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Conrad Blenkle an sein Kind: „Ich muß von Dir scheiden, lebe wohl! Ich habe den letzten Nachmittag verlebt und gehe dem Ende ruhig entgegen. Als Kämpfer habe ich gelebt und werde als Kämpfer sterben. Für eine Idee eintreten zu können, ist eine große, ehrenvolle Sache. Das gibt mir Kraft bis zum letzten. Du bist der Mensch, der mir am nächsten steht. Deine Liebe und Verehrung waren für mich das Wertvollste. Wenn ich mein Leben rückschauend betrachte und Bilanz ziehe, so kann ich im großen und ganzen zufrieden sein. Aber auch ich war ein Mensch mit Schwächen und Fehlern. Trotz alledem weiß ich, dass mein Leben wertvoll war und ich Nützliches geleistet habe. Meine letzte Mahnung an Dich ist: Handle immer verantwortungsbewusst, arbeite unablässig an Deiner Vervollkommnung, schone Dich nie, wenn es um Großes geht und Du Dich einsetzen musst! Lebe wohl und denke immer an Deinen Dich innig liebenden Vater.“ Wer war Blenkle? Wer kennt ihn heute noch? Warum über ihn schreiben? Das fragt sich Kalle Kortum, dem man gesagt hat, dass er ein Buch über den Mann schreiben soll, von dem er nur weiß, was im Lexikon steht. Aber die Aufgabe, so unlösbar sie zu sein scheint, lässt ihm keine Ruhe. Je mehr Material er sichtet, je öfter er Menschen befragt, die Blenkle kannten, um so deutlicher ersteht vor ihm das Bild eines Mannes, der Leidenschaft und Mut, Klugheit und Konsequenz in einer Zeit bewies, als die Menschlichkeit mit Füßen getreten wurde, der viele Namen annahm, um sich zu verbergen, und der doch immer er selbst blieb. Kalle Kortum sagt sich: Du musst es schaffen, die Gestalt dieses Mannes lebendig werden zu lassen, du musst das Wesen dieses Mannes ergründen.
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Seitenzahl: 403
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Heinz Kruschel
Der Mann mit den vielen Namen
Roman um Conrad Blenkle
ISBN 978-3-95655-118-5 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1975 im Verlag Neues Leben, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Sollte er das Buch schreiben?
Nach dem Besuch bei Buttscheck war er fast dazu entschlossen. Kortum ließ die Straßenbahn davonfahren, obwohl er um diese Zeit für Marga eine Haferflockensuppe kochen sollte, und lief an der Elbe entlang, die stark strömte und lange nicht so unbewegt aussah wie vorhin von Buttschecks Fenster aus. Dann schlitterte er über die glatte Asphaltdecke und betrachtete verwundert, als fände er erst jetzt in die Gegenwart zurück, die alten grauen Häuser in der Innenstadt. Sie hatten sich über Nacht umgezogen. Die Mauern trugen weiße Hemden, die Steine schwitzten den Frost aus, der wochenlang tief in ihnen gesteckt hatte, weiße Stickerei auf fleckigem Putz.
Buttscheck war Frühaufsteher. Dafür sorgte schon der freundliche Hund Piefke, den Buttscheck sich aus dem Tierheim geholt hatte.
Als Kortum bei Buttscheck geklingelt hatte, war es noch finster gewesen, er hatte nur gemerkt, dass er zu warm angezogen war, die Temperatur musste über Nacht angestiegen sein. Die Straße sah nicht mehr so kolossal gründerjahrmäßig aus.
Aber Kortum war auch warm von Buttschecks selbst gezogenem Traubenwein, der nach Medizin schmeckte. „Wenn du lieber Kaffee haben willst, Kalle? Ach man nicht, so ein klarer Wein morgens und dazu ein Salamibrot, da kriegst du keinen Rammschädel von. Natürlich müsste der Wein ein paar Jahre stehen, aber der wird bei mir nicht alt. Und du bist ein seltener Gast, manchmal lese ich was von dir und denke, das stammt von dem spillrigen Stift aus deinem alten Betrieb, das ist von Kalle, der immer Angst vor den Mädchen aus dem Büro gehabt hat. Iss doch, lang zu, Napoleon soll vormittags sogar Koteletts gegessen haben, vielleicht aber hat er darum Borodino verloren. Der Mensch muss was im Leibe haben. Über Conrad willst du schreiben? Das ist gut, ich weiß überhaupt nicht, warum darauf noch keiner gekommen ist …“
Und Kortum war auch warm von Buttschecks Erzählen. Der konnte erzählen, und das kleine Mikro auf dem Tisch störte ihn überhaupt nicht, davor hatte Buttscheck keinen Respekt, ach man nicht, Buttscheck hat nie Respekt gehabt. Buttscheck, alter Elbröwer, dachte Kortum, der Entschluss müsste mir nun leichter fallen, du bist für mich so etwas wie der letzte Lindenbaum vor meiner Schule. Als Schüler habe ich wie ein Maikäfer die Bäume gezählt, wenn ein Diktat angesagt war: Bei einer ungeraden Zahl stand das Vorzeichen für das Ergebnis einer Arbeit immer schlecht, bei einer geraden gut. Aber die Ergebnisse stimmten nie überein, die Allee war lang, ich verzählte mich oder wollte mich verzählen und weiß bis heute nicht, wie viele Bäume da stehen. Nein, standen, denn als ich eines Morgens im April des letzten Kriegsjahres zur Schule ging, waren sie alle gefällt, weil der Englischlehrer, Kantor Robbenkill, daraus Panzersperren bauen ließ, die später von der Bevölkerung verheizt wurden, also ist Buttscheck für mich der letzte Lindenbaum mit einer geraden Zahl. Ich rufe nachher den Verlag an.
Rechnet der Verlag überhaupt noch mit mir?
Vor vier Monaten schon hatten sie zu ihm im Zimmer des Cheflektors gesagt: Schreib ein Buch über den Mann, er hat es verdient, und es ist wichtig.
Er konnte sich an den Tag genau erinnern: Der Kaffee duftete stark, aber er schmeckte nicht, es war zu schwül im Zimmer, die Sonne drückte die Mittagshitze gegen die breiten Fenster.
Verdient. Das war nicht die Frage. Natürlich hatte der Mann eine Ehrung verdient. Komisches Wort: verdient. Es verbietet sich in diesem Falle von selbst, der Mann hat gelebt, viel zu kurz hat er gelebt und gekämpft, bis sie ihm das Leben genommen haben. Es ist wichtig, Kenntnisse über solche Revolutionäre wie Blenkle zu verbreiten.
Kortum kannte nur die Kurzbiografie des Mannes. Ein hartes Leben, immer für die Sache. Aber er konnte sich nicht einmal einer Zeichnung oder eines Fotos erinnern. Das beschämte ihn, darum schwieg er und blickte zum Fenster hinaus. Die Hedwigskathedrale verschwamm mit ihren Konturen in der mattblauen Luft. Es gab Straßen und Schulen, die den Namen dieses Mannes trugen. Zwischen John Sieg und Käthe Niederkirchner stand eine Würdigung über ihn in der Ersten Reihe. Was Kortum wusste, war wenig.
Der Verlag macht das Angebot und belastet dich von vornherein, ein wichtiges Buch wird von dir erwartet. Dir ist noch nie ein Buch konkret vorgegeben worden, du hast dir Stoffe und Themen selber gesucht. Jetzt wird dir ein Stoff angetragen, das legt dir Schranken auf, das riegelt dir die Fantasie ab, denn das Sujet ist gegeben und das Thema auch. Zwingt dir das nicht schon die Komposition auf? Was bleibt dir denn noch? Natürlich verlangen sie von dir jetzt keine bindende Zusage. Sie wollen, dass du dich mit ihrem Angebot beschäftigst. Es müsste doch gut sein, diesmal nicht von vornherein zu wissen, was du schreiben wirst? Zeichne die Zeit, wie sie war. Binsensatz. Du musst anders herangehen als ein Gesellschaftshistoriker. Findest du Konflikte, die tragfähig sind? Musst du überhaupt Konflikte finden?
