Gespenster - Norman Mailer - E-Book

Gespenster E-Book

Norman Mailer

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer ist hinter Harry Hubbard her? Warum brennt das Haus dieses eher zweitrangigen CIA-Offiziers, verschwindet seine Frau, flieht er in einem panischen Schrecken nach Moskau? Ist es, weil er für "Harlot" arbeitet, den großen alten Mann des CIA? Harlot war den "Hohen Heiligen" auf der Spur, einer mächtigen Gruppe innerhalb der "Agency" und verdächtig, den größten Verrat in der Geschichte der Geheimdienste begangen zu haben. Harlot ist tot. Ermordet? Doch sein Geist sitzt den Hohen Heiligen im Nacken – und Harry Hubbard, der nun allein steht gegen übermächtige Gewalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1305

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



GESPENSTER

Das Epos derGeheimen Mächte

ERSTER RING

Distanzierungserklärung:

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Harlot’s Ghost (Random House, New York)

© 1991 by Norman Mailer. All rights reserved

Ins Deutsche übertragen von Dirk Muelder.

Die Übersetzung stammt aus dem Jahr 1991 und folgt der damaligen Rechtschreibung.

© 2023 Langen Müller Verlag GmbH, München

© Deutsche Ausgabe bei F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: STUDIO LZ, Stuttgart

Umschlagmotiv: Boris Schmitz, Düren

Satz und E-Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8447-1

www.langenmueller.de

FÜRJASONEPSTEIN

Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen,sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt,die in dieser Finsternis herrschen,mit den bösen Geistern unter dem Himmel.

EPHESER 6, 12

INHALT

OMEGA

ALPHA

DASVABANQUESPIEL

ERSTER TEIL

FrüheJahre, Grundausbildung

ZWEITER TEIL

Berlin

DRITTER TEIL

Washington

VIERTER TEIL

Montevideo 1956-1959

Nachbemerkung des Verfassers

Bibliographie

VORBEMERKUNG

Dieses Buch ist die Lebensbeichte eines Mannes, dessen Welt die Welt der Geheimdienste und dessen Heimat der CIA ist – ALPHA.

Dieses Buch ist der Aufschrei eines Gejagten, den die dunklen Mächte der Vergangenheit eingeholt haben und der verzweifelt versucht, seinem Schicksal zu entrinnen – OMEGA.

Und wie die Psyche des Menschen zerfällt in zwei Kreise, in ALPHA und OMEGA, die beiden Antipoden der Seele, die einander dulden oder bekämpfen, sich erfüllen oder unerfüllt bleiben, so wird sich der Kreis um OMEGA erst zu einem späteren Zeitpunkt schließen.

OMEGA 1

An einem Abend im Spätwinter 1983 steuerte ich meinen Wagen über die Küstenstraße von Maine. Die Schwaden der Märznebel erinnerten mich an den Rauch von Lagerfeuern, und ich mußte an die Abenaki-Indianer denken, einen Algonkin-Stamm, der vor tausend Jahren in der Nähe von Bangor gelebt hatte.

Im Frühling nach der Maisaussaat hatten die jungen Krieger und Squaws die Alten allein zurückgelassen, um über Felder und Kinder zu wachen, und waren in ihren Birkenrindenkanus den Sommer über nach Süden gepaddelt. Sie waren den Penobscot River hinunter zur Blue Hill Bay an der Westseite von Mount Desert gefahren, wo heute noch das Haus meiner Familie steht, an dem schon mein Ururgroßvater Doane Hadlock Hubbard gebaut hat. Es heißt »The Keep«, und ich kenne bis heute nicht alle seine Geheimnisse, aber man sagt, daß dort jeden Sommer ein paar Indianer an Land gingen und ihre Hütten bauten, und ein paar davon liegen darunter begraben, obwohl ich nicht glaube, daß sie zum Sterben auf unsere Insel kamen. Eher mögen sie die langen Sommer des Nordens genossen haben. Vielleicht haben sie bei Ebbe im Watt Austern gesucht und sich bei Flut geprügelt und gepaart zwischen den Fichten und Schierlingstannen. Woran sie sich berauschten, weiß ich nicht, vielleicht war es der Moschusgeruch ihrer Leiber, aber manch steiniger Strand weist in der ersten Senke hinter dem Ufer Berge von uralten Muschelschalen auf, die die Jahrhunderte zu Staub zermahlen haben, ein Strand hinter dem Strand, der von uralten Sommertollheiten erzählt. Die Geister dieser Indianer wandern vielleicht nicht mehr durch unsere Wälder, aber etwas von ihren alten Freuden und Leiden erfüllt noch immer die Luft. Mount Desert leuchtet strahlender als das übliche Maine.

Sogar Reiseführer versuchen diesen besonderen Reiz zu beschreiben: »Die Insel Mount Desert, fünfzehn Meilen im Durchmesser, erhebt sich wie eine sagenhafte Stadt aus dem Meer. Die Einheimischen nennen sie Akadien, schön und unheimlich.«

Schön und unheimlich. Wir haben einen Fjord in Akadien, vier Meilen lang, ein atemberaubender Schlund zwischen steilaufragenden Klippen. Es ist der einzige echte Fjord an der nordamerikanischen Atlantikküste und doch nur ein Teil unserer zerklüfteten Pracht. Nahe der Küste erheben sich jäh tausend Fuß hohe Klippen, die den Seeleuten wie Berge erscheinen, und in unserem besten Ankerplatz, Northeast Harbor, wimmelt es im Sommer von Jachten.

Vielleicht liegt es an der Nähe unserer Berge zum Meer, daß die Stille so schwer über dem Land liegt, doch der Sommer hat hier einen Zauber, der nicht leicht zu beschreiben ist. Wir sind keine Insel für Sonnenhungrige. Es gibt hier fast keine Sandstrände. Das Ufer besteht aus Kieseln und Muschelschalen, und die Flut brandet zwölf Fuß hoch über die Felsen. Die Brecher spülen Entenmuscheln und Uferschnecken, Steinalgenmuscheln, Rotalgen und Perltang an Land. Seeigel und Trompetenschnecken liegen verstreut am Ende der Brandung. Salzkraut wuchert überall, und Teufelsschurz windet sich um die Knöchel. In den Pfützen, die die Flut hinterlassen hat, wachsen Seeanemonen und Schwämme. Seesterne und Seeigel treiben neben deinen Zehen. Man geht vorsichtig über scharfkantige Steine, und das Wasser ist so kalt, daß niemand es darin aushält, der nicht hier geboren ist. Ich habe über den Riffen im grünen Wasser der Karibik geplätschert und bin über die purpurnen Tiefen des Mittelmeers gesegelt; ich habe den Dunst der Sommerglut über der Chesapeake Bay gesehen, wenn die Kimm in Farben verschwimmt. Ich mag sogar die schiefergrauen Flüsse, die sich im Westen durch die Canyons wälzen, aber lieben kann ich nur das strahlende, eiskalte Blau von Frenchman’s Bay und Blue Hill Bay und das unergründliche Blau des Eastern und des Western Way, die Mount Desert umgeben – ja, aus Liebe zur Insel bedient man sich sogar des Idioms der Einheimischen. Diese betonen den Namen der Insel auf der zweiten Silbe, wie Dessert, und ihr Anblick ist einem echten Neuengländer süß wie Zuckerguß.

Ich übertreibe – aber wie sollte es anders sein beim Gedenken an solche Herrlichkeiten wie die Farben unserer Felsen im Sommer: Dort, wo das Wasser sie berührt, leuchten sie aprikosenfarben, dann lavendel und blaßgrün, aber am späten Nachmittag erglühen sie purpurn, und in der Dämmerung leuchtet die Küste in einem dunklen, königlichen Violett über das Meer. Das ist unsere Insel im August. Heidekraut und wilde Rosen wachsen nahe dem Salzmarschgras, und auf den Wiesen springen Baltimorevögel von einem vermodernden Baumstumpf zum andern. Die Heuwiesen duften nach Rotrispen- und Timotheusgras, und Wildblumen blühen. Das blaue Veilchen des Nordens und die Sternblume, Sauerampfer und Teebeere, dazu Trillium – weiß und violett – und wilde Geranien, Goldheide und Fichtenspargel wachsen in unseren Sümpfen, auf unseren Felsen und an den sonnigen Abhängen unserer Berge in den Spalten zwischen den senkrechten Felstürmen. Unten in den Marschen stehen Sumpfkerzen und Juwelenkraut.

Als Junge (damals habe ich die Namen der wilden Blumen gelernt) fand ich einst die weißädrige Orchidee in einem Sumpfwald; sie war grünlich-weiß und lieblich und so selten wie eine Mondfinsternis. Ungeachtet des Touristenrummels im Juli liegt über Mount Desert stets eine zarte und trotzdem erhabene Stille.

Wenn man mich fragte, wie das Erhabene je zart sein könne, würde ich antworten, daß solche Wörter uns an das Schöne und Schreckliche in uns erinnern, und wenn ich alle Vorsicht fahren ließe, würde ich hierzu meine Ehefrau Kittredge schildern. Ihre weiße Haut leuchtet im bleichen Grün der Wiese, und die Schatten der Felsen zeichnen sich darauf ab. Ich sehe Kittredge an einem Sommertag in solchen Schatten sitzen, und ihre Augen leuchten im Blau des Meeres.

