er auf einmal nicht mehr intelligent aussah, sondern ganz einfach stumpf, ja sogar häßlich. Sein Gesicht war eine Spur geschwollen. Es vermittelte den Eindruck, daß sein Kopf allmählich dicker werden und er selbst in späteren Jahren eher wie ein Boxer aussehen würde. Am erschreckendsten aber war sein Mangel an Energie. Gewöhnlich pflegte Ali nach dem Training gern etwas zu plaudern, als beflügelte die körperliche Anstrengung seine Energie derart, daß er seiner großen Leidenschaft frönen konnte: dem Reden. Eine Anzahl Schwarze hielten sich bei ihm auf, die sich ihm devot wie Höflinge näherten und Muhammad abwechselnd etwas ins Ohr flüsterten, um sich dann wieder zurückzuziehen und weiterhin aufmerksam dazusitzen. Der Interviewer eines Senders für Schwarze hielt, für den Fall, daß Ali etwas erwidern wollte, ein Mikrophon in der Hand, doch dies war eine jener Gelegenheiten, bei denen Ali das nicht wollte.
Das Training schien ihn zu sehr angestrengt zu haben. Lastend wie Schwermut hing Mangel an Stimulation in der Luft. Natürlich war es nicht ungewöhnlich, daß in einem Trainingslager düstere Stimmung herrschte. Boxer leben während ihres harten Trainings in einer Atmosphäre der Langeweile, von deren Dimensionen andere Menschen nicht einmal die Spur einer Ahnung haben. Das muß so sein. Die Langeweile führt zu einer gewissen Unzufriedenheit mit der eigenen Lebensweise und dadurch zu dem festen Vorsatz, sie zu verbessern. Langeweile erzeugt Widerwillen gegen die Niederlage. So sind die Möbel unweigerlich in allen Schattierungen stumpfer Grau- und Brauntöne gehalten, die Sparringspartner, fast bis zur Empfindungslosigkeit geprügelt, sind wortkarg, wenn nicht verdrossen, und das Schweigen scheint dazu bestimmt, den Boxer auf seine Leiden am Abend des Kampfes vorzubereiten. In Alis Trainingslagern jedoch ging es gewöhnlich recht lebhaft zu, herrschte, wenn schon keine andere, dann wenigstens seine eigene Lebendigkeit. Es war, als sei Ali fest entschlossen, sich während der Trainingszeit zu amüsieren. Heute nicht. Heute war es wie in jedem anderen Trainingslager. Unausgesprochene Ahnungen einer Niederlage durchzogen den trist möblierten Raum.
Wie ein zu einer langen Gefängnisstrafe Verurteilter, der zu verzweifeln beginnt, wenn er einsehen muß, daß die Bemühungen, seinen gesunden Menschenverstand zu bewahren, ihn allmählich schwächen, kommt auch der Boxer zu einer ganz ähnlichen Erkenntnis. Der Gefangene oder Boxer muß einen Teil dessen aufgeben, was an ihm das Beste ist (da nämlich das Beste an einem Menschen so wenig für das Gefängnis – oder das Training – taugt wie ein wildes Tier für den Zoo). Früher oder später merkt der Boxer, daß irgend etwas an seiner Psyche einen zu hohen Preis für das Training bezahlt. Die Langeweile stumpft nicht nur seine Persönlichkeit ab, sie tötet auch seine Seele. Kein Wunder also, daß Ali während der Hälfte seiner Boxerlaufbahn gegen das Training rebellierte.
