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Sabine Wulff reißt von zu Hause aus und lebt mit Jimmy zusammen, der sie zum Zigarettendiebstahl verleitet. Dafür muss sie in den Jugendwerkhof. Nach der Entlassung möchte sie ein neues Leben beginnen. Sie mietet ein möbliertes Zimmer und arbeitet in einer Schuhfabrik. Ihre Kolleginnen reagieren misstrauisch und ablehnend. Doch sie hat einen starken Willen und vertritt offen ihre Meinung. Sie deckt einen Betrug auf und fasst allmählich in der Fabrik Fuß. Sabine sehnt sich nach Liebe und scheint von Jimmy nicht loszukommen. Doch in der Fabrik ist ein tüchtiger junger Mann, der Vorurteile gegen eine vom Werkhof hat. Das Buch erschien erstmals 1976 beim Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig unter dem Titel "Gesucht wird die freundliche Welt". 1978 wurde es unter dem Titel "Sabine Wulff" von der DEFA verfilmt (Drehbuch und Regie: Erwin Stranka, die Sabine spielte Karin Düwel). Inhalt: Für Ruth Nach einem Tag Freiheit Aber halten Sie sich bitte an die Wahrheit Sie denkt, sie kennt sich ganz gut Da war sie gegangen Was sind denn das für Töne? Wie freundlich ist eigentlich die Welt? Sie hat mich nicht gesehen Die hundert Minuten im Schatten Eteputete, schämst du dich manchmal? Wunde Finger im Labyrinth Ich kann mich gut an sie erinnern Hotte und Mule, das Maultier Gerade auf ein paar Zeilen von ihr Moritz, die Hose brennt! Nein, weder den Käfer im Ohr noch Sabine Und einen Ordinären! Die mischt sich in deine Angelegenheiten ein? Höchstens drei Wochen und drei Tage Denn sie führt was im Schilde ...wenn er anfängt, ein Mensch zu sein. Ich bin um einige Erfahrungen reicher Aber will der Mensch auch mehr, wenn er kann? Ich zerreiße mir nicht den Mund Doch nicht für das Land Nirgendwo Meinem Modellbild von einem Mädchen entspricht sie Muss er damit rechnen?
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Seitenzahl: 482
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Heinz Kruschel
Sabine Wulff – Gesucht wird die freundliche Welt
Roman
ISBN 978-3-86394-424-7 (E-Book)
Das Buch "Gesucht wird die freundliche Welt" erschien erstmals 1976 beim Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Nur wenn wir träumen, sind wir frei.
Mick Jagger
Durch die Gewohnheit, süße Lehre leicht zu empfangen, erschlafft bei den meisten die Gewohnheit, sich selbst zu suchen.
Lichtenberg
Nackt ist der Popo des Bruderlosen.
(nordisches Sprichwort)
Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein...
Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können.
Friedrich Engels
Da kann man eigentlich noch nicht viel sagen, ein Tag ist kurz. Aber für dieses Mädchen, dessen Geschichte erzählt werden soll, ist er lang. Sie sieht sich wie einen Menschen, den man flüchtig gekannt hat: Das bist du also, das ist aus dir geworden, achtzehn Jahre alt, du willst dein Leben nun selber bestimmen, und dieser Tag ist dein Anfang.
Sagen wir: ein neuer Anfang. Denn die Geschichte des Mädchens beginnt eigentlich früher. Aber wann beginnen solche Geschichten? Sie könnte mit dem Tage beginnen, da sie von ihrem Vater wegen schlechter schulischer Leistungen mit einem Kleiderbügel verprügelt wurde. Sie könnte im Zimmer eines Frauenarztes beginnen. Oder bei Jimmy. Da sagen die Dramatiker: Mach die ersten drei Minuten stark, sonst schalten die Leute ab.
So gesehen, wäre auch die Ankunft im Jugendwerkhof ein starker Auftakt - ein aggressives Mädchen, asozial, anarchistisch, wird eingeliefert.