Kortum, du musst endlich etwas sagen, das dachten alle und er selber auch. Aber er griff nach einer Zigarre, obwohl ihm nicht danach zumute war, und zündete sie umständlich an, ließ das Flämmchen die Spitze der Zigarre erwärmen, viel zu lange, sodass sie hell brannte und er sie auspusten musste. Der Verlagsleiter lehnte sich zurück, er rauchte nicht. Der Cheflektor trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.“ Sie nickten schon bei der mageren Auskunft und blickten sich an. Wenigstens lehnte er nicht ab. „Wie lange brauchst du?“
„Zurzeit“, sagte Kalle, und er sagte die Wahrheit, „zurzeit berührt euer Vorschlag weder meinen Verstand, noch mein Gefühl. Das Thema ist mir fremd. Ihr wisst ja, dass ich bisher immer über die Gegenwart geschrieben habe.“
„Wie lange brauchst du für eine Entscheidung?“
Wie sie sich das vorstellen, man denkt nach, recherchiert, stellt eine Dokumentation zusammen, befragt Menschen, die noch leben und Blenkle gut kannten, und wählt aus. Aber das Thema muss einen fesseln. Er sagte: „Anregungen habe ich mir immer aus der Wirklichkeit geholt, aber ich kenne nicht einmal die Menschen, mit denen ich lebe, die ich täglich und jahrelang beobachten kann, bis in den letzten Winkel. Ich kenne den Mann nicht, nicht einmal die Zeit, da er noch legal war; ich war ein Junge, als er sterben musste.“
Der Verlagsleiter stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte: „Klar, also keinen Termin, aber wir brauchen das Buch, du hast jede Unterstützung, lass es uns wissen, wenn du so weit bist. Dann unterhalten wir uns. Der Stoff wird dich schon reizen, über den Mann ist wenig bekannt, aber überlege nicht zu lange ...“ Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, seine grauen Schläfenhaare glänzten feucht.
Das Gespräch war vier Monate her. Kalle erinnert sich, wie er auf der Autobahn nach Hause gefahren war: nicht sehr konzentriert, ärgerlich über die schnellen Wagen, die er wie immer zu spät im Rückspiegel wahrnahm; ärgerlich auch darüber, dass er nicht abgelehnt hatte, dass er dem Verlagsleiter nicht verraten hatte, an einem ganz anderen Stoff interessiert zu sein. Er trug einen Brief in der Tasche, den Marga von einer ehemaligen Klassenkameradin erhalten hatte. Und er hätte den Brief hervorholen und vorlesen sollen: ,Ich bin in einem Durchgangsheim und soll normalisiert werden. Ich will aber nicht. Sollen sie mich in den Jugendwerkhof stecken. Ich bin total vergammelt und total progressiv. Was ist von meinen Träumen geblieben? Studium? Nein. Ein ordentlicher Beruf? Mit Klingelzeichen rein, mit Sirene raus? Nein. Ich brauche nur eine Hütte im Walde, und ich würde leben wie ein Tier von dem, was der Wald mir bietet.' Er hatte seiner Tochter Marga gesagt: „So viel bietet ja unser Wald nicht mehr. Konservendosenreste, Kinderwagenwracks, und über die Heidelbeeren und Pilze fallen sie in hellen Scharen her. Da müsste sie schon direkt an der Quelle sitzen und sich ein Gebiet einzäunen, falls sie noch eines findet, das die Kurortväter hergeben, leben von dem, was der Wald bietet, verhungern müsste sie!“ Aber Marga war es ernst gewesen. Sie hatte die rote Mähne geschüttelt und gesagt: „Und du bist ein Schriftsteller? Die ging mit mir mal in eine Klasse. Könnte ich nicht an ihrer Stelle sein?“ Das begriff er nicht. Darum erklärte sie es ihm: „Die war doch nicht asozial von Geburt an. Dem Elternhaus hast du äußerlich nichts angemerkt, der Vater war sogar im Elternbeirat. Wer hat nun versagt? Ich weiß noch, wie sie in der neunten Klasse so ulkige Theorien entwickelte, jeder könne machen, was er wolle. Erst haben wir darüber gelächelt und sie nicht ernst genommen, bis sie die Schule bummelte und sich auf Bauplätzen rumtrieb und wochenlang nicht nach Hause kam, du, das gibt es bei uns.“ Ihre Worte trafen ihn, zugegeben.
Warum hatte er den Brief in der Tasche gelassen? Warum hatte er ihn nicht vorgelesen? Er hätte sagen müssen: Das ist ein brennender Stoff, ein Thema, das muss geschrieben werden.
Es war zu spät, und es war auch müßig, sich vorzustellen, wie die Verlagsleute reagiert hätten. Auf keinen Fall hätten sie gesagt, dass das kein interessanter Stoff, kein wichtiges Thema wäre, aber sie hätten gut erklären können, dass ihr vorgeschlagenes Buch wichtiger sei, weil es ja schon in einem der Perspektiv-, Produktions-, Entwicklungs-, Ideen- oder Themenpläne stünde, bestätigt vom Zentralrat, denn Conrad war jahrelang Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes gewesen, abgesprochen mit der Hauptabteilung des Ministeriums, eingegliedert in die Zukunftsstruktur des Baumes Literatur, der in diesem Jahr gepflanzt wird, in drei Jahren zu grünen und im vierten zu blühen hatte. Das andere Projekt interessiert uns auch, hätten sie gesagt, das merken wir schon vor, das schreibst du anschließend. Oder sie hätten direkt gefragt: Könnte das Buch über unseren Mann nicht auch wichtig sein für die Jugendlichen im Werkhof zum Beispiel? Darauf hätte er nicht zu antworten gewusst, und nun soll er sich auf Dienstreise schicken lassen, um „die Seele eines Romans“ auf dem Rekorder zurückzubringen. Das hat er noch nie getan. Und das kann er nicht.
Nein. Er würde das Buch nicht schreiben. Das hätte er auch gleich sagen können. Warum hatte er keine schlüssige Antwort gegeben?
Das alles war vor Monaten geschehen. Und an diesen Tag erinnerte sich Kalle Kortum genau, das gibt es. Ein leeres Haus hatte ihn erwartet: Marga in einem Lager an der See, die Frau noch im Betrieb. Mit Ruth, seiner Frau, hätte er gern gesprochen, sie hätte still zugehört, und er hätte gedrängt: Was sagst du denn nun dazu? Du musst doch eine Meinung haben?
So direkt hätte er natürlich nicht gefragt, aber so ungefähr.
Sie war nicht da. Sie konnte nicht sagen: ,Gehörst du jetzt zu denen, die gebeten werden wollen? Du genierst dich doch sonst nicht, schroff abzulehnen, wenn dir etwas gegen den Strich geht. Was soll’s also, Mann, es passt dir nicht, einfach abzulehnen, bist du feige? Wie heißt er? Blenkle? Conrad Blenkle? Gehört habe ich den Namen schon. Oder gelesen.‘ Das alles konnte sie nicht sagen, denn sie war nicht da, und so hatte er erst kalt geduscht und war dann in den Garten gegangen, hatte da auch keine Ruhe gefunden und sich mit dem alten Nachbarn Willem unterhalten: über die Apfelwickler und dass man sich mit dem chemischen Zeug das Obst versauen würde. Und er hatte nur dem Nachbarn zuliebe mit brennenden Streichhölzern die weißgrauen kokonähnlichen Nester ausgeräuchert und war wieder ins Schwitzen gekommen, bis die Frau erschien und tatsächlich still zuhörte, sodass er drängte, und sie sagte dann fast genau das, was er erwartet hatte. Und hinzugefügt hatte sie: „Da kommt was auf dich zu, Mann.“
Und damit behielt sie recht. Das Orakel hätte einen andern zurückgeschreckt, sie aber wusste, wie ein solcher Satz auf ihn wirken konnte. Da kommt was auf dich zu. Da schwingt ein Unterton mit: Ob du dich da nicht übernommen hast? Sie sprach anschließend gleich von anderen belanglosen Dingen: Die Marga habe noch immer nicht geschrieben, man wisse nicht einmal, ob sie im Lager überhaupt angekommen sei, aber das hätte sie vom Vater geerbt; und der Junge sei nun bestimmt schon sechs Stunden am Baggerloch und wechsele seine Badehose nicht, natürlich, bei seinem Vater sähe er es ja auch nicht anders; und ausgegangen, so richtig mit Tanz und Bar, sei sie schon seit Silvester nicht mehr. Und während er alle Schuld auf sich nahm und bestätigte, dass er faul, gedankenlos, unentschlossen und rücksichtslos sei, wusste Ruth bereits, dass er an dem Knochen nagte: Da kommt was auf dich zu. Nein, meine Liebe, dachte er, diesmal liegt der Fall anders, in meinen bisherigen Büchern war ich der Erfinder und der Lenker der Handlung. Aber diesmal soll ich eine Handlung nachvollziehen, die sich in Wirklichkeit längst vollzogen hat. Historie, die Handlung wird mich treiben und nicht ich die Handlung.