»Was halten Sie von den Quoten?« fragte jemand, und die Frage, unvorbereitet gestellt, schien Ali aus dem Konzept zu bringen. »Ich verstehe nichts vom Wetten«, antwortete er. Man erklärte ihm, daß die Quoten zweieinhalb zu eins gegen ihn stünden. »Ist das viel?« fragte er und fuhr beinahe verwundert fort: »Die glauben tatsächlich, daß Foreman gewinnt!« Zum erstenmal an diesem Tag wirkte er weniger deprimiert. »Bei solchen Quoten müßtet ihr einen Haufen Geld machen können.« Der Gedanke an den Kampf schien ihn jedoch eine Spur aufzumuntern – wie ein Sträfling, der an die Stunde denkt, da er seine Strafe abgesessen hat. (Natürlich kann auch auf der Straße ein Killer warten.) »Wollt ihr«, fragte er aufgrund dieser ein wenig gehobenen Stimmung, »mein neues Gedicht hören?«
Niemand brachte es übers Herz, nein zu sagen. Ali winkte einem seiner Paladine, und dieser brachte ihm eine Tasche, der der Boxer eine Handvoll beschriebener Seiten entnahm. Er behandelte diesen literarischen Erguß mit jener Konzentration in den Fingerspitzen, mit der ein Armer einen Stapel Geldscheine zählt. Dann begann er vorzulesen. Die Schwarzen lauschten andächtig, den Blick zwecks verstohlener Kalkulationen abgewandt.
»Ich habe«, las Ali, »eine gute Kombination eins-zwei.
Die Eins trifft hart, und die Zwei geht niemals vorbei.«
Alle lachten. Der nächste Vers deutete an, daß Ali einem Rasiermesser gleiche und Foreman sich an ihm schneiden würde.
»Sieht man ihn an, das nimmt einen mit,
denn in seinem Gesicht klafft Schnitt um Schnitt.«
Endlich legte Ali die Blätter beiseite. Auf das pflichtschuldige Gelächter hin hob er die Hand. Sein Gedicht war drei Seiten lang gewesen.
»Wie lange haben Sie daran geschrieben?« wurde er gefragt.
»Fünf Stunden«, antwortete er – Ali, der pro Minute dreihundert neue Wörter hinausrattern konnte! Da die Hochachtung dem Mann galt, dem ganzen Mann, das literarische Talent eingeschlossen (wie man auch wohl bereit gewesen wäre, die Quietscher zu respektieren, die Balzac einer Flöte entlockte, hätte sich darin eine andere Seite Balzacs geoffenbart), sah man im Geiste Ali vor sich, wie er, den Bleistift in der Hand, dasaß und dichtete, völlig versunken in die den Schwarzen eigene Verehrung für den Reim, jene geheimnisvollen Verbindungen im Reich des Klangs: Kein Reim ohne verborgenes Motiv! Trugen Alis Reime dazu bei, die Gestaltung der Zukunft zu beeinflussen, oder saß er nach dem Training einfach da und reihte eine dumm-witzige Zeile an die andere?
Doch in kritischen Situationen macht sich immer wieder Alis sechster Sinn bemerkbar. »Das Zeug da«, sagte er mit einer Handbewegung, »ist doch bloß Spaß. Aber ich habe mich auch mit ernsthafter Dichtung befaßt.« Zum erstenmal an diesem Tag schien er an dem, was er gerade tat, Interesse zu nehmen. Aus dem Gedächtnis zitierte er mit ernster Stimme:
»Das Wort der Wahrheit ist bewegend.
Die Stimme der Wahrheit ist tief.
Das Gesetz der Wahrheit ist einfach.