Ich bin auch bei ihr gewesen, wenn sie so düster und trostlos schien wie die Märzstürme, die über die Insel tosen. Jetzt im März sind die Wiesen graubraun, dunkel und schwärzlich, und am Morgen sind die Schneereste von Schmutzspuren durchzogen. Im März sind die Nachmittage nicht golden, sondern grau, und die Felsen leuchten selten unter der Sonne. Manche Felsschlünde erscheinen so abweisend wie der ewig in sich ruhende Granit. Am Winterende gleicht Mount Desert der Faust eines Geizhalses; die trübe Schale des Himmels trifft ein bleiernes Meer. Schwermut liegt über den Hügeln. Wenn meine Frau in Schwermut fällt, regt sich auch in meinem Herzen keine Farbe, und ihre Haut leuchtet nicht mehr, sondern hüllt sich in Blässe. Im Spätwinter lohnt das Leben auf Mount Desert nur an Schneetagen, wenn die Lichter der Insel wie Kerzen auf einer hohen weißen Torte über den vereisten Felsen tanzen. Sonst aber lastet der sonnenlose Himmel auf uns, und es kann sein, daß wir eine Woche kein Wort miteinander reden. Die Einsamkeit ähnelt der Verzweiflung eines Trinkers, der seit Tagen keinen Tropfen bekommen hat. Dann erscheinen die Geister auf der Keep, und unser schönes Haus ist ein guter Platz für Geister.

Das Haus steht allein auf einer Insel, die keine zehn Morgen groß ist und nur einen Steinwurf – buchstäblich nur einen einzigen weiten Wurf – vor der Westküste von Mount Desert liegt. Sie heißt Doane nach meinem Ururgroßvater und wird, wie ich heute glaube, von Erscheinungen heimgesucht. Während Inseln meiner Frau zufolge eher unsichtbare Geister anlocken und keine sichtbaren Gespenster, scheint die unsere hier eine Ausnahme zu machen.

Draußen auf Bartlett’s Island, etwas nördlich von uns gelegen, kennt man den Geist von Snowman Dyer, einem exzentrischen alten Fischer. Er war 1870 auf Bartlett’s unter dem Dach seiner unverheirateten Schwester gestorben. Als junger Mann hatte er einmal fünf Hummer gegen ein Bändchen mit griechischen Versen getauscht, das einem Gelehrten klassischer Sprachen in Harvard gehört hatte. Es handelte sich um »König Ödipus«, und der englische Text stand zwischen den Zeilen. Der alte Fischer, Snowman Dyer, war von des Sophokles Versen so fasziniert, daß er das griechische Original zu lesen versuchte. Er wußte zwar nicht, wie er ein Alphabet buchstabieren sollte, das er noch nie zuvor gesehen hatte, aber er dachte sich einfach für jeden Buchstaben einen Laut aus. Mit dem Alter wurde er kühner und pflegte in seiner ureigenen Sprache laut aus dem Buch zu zitieren, während er über die Felsen schritt. Man sagt, wer einmal eine Nacht im Haus seiner Schwester verbringe, der höre dort Snowman Dyers Version des Griechischen, und die Laute seien auch nicht barbarischer als das Krachen und Heulen unserer Unwetter. Ein leitender Angestellter aus Philadelphia, Bingham Baker, bewohnt jetzt mit seiner Familie das Haus, und das Gespenst scheint ihnen wohlzutun, so rosig sehen die Bakers in der Kirche aus. Ich weiß nicht, ob sie das Ächzen des Winters in Snowman Dyers Stimme vernehmen.

Der alte Snowman mag der Geist von Bartlett’s Island sein, aber wir haben ein anderes Gespenst in Doane, und es ist nicht so angenehm. Es ist der Geist eines Schiffskapitäns namens Augustus Farr, dem unser Land vor zweieinhalb Jahrhunderten gehörte. In einem alten Schiffstagebuch sind seine Gewohnheiten aufgezeichnet; ich fand es in der Bibliothek von Bar Harbor, und es wird darin eine Reise geschildert, »während der Farr Piraterey betrieben« und in der Karibik eine französische Fregatte geentert haben soll. Deren Ladung kubanischen Zuckers habe er übernommen, die Mannschaft (von denen abgesehen, die sich ihm anschließen mochten) in einem offenen Ruderboot im Meer ausgesetzt und den Kapitän geköpft. Jener habe nackt und bloß sterben müssen, da Farr ihn zuvor der Uniform beraubt habe. Jedenfalls war Augustus in späteren Jahren so unverfroren, sich im Galarock des Franzosen auf dieser nördlichen Insel begraben zu lassen, die jetzt unsere Insel ist.

Gesehen habe ich Augustus Farr nie, wohl aber habe ich seine Stimme gehört. Eines Nachts vor nicht allzu langer Zeit schlief ich allein in der Keep. Ich erwachte aus einem Traum und merkte, daß ich mit der Wand redete. »Nein, geh weg«, sagte ich mutig. »Ich weiß nicht, ob du da etwas wieder gutmachen kannst. Und ich traue dir auch nicht.«

Sobald ich an diesen Traum denke – wenn es denn ein Traum war –, zittere ich, wie ich sonst nie zittere. Meine Haut am Rücken verschiebt sich, als trüge ich eine Jacke aus Eidechsenleder. Ich höre wieder meine Stimme. Ich spreche nicht mit dem Verputz an der Wand, sondern mit einem Zimmer, das ich dahinter zu sehen glaube. Dort erkenne ich eine Erscheinung in einer zerfetzten Uniform, die auf einem zerschrammten eichenen Kapitänssessel sitzt. Ein Fäulnisgeruch, ein schwacher, aber tödlicher Dunst zieht mir in die Nase. Draußen im Watt kocht die See. Ich höre sie nur durchs Fenster, denn hinauszusehen wage ich nicht. Wie kann sie brodeln, da doch Ebbe ist? Ich träume noch immer, sehe aber eine Maus über den Fußboden huschen und spüre das Gespenst von Augustus Farr auf der anderen Seite der Wand. Mir sträubt sich das Haar im Nacken, während er die Stufen in den Keller hinabsteigt, und ich höre, wie er in der Gruft verschwindet.

Wir haben einen kleinen Raum unter dem Keller. Ursprünglich war es nur ein Loch, das sich mein Vater nach dem Zweiten Weltkrieg gegraben hatte, als die Keep noch ihm gehörte. Stolz behauptete er, er sei der erste Amerikaner, der die Konsequenzen aus Hiroshima gezogen hätte. »Jeder braucht einen Ort, wo er sich verkriechen kann«, sagte mein Vater, Cal Hubbard, zwei Jahre bevor er unseren Besitz an seinen Vetter zweiten Grades, Rodman Knowles Gardiner, verkaufte, der ihn seinerseits Kittredge zu ihrer ersten Hochzeit schenkte.

In der Zeit, in der das Haus Rodman Gardiner gehörte, bemühte er sich redlich, die Marotte meines Vaters noch zu übertrumpfen. Soweit ich weiß, war er der erste in diesem Teil von Maine, der sich einen richtigen Schlackenziegel-Atombunker baute, mit allem was dazugehört: Konserven, Schlafkojen, Küche und Ventilatoren. Der Zugang bestand aus zwei Korridoren, die im rechten Winkel zueinander verliefen. Ob und wie ein Neunzig-Grad-Winkel nukleare Strahlung abhalten kann, weiß ich nicht zu sagen, aber in den ersten Atombunkern herrschten merkwürdige Gepflogenheiten. Den Bunker gibt es noch immer – eine peinliche Familienangelegenheit. Die Menschen in Maine machen nicht soviel Aufhebens vom Schutz ihres Lebens.

Ich verabscheute den Bunker und ließ ihn vermodern. Die alten Thunfischdosen sind inzwischen fast durchgerostet, und der Schaumstoff der Kojen ist zu Pulver zerfallen. Der Steinfußboden ist überzogen von altem Schlamm und schleimigem Moos, und die Glühbirnen, lange schon ausgebrannt, verrotten in ihren Fassungen.

Das soll aber keinen falschen Eindruck von der Keep erwecken. Der Boden der Gruft – der Ausdruck Gruft hat sich für den Bunker unvermeidlich eingebürgert – liegt schließlich drei Meter unter dem Hauptkeller. Dieser wiederum ist eine große, saubere Steinkammer. Erdgeschoß, erster Stock und das voll ausgebaute Dachgeschoß werden von einer einheimischen Frau, die täglich kommt, soweit es das Wetter erlaubt, während wir da sind, und einmal die Woche, wenn das Haus leer steht, leidlich in Ordnung gehalten. Nur die Gruft wird vernachlässigt, und das ist meine Schuld. Ich kann es nicht ertragen, daß sich ihr irgendwer nähert. Wenn ich nur die Tür öffne, zieht ein abartiger, dumpfer Geruch von unten herauf. Solche tiefen Keller riechen häufig nach Moder, aber der Geruch von Wahnsinn ist eine andere Sache.