Zunächst aber trieb es ihn in die Archive. Er las Aufrufe, die Blenkle an die Jugend geschrieben hatte, Diskussionsreden auf Parteitagen, Artikel und Flugblätter über Thälmanns Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes, Aufsätze in Zeitschriften und Reichstagsreden, die dieser jüngste Abgeordnete der Weimarer Republik gehalten hatte: sachliche, phrasenlose Reden und Artikel, logisch aufgebaut, ohne fesselnde Einleitung zum Kern vorstoßend, unsensationell, den Zusammenhang suchend. Es schien Kortum auf den ersten Blick, als habe Blenkle wie ein geübter Chirurg den Herd der Krankheit freigelegt.
Die Artikel hatte kein studierter Genosse geschrieben, die Reden hatte kein ergrauter Revolutionär gehalten, sondern ein vierundzwanzigjähriger junger Mann, ein Bäckergeselle, ein Arbeiter, ein Autodidakt. Und wie er mit den Klassikern umging!
Und die Parlamentsreden, diese Attacken gegen die offene oder verschleierte Reaktion! Sie hatte kein Parlamentarier gehalten, der es gelernt hatte, ein raffiniertes, nichtssagendes elegantes Wortgefecht zu führen, der den spitzen Dolch der persönlichen Beleidigung führte und das Florett im Scharmützel einer Antwort, in der alles und nichts gesagt wurde, und der Gift mischen konnte wie ein Doppelzüngler, um es nachher als süßen Wein zu kredenzen. Nein, Blenkle sezierte nicht wie ein Arzt mit dem Skalpell, seine Waffe war schwerer und unhandlicher, er hieb mit der Keule den Stuck der Verkleidung ab, ohne Respekt vor Autoritäten, aber voll Abscheu gegenüber den Giftmischern, Dolchstoßern, Florettfechtern, die Universitäten absolviert hatten und ihre Titel wie Kronen über den Aktendeckelgesichtern trugen. Das alles erstaunte Kortum. Mehrfach wurde die Aufhebung der Immunität Blenkles und sogar seine Verhaftung gefordert. Mit Mühe verhinderte das die Fraktion, Wilhelm Pieck sprach zündend gegen solche Versuche im Reichstag.
Kortum las die peinlich korrekt geführten Protokolle des Reichstages, stieß auf eine Rede über ein Mineralwassersteuergesetz, das im Jahre 1930 verabschiedet werden sollte und zu dem Blenkle auch gesprochen hatte. Mein Gott, dachte er, Mineralwasser und dann ein solches Jahr, eine solche Zeit, da die Braunen schon ihren Stiefel in die Haustür der Republik gestellt hatten. Mineralwasser sollte mit fünf Pfennig pro Flasche belastet werden, wie belanglos. Hatte Blenkle nichts anderes zu tun, war er etwa pedantisch?
Kortum wollte die Rede gar nicht erst lesen. Er ordnete seine vollgeschriebenen Karteikarten. Dann siegte die Neugier: Was sagt man zum Thema Mineralwasser im Reichstag? Wir Kommunisten sind gegen das Gesetz. Aber draußen spalten sie, taktieren sie, heben der Republik die Grube aus. Mineralwasser, wie klein das klingt.
Aber immerhin steht ein Gesetz zur Debatte, eine Steuererhöhung. Doch wenn es um Mineralwasser geht, kann man schließlich keine Einheitsfrontpropaganda treiben.
Kortum las. Blenkle wies nach, wer denn überhaupt Mineralwasser im Lande trank: die Reichen nur dann, wenn sie mal rülpsen wollten, sonst die Hochöfner, Walzwerker, Hüttenarbeiter, die Fürsorgezöglinge, die wandernden Jugendlichen, die Kranken. Und für die, meine Herren, sind fünf Pfennig viel Geld, die müssen nämlich ihren Durst stillen können. Blenkle konnte nachweisen, dass Verhandlungen mit großen Brauereiunternehmungen, mit dem Alkoholkapital also, dem vorgeschlagenen Gesetz vorausgegangen waren, die standen dahinter, ein abgekartetes Spiel. Das war tatsächlich Klassenkampf um eine Flasche Mineralwasser, es ging auch an diesem Beispiel darum, die Massen zu gewinnen. Und die Genossen Sozialdemokraten mussten Farbe bekennen.
Sei also nicht voreilig, Autor. Sammle. Lies, und urteile nicht vorschnell. Bedenke auch, dass Blenkle zwar dazu gesprochen hat, aber nicht von sich aus, sondern im Auftrage der Fraktion der Kommunisten, du kannst die Rede nicht nur der Persönlichkeit Blenkles zuordnen.
Karteikarte auf Karteikarte. Kortum las alles, was es von Blenkle zu erwischen gab. Er ertappte sich beim Urteilen und dachte: Der Mann war ja vollkommen, er pendelte weder nach links noch nach rechts.
Die Fotos zeigten ein schmales Gesicht, kräftige Wangenknochen und dunkle Augen, die lustig wirkten, einen lächelnden Mund, einen pfiffigen Blick, Schillerkragen über der Jacke oder einen flüchtig gebundenen Schlips. Und ein anderes Foto nach der Verhaftung in Gestapohaft. Ein fremdes Gesicht, rasch gealtert, noch schmaler und bitter schon der Mund.
Kortum fragte sich: Ob ich ihn je kennenlerne? Oder kann ich nur eine Biografie über ihn schreiben, etwa so: Am drittletzten Tag des Jahres neunzehnhundertundeins wurde in der Admiralstraße 10 zu Berlin, also im Südosten der Stadt, Conrad als Sohn des Schlossers Reinhold B. geboren, der in der Boppstraße eine kleine Schultheiß-Eckkneipe übernahm ... Warum eigentlich eine Kneipe und keine Schlosserei? Und was für eine Kneipe? Eine, in der Proleten ihre Groschen vergrölten? Oder eine, in der sie ungestört über den Feind sprechen konnten, ohne beschattet zu werden? Das eine musste das andere nicht ausschließen; während an der Theke gegrölt wurde, konnte im Hinterzimmer diskutiert werden.
Du kennst zwar Fakten, Kalle Kortum, aber was weißt du schon von den Gedanken und Gefühlen dieses Mannes, den du nach dem ersten Blick als vollkommen beurteilst? Und du weißt nichts.
Bis zum Jahre neunzehnhundertunddreißig ließen sich die Reden und Aufsätze Blenkles verfolgen, dann saß Conrad Blenkle wegen Hochverrats in der Festung von Groß-Strehlitz. Danach trug er nur noch andere Namen und arbeitete illegal. In den Archiven versickerte seine Spur.
Zögernd begann Kortum, Briefe an Menschen zu schreiben, die Conrad gut kannten: an Käte, mit der er verheiratet gewesen war, an Mitglieder des damaligen Jugend-ZK, an Gertrud, Blenkles Lebensgefährtin, die in der Hauptstadt wohnte, an Genossen, mit denen Blenkle in der Emigration zusammengearbeitet haben musste oder hätte arbeiten können, denn Kortum wusste nicht, ob sie seinen wirklichen Namen gekannt hatten.
Dann schrieb ihm Wladimir D. aus Leningrad, der im Auftrag der Kommunistischen Jugendinternationale nach Berlin geschickt und dort auf Blenkle getroffen war: In diesen Tagen war das Liebknecht-Haus mit Arbeitern in grauen, halbmilitärischen Uniformen vollgepfropft. Aber sie trugen keine Waffen. Was konnte man schon mit bloßen Fäusten gegen die Messer und Schlagringe der Stahlhelmer ausrichten? Womit würden sie die Kinder gegen die schweren Gummiknüppel der Polizei schützen? Ich sprach zu Blenkle über meine Bedenken. Er machte erstaunte Augen: „Woher kommen dir solche blutrünstigen Gedanken? Es ist sehr gefährlich, die Roten Frontkämpfer und die Jungfront mit kalten Waffen auszurüsten. Hitzköpfe könnten zum Messer greifen, und in jedem Falle würde die Schuld uns zugeschoben werden - den Kommunisten. Mögen sie mit ihren Dolchen klirren. Nicht solche Waffen entscheiden auf den letzten Barrikaden über die Frage Wer — Wen.“
Plötzlich lachte er: „Entschuldige, aber ich stelle mir vor, wie du dich mit Dolchen erbittert mit einem Stahlhelmer duellierst.“
„Ach, hol dich der Teufel“, sagte ich und tat beleidigt.