In eurer Seele werdet ihr ernten.«
So ging es weiter, eine ganze Anzahl Verse, und endete schließlich mit: »Die Seele der Wahrheit ist Gott«, eine unumstößliche Wahrheit für jeden Juden, Christen oder Moslem, unumstößlich für alle, nur nicht für einen Manichäer wie unseren Interviewer. Die Überlegungen dieses Interviewers aber gingen schon wieder in eine andere ästhetische Richtung. Das Gedicht konnte unmöglich von ihm selbst stammen. Vielleicht war es die Übersetzung einer frommen Sufi-Weisheit, die ihm sein Moslem-Lehrer vorgelesen und an der er anschließend einige Wörter verändert hatte. Trotzdem ging ihm eine bestimmte Zeile nicht aus dem Kopf. »In eurer Seele werdet ihr ernten.« Hatte man recht gehört? Konnte er das wirklich geschrieben haben? In den ganzen zwölf Jahren, in denen Ali prophetische Knittelverse über die Boxkämpfe geschmiedet hatte – die Verse so schlecht wie die Voraussage häufig zutreffend: Archie Moore/ is sure/ to hug the floor/ by the end of four, oder so ähnlich –, mußte diese Zeile der erste Beweis eines nicht kraß antipoetischen Gedankens in Alis umfangreichem Repertoire sein. Wenn Ali nur ein paar Worte echter Poesie zustande brächte, wäre das gleichbedeutend mit einem Intellektuellen, der einen guten Boxhieb landet. Nachforschungen waren angezeigt. Ali jedoch konnte sich außerhalb des Zusammenhangs nicht an diese Zeile erinnern. Er mußte sich das ganze Gedicht ins Gedächtnis rufen. Leider wollte sein Gedächtnis nicht so recht funktionieren. Jetzt zeigte sich die Wirkung der Schläge, die er am Nachmittag eingesteckt hatte. Zeile um Zeile fahndete er mit lauter Stimme nach den fehlenden Worten. Es dauerte fünf Minuten. Und seine Suche bekam in diesem Zeitraum einen ganz anderen Sinn, als könne er durch die Tätigkeit des Erinnerns zugleich einige der an diesem Tag in seinem Gehirn gestörten Schaltkreise reparieren. Mit der Freude eines Achtjährigen, der in der Schule ein gutes Gedächtnis beweist, fiel es Ali schließlich wieder ein.
»Das Gesetz der Wahrheit ist einfach.
Wie ihr sät, so werdet ihr ernten.«
Alis Image war wieder in Ordnung. Er hatte noch immer keine dichterische Zeile geschrieben.
Die Anstrengung hatte ihn jedoch belebt. Er fing an, über Foreman zu sprechen, und zwar mit Genuß. »Glauben die wirklich, daß er mich besiegt?« tönte er laut. Und als sei sein Bild des Universums beleidigt worden, sagte er zornig: »Foreman kann nichts weiter als blind drauflos dreschen. Er kann nicht treffen! Er hat noch nie einen Gegner k. o. geschlagen! Frazier hatte er sechsmal unten und konnte ihn nicht k. o. schlagen! Norton viermal! Das ist doch kein Boxen! Foreman schickt die Gegner nur zu Boden. Mir kann er nicht gefährlich werden, er hat keinen linken Haken! Nur linke Haken sind gefährlich für mich. Sonny Bates hat mich einmal mit einem linken Haken zu Boden geschickt, Norton hat mir die Kinnlade gebrochen, Frazier hat mich mit einem linken Haken zu Boden geschickt, aber Foreman – der schlägt doch lahm, dessen Schläge brauchen ein Jahr, bis sie ankommen.« Jetzt erhob Ali sich und fintete mit ein paar Luftschlägen. »Glaubt ihr, davor hätte ich Angst?« fragte er mit ein paar linken und rechten Geraden gegen den Interviewer, die bis auf fünf Zentimeter an seine Nase herankamen. »Das wird das größte Ereignis in der Geschichte des Boxkampfes.« Endlich war Ali richtig animiert. »Meine Reichweite ist um ungefähr vier Zentimeter größer als seine. Das ist eine Menge. Sogar ein Zentimeter ist schon ein Vorteil, aber vier Zentimeter, das ist viel. Das ist wirklich eine Menge.«
Es ist nicht unbekannt, daß ein Trainingslager der Produktion eines einzigen Erzeugnisses dient, und das ist das Selbstbewußtsein des Boxers. In Muhammads Lager waren es jedoch weder der abwesende Manager noch die Trainer, Sparringspartner oder – ganz sicher nicht – die bedrückende Atmosphäre des Lagers selbst, die hier am Werk waren. Diese Arbeit übernahm einzig und allein Ali selbst. Er war das Produkt seines eigenen Rohmaterials. Nach seiner Ansicht hatte Foreman keine Chance. Immerhin, die Erinnerung an Ken Norton regte sich, den Foreman in zwei Runden auseinandernahm. An jenem Abend, als Ali gleich nach dem Kampf am Ring einen Kommentar abgab, hatte seine Stimme schrill geklungen. Als er sich mit den TV-Reportern unterhielt, hatte seine erste – für Ali vollkommen uncharakteristische – Bemerkung gelautet: »Foreman kann härter zuschlagen als ich.« Falls Ali sich mit Ausreden über seine beiden langen, ausgeglichenen Kämpfe mit Norton hinweggetröstet hatte, so war sein Ego dieser Ausreden jetzt beraubt worden. An jenem Abend in Caracas hatte er, direkt vor seinen Augen, einen Killer gesehen. Foreman war im Ring so bösartig gewesen wie vor ihm kaum einer. In der zweiten Runde, als Norton zum zweitenmal zu Boden ging, erwischte ihn Foreman mit der Sekundenschnelle, mit der ein Löwe seine Beute schlägt, noch fünfmal. Diese Sekunde muß Ali in alle Knochen gefahren sein.