In der Nacht, in der ich aus meinem Traum erwachte und Augustus Farr begegnete, in der Nacht, in der ich zu der Überzeugung kam, daß ich nicht träumte und ihn die Treppenstufen hinuntergehen hörte, stand ich auf und versuchte ihm zu folgen. Es war nicht so sehr ein Akt der Tapferkeit als vielmehr ein Versuch, meine Ängste in psychische Kraft umzusetzen. Als ich noch ein Junge war, sagte mir mein Vater einmal: »Wenn du Angst hast, zögere nicht, sondern stürze dich ins Getümmel, wenn das der ehrenhafte Weg ist.«

In meinen Kämpfen gegen die Bürokratie, bei denen Geduld die richtige Taktik ist, mußte ich diese ungestüme Auffassung vom Wesen der Tapferkeit gehörig verfeinern, aber mir war klar: Wenn die Angst dich zu lähmen droht, mußt du die Dinge in Bewegung bringen oder du nimmst Schaden an deiner Seele. Und wenn du einem Gespenst begegnest, gibt es nur einen ehrenhaften Weg: Du mußt ihm folgen.

Ich versuchte es. Ich erhob mich, meine Füße waren kalt wie die eines Erfrorenen, und ich stieg die Kellertreppe hinab. Es war kein Traum. Vor mir schlugen wild krachend die Türen zu, und mir schien, als schreie eine Stimme: »Ich werde nicht zurückkommen, ehe ich es vollbracht habe!« Als ich unten im ersten Keller ankam, war ich mit meiner Kraft am Ende. Am Eingang zur Gruft spürte ich: Dort unten wartete eine Erscheinung auf mich, so bösartig wie die verworfensten Kreaturen, die je die Meere befuhren. Ich hatte nicht mehr den Mut, die letzten zehn Stufen hinunterzugehen. Ich stand und regte mich nicht, als könnte ich einen Teil meiner Ehre retten, wenn ich nicht floh, sondern standhielt und den Zorn wessen auch immer über mich ergehen ließ. Man könnte auch sagen: Der Haß und die Ablehnung umfingen mich, ohne mich zu berühren. Dann zog sich Augustus – ich nehme an, es war Augustus – in die Tiefe der Gruft zurück, und ich fühlte mich frei hinaufzugehen. Ich legte mich wieder ins Bett und schlief wie betäubt. Seit dieser Nacht bin ich nicht mehr in die Gruft hinuntergegangen, und Augustus ist mir auch nicht mehr erschienen.

Nichtsdestoweniger hat sich die Keep nach diesem Spuk verändert. In erschreckend rascher Folge gingen die verschiedensten Gegenstände zu Bruch, und ich selbst habe Aschenbecher wie von Geisterhand von Tischen gleiten sehen. Es ist nie so dramatisch wie in den Filmen. Es geschieht eher heimlich. Du kannst nicht mit Sicherheit sagen, ob du nicht mit dem Ärmel deiner Jacke den Gegenstand gestreift hast oder ob sich der alte Fußboden nicht geneigt hat. Es könnte auch alles auf natürliche – oder fast natürliche – Weise geschehen sein. Mit solchen Phänomenen umzugehen ist wie ein Versuch, die Wahrheit aus der Rede eines perfekten Lügners herauszuspüren. Dinge verwandeln sich unablässig. Rascher denn je wechselte der Wind vor unseren Fenstern die Tonart: drohend oder schmeichelnd, sanft oder schrecklich. Ich habe noch nie so viel auf den Wind gehorcht wie nach dem Besuch von Augustus Farr, und das Knarren von Rudern tönte zu uns herüber, obwohl weit und breit kein Ruderer zu sehen war. Dennoch konnte ich die Rollen ächzen hören, und Glocken erklangen von der Hauptinsel her, auf der meines Wissens kein Glockenturm steht. Ich horchte auf das Tor, das im Sturm hin- und herschwang, und hörte den Putz hinter den Paneelen von den Wänden fallen. Kleine Käfer mit Flügeldecken so hart wie Schrotkugeln kamen aus den Fensterbrettern und unter den Türschwellen hervorgekrochen. Jedesmal, wenn ich in meiner Bibliothek die Bücherreihen entlangsah, hätte ich schwören können, daß wieder ein paar Bände verstellt waren – aber natürlich ging die Putzfrau oft die Bücher durch und Kittredge und ich selbst auch. Trotzdem: Farr war unter uns, und wir spürten ihn wie einen Eisberg in milden Wassern.

Aber all dies konnte uns die Keep nicht verleiden. Nicht jeder Spuk ist schrecklich. Kittredge und ich waren kinderlos und wir konnten ihm Raum geben in einem so großen Haus. Farr war fast eine Art Zeitvertreib, einem ewig betrunkenen oder wahnsinnigen Bruder vergleichbar, mit dem man unter einem Dach lebt. Während er ein Phantom bleibt, von dem ich nicht beschwören kann, daß ich es gesehen habe, glaube ich doch an die Existenz von Geistern. Manche Gespenster gibt es wohl in Wirklichkeit.

Als ich ein Jahr später, im März 1984, auf dem Nachtflug vom New Yorker Kennedy Airport nach London war, wo ich Anschluß zum Scheremetjewo-Flughafen in Moskau hatte, las ich zu wiederholten Malen die vierzehn Schreibmaschinenseiten mit der Schilderung meines alten Zuhauses auf jener Insel vor Maine. Ich wagte es nicht, die Blätter wegzulegen. Die Ängste, die mich peinigten, drohten mir den Verstand zu rauben.

Diese vierzehn Seiten waren das erste Kapitel dessen, was ich schließlich mein Omega-Manuskript genannt hatte. Es gab noch ein anderes, ein Alpha-Manuskript – höllisch indiskret –, das einmal, fünfunddreißig Zentimeter dick, in einem verschlossenen Aktenschrank neben meinem Schreibtisch in Maine gelegen hatte. Stolze zweitausend Schreibmaschinenseiten, aber ich hatte das Ganze auf Mikrofilm übertragen und das Original in den Reißwolf gegeben. Dieses Alpha-Manuskript trug ich jetzt bei mir, alle zweitausend Seiten: zweihundert Mikrofilmstreifen zu je zehn Seiten, päckchenweise in Zellophantüten verpackt und säuberlich in einem acht mal elf Zoll großen braunen Papierumschlag verwahrt. Ich hatte dieses dünne, nicht einmal einen Zentimeter dicke Päckchen im Geheimfach eines besonderen Gepäckstücks untergebracht, das mir seit Jahren gute Dienste leistete, und besagter mittelgroßer Koffer lag nun im Laderaum des Flugzeugs der British Airways, das mich auf meinem Weg nach Moskau zunächst nach London bringen sollte. Ich würde es erst wiedersehen, wenn ich in Rußland den Koffer auspackte.

Mein anderes Manuskript jedoch, das Omega, bescheidene einhundertachtzig Seiten stark, die ich erst vor kurzem geschrieben hatte, so daß ich noch nicht dazu gekommen war, sie auf Mikrofilm zu übertragen, lagen noch als Manuskript in der Aktentasche unter meinem Sitz. Nachdem ich die ersten hundert Minuten des Flugs in einer Art Vorhölle, das heißt in der mittleren Sitzreihe der Economy Class zugebracht hatte und allein bei dem Gedanken an das Umsteigen in ein anderes Flugzeug, vor allem aber an die Ankunft in Moskau in Schweiß ausgebrochen war – wußte ich nun nicht mehr, weshalb ich mich auf dieses Unternehmen eingelassen hatte. Wie ein von giftigem Sprühnebel betäubtes Insekt kauerte ich bei zurückgeklappter Lehne in dem engen Touristensessel in der Economy Class und las die ersten vierzehn Seiten des Omega-Manuskripts noch einmal. Ich befand mich in diesem Zustand der Benommenheit, in dem die Beine zu schwer werden, als daß man sie bewegen könnte. Meine Nerven zuckten pausenlos wie Signallampen in einem elektronischen Spiel, und Übelkeit stieg in mir auf.

Da es noch ein paar Stunden bis zur Ankunft in London waren, las ich auch den Rest von Omega, alle hundertsechsundsechzig Seiten. Dann zerriß ich all diese Blätter und ließ sie im Klo verschwinden – jedenfalls so viele, wie mit den begrenzten technischen Möglichkeiten einer Bordtoilette von British Airways zu vernichten waren. Den Rest bewahrte ich mir für die robusteren Schlünde der Herrentoiletten in Heathrow auf. Als ich mir vorstellte, wie diese Papierfetzen im au/schäumenden Abflußloch einer überquellenden Kloschüssel herumwirbelten, wurde mir so elend, daß ich mich fast übergeben hätte. Es war der Schmerz über den Verlust, der mir fast den Verstand raubte. Ein volles Jahr – die vergangenen zwölf Monate – hatte ich mit der Arbeit an Omega zugebracht. Es war das einzige Zeugnis meines monatelangen inneren Aufruhrs. Ich hatte Omega während der fortschreitenden Arbeit am Manuskript wohl an die hundertmal durchgelesen, Seite für Seite, und nun las ich es zum letzten Mal. Ich sagte Lebewohl zu einem Manuskript, das mich durch Erinnerungen an einige der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens begleitet hatte. Bald, in ein paar Stunden, würde ich das Ganze wegwerfen, würde ich einen zerrissenen Absatz nach dem anderen, nur noch zerknitterte Papierfetzen, durch Abflußrohre spülen. Wenn ich mich auch nicht zu betrinken wagte, bestellte ich trotzdem bei der Stewardess einen Scotch. Ich hob mein Glas auf die Reste von Omega und stürzte es mit einem Schluck hinunter.