Der Beschluss des ZK lautete: Die Demonstration findet statt. Auf den Hauptstraßen erschienen verstärkte Polizeistreifen. Die Stahlhelmer flanierten in Rudeln auf den Bürgersteigen und nahmen selbstgefällig das dankbare Lächeln der Zylinder, Melonen und Federboas entgegen. Mit durchdringendem Heulen tauchten Polizeiflitzer auf, schnelle, kleine Einsatzwagen mit karabinerbewaffneten Schupos.
„Auf die Demonstranten schießen, nein, das werden sie nicht wagen“, sagte Blenkle mehr zu sich selbst als zu uns gewandt, die wir uns in seinem Arbeitszimmer versammelt hatten, „und trotzdem müssen wir auf alles vorbereitet sein. Alle Jungfrontabteilungen werden der Leitung des Roten Frontkämpferbundes unterstellt. Wir müssen unsere Kräfte konzentrieren. Im ZK wird ein vierundzwanzigstündiger Bereitschaftsdienst eingerichtet: Karl, Emil und ... und du ...“
Ich blickte ihm gerade ins Gesicht: „Hast du das beschlossen, Conrad?“
„Das ZK hat es beschlossen. Dir ist es verboten, an der Demonstrationteilzunehmen“, fügte er streng und unerbittlich hinzu.
Soweit Wladimir. Ein Mosaiksteinchen mehr, aber die Antworten auf Kortums Briefe und Anfragen trafen spärlich ein.
Während der Wartezeit las Kortum Gedenkreden und viele Würdigungen und fand Lob, nur Lob. Das ist üblich bei Würdigungen, aber Kortum sagte sich: Er kann doch kein vollkommener Mensch gewesen sein, hatte er keine Schwächen? Das gibt es nicht, das macht mich misstrauisch und neugierig. Es geht mir nicht darum, Fehler zu suchen. Jeder tätige Mensch macht Fehler, ob er nun Tischler oder Datenverarbeiter oder Minister ist. Ein Tischler verwendet zu kurz getrocknetes Holz und legt damit das Parkett (wie bei uns im Wohnzimmer) und wird nach einem halben Jahr zum Kunden gerufen, weil es in den Stäben knackt und das Parkett die Dielen hochtreibt. Der Datenverarbeiter macht einen ganz geringen Fehler und verzögert damit die Gehaltszahlung ganzer Abteilungen eines Betriebes und produziert Ärger. Der Minister hat einen Betrieb wegrationalisieren lassen (der nun mal nicht wegrationalisiert werden durfte), und nun müssen wir importieren.
Menschen begehen Fehler, das ist eine natürliche Sache, das ist so natürlich wie die Liebe.
Ein wichtiges Buch, hat der Verlagsleiter gesagt. Nach Margas Meinung aber ist diese Zeit so weit entfernt, dass sie nur noch ein Kapitel des Geschichtsbuches ist. Hat sie nicht das Recht, so zu denken? Kortum fiel ein, dass er als Junge, wenn sich seine Verwandten über Verdun unterhielten, gedacht hatte: Alte Kamellen, Verdun, das ist ja über zwanzig Jahre her. Und heute urteilt Marga schon mit solchem Abstand über die Gründung unserer Republik, und erst recht über die Weimarer Zeit. Und darum muss man der Frage nachgehen: Was hat uns Blenkle heute noch zu sagen, nicht nur mir und uns (der mittleren Generation), sondern auch Marga und ihren Freunden und dieser ehemaligen Klassenkameradin? Und die Verfasser der Würdigung sehen dir auf die Finger, Kortum, die lebenden und die toten. Die haben mehr hinter sich als du. Denn du sollst nicht nur die Frage beantworten, was von einem Menschen bleibt. Du sollst herausfinden, welche Spuren eine ganz bestimmte Persönlichkeit hinterlassen hat, nicht in Geschichtsbüchern, nein, in den Menschen, die heute leben, lernen, Waffen tragen, arbeiten und lieben, reisen und Kinder kriegen. Aber du weißt nicht einmal, ob Blenkle glücklich oder unglücklich, duldsam oder ruhelos war, ob er genug Kraft gehabt hat und woher er diese Kraft nahm. Zurzeit hast du noch eine Chance, dich zu entscheiden.
Die Chance: du gibst dich mit dem Achivstudium zufrieden und schreibst eine Biografie. Oder zweitens: du findest, erfindest eine Figur, kannst sie aufbauen, kannst die Handlung lenken und dann das Buch Conrad Blenkle widmen. Eine Figur, geboren aus einem Anstoß, angereichert durch eine Menge Hintergrundsmaterial, aber Produkt deiner Fantasie eben.
Aber das ist nicht deine Aufgabe. Du sollst Blenkle kennenlernen und über ihn schreiben. Wird er erst auf den zweiten Blick interessant? Man müsste herausbekommen, wie er wirklich war. Frage die Zeitgenossen. Aber wenn zwanzig Leute einen Unfall gesehen haben und befragt werden, so gab es zehn oder gar zwanzig verschiedene Meinungen darüber. Und das sind alles Zeitgenossen des Unfalls gewesen, Augenzeugen sogar. Was für Streiche spielt da die Wirklichkeit. Oder ist es die Widerspiegelung, die uns Streiche spielt?
Also die Zeitgenossen. Kortum traf sich mit Käte in einem der modernen, ganz aus Beton, Glas und Plaste erbauten Cafés der Hauptstadt. Nachgeahmter Großweltglanz. Käte war zierlich, lebendig, und sie nahm auch angesichts der Bartjünglinge, kurz behosten Mädchen und vornehmen Kellner ihre schwarze Baskenmütze nicht ab, die sie wie das Barett eines Fallschirmjägers trug, schief über ein Ohr gezogen.
Mit dieser Frau war Conrad sechs Jahre lang verheiratet gewesen, sie musste mehr wissen. „Mein Archiv steht dir zur Verfügung, ich habe alles über ihn gesammelt und registriert, jede Rede, jeden Artikel.“
Sie reagierte betroffen auf das Romanvorhaben. „Muss nicht sein“, sagte sie laut, ein Partisan in der Umgebung von Snobisten, „ich dachte an eine Biografie eines Kommunisten.“
Könne alles werden. Kortum blieb verbindlich. Zurzeit wäre ihm eine Biografie beinahe lieber. Aber er stellte seine Fragen: Wie wird ein Junge in den ersten zwanzig Jahren dieses Jahrhunderts nicht nur so bildungshungrig, sondern in kurzer Zeit so konsequent, so charakterfest und so bewusst, dass er bald der wichtigste Funktionär des Kommunistischen Jugendverbandes und der jüngste Reichstagsabgeordnete werden konnte? Eine schlechte Frage. Um Allgemeinplätzen vorzubeugen, fragte er rasch: „Wie war sein Zuhause?“
Arbeiter verkehrten in der Eckkneipe, nur Arbeiter. Es gab Versammlungen, bei denen man die Tür abschloss. Im Hause der Blenkles waren Bücher keine Seltenheit, besonders Conrads Tanten lasen viel, manchmal hat der Junge nachts bei Talglicht gelesen. Und er schmökerte nicht nur, er nahm bewusst auf, verarbeitete für sich die in den Büchern gelesenen Ansichten, bereicherte seinen Wortschatz, Bücher wurden für ihn zu einem erregenden Erlebnis, Märchen weckten in ihm Sehnsüchte, Werke über die Französische Revolution und ihre Helden ließen sein Herz schneller schlagen. Immer stärker interessierte ihn die Geschichte.
Und die Geschichte erlebte er nicht nur in Büchern, auch und besonders in diesem einfachen, geordneten, humanistischen Elternhaus. Manchmal hat er mitbedient, manchmal auf dem Klavier geklimpert. Die Gespräche hat er mit angehört, halbe Sätze vielleicht, die Fragen provozierten. Und er fragte immer viel, er soll als Junge schon ironisch gewesen sein, das ist er auch geblieben. Er hat im Spiel ungern verloren, er wollte gewinnen, oder besser: er wollte Fehler erkennen und sie verhindern. Dabei war er lebenslustig und hatte viele Freunde. In der Schule war er so gut, dass der Lehrer ihn am liebsten auf eine höhere Anstalt geschickt hätte. Aber der Sohn eines Arbeiters wurde eben wieder Arbeiter.
Kortum dachte: War Blenkle eine Ausnahme von der Regel?
Von welcher Regel denn?