Gewiß, ein großer Boxer lebt nicht, wie andere Menschen, mit der Angst. Er darf gar nicht erst beginnen, daran zu denken, wieviel Schmerzen ihm ein anderer Boxer zufügen kann. Sonst würde das aufgrund seiner Vorstellungskraft bewirken, daß seine Kreativität nicht zu-, sondern abnimmt – schließlich hört die Angst, mit der er sich herumschlagen müßte, niemals auf. Hier in Deer Lake ging es darum, jedwede Furcht restlos zu begraben; und so strahlte Ali statt ihrer ein gefährliches, überaus monoton wirkendes Selbstbewußtsein aus. Wieder einmal ging sein Charme in der Proklamation des eigenen Wertes und der Inkompetenz seines Gegners unter. Doch diese Alchemie funktionierte. Irgendwie verwandelte sich die begrabene Furcht in Ego. Jeden Tag kamen die Reporter, jeden Tag hörte er zum erstenmal die Quoten von zweieinhalb zu eins und lieferte den Informanten dafür dieselben Sprüche, las ihnen dieselben Gedichte vor, stand er auf und schwenkte die Fäuste fünf Zentimeter vor ihrer Nase. Hatten Reporter Tonbandgeräte mitgebracht, um seine Worte aufzuzeichnen, gingen sie unter Umständen zweimal mit wortwörtlich demselben Interview nach Hause, auch wenn eine ganze Woche zwischen ihren Besuchen lag. Ein langer, schrecklicher Alptraum – Nortons Niederlage durch Foreman – wurde, Reporter um Reporter, Gedicht um Gedicht, Analyse um Analyse – »Er drischt blind drauflos, aber er kann nicht treffen« –, in die Wiederherstellung von Alis Ego verwandelt. Das Angstgefühl zu psychischen Ziegelsteinen gepreßt. Welch eine Mauer von Ego Alis Willenskraft im Laufe der Jahre doch errichtet hatte!
Vor dem Verlassen des Trainingscamps ein zwangloser Rundgang durch das Lager. Deer Lake ist bei den Medien schon für seine Nachbildungen von Sklavenhütten hoch oben auf Alis Hügel sowie für die Felsbrocken berühmt, auf denen die Namen seiner Gegner stehen, Listons Name auf dem Stein, der dem von der Zufahrtsstraße Kommenden zuerst ins Auge fällt. Bei jeder Rückkehr in sein Camp müssen diese Steine in Ali wieder gewisse Erinnerungen wachrufen. Einst standen sie für Boxer, die ihn im Schlaf in Panik versetzten und ihm beim Erwachen eiskalte Angstschauer über den Rücken jagten. Heute sind sie nur noch Namen, und die Hütten sind eine Augenweide, Alis eigene allen voran. Ihre Balken haben die dunkle Tönung der alten Eisenbahnbrücke, von der sie stammen, die Innenausstattung entspricht überraschenderweise tatsächlich einer bescheidenen Sklavenhütte. Die Möbel sind schlicht, aber antik. Das Wasser kommt aus einer alten Handpumpe. Die adäquate Bewohnerin von Alis Hütte wäre wohl eine alte Frau, die an ein eintöniges, ehrbares Leben gewöhnt ist. Selbst das Vierpfostenbett mit der Flickensteppdecke scheint eher auf ihre als auf seine Größe zugeschnitten zu sein. Außerhalb dieser Hütte jedoch enden diese philosophischen Reminiszenzen an die Alte jäh an einem asphaltierten Parkplatz. Um ihn, der größer als ein Basketballplatz ist, gruppieren sich die großen und kleinen Gebäude. Wie sehr das doch alles zu Ali paßt! Der raffinierte Geschmack des Himmelsfürsten, der gekommen ist, sein Volk zu führen, kollidiert mit dem heiseren Geschrei von Muhammads Medienhimmel, dessen Firmament aus Asphalt besteht und dessen Sterne in künstlichem Glanz erstrahlen.