OMEGA 2

Damals in jener mondlosen Nacht im März, als ich zur Keep zurückfuhr, hatte ich die Straße von Bath nach Belfast genommen, die Straße, die an Camden vorbeiführt. Über allen Buchten hing der Nebel wie ein Leichentuch, und er verhüllte alles, selbst das lange, felsige Schelf vor der Küste, an dem in früherer Zeit die Segelschiffe zerschellt waren. Als ich überhaupt nichts mehr erkennen konnte, wollte ich den Wagen schon an den Straßenrand fahren; doch dann würde ich wieder dieses traurige Knirschen der Bojen hören. Die Stille des Nebels würde mich umfangen, eine Stille, in der man den Schrei eines ertrinkenden Seemanns zu hören glaubt. Man muß von Sinnen sein, wenn man in einer solchen Nacht die Küstenstraße nimmt!

Hinter Camden kam ein Wind auf, der Nebel verzog sich, und bald wurde die Fahrt noch schlimmer. Mit dem Wetterumschwung setzte eisiger Regen ein. In manchen Kurven hatte er die Straße mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Als ich ins Schleudern geriet, sangen meine Reifen wie ein Kirchenchor zwischen tausend Teufeln. Dann und wann kam ich an ein paar Häusern mit verschlossenen Fensterläden vorbei, und jede der wenigen Ampeln wirkte auf mich wie ein Leuchtturm auf einen Seefahrer. Leere Sommerhäuser standen unheimlich wie Grabkreuze da und klagten mich an.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ich hatte betrogen, und nun schien die Straße mich betrügen zu wollen. Erst war sie griffig, dann verwandelte sie sich in einen Spiegel. Ich lenkte den Wagen mit den Fingerspitzen, und es kam mir in den Sinn, daß das Lügen eigentlich eine Kunst war und daß große Lügen große Kunst sein mußten. Der größte Lügner im Land aber mußte der Eiskönig sein, der diese Kurven nach Belieben verwandelte.

Meine Geliebte war in Bath, hinter mir, und meine Frau erwartete mich nahe der Insel Mount Desert. Der Eiskönig mußte mich inspiriert haben. Ich will Ihnen die Geschichte ersparen, die ich Kittredge erzählt habe von kleineren Geschäften, die mich bis zum Abend in Portland aufgehalten hätten, so daß ich erst spät nach Mount Desert gekommen sei. Nein, meine Geschäfte hatte ich in Bath erledigt und in den offenen Armen einer Frau. Genaugenommen hatte sie, verglichen mit meiner Lebensgefährtin, nicht viel zu bieten. Die Frau in Bath war ganz passabel, meine Frau eine Schönheit. Chloe war ein fröhliches Wesen, Kittredge aber – auch wenn es dünkelhaft klingen mag – eine Dame. Kittredge und ich sind einander sehr ähnlich, obwohl wir nur Cousin und Cousine dritten Grades sind – sogar unsere Nasen sind annähernd gleich. Chloe dagegen ist so gewöhnlich wie Bratensoße und schmeckt genauso herzhaft. Drall und freizügig mit ihren Reizen, arbeitete sie im Sommer als Serviererin in einem Restaurant, das einem Griechen gehörte. Einmal in der Woche, wenn die Chefin ihren freien Tag hatte, durfte Chloe sie vertreten, und darauf war sie stolz. Ich steckte ihr hier und da ein bißchen Geld zu. Andere Männer taten das vielleicht auch, doch ich wußte nichts davon, und es war mir auch gleichgültig. Sie war wie eine Mahlzeit, die ich ein-, zweimal im Monat mit Vergnügen genoß. Ich weiß nicht, ob ich sie öfter aufgesucht hätte, wenn es nicht so weit gewesen wäre, aber Bath liegt über hundert Meilen von der Kehrseite – unser Begriff für den landwärts gelegenen Strand – von Mount Desert entfernt, und so traf ich mich eben mit ihr, wenn es sich gerade ergab.

Eine solche Liaison, die man ab und an pflegt, hat durchaus etwas Kultiviertes. Hätte es sich um die Ehe eines anderen und nicht um meine eigene gehandelt, so würde ich erklärt haben, ein so ausgewogenes Doppelleben sei geradezu ideal, und beide Ehepartner könnten davon nur profitieren. Man sei dadurch fähig, eine tiefe, zärtliche Liebe zu seiner Ehefrau zu bewahren und sich dennoch frei zu fühlen. Durch meinen Beruf waren mir solche Weisheiten ja vertraut. Hatten wir nicht zu Anfang von Gespenstern gesprochen? Mein Vater hatte in diesem Metier angefangen, und ich setzte die Tradition fort: Geheimdienste haben viel mit Gespenstern zu tun – in jeder Hinsicht. Wir suchen in die Abgründe der Seelen zu blicken. Einmal haben wir beim CIA eine tiefenpsychologische Untersuchung vorgenommen und zu unserem Entsetzen festgestellt, daß ein Drittel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unsere Sicherheitsprüfung bestanden hatten, so in sich gespalten waren, daß sie bei entsprechender psychologischer Vorbereitung ohne weiteres hätten »umgedreht« werden können. »Potentielle Überläufer gibt es mindestens ebenso viele wie potentielle Alkoholiker!« So lautete die zynische Faustregel, die wir als Ergebnis der Untersuchung aufstellten.

Nach so vielen arbeitsreichen Jahren mit unvollkommenen Menschen hatte ich gelernt, ein wenig über die Fehler anderer Leute hinwegzusehen, solange sie nicht allzu gefährlich waren. Trotzdem erfüllte mich mein eigener Verrat am Sakrament der Ehe mit tiefer Niedergeschlagenheit. An diesem Abend auf der nebligen, vereisten Küstenstraße hatte ich das Gefühl, bald am Ende zu sein. Ich fühlte mich in unsichtbare und unlösbare Widersprüche verstrickt. Mir schien – entgegen aller Logik –, daß nur mein Tod andere vor einem fürchterlichen Schicksal bewahren konnte! Das ist schwer zu verstehen. Ich glaube, daß etwas von der Logik des Selbstmords in diesen Gedanken steckte. Kittredge, die einen scharfen Verstand hat und die Dinge oft sehr treffend ausdrückt, sagte einmal, einen Selbstmord könne man besser verstehen, wenn man annimmt, daß es nicht nur einen Grund, sondern zwei Gründe dafür gegeben hat: Menschen können sich umbringen, weil sie so tief gedemütigt wurden, daß sie jede Selbstachtung verloren haben, sie können ihren Selbstmord aber auch als ehrenvollen Ausweg aus einer sonst ausweglosen Situation sehen. Manche Menschen, sagte Kittredge, werden von bösen Geistern so tief in den Sumpf gezogen, daß sie glauben, sie könnten durch ihre Selbsttötung ganze Heerscharen von ihnen vernichten. Es ist, als ob man eine von Termiten zerstörte Scheune niederbrennt, um die Schädlinge zu beseitigen, ehe sie auch noch das Haus zerfressen.

Für den Mord gilt so ziemlich dasselbe: Er ist eine abscheuliche Tat, die nichtsdestoweniger patriotisch sein kann. Über dieses Thema jedoch haben Kittredge und ich nicht so lange geredet. Es war eine peinliche Familienangelegenheit. Mein Vater und ich hatten immerhin an die drei Jahre nach Möglichkeiten gesucht, Fidel Castro zu ermorden.

Zurück zu meiner Fahrt auf der vereisten Straße. Während mich mein Selbsterhaltungstrieb zu vorsichtiger Fahrweise zwang, wollte mich mein Schuldgefühl über die Klippen stürzen. Ich hatte mehr als nur ein Ehegelübde gebrochen. Ich hatte meine Liebe verraten. Kittredge und ich waren ein traumhaftes Liebespaar, womit ich nicht meine, daß wir jede Nacht bumsten, bis die Hunde heulten. Nein, ich meine es wörtlich. Wir waren ein traumhaftes Liebespaar. Unsere Ehe stand wie ein schöner Traum am Ende einer jener nur allzu realen Geschichten, die uns zeigen, was eine Tragödie ist. Wenn ich in so hohen Tönen von so persönlichen Dingen singe, kommt es daher, daß ich es nicht gewöhnt bin, unsere Liebe zu beschreiben. Normalerweise kann ich nicht davon sprechen. Glückseligkeit und Verzweiflung fließen oft aus derselben Wunde.

Ich will die Tatsachen nennen. Sie sind brutal, aber besser als sentimentale Vernebelung. Kittredge hat nur zwei Männer in ihrem Leben gehabt. Ihren ersten Mann und mich. Wir begannen unsere Affäre, während sie noch mit ihm verheiratet war. Einige Zeit, nachdem sie angefangen hatte, ihn zu betrügen – er gehörte zu den Männern, die es »betrügen« nennen –, stürzte er beim Klettern in den Felsen ab und brach sich das Rückgrat. Er war vorangeklettert, und als er fiel, riß er den Jungen, der unter ihm am Seil sicherte, mit in die Tiefe. Der Haken wurde aus dem Felsen gerissen. Christopher, der Junge, der bei diesem Sturz ums Leben kam, war ihr einziges Kind.

Kittredge konnte ihrem Mann nie verzeihen. Christopher war sechzehn und kein geübter Bergsteiger. Man hätte ihn nicht mit auf diese schwierige Klettertour nehmen dürfen. Aber ebensowenig wie ihrem Mann konnte sie sich selbst verzeihen. Unsere Affäre überforderte sie. Sie beerdigte Christopher und kümmerte sich um ihren Mann während der ersten fünfzehn Wochen, die er im Krankenhaus verbrachte. Bald nach seiner Entlassung setzte sich Kittredge eines Abends ins warme Wasser ihrer Badewanne und schnitt sich mit einem scharfen Küchenmesser die Pulsadern auf, um zu sterben. Aber sie wurde gerettet.