Eine sozialistische Persönlichkeit formt sich nicht spontan, es ist ein langer Prozess, der nach heutigen Forschungserkenntnissen fünfzehn Jahre dauern kann, vom Beginn des kritischen Denkens bis zur Herausbildung einer einheitlichen ideologischen Grundposition. Und das unter optimalen Bedingungen. Zugegeben, Conrad war kritisch und erlebte den Krieg. Reichte das schon als Zeitraffer? War Blenkle eine Ausnahme?
Natürlich fragte das Kortum die Genossin Blenkle nicht. Er nahm mit dem Rekorder auf, was sie über die Ehe erzählte, hörte hin, wie sie sich kennengelernt hatten, was sie voneinander hielten, wie sie ihre Abende verbrachten, wie sie wohnten, das alles speicherte der kleine Apparat für ihn.
Und dann verabredeten Kortum und Käte ein Wiedersehen in Rostock, wo sie wohnte. Sie warnte ihn: „Sprich mit anderen, ich sehe Conrad vielleicht zu einseitig. Er hat lange mit Gertrud Müller zusammengelebt, nach meiner Zeit.“ Davon hatte Kortum schon erfahren.
Das Ergebnis: Einst hatte ein Junge in einer Arbeiterkneipe graue, unterernährte Gesichter gesehen und gehört, dass es für zehn Stunden Arbeitszeit zwölf Mark Wochenlohn gab. Von wem? Und wer behielt den großen Rest des Geldes? Manche Gesichter sah er wieder, blinde Augen, und er hörte den Hass auf die andern. Fragen sind wichtig. Und die richtigen Antworten. Er las, was der Franzose Barbuße in seinem Roman über Liebknechts „Nein dem Kriege“ gesagt hatte „Sieh, das ist ein Mensch, der sich über den Krieg erhoben hat, und sein Name wird voranleuchten, weil dieser Mut so selten und so groß ist.“ So selten. Und so groß. Die da saßen und redeten, wollten verändern. Die da das billige Bier tranken, konnten die denn groß sein, so groß wie jener Mann, jener Genosse Liebknecht?
Kortum wusste natürlich: Soziale Bedingungen der Umgebung wirken sich positiv auf die Herausbildung sozialistischer Überzeugungen aus, wenn diese Bedingungen in solchem Sinne eben positiv sind.
Conrad wuchs unter solchen Bedingungen auf, las die Meldungen der Siege, die für ihn schon keine Siege mehr waren, und die Namen der Toten, die er gekannt hatte; er hörte vom Selbstmord der Nachbarin aus der Kellerwohnung, deren Mann beim Gasangriff der eigenen Truppen erstickt war; er wusste, was Ausstand, Streik, Imperialismus bedeuteten, noch bevor er als vierzehnjähriger Lehrling Bäcker zu lernen begann.
Hatte er schon Ansprüche an das Leben? Er war dabei und gehörte zu jenen, die vor dem Militärgericht am Lehrter Bahnhof für die Freilassung Liebknechts eintraten und später seine Worte verbreiteten: „Ihre Ehre ist nicht meine Ehre! Aber ich sage Ihnen: Kein General trug je eine Uniform mit so viel Ehre, wie ich den Zuchthauskittel tragen werde!“
Conrad machte viele Erfahrungen. Er wusste: die Verhältnisse muss man ändern, die Verhältnisse, die zum Krieg, zum Selbstmord der Nachbarin, zur Verhaftung Liebknechts, zur Ausbeutung geführt hatten. Seine Sachkenntnis, so resümierte Kortum, bestand einfach schon darin, dass er es für notwendig hielt, die kapitalistische Ordnung zu stürzen. Und das verband sich mit der Werterkenntnis: nur so können Frieden und Glück und Zufriedenheit dieser einfachen Menschen, mit denen er lebte, erreicht werden. Große Worte, Kortum, aber die richtige, logische Folgerung Conrads. Und: Wie aber war das zu schaffen?
In der Kneipe fanden illegale Versammlungen statt, Arbeiter organisierten sich; wer verändern sollte, das war Conrad klar, wie verändert werden sollte, das hörte und das erlebte er mit, und er könnte in dieser Zeit zum ersten Mal das Wort von der historischen Mission seiner Klasse gehört haben, vielleicht nicht verdaut, vielleicht erst verdaut, nachdem er ausgelernt und in Wittlers Brotfabrik als Geselle arbeitete und sich organisierte.
Nein, Blenkle schien keine Ausnahme von der Regel zu sein, er erfasste vielleicht schneller, schnörkelloser und gründlicher die Zusammenhänge, das ermöglichten ihm die Umstände.
Buttscheck muss bald siebzig sein. Demnach ist er erst Mitte vierzig gewesen, als der vierzehnjährige Karlheinz Kortum den Lehrvertrag in der Maschinenbaufabrik unterschrieb, die noch nicht volkseigen war. Aber von Buttscheck, der die Interessen der Belegschaft vertrat, erhielt Kortum eine Kilotüte klebrigen Rohzuckers und ein geplatztes Brot. Das würde nicht lange so bleiben, so Buttscheck, vier Monate nach dem Krieg, da müsse man noch Kompensationsgeschäfte machen, Zucker und Mehl gegen Kochtöpfe, Pfannen und gusseiserne Öfen, aber bald würden sie wieder chemische Anlagen bauen. Weißt du noch, Kalle Kortum, dir war das ziemlich gleichgültig, dein Magen knurrte so laut, und deine Spucke sammelte sich, dass du schon unterwegs in die Tüte gegriffen hast und in das krustige Brot ein Loch polktest.
Damals wog der vierzehnjährige Junge achtundneunzig Pfund, er hätte ein Leben vor sich, sagte Buttscheck, aber der Junge meinte, schon ein Leben hinter sich zu haben. Er hatte mit einer Panzerfaust schießen müssen, war dem Trupp davongelaufen und hatte seine Waffe verbuddelt und nach der Kapitulation wieder ausgegraben, um die Feuersteine zu bergen, die er auf dem schwarzen Markt verkaufte und verschob; sieben Mark das Stück, und sieben Mark war genau der Preis für eine echte amerikanische Zigarette, eine sogenannte Aktive, laut damaligem Sprachgebrauch. Man hatte ihn gegriffen und zu Buttscheck gebracht, der Betrieb brauchte Lehr- jungen, zu viele Arbeiter saßen noch in Gefangenschaft.
Kortum ging durch den erhalten gebliebenen Teil der Innenstadt, durch das älteste Viertel, wo man den Rauch roch, der an diesem trüben Tage nicht steil aufsteigen konnte, sich aus den Kaminen würgte und dann mit einem Bückling als Smogungeheuer niedersank und sich dick über die Straßen legte. Hier heizte man noch mit Kohlen. Hier fand man bei der Anlage einer Wasserleitung oder beim Verlegen von Kabeln alte Scherben von Gläsern, Tiegeln und Töpfen aus dem Mittelalter und blecherne Groschen des Erzbistums. Hier hat man mehrere Meter unter dem Domplatz sogar die Reste einer ottonischen Siedlung entdeckt und dann den historischen Fund wieder zugeschüttet, denn auf dem Platz gastierten die Zirkusse, und sie kamen ziemlich häufig, weil sie hier garantiert vierzehn Tage lang ausverkauft waren. In dieser Stadt liebte man den Zirkus. Der Domplatz war nicht gepflastert, seine Erde war festgestampft wie Beton: von den Hufen der Reiter, vom Marschtritt der Soldaten, von den abgewetzten Schuhen demonstrierender Arbeiter, von den Füßen fliehender, keuchender, stolpernder Menschen, von Kutschen und Kraftwagen, in denen Prälaten, Patrizier, Ratsherren, Industrielle und Generäle auf dem Weg zum Schloss gesessen hatten, das heute eine ausgebrannte Ruine war und aus leeren Fensterhöhlen wie eine fette Spinne glotzte.
Vor fünfzig Jahren schossen auf diesem Platz die Truppen eines Generals Maercker auf die Arbeiter, und Buttscheck war als Junge dabei gewesen. Er hatte, auf einem Baum sitzend, zugesehen, wie sich sein Bruder den Bauch hielt, einen Meter lief, stolperte und dann zusammenbrach. Er war zu ihm hingelaufen, aber der Bruder sah ihn nur aus starren Augen an, und so hatte Buttscheck weinend die Infanteristen beschimpft, die ihn nicht beachteten. Mehr konnte er erst später tun.
Aufgeben wollte Kortum schon einige Male.