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Der Schicksalsschlag
Nun der Geschmack eines anderen Schwarzen: der Sitz des Präsidenten Mobutu in Nsele am Ufer des Kongo, eine Ansammlung weiß verputzter Gebäude mit Straßen, die sich über ein Areal von mehr als tausend Morgen hinziehen. In einem abgelegenen Winkel findet man einen Zoo und einen Swimmingpool von Olympia-Ausmaßen. Gleich am Eingang erhebt sich eine große Pagode, begonnen als Geschenk der Nationalchinesen, vollendet jedoch als Geschenk der Rotchinesen! Wir befinden uns in einem merkwürdigen Herrschaftsbereich: Nsele! Es erstreckt sich von der Autostraße, die zum Kongo führt, über beackerte Felder zwei Meilen weit bis zum Kongo, jetzt Zaire genannt, jenem gewaltigen Strom, der hier enttäuschen muß, weil seine Wasser schlammig und voller Treibgut sind, dicken, vom Ufer losgerissenen Hyazinthenbüscheln, aufgebläht wie Kadaver, unästhetisch wie Kothaufen. An der Pier liegt ein Dreidecker-Flußboot, ein Zwitter aus Yacht und Raddampfer. Es heißt »Präsident Mobutu«. Daneben, ähnlich in der Konstruktion, ein Hospitalschiff. Es heißt »Mama Mobutu«. Natürlich. Auf den Plakaten, die den Kampf ankündigen, steht zu lesen: »Un cadeau du Président Mobutu au peuple Zairois (ein Geschenk Präsident Mobutus an das Volk von Zaire) et un honneur pour l’homme noir (und eine Ehrung für den schwarzen Menschen)«. Der Name Mobutu ist in Zaire so eng mit dem revolutionären Ideal verbunden wie die Schlange mit dem Stab, um den sie sich ringelt. »Ein Kampf zwischen zwei Schwarzen in einem schwarzen Land, von Schwarzen organisiert und mit der ganzen Welt als Zuschauer: ein Sieg des Mobutismus.« So heißt es auf einer der von der Regierung aufgestellten gelb-grünen Tafeln an der Autostraße von Nsele nach der Hauptstadt Kinshasa. Eine Vielzahl dieser in Englisch und Französisch beschrifteten Tafeln vermittelt dem Automobilisten im Vorbeifahren einen Schnellkurs in Mobutismus. »Wir wollen frei sein. Wir wollen uns auf dem Weg zum Fortschritt nicht behindern lassen; und wenn wir uns diesen Weg durch Fels bahnen müssen, dann werden wir ihn uns durch Fels bahnen.« Besser als Burma Shave und gewiß eine edle Gesinnung im Hinblick auf das Gedeihen des Kongo, aber der Interviewer findet, daß er nach langer Reise an einem unwirtlichen Ort angelangt ist. Nun gut, auch der Interviewer ist ein bißchen grün um die Nase. Er hat sich, bevor er nach Zaire kam, in Kairo ein Virus geholt und weilt erst seit drei unangenehmen Tagen in diesem Land. Er will sogar schon am Nachmittag wieder nach New York zurückfliegen. Der Kampf ist verschoben worden. Foreman hat sich beim Training eine Verletzung zugezogen Da es sich um eine Platzwunde über dem Auge handelt, kann der Aufschub, obzwar zeitlich noch nicht festgelegt, keinesfalls weniger