Von mir. Sie hatte seit dem Tag des Unglücks jede Verbindung mit mir abgebrochen. Die fürchterliche Nachricht hatte uns voneinander getrennt, als wäre zwischen zwei Nachbarhäusern ein breiter Spalt aufgerissen. Es war, als hätte Gott selbst gesprochen. Sie sagte mir, sie wolle mich nicht sehen, und ich hielt mich daran. Doch am Abend ihres Selbstmordversuchs war ich, erfüllt von zunehmenden Ängsten, von Washington nach Boston und von dort nach Bangor geflogen und hatte mir einen Wagen gemietet, um nach Mount Desert zu fahren. Ich hörte sie nach mir schreien aus Höhlen, die so tief in ihr verborgen lagen, daß sie sich selbst ihrer Stimme wohl nie bewußt geworden ist. Ich kam bei ihrem Haus an, in dem es ganz still war, und stieg durch ein Fenster ein. Hinten im Erdgeschoß war der Invalide mit seiner Pflegerin, im ersten Stock seine Frau. Sie schlief, vermutlich in einem weitentfernten Bett. Da ich ihre Badezimmertür verschlossen fand und sie nicht antwortete, brach ich die Tür auf. Zehn Minuten später wäre es zu spät gewesen.

Unsere Affäre begann von neuem, jetzt gab es keine Fragen mehr. Von der Tragödie erschüttert, vom Verlust bestätigt, richteten wir uns mit unseren Gedanken aneinander auf und liebten uns sehr. Die Mormonen glauben, daß man eine Ehe nicht nur für dieses Leben eingeht, sondern für die Ewigkeit, wenn man den Bund im Tempel schließt. Ich bin kein Mormone, aber selbst mit diesem hohen Maßstab gemessen war es echte Liebe. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Gegenwart meiner Frau mich jemals langweilen würde, weder diesseits noch jenseits des Grabes. Die Zeit, die ich mit Kittredge verbrachte, würde nie enden; andere Menschen störten uns, als kämen sie mit einem schrillenden Wecker in unser Zimmer.

Dabei hatte es eher banal angefangen. Vor dem Unglück an der Felswand hatten wir eben Gefallen aneinander gefunden, und wenn wir uns als Vetter und Cousine küßten, verlieh der prickelnde Beigeschmack des Inzests unserer Beziehung zusätzlichen Reiz. Aber es war uns ernst damit – auch wenn wir wohl nicht gerade bereit gewesen wären, füreinander zu sterben – quasi in Fortsetzung der Pechsträhne. Ihr Ehemann, Hugh Montague – »Harlot« genannt, also »Hure« nach altem Sprachgebrauch und »Gauner« nach noch älterem –, stand schließlich meinem Herzen fast näher als mein eigenes, armseliges Ich. Er war mein Mentor, mein Pate, mein Ersatzvater und mein Boss gewesen. Ich war damals neununddreißig und fühlte mich in seiner Gegenwart nur halb so alt. Als ich mit seiner Frau schlief, kam ich mir vor wie ein Einsiedlerkrebs, der in ein prachtvolles Schneckenhaus umgezogen ist und darauf wartet, daß er hinausgeworfen wird.

Wie jeder Liebhaber in einer so schwerwiegenden neuen Affäre fragte auch ich nicht nach den Motiven der Geliebten. Es genügte, daß sie mich gewollt hatte. Aber jetzt, nach zwölf Jahren mit Kittredge, davon zehn als ihr Ehemann, kann ich auch sagen warum. Mit einer guten Frau verheiratet zu sein, heißt mit angenehmen Überraschungen zu leben. Ich liebe Kittredge wegen ihrer Schönheit und – ich will es gestehen – ihrer tiefen Weisheit. Wir wissen beide, daß in ihren Gedanken mehr Tiefe ist als in meinen. Dennoch entdecke ich immer wieder neue, erstaunliche Facetten an ihrem scharfsinnigen Geist, die ich ihrer Herkunft und Bildung zuschreibe. Sie hat keine gewöhnliche Karriere gemacht, und ich kenne auch nicht viele Radcliffe-Absolventinnen, die zum CIA gegangen sind.

In jener Nacht vor zwölf Jahren, in der wir uns zum erstenmal liebten, huldigte ich ihr auf jene Art mit Lippen und Zunge, die viele unserer Collegeabsolventen beim Liebesakt bevorzugen. Kittredge, die ein paar ihr bis dahin völlig unbekannte Schauer in der Wölbung zwischen ihren Schenkeln verspürte, seufzte: »Darauf habe ich all die Jahre gewartet!« Bald schon flüsterte sie mir lustvoll zu, ich sei so brünstig wie ein Faun und führe sie zu bukolischen Seligkeiten.

Sie sah in unserer ersten Nacht nicht älter aus als siebenundzwanzig und war doch schon achtzehn von ihren einundvierzig Jahren verheiratet. Hugh Tremont Montague sei, so sagte sie mir (und wer könnte an ihren Worten zweifeln?), der einzige Mann, den sie je gekannt habe. Harlot war überdies siebzehn Jahre älter als sie und bekleidete eine sehr hohe Position. Da eine seiner Aufgaben darin bestand, die schwierigsten Doppelagenten zu führen, hatte er ein feineres Gespür für die Lügen der Menschen entwickelt, und er durchschaute sie, lange bevor sie ihn durchschaut hatten. Inzwischen traute er niemandem mehr, und natürlich konnte auch niemand je sicher sein, daß Harlot selbst die Wahrheit sagte. Kittredge klagte damals immer wieder, daß sie nicht beurteilen könne, ob er ein Vorbild an ehelicher Treue, ein Windhund oder gar ein heimlicher Päderast sei. Ich glaube, sie fing ihre Affäre mit mir eigentlich nur an (wenn ich es einmal von der negativen Seite ansehe), weil sie ausprobieren wollte, ob auch sie ihm etwas vormachen konnte.

Das positive Element kam später. Ihre Liebe wurde nicht deshalb tiefer, weil ich ihr das Leben gerettet, sondern weil ich so einfühlsam auf ihre Verzweiflung reagiert hatte. Ich bin inzwischen weise genug, um zu wissen, daß das für fast alle von uns genug ist. Unsere Affäre begann von neuem, und diesmal führten wir unsere Liebe zur Vollendung. Kittredge war eine Frau, für die Liebe ohne Ehe nicht vorstellbar war. Die Liebe war ein Stand der Gnade, der durch das Sakrament geheiligt werden mußte.

Kittredge fühlte sich deshalb verpflichtet, es ihrem Mann zu sagen. Wir gingen zusammen zu Hugh Tremont Montague, und er willigte in die Scheidung ein. Es war die wohl erbärmlichste Stunde meines Lebens. Ich fürchtete mich vor Harlot. Ich hatte die wohlbegründete Angst, die man vor einem Mann hat, der über die Macht verfügt, Menschen liquidieren zu lassen, die einen, seiner Ansicht nach, tödlichen Fehler gemacht haben. Vor dem Unfall war er groß und schlank gewesen, ein Mann in den besten Jahren, ein Mann, dessen Wort Gesetz war, und auch als Krüppel hatte er sich seine hoheitsvolle Haltung bewahrt. Das war aber nicht das Schlimmste. Denn meine Verehrung für ihn war fast noch größer als meine Furcht. Er war nicht nur mein Boss, er war für mich auch ein Vorbild an Machismo gewesen – der einzigen Gesinnung, die amerikanische Männer und Jungen respektieren. Von ihm konnte man lernen, wie man auch in schwierigsten Situationen Haltung bewahrt. Deshalb ist die Stunde, die Kittredge und ich zu beiden Seiten seines Rollstuhls verbrachten, eine Wunde im Fleisch meiner Erinnerung. Denn er weinte, bevor wir noch ausgeredet hatten.

Ich konnte es nicht fassen. Kittredge sagte mir später, es sei das einzige Mal gewesen, daß sie ihn habe weinen sehen. Hughs Schultern bebten, das Schluchzen schüttelte ihn, und nur seine gelähmten Beine lagen tot und unbeweglich da. Er war nicht mehr als ein verzweifelter Krüppel. Ich sehe ihn noch immer vor mir, und wenn ich diese furchtbare Erinnerung mit einer Wunde vergleiche, so muß ich sagen, daß die Narbe nicht verblaßt ist. Sie wurde eher noch dunkler. Harlots Schmerz hat uns dazu verurteilt, eine große Liebe aufrechtzuerhalten.

Kittredge war voller Zuversicht. An die Existenz des Paranormalen zu glauben, war für sie wie ein Pakt mit dem Teufel. Wir waren auf Erden, um gerichtet zu werden. Also würde unsere Ehe an den Höhen gemessen werden, zu denen sie sich aus dem Kerker ihres niedrigen Beginns zu heben vermochte. Ich schloß mich ihrem Glauben an. Für uns war es die einzig mögliche Art von Religion.