Als er keinen Zugang zu dem Material fand, keine Idee, keinen Einfall. Als nicht auf alle Briefe Antworten eingingen, auf manche nur zögernde, wie Kortum meinte: Misstrauische. Denn wer ist das, der da um Auskunft bittet? Als Marga ihm während einer Diskussion im Jugendklub mitteilte, dass man ihre ehemalige Klassenkameradin tatsächlich in den Jugendwerkhof eingeliefert hätte: asoziales Verhalten. Marga machte ihm keinen Vorwurf, das Problem beschäftigte sie sehr. Als ein Kollege ihn während einer Tagung des Verbandes der Schriftsteller fragte: „Was ist denn das Sensationelle, Einmalige im Leben dieses Mannes? Erst wenn du das herausgefunden hast, wird es sich lohnen, das Buch zu schreiben.“ Er ärgerte sich über die Bemerkung, weil er sie nicht pariert hatte. Eine Sensation hatte er nicht gefunden. Hatte er sie überhaupt finden wollen? Er konnte von sich sagen, dass er es sich nicht leicht gemacht hatte. Er konnte dem Verlag mitteilen, dass er das Buch nicht schreiben werde. Dabei brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben.
Dann fiel ihm Buttscheck ein. Das heißt, er fiel ihm gar nicht ein, sein Name stand in einer Liste von Ordensträgern, die die Bezirkszeitung veröffentlichte. Sonst las er solche Listen gar nicht, aber Buttscheck stand ganz vorn, und dann dachte er auch nicht an seinen Auftrag dabei, sondern daran, dass er sich oft vorgenommen hatte, Buttscheck zu besuchen. Sonst stünde eines Tages ein Nachruf von dreißig Zeilen in der Zeitung, und er müsste sich fragen: Warum hast du dich um den Lebenden nicht gekümmert, warum gehst du erst zu seiner Beerdigung? Buttscheck hat sich immer um die Lebenden gekümmert.
Buttscheck wohnte noch immer in der Gegend, in der er geboren worden war, das heißt, er wohnte wieder da, hinter dem Alten Markt. Das war die rattenreichste, linksradikalste, ärmste Gegend gewesen, kühle, muffige Häuserschluchten, über die man sich vom vierten Stock aus die Hände reichen konnte. Bis zu jenem Januartag, da diese Wohnhöhlenlandschaft im amerikanischen Phosphor verbrannte, ausglühte und zusammensank. Die Gegend wandelte sich in den letzten Jahren, und Buttscheck wohnt nun im zwölften Stock und sieht nur neue Häuser ringsum, allerdings keine Kneipen mehr, von früher zwei alte Kapellen, ein Lutherdenkmal und die Ruine einer Kirche. Aber dafür der Blick auf das blinkende Band der Elbe, auf der sich weißgraue Schollen drehten, die sich in einem gelähmten Wasser aus eigenem Antrieb heraus zu bewegen schienen.
„An der Hindenburgbrücke wurde das Denkmal des Infanterieregiments der Garnison eingeweiht“, sagte Buttscheck zur Verwunderung Kortums, der anderes hören wollte. Und ein junger Bursche, wütend und stark, wenn er Polizei oder Reichswehr sah, denn ein Infanterist hatte seinen Bruder erschossen, zog mit einem Karren durch die winkligen Schluchten, zusammen mit dem Esel, den er Heil rief. Und dieser Bursche sammelte den Müll ein, denn in diese Gegend reichte der Arm der Städtischen Müllabfuhr nicht mehr. Er kannte hier jeden: die Hausbesitzer, von denen er zwei oder drei Groschen bekam, die Möbelträger, die im Süßen Loch ihr Bier tranken, die billigen Nutten, die ihm verrieten, was die Polizei vorhatte. Aus dieser Gegend hatte er keinen zu fürchten, höchstens die hänfligen Polizeispitzel, aber die kriegten nicht mal mit, wie Buttschecks Genossen nachts die Gendarmen an der Hindenburgbrücke ablenkten und in ein Wortgeplänkel verwickelten, um Buttscheck unbemerkt unter die großen Leinenplanen schlüpfen zu lassen, mit denen das Denkmal verhüllt war. Die Planen verdeckten zwei monumentale Bronzelöwen, welche eine Tafel zwischen den Pranken hielten, auf denen die Namen der Gefallenen des Regiments eingemeißelt waren. Buttscheck arbeitete mit seiner Gruppe zwei Nächte lang, dann trugen die Löwen knallrote Schwänze und Mähnen und ihre Leiber die Parole: Rot Front. Am Morgen der Einweihung hockten die jungen Männer (erwerbslos wie sie waren, hatten sie ja Zeit) auf der Stadtmauer und baumelten mit den Beinen, während die Truppe heranrückte mit Marschmusik und Fahnenwald und Zackzackoberst und die Führer der vaterländischen Verbände sprachen: heilig Vaterland in Gefahren, deine Söhne sich um dich scharen, ewiges Gedenken, für die Helden und die Größe Deutschlands, von Gefahr umringt, heilig Vaterland, alle stehen wir Hand in Hand.
Und dann die Enthüllung. Als die Planen endlich unter Trommelwirbel fielen, da fiel auch das Sonnenlicht auf die roten Schwänze und Mähnen. Lachen bei den Arbeitern, wütende Reaktion der Offiziere, aber nicht nur diese beiden Reaktionen, sondern auch Schluchzen bei den Frauen, die ihre Männer und Söhne im Krieg verloren hatten, wütendes und empörtes Schluchzen. Buttscheck und seine Genossen wollten sich verdrücken, denn diese Wirkung hatten sie nicht mit eingeplant. Da hatten Arbeiterfrauen geweint, Witwen, die fast täglich Kohl aßen und grüne Heringe, aber hier auf der Tafel wollten sie die Namen ihrer Männer eingemeißelt sehen, wenigstens das und eine Feierstunde.
Diskussionen im Jugendverband. Die Faust gereckt. Das war doch eine Ehrensache für Jungkommunisten. Aber das Ergebnis, Genossen?
So erreichen wir weder Breitenwirkung noch Massenbasis. Ihr denkt, revolutionär zu sein, ihr seid disziplinlos, ein Kommunist ohne Disziplin hört auf, ein Kommunist zu sein.
Lieber Buttscheck, du freust dich, dass ich gekommen bin, nun erzählst du mir deine Geschichten, ich wollte aber von Blenkle hören. Erzählt man in einem bestimmten Alter immer nur die eigenen Geschichten? „Ich hatte einen linksradikalen Drall“, sagte Buttscheck, „keine Arbeit, immer Knast auf Essen, und diese andern hatten alles, sie konnten einem die Arbeit geben oder wegnehmen, das reichte für mich, da brauchte ich keine Theorie, aber Einfälle für Aktionen, so dachte ich jedenfalls.“
Vorstellen konnte sich das Kalle Kortum: wie die Partei zu Erwerbslosenkundgebungen aufrief und Buttscheck an die Mitglieder seiner Gruppe sogenannte Waffen verteilte, nämlich sechs bis acht Zentimeter lange Stopfnadeln. Die Erwerbslosen trafen sich auf dem Nikolaiplatz, der von den schönen Kastanien umgeben war und immer noch ist, denn die Kastanien verbrannten nicht in der Bombennacht, sie wurden nicht mal für Barrikaden gefällt (in diesem Stadtbezirk befehligte Kantor Robbenkill nicht) oder als Brennholz nach dem Ende des Krieges. Jedenfalls kam damals, während die Kundgebung lief, berittene Schutzpolizei aus der Großen Schulstraße und umstellte den Platz. Buttscheck sah die Arbeitslosen, die froren, und die Polizisten auf feisten Pferden, denn für ein Pferd im Dienst der Polizei wurde mehr Geld ausgegeben als für eine Arbeitslosenfamilie. Rührte sich so ein schnurrbärtiger Polizist gegen die Menge, gab Buttscheck schon das Signal, und seine Freunde stachen überraschend mit ihren Stopfnadeln in die feisten Pferdehintern. Darauf waren weder die Polizisten noch die Pferde vorbereitet. Die Tiere reagierten entsprechend und gaben die Schuld den Reitern, hörten nicht mehr auf Kommandos, stiegen auf, so hoch sie konnten (sehr hoch nicht, denn sie waren schwer wie Schultheiß-Brauereipferde), und warfen ihre Reiter ab. Nichts wirkt lächerlicher als ein stolzer, krummbeiniger Reiter, den das Pferd abgeworfen hat. Der Platz aber wurde nun gesäubert, wie es offiziell später hieß „infolge einer Provokation durch Jungkommunisten“!