als einen Monat dauern. So ein Schicksalsschlag! Am selben Tag, als er in Zaire landete, hörte er die Nachricht. Das Hotelzimmer, das er bestellt hatte, war natürlich nicht reserviert worden. Nichts ist schlimmer, als kein Bett vorzufinden, wenn man bei Morgengrauen in einer afrikanischen Hauptstadt eintrifft. Der halbe Vormittag verging, bis er schließlich im »Memling« unterkam, in jenem Hotel, das für seine revolutionäre Vergangenheit berühmt ist. Vor einem Jahrzehnt wohnten in den oberen Stockwerken Pressekorrespondenten, während unten in der Halle Aufständische erschossen wurden. Das Blut rann über den Fußboden. Jetzt war das »Memling« wieder das, was es zuvor gewesen war: ein mittelmäßiges Hotel in einer Tropenstadt. Der berühmte Fußboden der Halle glich, was Sauberkeit und Gemütlichkeit betraf, wieder mehr oder minder dem Fußboden des Greyhound-Busbahnhofs von Easton, Pennsylvania, und die Eingeborenen an der Rezeption sprachen ein Französisch, das klang, als wären sie mit künstlichen Kehlköpfen ausgestattet. Trotzdem legten sie Fremden gegenüber eine kaum geringere Überheblichkeit an den Tag als die echten Pariser. Sie setzten ihren Stolz darein, unseren Akzent nicht zu verstehen. Welch ein Rahmen für Exekutionen, diese Halle! Die Beamten von Zaire, die in diesen Gefilden aus- und eingingen, trugen dunkelblaue Jacken ohne Revers und dazu passende blaue Hosen, alles zusammen aboscos genannt (vom Slogan À bas le costume! – »Nieder mit dem konservativen Anzug!« abgeleitet), die akzeptierte Kleidung der revolutionären Bürokraten. Obwohl einige dieser Beamten sogar Englisch sprachen (mit einem noch schlimmeren Akzent als die Japaner – sie würgten die Silben mit vorquellenden Augen aus dem Hals), herrschte bei Gesprächen Gereiztheit vor. Traf Schwarz auf Weiß, maß Arroganz sich mit Arroganz. Einmütig stellte die Presse fest, die Zairois seien die unhöflichsten Menschen ganz Afrikas. Das Verhältnis zwischen den Zairois und den zu Besuch weilenden Weißen war schon bald von gegenseitiger Abneigung gekennzeichnet. Um zu bekommen, was man wollte, sei es einen Drink, ein Zimmer oder ein Flugticket, mußte man seinen Wunsch im schroffen Befehlston eines belgischen Kolonialherrn vortragen. Legte man zum Beispiel den Telefonhörer auf, nachdem man zwanzig Minuten auf eine Antwort gewartet hatte, konnte man sicher sein, daß der Mann in der Telefonzentrale des Hotels zurückrief, um sich empört darüber zu beschweren, daß man ihn derart schikanierte. Dann mußte man wiederum in die Haut eines Cultivateur Belgique schlüpfen, der einem Plantagenarbeiter klarmacht, wie die Realität aussieht. »La connection était im-par-faite!« Die Atmosphäre war bald so gespannt, daß amerikanische Schwarze afrikanische Schwarze anfauchten. Ein Land voll alter Komplexe – und voll neuer!