Wie hatte ich also die vergangenen Stunden dieses grauen Märztages damit verbringen können, auf Busen und Bauch von Chloe herumzurutschen? Die Küsse meiner Geliebten waren wie Sahnebonbons, weich, klebrig und unendlich feucht. Ich war sicher, daß Chloe ihre Freunde schon seit ihrer Schulzeit von beiden Seiten mit dem Mund geliebt hatte. Ihre Spalte war gut geschmiert, und ihre Augen leuchteten nur, wenn sie erregt war. Sobald wir etwas nachließen, fing sie an, mit der glücklichsten Stimme der Welt über jeden Unsinn zu reden, der ihr in den Sinn kam. Am liebsten erzählte sie von Wohnwagen (sie lebte in einem), wie leicht sie doch in Brand gerieten, und von den Lastwagenfahrern, die bei ihr Kaffee bestellten und dabei so ungeheuer selbstsicher wirkten, als ob sie ihre Gewerkschaft führen könnten. Dann erzählte sie Anekdoten von alten Freunden, die sie gelegentlich wiedersah. »›Junge‹, dachte ich, ›was hat der sich alles angefressen! Fett ist der geworden!‹ Dann mußte ich mich selbst fragen: ›Chloe, ist dein Hintern weniger dick?‹ Ich hab’s auf Bath geschoben. Hier gibt es im Winter nichts anderes zu tun als zu essen und sich um gierige Kerle wie dich zu kümmern.« Darauf gab sie mir einen aufmunternden Klaps auf die Hinterbacken wie einem Teamkameraden beim Baseball, und schon legten wir wieder los. Sie befriedigte ganz einfach meine heimliche Sehnsucht nach dem Gewöhnlichen. Und so rutschte ich fröhlich wie ein Waldschrat auf ihr herum.

Ich hatte sie außerhalb der Saison in dem großen Restaurant kennengelernt, in dem sie arbeitete. Es war ein ruhiger Abend, und ich saß nicht nur allein an meinem Tisch, sondern war der einzige Gast in diesem Teil des Restaurants. Sie bediente mich ruhig und freundlich und offenkundig ernsthaft darum besorgt, daß mir die Mahlzeit auch schmeckte. Sie war dabei von einer robusten Mütterlichkeit, denn sie wußte, daß man alle guten Gefühle zu Geld machen kann.

Als ich den Garnelencocktail bestellte, schüttelte sie den Kopf. »Lassen Sie mal die Garnelen sein«, sagte sie. »Die sind dreimal gestorben und wieder auferstanden. Nehmen Sie die Muschelsuppe.« Das tat ich. Sie führte mich sachkundig durch das ganze Menü und sorgte auch für die richtigen Getränke. Sie tat das alles ohne viel Aufhebens – sie störte mich nicht in meinen Gedanken, ich sie nicht in den ihren, und daneben redeten wir über das, was uns gerade einfiel. Es gibt nicht viele Serviererinnen, die soviel Freude an einem einsamen Gast haben wie Chloe, und ich stellte nach einer Weile mit Überraschung fest, daß ich mich in Gegenwart dieser Zufallsbekanntschaft – eigentlich nicht mein Geschmack – außerordentlich wohl fühlte.

So machte ich an einem anderen ruhigen Abend wieder bei dem Restaurant Station. Sie setzte sich zu mir, leistete mir beim Nachtisch und Kaffee Gesellschaft und erzählte ganz unbefangen aus ihrem Leben. Sie hatte zwei Söhne von zwanzig und einundzwanzig; sie wohnten in Manchester, New Hampshire, und arbeiteten in der Fabrik. Sie selbst sei achtunddreißig, und ihr Mann hätte sich vor fünf Jahren von ihr getrennt, nachdem er sie in flagranti ertappt habe: »Er hatte recht. Ich habe damals gesoffen, und einem Säufer kann man nicht trauen.« Sie lachte gutgelaunt über ihren losen Lebenswandel.

Schließlich gingen wir zu ihrem Wohnwagen. Ich glaube, ich habe in meinem Beruf eine wichtige Fähigkeit entwickelt. Ich kann mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt. Ich kann dann alles beiseite schieben, Büroklatsch, bürokratische Behinderungen, Vertrauensbruch – und sogar die Tatsache, daß ich im Begriff war, Kittredge erstmals zu betrügen. Meine Manneskraft scheint mir ziemlich durchschnittlich. Ich habe einen guten Soldaten, einen Schwanz, der so empfindsam ist wie jeder andere. Er richtet sich auf, wenn man ihn ermuntert, und erschlafft, wenn ihn Schuldgefühle überkommen. So ist es ein Beweis für meine Konzentrationsfähigkeit und für Chloes erregende Nacktheit – ein Weib wie sie sollte sich nur nackt und prall zeigen –, daß der gute Junge da unten in Anbetracht der Einmaligkeit und Größe meines Vergehens nur gelegentlich ein wenig abschlaffte. Ich hungerte wirklich nach dem, was Chloe mir zu bieten hatte.

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Der Liebesakt mit Kittredge war – ich benutze das Wort noch einmal – ein Sakrament. Ich habe Hemmungen, darüber zu sprechen, während ich ohne weiteres bis ins Detail erzählen kann, wie es mit Chloe war; wir waren wie Kinder im Heuschober; Chloe roch sogar nach Erde und Stroh. Aber wenn ich Kittredge umarmte, war es stets eine Zeremonie.

Ich will damit nicht sagen, daß wir feierlich oder gemäßigt waren. Wenn sich kein echtes Verlangen einstellte, liebten wir uns manchmal einen Monat lang nicht. Aber wenn es kam, dann kam es mit Macht. Nach all den gemeinsamen Jahren flogen wir immer noch aufeinander. Kittredge war in der Tat so wild wie eines von diesen Waldtieren mit Klauen, scharfen Zähnen und feinem Pelz, die man nie richtig zähmen kann, und es gab Zeiten, da fühlte ich mich wie ein Kater auf einem Waschbär. Meine Zunge (einst der Schlüssel zur Seligkeit) spielte nun selten eine Rolle bei ihren Gelüsten – vielmehr diente unser Akt dem Gleichklang der Seelen: Haß zu Haß, Liebe zu Liebe. Ich schaute Gott, wenn der Blitz loderte und unsere aufgewühlten Seelen ineinanderzuckten. Dann wieder war es reine Zärtlichkeit und das süßeste, geheimste Wissen darum, wie wunderbar wir füreinander waren. Aber es ähnelte nicht im mindesten einem Akt mit Chloe. Mit Chloe war es ein trunkenes, grunzendes Sich-Wälzen im Schlamm, und wenn wir wieder zu uns kamen, hatten wir ein animalisches Gefühl, so schleimig und so üppig wie die Erde. Chloe konnte mir Blumen im Arsch wachsen lassen.

Als ich im Auto saß, das Herz in der Hose und das ganze Eis der Straße in meinen eiskalten Fingern, wußte ich wieder ganz genau, was ich Chloe verdankte: Gleichheit. Wir hatten nichts miteinander gemein als unsere Gleichheit. Wenn sie uns einmal zum Richtblock führten, würden wir Hand in Hand gehen, wir waren Spielgefährten. Unsere Körper waren geradezu füreinander geschaffen, und wir ergänzten uns so gut wie Karotten und Erbsen in ein und derselben Suppe. Ich hatte nie eine Frau gekannt, die mir körperlich so gleich war wie Chloe.

Kittredge hingegen war die frühere Gefährtin eines edlen, jetzt aber verkrüppelten Ritters. Ich kam mir vor wie ein Schildknappe in einer mittelalterlichen Romanze. Mein Ritter und Herr war fort auf seinen Kreuzzügen, und so unterhielt ich die Dame. Mochten wir auch einen Weg gefunden haben, das Schloß ihres Keuschheitsgürtels zu öffnen, so mußte ich stets die Stufen zu ihr emporsteigen. Wir mochten Blitze und Sterne sehen – das Schlafzimmer blieb ihre Kemenate. Unsere Ekstase war so herb wie das Leuchten des Meeres vor Maine. In ihren Armen sah ich für Sekunden den Himmel – doch nie die Schöpfung. Mit Chloe kam ich mir vor wie einer ihrer Lastwagenfahrer.

Auf einer so schrecklichen nächtlichen Fahrt im Eisregen kann man nicht lange meditieren. Statt dessen zuckten Gedanken vor mir auf, und in diesen Visionen sah ich Chloe als meine Ehefrau und Kittredge als meine Dame. In den meisten Affären kann einen ein Kuß an viele Lippen erinnern, die man gekannt hat. Es erleichtert die Ehe, wenn man eine Frau hat, die einen an andere Frauen erinnert. Manche Ehe ist nur eine Sublimierung von Orgien, denen man sich niemals hingegeben hat. Kittredge war einzig. Wenn ich sie nahm, gab es nur sie und keinen Gedanken an andere.

Einmal, etwa einen Monat nach unserer Eheschließung, sagte sie zu mir: »Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Gelübde zu brechen. Ich habe immer das Gefühl, das ganze Universum wird von ein paar feierlichen Schwüren zusammengehalten. Hugh war furchtbar. Nie konntest du seinen Worten trauen. Ich sollt’s dir nicht sagen, Liebling, aber als es mit uns anfing, war das eine große Leistung von mir. Ich glaube, es war das Mutigste, das ich je getan habe.«

»Bitte erspare mir solche Mutproben«, sagte ich. Es war keine Spur einer Drohung in meinen Worten, und am Beben meiner Stimme mochte sie erkennen, daß ich förmlich um eine Antwort bettelte.