Kortum war zu dieser Zeit noch nicht auf der unruhvollen Welt. Er kannte die Zeit aus dem Studium, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band vier. Aber solche Anekdoten kannte er nicht, trotzdem dachte er, dass Buttscheck ins Schwatzen gekommen sei und vergessen habe, warum er, Kortum, da sei. Conrad Blenkle, hast du den einmal gesehen, getroffen oder gesprochen, wie sah er aus, wie wirkte er auf dich, wie bewegte er sich?
Buttscheck spürte die Gedanken. „Bin nicht quasselig, ach man nicht, bin genau beim Thema, Kalle, alles geht seinen sozialistischen Gang, einmal konnte ich mich nicht rechtzeitig aus der Affäre ziehen und flüchtete auf einen stabilen Kastanienbaum und beobachtete alles vom Hochsitz aus. Ich hatte gehofft, die blauen Brüder würden mich vergessen, aber Pustekuchen, mein Baum war nicht meine Welt und erst recht nicht meine Festung. Ein Spitzel muss es dem Leutnant gestochen haben. Jedenfalls kam der Offizier zu mir geritten, strammer Krosigkadel aus Hohenerxleben an der Liethe, und rief hoch, ich sollte sofort runterkommen. Wir kannten uns ja. Ich sagte, er könnte mich mal am Arsch lecken. Darauf er: Wenn ich nicht runterkäme, müsste er mich sistieren. ‚Mensch, hau ab‘, rief ich wütend. ,Herr Buttscheck‘, schrie er, denn nun war ihm angesichts der Zuschauer um die Autorität bange, ,Herr Buttscheck, wir holen Sie mit der Feuerwehrleiter herunter, ich höchstpersönlich!‘ Ich, frech wie Bolle, sagte, wenn er jetzt nicht wegginge, würde ich ihm höchstpersönlich auf seinen glänzenden Tschako pissen. Die Zuschauer in den Fenstern lachten, und ich machte meine Drohung wahr, denn ich hatte ein paar Biere intus, aber ich musste eben dringend mal, er hätte ja weggehen können …
Kalle lachte. Buttscheck lachte noch eine Weile länger, weil er sich dabei an jedes Detail erinnerte; was man in frühem Alter erlebt, vergisst man nicht so leicht. Sonst sah man Buttscheck das Alter nicht an. Er hielt sich gerade und trug keinen Bauch vor sich her, seinen Schädel rasierte er noch immer blank; er hatte ein modernes Hemd an und ein buntes Tuch um den Hals und lief nicht in Filzpantoffeln durch die Wohnung, sondern auf Strümpfen, auf roten modischen Strümpfen. Die warme Wohnung wurde ferngeheizt und war bequem für einen Mann, der allein lebte. Man traute ihm zu, dass er im Sommer schwamm oder paddelte und im Winter Ski lief und dabei noch eine gute Figur machte.
Kalle fragte: „Und was habt ihr damals erreicht? Schlossen sich die Erwerbslosen nach euren Aktionen gegen die Pferdehintern zusammen? Ihr habt sie abgeschreckt, sie dachten an Arbeit und kranke Kinder, und die Polizisten waren sogar Sozialdemokraten. Mit denen wolltet ihr nun eine Front bilden!“
Buttscheck winkte ab, alles klar, Junge, heute brauchst du mich nicht zu agitieren, heute bin ich klüger, aber wie das so ist, manchmal wollen wir etwas und denken, nur das ist das Richtige, und wundern uns darüber, wenn unterm Strich nicht das herauskommt, was wir erwartet haben. „Revolutionär wollten wir sein, Kalle, wir hassten fast animalisch, und uns fehlte Wissen. Ein paar Wochen nach meinem Wasserangriff auf den Offizier musste ich nach Berlin zu einer Schulung fahren, als Vertreter des Politleiters, aber ich denke, die haben das absichtlich gemacht, um mich an die Theorie heranzubringen, sechs Wochen Lehrgang. Ich weiß noch, wie ich ankam, den Koffer voller Bücher, in die ich nie gesehen hatte, von denen ich nicht mal die Titel kannte, ach man nicht, und ein Kilometer vor dem Ziel riss der Griff, und ich trug den Zentner Wissen auf dem Kopf, wie eine Afrikanerin ihr Wasserfass, in den Kopf, da sollte aber alles rein. Thälmann sprach zu uns und Duncker, und Conrad Blenkle redete über die Taktik des Jugendverbandes. Abends saß er unter uns und ließ sich aus den Bezirken berichten. Und was machte ich Gockel? Stolz erzählte ich von unseren Partisanenstreichen, den roten Heldenlöwen und der Stopfnadelschlacht, aber Blenkle verzog keine Miene, du, ich dachte, das ist so ein Stiller, Ernster. Er hat einen Pfiffitätenblick, fand ich, nicht hochgewachsen, eher breit und ruhig, und große Hände hatte er, das fiel mir gleich auf. Er soll ja mal Bäcker gewesen sein, die haben solche Flossen, die walkten ja den Teig mit den bloßen Händen durch. Aber Kalle, was dann auf mich zu kam, das war kein stiller, zurückhaltender Blenkle mehr, er wurde nicht laut, aber verdammt kritisch und energisch, er geigte mir vielleicht die Meinung …“
Kann ich mir vorstellen, dachte Kortum, aber Marga hat völlig recht, als sie gestern Abend nach der Lektüre meiner Aufzeichnungen sagte, Blenkle habe nicht an sich gedacht, er sei diszipliniert gewesen, aber doch wohl bis jetzt zu farblos für die Hauptgestalt eines Buches, denn ein Buch müsse ja wohl ein Abenteuer sein, und mit welchem Stromstoß ich beginnen möchte, denn mit einer Milieuschilderung um die Jahrhundertwende sei es wohl nicht getan, die hätten wir ja schon oft gehabt.
Dabei hätte er Marga erzählen können, wie Conrad und Käte sich kennengelernt hatten. Auf Diskussionen des Kommunistischen Jugendverbandes natürlich, hätte Marga gesagt, wo denn sonst. Aber anders als du mit deinen Freunden saßen sie abends zusammen, hätte er sagen können, die machten nicht Musik, dass die Grundfesten der Häuser erschütterten, hör dir das Tonband an, was die Käte zu erzählen hatte. Lernen, lernen und nochmals lernen, hätte Marga spöttisch erwidert, dazu hatten die ja bloß die Abende, das ist mir klar.
Käte erinnerte sich an eine Rede, die Conrad über Lenin gehalten hatte, von der sie ganze Sätze, ganze Abschnitte behielt. Diese Rede, ohne Klischees, nicht schwungvoll, nicht pathetisch - wie Conrad über Lenin sprach, so konnten sie ihn sich vorstellen.
Nach den Versammlungen aber wäre Käte lieber durch die Parks gegangen oder zum Tanz, aber nun war der Conrad erstens ein miserabler Tänzer, und zweitens liebte er die burschikose Käte auf seine Weise. Käte sah so gut aus, dass sie Mühe hatte, das Misstrauen der anderen Mädchen aus der Gruppe zu überwinden. Mädchen, die den Männern gefallen, brauchen ja eine gewisse Zeit, um von gleichaltrigen Kameradinnen akzeptiert zu werden. Das war unter Jungkommunisten nicht anders. Dass Käte ganze Passagen aus dem Faust auswendig konnte, sogar erklären konnte, beeindruckte Conrad zwar, brachte ihn aber nicht aus der Ruhe, er hatte seinen Plan mit ihr: „Du musst mehr wissen, wir werden das Kapital lesen, Abschnitt für Abschnitt, jeder für sich. Für mich ist es eine nützliche Wiederholung. Und dann frage ich dich ab.“
Käte wollte lernen. Disziplin ist nötig im Klassenkampf, das wusste sie schon von ihrer Arbeit im Verband her. Sie las zuerst das, was er bereits angestrichen hatte, las seine Randbemerkungen. Es fiel ihr schwer, sodass Conrad sie tröstete, es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre hellen Gipfel zu erreichen, die die Ermüdung beim Erklettern ihrer steilen Pfade nicht scheuen. „Das sagt Marx selber, Käte.“ Sie wollte nicht ermüden, las das Kapital, las in dieser Kritik der politischen Ökonomie, und Sätze, Abschnitte wurden zu Festungen, die von ihr berannt wurden. Der junge Mann, den sie liebte und bewunderte, saß ihr gegenüber und sah, wie sie lernte, nachschlug, wie sie sich Auszüge anfertigte. Abend für Abend. Mal schob er auf ihr Bitten hin einen Theaterbesuch ein, Schauspiele liebte er wie sie. Dann der Tag, an dem er sie über „das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes heutiges Gesellschaftssystem dreht“, abfragen wollte.