Schlimmer noch: Zum erstenmal im Kongo zu sein und zu wissen, daß der Name geändert worden ist! Dieser Beitrag zur Anonymität wirkte lähmender als Kannibalismus. Bis an das »Herz der Dunkelheit« heranzukommen, hier in der alten Hauptstadt von Joseph Conrads »Horror«, diesem Kinshasa, einstmals das böse Léopoldville, Zentrum des Sklaven- und Elfenbeinhandels, und es mit den galligen Blicken gepeinigter Eingeweide zu sehen! Beruhte Hemingways Genie zum Teil vielleicht darauf, daß er mit kerngesunden Eingeweiden reiste? Wer hatte sich je so nach New York gesehnt! Wenn Kinshasa Charme besaß – wo ihn suchen? Das Stadtzentrum prunkte mit dem Glanz einer landeinwärts gelegenen Florida-Stadt von siebzig- bis achtzigtausend Einwohnern, die irgendwie den Anschluß an den Boom verpaßt hatte: Ein paar hohe Gebäude blickten herab auf ein Meer von niedrigen. Doch Kinshasa hatte nicht achtzigtausend Einwohner. Es hatte eine ganze Million und erstreckte sich vierzig Meilen weit an einer Biegung des Kongo, ja, ja, jetzt des Zaire, entlang. Durch Kinshasa zu fahren war kaum angenehmer, als sich vierzig Meilen weit durch dichten Lastwagenverkehr und die von Autos wimmelnden Vororte von Camden oder Biloxi zu quälen. Obzwar es eine La Cité genannte Innenstadt gab, wo die Eingeborenen in einem einzigen, riesigen und verlotterten Slum voll Wasserrinnen, rutschiger Schlammwege, Nightclubs, Gehsteigläden und Elendsquartieren lebten, fühlte sich unser Reisender von der inneren Fehlfunktion seines Körpers noch immer zu elend, um ihr einen Besuch abzustatten, und lebte nur in dem Gedanken, endlich wieder nach Hause zu kommen. Ein derartiger Streßzustand förderte die galleproduzierenden Gefühle natürlich aufs prächtigste. Welch ein Vergnügen, festzustellen, daß dieser schwarze, revolutionäre Einparteienstaat es geschafft hatte, einige der bedrückendsten Aspekte des Kommunismus mit den schlimmsten Seiten des Kapitalismus zu vereinigen! Präsident Mobutu, der (angeblich) siebtreichste Mann der Welt, hatte bestimmt, die einzig richtige Anrede eines Zairois für einen anderen sei Citoyen. Bei einem durchschnittlichen Prokopfeinkommen von siebzig Dollar pro Jahr könnte also ein Zairois, jedweder Zairois, den siebtreichsten Mann der Welt immer noch »Bürger« nennen. Kein Wunder also, daß der Interviewer den präsidentschaftlichen Herrschaftsbereich verabscheute. Diese kleinen weißen Villen (für die Presse reserviert) sowie die große weiße Kongreßhalle (für das Training der Boxer reserviert) waren ein Levittown am Zaire. Aspirinfarben getünchte Gebäude versteckten sich hinter durchbrochenen Ziermauern, die an das Schlimmste von Edward Durrell Stone erinnerten – eine vernichtende Kritik, da selbst das Beste von Edward Durrell Stone noch dem Einnehmen einer Krebspille gleichkommt; nein, dieses prätentiöse Nsele mit seiner zwei Meilen langen Zufahrt und seinen Scharen von ausgemergelten Arbeitern auf den Wassermelonenfeldern (man konnte auf der Straße tausend Schwarzen begegnen, ohne einen einzigen mit einer Andeutung von Fleisch auf den Knochen zu entdecken) war eine technologische Konstruktion wie die NASA oder Vacaville, ein Gefängnis mit einem Minimum an Sicherheit für die Beamten der Medien und die zu Besuch weilenden Bürokraten der ganzen Welt. Ein hoher, weißer, chromverzierter Turm mit den Initialen der Partei – MPR – ragte empor wie eine Mahnsäule für die phallische Aufrechthaltung der Massen. Ein langer Weg, von Joseph Conrad und dem alten »Horror« bis hierher! Vielleicht bedurfte es eines so extremen Geistes wie des seinen, um behaupten zu wollen, das Plastikzuckerwerk Edward Durrell Stones sei, was sein Odium angehe, durchaus dem Belgisch-Kongo von 1880 gleichzusetzen:
»Sie waren keine Feinde, sie waren keine Verbrecher, sie waren jetzt überhaupt nichts Irdisches mehr – nur noch schwarze Schatten aus Krankheit und Hunger, die verwirrt in dem grünlich-schimmernden Dunkel herumlagen. Unter Zeitarbeitsverträgen völlig legal aus den entlegensten Winkeln hierhergebracht, in dieser fremden Umgebung verloren, mit unbekannten Speisen gefüttert, erkrankten sie, wurden unproduktiv und durften sodann davonkriechen und sich ausruhen. Diese moribunden Gestalten waren so frei wie die Luft – und auch fast so dünn Allmählich lernte ich das Glänzen der Augen unter den Bäumen auszumachen. Dann, im Hinabblicken, sah ich in der Nähe meiner Hand ein Gesicht. Die schwarzen Glieder lang ausgestreckt, eine Schulter gegen den Baum gelehnt, langsam hoben sich die Augenlider, und eingesunkene Augen, riesig, leer, richteten sich auf mich, in den Tiefen der Iris ein blindes, weißes Flackern, das langsam wieder erlosch. Der Mann schien noch jung zu sein – beinahe ein Knabe –, aber Sie wissen ja, wie schwer man das bei denen beurteilen kann. Ich wußte nichts anderes zu tun, als ihm einen von den Schiffszwiebäcken meines guten Schweden anzubieten, die ich in der Tasche hatte. Langsam schlossen sich die Finger um ihn und hielten ihn fest – sonst keine einzige Bewegung, kein einziger Blick.«
In Nsele war Ali in einer Villa an der Uferstraße des Zaire untergebracht. Das Haus war von der Regierung stilvoll eingerichtet worden – hätte man annehmen sollen. Überall große Zimmer, doppelt so groß wie Motelräume, aber mindestens ebenso deprimierend. Lange Sofas und Sessel waren mit grünem Kordsamt bezogen, der Fußboden bestand aus grauen Plastikfliesen, die Kissen waren orangefarben, der Tisch dunkelbraun – man sah sich jener unvermeidlichen Hoteleinrichtung gegenüber, die beim Großhandel unter der Bezeichnung High Schlock bekannt ist.
Es war neun Uhr vormittags. Ali hatte geschlafen. Er sah zwar jetzt etwas besser aus als in Deer Lake, aber man merkte immer noch, daß seine Gesundheit zu wünschen übrig ließ. Tatsächlich hatten zeitweilig Gerüchte kursiert, daß sein Blutzuckerspiegel zu niedrig sei und seine Energie nicht ausreiche. Also hatte man ihn auf eine andere Diät gesetzt. Trotzdem war an seiner äußeren Erscheinung keine deutliche Besserung festzustellen.
An diesem Vormittag war er wegen Foremans Verletzung doppelt deprimiert. Bis zum Kampf war es nur noch knapp eine Woche gewesen. Bill Brannigan, ein Fernsehkorrespondent, der mit Ali sprach, als dieser gerade die Nachricht bekommen hatte, bemerkte später: »Zum erstenmal habe ich an Ali eine natürliche Reaktion gesehen.« Und wie erregt Ali war! »Der allerungünstigste Moment«, sagte er, »und das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich komme mir vor, als sei mir eben ein guter Freund gestorben.« War es vielleicht die wiederauflebende Energie seines Körpers, die da gestorben war, sein mühseliges Ringen um Kondition? Allein, spricht man von Kondition, steht man bereits vor dem ersten Geheimnis der Boxkunst. Sie, die Kondition, ist ein äußerst selten auftretender Zustand, bei dem Körper und Geist es dem Schwergewichtsboxer gestatten, sich fünfzehn Runden lang mit Spitzengeschwindigkeit zu bewegen. Das ist mit dem Willen allein nicht zu schaffen. Dennoch hatte Ali es versucht. Monatelang hatte er trainiert.