»Das werde ich niemals tun.« Sie hatte dabei den Blick eines Engels, und nur ein feiner Nebel verschleierte das klare Blau ihrer Augen. Philosophin, die sie war, versuchte sie immer vorausschauend zu denken. »Nein«, sagte sie. »Geben wir einander ein Versprechen: Absolute Aufrichtigkeit zwischen uns. Wenn einer von uns irgendwas mit einem anderen anfängt, muß er es sagen.«

»Ich verspreche es«, sagte ich.

»Mein Gott«, sagte sie. »Bei Hugh wußte ich nie, woran ich war. Ist das einer der Gründe dafür, daß er an diesem fürchterlichen Namen Harlot hing?« Sie schwieg. Harlot – was auch immer er in diesem Augenblick tat – saß jetzt im Rollstuhl. »Armer alter Gobby«, seufzte sie. Alles Mitgefühl, das sie noch für ihn empfand, war in diesem Spitznamen enthalten.

»Warum nennst du ihn Gobby?« Bei Kittredge gab es für alles einen richtigen Augenblick, und ich hatte noch nie danach gefragt.

»›Gottes altes Biest‹. So heißt er.«

»… einer seiner Spitznamen.«

»Ach, Liebling, ich gebe den Leuten so gerne Namen. Jedenfalls Leuten, die ich mag. Das ist die einzige Promiskuität, die uns gestattet ist: daß wir einander viele Namen geben.«

Mit den Jahren hatte ich ein paar davon kennengelernt. Hugh trug einen eleganten kleinen, sorgfältig gestutzten, grau melierten Schnurrbart, wie er zu einem britischen Kavallerieoberst gehört. Kittredge nannte ihn deshalb »Trimmsky«. »Genauso schlau wie Lew Trotzki«, sagte sie, »aber sein Schnurrbart ist zehnmal besser getrimmt.« Später fand ich heraus, daß der Name – in diesem Fall – nicht von ihr stammte. Allen Dulles hatte ihn nämlich so getauft, als Hugh während des Kriegs in London für den OSS arbeitete. Offensichtlich hatte Dulles den Spitznamen Kittredge gegenüber bei ihrer Hochzeit erwähnt. Kittredge war ganz verrückt nach Dulles gewesen, nachdem sie ihm zum erstenmal bei einer Gartenparty in Georgetown begegnet war, zu der ihre Eltern sie während der Osterferien in ihrem zweiten Studienjahr am Radcliffe College mitgenommen hatten – ach die armen Harvard-Leute, die Kittredge den Hof zu machen suchten, nachdem ein Allen Dulles ihr zum Abschied die Wange geküßt hatte!

Nach der Hochzeit wurde es ihr zur Gewohnheit, Hugh Tremont Montague »Trimmsky« zu nennen. Umgekehrt gab auch er ihr Spitznamen: einer war »Ketchum«, nach Ketchum, Idaho. Kittredges voller Name lautete Hadley Kittredge Gardiner. Der erste Vorname war aus Verehrung für Hadley Richardson, Hemingways erste Frau, gewählt worden, die Kittredges Vater, Rodman Knowles Gardiner, in den zwanziger Jahren in Paris getroffen hatte und von der er meinte, sie sei die netteste Frau, der er je begegnet war.

Ich hatte einige Zeit gebraucht, bis ich ein paar Metamorphosen der Namen meiner geliebten Frau kennenlernte. Um die unvermeidliche Verballhornung in »Ketchup« zu vermeiden, wurde »Ketchum« zugunsten von »Red« aufgegeben. Der Name blieb eine Zeitlang an ihr haften, denn er paßte wie die Faust aufs Auge, da Kittredges Haar rabenschwarz war und ihre Haut so weiß wie Carrara-Marmor. Ich erlebte auch alle Qualen eines eifersüchtigen Liebhabers, wenn Kittredge gestand, daß Montague sie in besonders heißen Nächten »Hotsky« zu nennen pflegte. Wechselten die Leute im Geheimdienst ihre Namen so rasch wie andere ihre Hemden?

Auf jeden Fall war Gobby das nacheheliche Pseudonym.

»Ich fand es bedrückend, daß ich mich auf Gobbys Aufrichtigkeit nicht verlassen konnte«, sagte Kittredge. »Und du, Liebling, versprichst mir, daß wir ehrlich zueinander sein werden?«

»Das werden wir sein.«

Mein Wagen begann zu schleudern. Die Wand des Kiefernwaldes auf der anderen Straßenseite kam auf mich zu, doch die Kühlerhaube drehte weiter ab, als ich das Lenkrad herumriß, worauf der Wagen und ich plötzlich quer über die Straße auf die andere Waldseite zurasten. Einen Augenblick dachte ich, ich sei tot und ein Teufel geworden, denn mein Kopf schien umgekehrt auf meinen Schultern zu sitzen: Ich sah die Straße zurück bis zu der Biegung, um die ich gerade gekommen war. Dann, so langsam, als befände ich mich in einem Strudel auf dem Meer, begann die Straße sich zu drehen. Es wollte und wollte nicht aufhören. Ich kam mir vor wie auf einem Plattenteller. Plötzlich bewegten sich der Wagen und ich wieder vorwärts. Der Wagen war um neunzig Grad nach rechts ausgebrochen, hatte sich dann nach links einmal um die eigene Achse gedreht – nein, noch um neunzig Grad mehr –, sodaß ich schließlich wieder geradeaus fuhr. Meine Angst war verschwunden. Ich hatte das Gefühl, als sei ich aus einem Fenster im zehnten Stock gefallen, im Sprungtuch der Feuerwehr gelandet und stolperte jetzt mit glühenden Wangen und glasigen Augen durch die Gegend. »Millionen Wesen«, sagte ich laut zu dem leeren Wagen – sagte es tatsächlich laut! –, »wandeln unerkannt auf Erden, ob wir nun wachen oder schlafen«, worauf ich, während ich mit nur fünfzig Stundenkilometern die Straße entlangschlich, wie um das Zitat zu belegen »Milton, Das verlorene Paradies«, hinzufügte. Es war erst ein paar Stunden her, daß Chloe und ich von ihrem Bett im Trailer am Straßenrand von Bath aufgestanden und zu einem Abschiedstrunk in eine schäbige Cocktailbar mit Löchern in den roten Kunstlederpolstern der Sitzecken gegangen waren. Gleich nachdem unsere Getränke gekommen waren, hatte ich im Gespräch eines davon umgestoßen, und das Glas war zu unerträglich kleinen Splittern zersprungen, als ob nichts mehr zusammenhielte. Daraufhin waren Chloe und ich in eine untypisch trübe Stimmung verfallen, als wir voneinander Abschied nahmen. Das Unbehagen an der Untreue war fast mit Händen zu greifen.

Jetzt sann ich über diese Millionen von Wesen nach, die unerkannt auf Erden wandeln. Flüsterten sie Kittredge etwas ins Ohr, wenn sie schlief, genauso wie sie mich einst gerufen hatten, als sie sich die Pulsadern aufschnitt? Wer leitete die Spionagesysteme im Ozean der Geister? Ein Spion muß sich wie ein Laserstrahl auf einen Punkt konzentrieren können, um kein Aufsehen zu erregen. Wie kann ein Agent Woche für Woche, jahraus jahrein Kopien von geheimen Papieren ziehen und wie kann er sich von der Angst befreien, daß ein böser Geist dem Mann, der auf ihn angesetzt ist, im Schlaf einflüstert, wo er ihn fassen kann?

Ich kam an einem Parkplatz mit einer Telefonzelle vorbei und hielt an. Ich war verstört und mußte unbedingt mit Kittredge sprechen. Plötzlich schien es mir, als wären wir durch alle erdenklichen Barrieren voneinander getrennt, wenn ich sie nicht sofort erreichte.

Was könnte eindringlicher an die nächste Eiszeit erinnern als eine verrostete, pockennarbige Telefonzelle an einer überfrorenen Landstraße in Maine? Ich mußte die Vermittlung aufwecken, und ihr fiel es schwer, die Nummer meiner Kreditkarte zu wiederholen. Ich stampfte mit den Füßen, um mich zu wärmen, bis sich die Maschinerie von Bell Telephone endlich in Bewegung setzte. Das Telefon läutete vier-, fünf-, sechsmal, dann durchfuhr mich ein zärtliches Gefühl beim Klang von Kittredges Stimme, und ich erinnerte mich daran, daß mein Herz einmal einen ebensolchen Freudensprung getan hatte, als ich in einer dunklen Nacht allein in einem Kanu in Vermont saß und mit einem Mal jede einzelne Welle in dem schwarzen Wasser des Teichs aufleuchtete, als ein voller Erntemond genau in der Kerbe zwischen zwei steilen runden Bergkuppen aufstieg. Damals hatte ich einen seltsamen Seelenfrieden gespürt, und genauso ließ mich nun Kittredges Stimme wieder frei atmen. Mir schien, als hätte ich sie noch nie zuvor gehört. Sage niemand, ich liebte meine Frau nicht, da ich doch nach elfjähriger Ehe noch immer ihre Wunder entdecken konnte.

Die meisten Sprechtöne gelangen durch Filter und über Ablenkplatten an mein Ohr. Ich höre, wie die Leute ihren Kehlkopf strapazieren, um Herzlichkeit oder Kälte, Rechtschaffenheit, Zuversicht, Mißbilligung oder Beifall in ihre Stimme zu legen – auch der Klang unserer Sprache kann täuschen, freilich weniger als Worte.