Feuerte sie das Buch in die Ecke, wie weiland Martin Luther das Tintenfass, mit dem er den Teufel attackiert haben soll? Hätte sie es getan, es wäre zu verstehen gewesen.
Conrad wusste Rat. „Ich kann dir das Kapital nicht populär erzählen, du musst es verstehen, aber fang mal mit diesem Buch an.“ Er reichte ihr ein schmales Bändchen. Käte sah auf den Titel: Lohn, Preis, Profit. Das begriff sie. So arbeitete sie sich mit seiner Hilfe an das Kapital wieder heran. Sie liebten sich. Sie lernten gemeinsam. Sie waren so jung. Er sagte zu ihr: „Es muss sein, Käte. Erst wenn wir alles verstanden haben, wir alle, werden wir eine Macht sein.“ Sie lächelte traurig und dachte: Ein ulkiges Paar, wir beide, draußen duftet der Flieder und singen richtig echte Nachtigallen im Lustgarten, und wir lesen unter der Lampe, lesen und spielen Macht und tun so, als warte auf uns die ganze Welt.
Kortum hätte die Szene beschreiben können: war da auf der einen Seite der junge Kommunist mit acht Jahren Volksschule und autodidaktisch erworbenem Wissen, auf der anderen Seite dieses lyzeumgelehrte Mädchen, Tochter eines sozialdemokratischen Landrats, das von Ideen und Lust am Leben sprühte? Nein, da waren zwei junge Leute, zwei junge Kommunisten.
Conrad umgab sich ihr gegenüber nicht mit einem Schutzpanzer, er spielte seine Stärke nicht aus.
Kortum hätte seiner Tochter Marga sagen können: Was Conrad und Käte bis in die Nacht hinein lernten, lernen mussten und lernen wollten, das gehört für euch heute zum Lehrstoff der Schulen in unserem Lande. So schwer musste man sich damals die Kenntnis um die Macht aneignen.
Und nun hatte er ihr das alles nicht erzählt, sondern war zu dem alten Buttscheck gegangen.
„Überhaupt“, sagte Buttscheck, und die folgenden Worte gingen ihm leicht und flüssig vom Munde, als sei er froh, eine Rechtfertigung gefunden zu haben, „überhaupt muss ich fragen, wie du nach fünfundvierzig gewesen bist? In der Antifajugend und dann als FDJ-Vorsitzender im Betrieb! Als du die Rollläden des Assessors reparieren solltest, hast du das so geschickt gemacht, dass sie nach einmaliger Benutzung allesamt untenblieben und nicht mehr zu reparieren waren! Und gesagt hast du, der Betrieb gehöre uns noch nicht, sondern dem Assessor, soll er doch im Dunkeln bleiben. Und wie war das, als ihr Kohlen aus dem Betrieb geklaut habt? Auch da die gleiche Ausrede.“
„Das war für eine gute Sache“, verteidigte sich Kortum, „der Winter war so kalt und die Fenster des FDJ-Heims nur mit Pappe vernagelt, wie sollte man da die Masse gewinnen und Jugendarbeit machen?“
„Siehst du. Ach man nich, Kalle, Ausreden sind das. Die Theorie fehlte euch genauso wie uns damals.“
Sie einigten sich, tranken den kühlen, antiseptischen Wein, und Kortum stieß wieder zum Thema vor: „Den Nutzen eurer Aktionen hatte natürlich nicht die Kommunistische Partei.“
„Hat Blenkle uns auch gesagt, stimmt, hat er mir persönlich gesagt. Und noch mehr. Hat von anarchistischen Tendenzen gesprochen, das war wie ein Schimpfwort für mich. Ich wusste nur, dass diese Brüder das Chaos wollten. Habe mich gewehrt, aber Conrad fragte gezielt und bohrte direkt, da verlor mein Ballon die Luft, alles ging seinen sozialistischen Gang. Er sagte, man könne nicht alle in einen Topf werfen, die Nazis, den Staatsapparat, die Polizei, die Sozialdemokraten, man könne keinen roten Michael Kohlhaas spielen und gegen alle wild um sich schlagen.“
„Ich denke, den Blenkle kann ich mir schon vorstellen.“
„So?“ Buttscheck setzte das Glas hart ab, und kleine Falten stakten über Stirn und Glatze. „Wie denn?“
„Er hat dich auseinandergenommen, er hat eure Taktik seziert, er hat unfehlbar getan, was?“
„Falsch“, sagte Buttscheck, „Blenkle war nicht der Mann, der einen fertiggemacht hat. Da sitzt du im falschen Dampfer. Was weißt du denn von dem Menschen Blenkle schon?“
Was wusste er. Solche Fragen hasste Kortum, Schulfragen, Prüfungsfragen, Seminarfragen. Aber bitte, er wollte den alten Genossen Buttscheck nicht verstimmen. Die Eisschollen auf dem stillen Wasser unter dem Fenster trudelten die Zeit mit sich hinweg.
Von dem Menschen Blenkle wusste er, dass er viel gelesen haben soll. Er nahm auf der Wanderschaft nur Arbeit an, wenn sich im Ort eine Bibliothek befand. Die Französische Revolution interessierte ihn, die Frage der Ausübung der Macht und die Gefahren ihres Gebrauchs. Er stritt gern und plapperte nicht nach. Er hat die Zeitung gelesen, wenn vorn am Rednerpult einer Phrasen von sich gab, und er soll den Mut gehabt haben, unangenehme Wahrheiten zu sagen, Illusionen zu zerstören und überholte Arbeitsmethoden aufzugeben.
Als Blenkle, dreiundzwanzigjährig, Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes wurde, war genau er - so sagten das die noch lebenden Zeitgenossen - der richtige Mann. Denn 1924 war die revolutionäre Welle in Deutschland abgeebbt, da reichte es nicht mehr aus, rein gefühlsmäßig zu hassen oder Brandreden zu halten, da brauchte der Verband einen gediegenen, sachlichen, ruhigen Vorsitzenden, der über ein großes Wissen verfügte und der nicht auf die Werbung der Trotzkisten hereinfiel, die die radikalen Jugendlichen gegen erfahrene Funktionäre ausnutzen und Weltrevolution spielen wollten. Blenkles Freund Erich Wendt erinnert sich: ‚Unter seiner Leitung wurde ein umfangreiches Studium des Marxismus-Leninismus organisiert: Wochenendschulungen, Vierzehntageschulungen - ja, obgleich wir ständig mit Geldnot zu kämpfen hatten, brachten wir es sogar fertig, Vierwochenschulungen durchzuführen. Die Zeit wurde dabei bis zur letzten Minute ausgenutzt ... Conrad selbst war ein ausgezeichneter Lehrer ...‘
Conrad Blenkle war also der richtige Mann, er wusste, welche Waffen ein Jungkommunist anwenden musste, diese Waffen hießen zu dieser Zeit: historischer Materialismus, politische Ökonomie, Staatstheorie, die Lehre von der Partei, Strategie und Taktik des Kampfes der Arbeiterklasse ... Das sind die Waffen der Arbeiter geblieben, Kortum, überall in der Welt.
Und Blenkle wurde anerkannt. Weil er der Vorsitzende war? Nein. Darauf pochte er nie, sagten die Zeitgenossen. Dank seines Wissens, dank seiner Fähigkeit, dieses Wissen anzuwenden.
Und der Kommunist wurde mit sechsundzwanzig Jahren Abgeordneter des deutschen Reichstages und nach dessen Auflösung verhaftet und verurteilt zu Festung, wegen Gefährdung der Republik in Wort und Schrift, wurde Illegaler in Deutschland nach 1933, litt unter den Schmerzen des grauen Stars, wurde Illegaler in Holland, in Bremen, leitete den Abschnitt Süd der Partei von Zürich und während des Kriegsausbruchs den Widerstand der deutschen Küstenstädte von Kopenhagen aus an, wurde verraten und an die Gestapo ausgeliefert und nach langen Verhören in Plötzensee enthauptet.
Hätten sie ihn damals nicht guillotiniert, so wäre er bei uns, nach Meinung des Schriftstellers Kortum, Mitglied des Politbüros oder Minister oder ein bekannter Historiker.