Kittredges Stimme kam aus ihr, wie eine Blüte sich aus der Knospe öffnet. Ihre Stimme war im Zorn genauso erstaunlich wie in der Liebe – und sie leistete sich das Wechselbad ihrer Gefühle. Nur wer meint, daß er ein unentbehrlicher Teil des Universums ist, kann es sich leisten, nicht auf den Klang seiner Stimme zu achten.

»Harry, ich bin froh, daß du anrufst. Bist du heil und gesund? Ich habe schon den ganzen Tag lauter böse Ahnungen.«

»Mir geht es gut. Aber die Straßen sind grausig. Ich bin noch nicht mal in Bucksport.«

»Ist wirklich alles in Ordnung? Deine Stimme klingt so, als ob du dir gerade den Adamsapfel abrasiert hättest.«

Ich lachte so affektiert wie ein verlegener japanischer Geschäftsmann. Sie behauptete immer, ich wäre so dunkel, groß und gutaussehend wie Gary Cooper oder Gregory Peck, wenn da nicht mein vorspringender Adamsapfel wäre. »Mir geht es gut«, sagte ich. »Ich mußte nur mit dir reden.«

»O ja, ich muß auch mit dir reden! Stell dir vor, was heute hier angekommen ist! Ein Telegramm von unserem Freund. Es ist deprimierend. Nachdem er doch so lange nett gewesen ist, scheint er jetzt völlig am Boden.« Sie sprach von Harlot.

»Hm«, sagte ich. »So schlimm kann es doch gar nicht sein. Was hat er denn geschrieben?«

»Ich erzähl’s dir später.« Sie machte eine Pause. »Harry, versprich mir etwas.«

»Ja.« Ich hörte es an ihrer Stimme. »Ja«, sagte ich. »Was sagen deine bösen Ahnungen?«

»Fahr bitte ganz vorsichtig. Heute abend kommt eine sehr hohe Flut. Ruf mich an, wenn du zur Anlegestelle kommst. Das Wasser tost jetzt schon.«

Nein, ihre Stimme verbarg nichts. Die Tonlage wechselte nach so vielen Richtungen, als ob sie in einem Boot ruderte, das gegen die Wellen ankämpft.

»Mir fallen die seltsamsten Dinge ein«, sagte sie. »Bist du gerade ins Schleudern geraten?«

»So schlimm wie noch nie«, sagte ich. Die Fenster meiner Telefonzelle waren vereist, aber mir brach der Schweiß aus. Wie nahe konnte sie mir kommen, ohne auf den Tumult meiner Gefühle zu stoßen?

»Es ist nichts passiert«, fuhr ich fort. »Ich nehme an, das schlimmste Wetter ist überstanden. So sieht es jedenfalls aus.« Ich wagte es weiterzufragen. »Hattest du noch andere seltsame Gedanken?«

»Ich bin von einer Frau besessen«, sagte sie.

Ich nickte. Ich kam mir vor wie ein Boxer, der nicht weiß, vor welcher Faust seines Herausforderers er sich mehr hüten muß. »Von einer Frau besessen?« wiederholte ich.

»Einer toten Frau«, sagte Kittredge.

Man kann sich vorstellen, wie erleichtert ich war.

»Gehört sie zur Familie?« fragte ich.

»Nein.«

Als Kittredges Mutter starb, wachte ich öfter des Nachts auf und sah sie mit dem Rücken zu mir auf ihrer Seite des Bettes sitzen und lebhaft mit der leeren Wand reden, an der sie, ohne daß es merkwürdig oder gar peinlich schien, ihre Mutter sehen konnte. (Wieweit das mit meinem – sagen wir’s so – verdrehten Traum von Augustus Farr zu tun hatte, ist hier natürlich eine berechtigte Frage.) Bei diesen früheren Anlässen war allerdings klar: Kittredge befand sich in einer Art Trance. Sie war hellwach, war sich aber meiner Gegenwart nicht bewußt. Wenn ich ihr morgens von solchen Vorkommnissen berichtete, pflegte sie entweder zu lächeln oder die Stirn zu runzeln. Mein Bericht von dem, was sie getan hatte, beunruhigte sie nicht. Es schien, als ob es im Schoß der Nacht Möglichkeiten gäbe, mit denen, die einem nahe gewesen waren, in Kontakt zu treten. Ihr Sohn Christopher war ihr freilich nie wieder erschienen, aber sein Tod war anders gewesen. Er war in den bodenlosen Abgrund der Eitelkeit seines Vaters gestürzt. Sein Ende hatte ihn für alles Irdische taub gemacht. So erklärte es sich Kittredge jedenfalls.

Kittredge hat von beiden Eltern her schottisches Hochländerblut in den Adern, und man weiß ja, wie keltisch die Hochländer sein können. Nicht alle Schotten begnügen sich damit, als Juristen oder Banker zu wirken und den presbyterianischen Gottesdienst zu besuchen; manche nehmen sich ein Cottage an der Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits. Sie blasen nicht umsonst ihre Dudelsäcke.

»Willst du mir nicht von diesem Traum erzählen?« fragte ich Kittredge jetzt.

»Harry, sie ist seit zehn Jahren tot. Ich weiß nicht, weshalb sie mich jetzt zu erreichen versucht.«

»Um wen geht es denn?«

Sie antwortete nicht direkt. »Harry«, sagte sie. »Ich habe in letzter Zeit an Howard Hunt denken müssen.«

»Howard? E. Howard Hunt?«

»Ja. Weißt du, wo er ist?«

»Nicht genau. Ich nehme an, daß er irgendwo, wo’s ruhig ist, seine Trümmer einsammelt.«

»Armer Mann«, sagte sie. »Weißt du, ich habe ihn vor langer Zeit bei einer Party kennengelernt, als meine Eltern mich Allen Dulles vorstellten. Allen sagte: ›Hier, Kitty, das ist Howard Hunt. Er schreibt absolut tolle Romane.‹ Ich glaube nicht, daß der Große Häuptling sehr viel von Literatur verstand.«

»Oh, Mr. Dulles war immer für Superlative.«

»Ja, nicht?« Ich hatte sie zum Lachen gebracht. »Er sagte einmal zu mir: ›Harry, Cal Hubbard wäre der Teddy Roosevelt unserer Truppe, wenn’s da nicht noch Kermit Roosevelt gäbe.‹« »Herrgott, dein Vater, das paßt!« Sie lachte wieder, aber ihre ehrliche Stimme konnte nicht verbergen, daß sie bedrückt war.

»Erzähl mir von der Frau.«

»Es ist Dorothy Hunt, Liebling«, sagte Kittredge. »Sie ist geradewegs aus der Versenkung gestiegen.«

»Ich wußte nicht, daß du sie so gut kanntest.«

»Ich kannte sie gar nicht so gut. Hugh und ich hatten die Hunts einmal zum Abendessen bei uns zu Besuch.«

»Natürlich. Ich erinnere mich vage.«

»Ich erinnere mich gut an sie. Eine intelligente Frau. Wir haben ein paarmal zusammen geluncht. Sie war so viel tiefgründiger als der arme Howard.«

»Und was sagt sie?«

»Harry, sie sagt: ›Laßt sie nicht ruhen.‹ Das ist alles. Als ob wir beide wüßten, wen sie meint. Wer auch immer sie sein mögen.«

Ich antwortete nicht. Kittredges unüberhörbare Bestürzung sprang auf mich über. Ich hätte sie beinahe gefragt: »Hat Hugh jemals mit dir über die Hohen Heiligen geredet?« Aber ich sprach den Gedanken nicht aus. Ich traute keinem Telefon, meinem eigenen am .allerwenigsten. Zwar hatten wir nichts gesagt, was Stürme entfachen konnte, aber man tat gut daran, sich bei allen Gesprächen im Sinne der Schadensbegrenzung zurückzuhalten. Also sagte ich nur noch: »Das ist komisch mit Dorothy!«

Kittredge reagierte prompt auf den Wechsel meines Tonfalls. Sie hatte ebenfalls Angst vor dem Telefon – aber auch Freude am Schabernack. Für den Fall, daß dieses Gespräch abgehört wurde, wollte sie den Lauschern noch ein paar Nüsse zu knacken geben. So stellte sie nun mit ernster Stimme fest: »Die Nachricht von Gallenstein hat mir nicht gefallen.«

»Was hat er gesagt?« Gallenstein war – wie sollte es anders sein – ein weiterer Name für Harlot.

»Ja, das wurde persönlich überbracht. Dieser fürchterliche Bursche, Gilley Butler, stand heute abend vor meiner Tür. Er muß unser Boot genommen haben und herübergerudert sein, und er übergab mir mit ordinärem Grinsen einen Umschlag. Er war schrecklich betrunken, und es war ihm anzusehen, daß jemand ihm viel zuviel für diesen Botendienst gezahlt hatte. Er hatte ein entsetzliches Gehabe: aufgeblasen und gleichzeitig verkommen.« »Was«, insistierte ich, »was enthielt denn die Nachricht?«

»Fünfhunderteinundsiebzig Tage auf der Venus. Plus ein Schaltjahr. Acht Monate, um alles zu erledigen.«

»Das kann einfach nicht stimmen«, erwiderte ich, als hätte ich jedes Wort begriffen.

»Niemals.«