Es gibt noch andere Möglichkeiten. Die Chronologie zum Beispiel. Wie das in ihrer Kindheit war, in diesem nach außen völlig intakten Elternhaus, wie sie nicht lügen, nicht heucheln wollte und wie sie sich darum eine Traumwelt aufbaute. Man wird viel Bedauern mit diesem Kinde haben können, man wird Partei ergreifen für Sabine, die Sympathie des Lesers wäre ihr sicher. Anders, wenn die Geschichte in einem der Selbstbedienungsläden begänne, in dem ein raffiniertes Mädchen stahl, besagte, bedauernswerte, sympathische Sabine Wulff nämlich, da hören doch Mitleid und Sympathie auf, und das ist sehr verständlich, denn sie verstößt gegen Normen des menschlichen Zusammenlebens. Das alles und viel mehr wäre möglich und vielleicht auch richtiger, als mit diesem ersten Tag der Freiheit zu beginnen, an dem das Mädchen spätnachmittags durch die Straßen geht und von allen Seiten, wo sie auch stehenbleibt, den Dom auf dem einzigen Hügel sieht. Der Dom, die bedeutendste Sehenswürdigkeit, ist für die Stadt, die wie ein eingerolltes Tier im Flachland liegt, das, was für Samarkand der Platz des Registan, für London der Tower. Ein schmutziggrauer Fluss umschnürt den Hügel des Doms und den mittelalterlichen Teil der Stadt.
Sabine geht unter den Leuten, die es eilig haben, weil sie vor Geschäftsschluss noch einkaufen wollen und es heute in den Gemüseläden Bananen geben soll. Sie hat es nicht eilig, nicht mehr, und sie mag gar nicht mehr den alten Dom sehen, der behäbig und selbstzufrieden mit seinem dicken Turm droht. Sie geht nicht einmal im Sinne eines gleichmäßigen Sichfortbewegens, mal balanciert sie auf der Bordsteinkante, mal streicht sie wie eine Katze an den Schaufenstern entlang, bleibt stehen vor der eingerosteten Sonnenuhr, deren Stiefmütterchen sich zu runden Beettupfern verwuchert haben, und achtet nicht auf die Burschen, die durch die Zähne pfeifen und dem Mädchen nachsehen. Sabine Wulff weiß, wie sie aussieht. Daran liegt es nicht, beachtet wird sie schon.
Sie hat einfach kein Ziel.
Die Menschen auf der Straße haben heute alle ihre Pflicht getan, sie nicht. Liegt es daran? Sie ist enttäuscht. Dabei hat sie am Morgen das fremde, möblierte Zimmer verlassen, das ihr zugewiesen worden ist, und ist losgelaufen, da noch schnell, da noch voller Erwartung. Nun ist sie enttäuscht.
Natürlich, sie hat Zeit. Zum ersten Male seit zwanzig Monaten Zeit, über die sie frei verfügen kann. Sie muss sich nicht bis siebzehn Uhr in dem nach Bohnerwachs riechenden Gemeinschaftsraum aufhalten, um sich einen Vortrag über Babypflege anzuhören. Sie muss nicht die Ordnung in den Schränken der anderen Mädchen kontrollieren und ihre spitzen Worte schlucken. Sie muss nicht ihre Schuhe putzen, sie muss nicht. Sie muss sich nicht selber einschätzen. Nichts muss sie?
Sie könnte in ein Kino gehen, ganz allein, nicht wie bisher in der geschlossenen Gruppe, angeführt von einer Erzieherin, der kleinen Wachtel etwa, die wie ein runder Wachturm durch enge Gassen walzt, die immer darauf achtete, dass sie brav zu zweit gingen: eine Herde halbflügger Enten mit einer Ersatzhenne.
Sie könnte sogar ein Bier und einen doppelten Braunen trinken oder Eis essen und darauf warten, bis ein Bekannter kommt: He, Sabs, du bist wieder draußen, die Zeit vergeht, eh? Solche Fragen fürchtet Sabine nicht, wirklich, darüber ist sie hinaus.
Was soll nun werden?
Die vielen Stunden auf den Straßen haben ihre Fragen nicht getötet. Sie betrachtet mit leerem Blick die Schaufenster und denkt daran, dass sie auf der Stelle eine kleine Ohnmacht gebrauchen könnte, eine Ohnmacht wie im Kino: Man wird von helfenden Händen aufgefangen und hört die Stimmen der Leute. Diese Kleine, was hat sie nur, viel zu dünn angezogen, bestimmt steckt ein Kerl dahinter, es wird zuviel verlangt von der Jugend. Alles mit anhören, die Augen schön geschlossen halten, bis die starken Männer mit der Trage kommen. Da hat man keine Angst, fallengelassen zu werden, man kann sich schwer machen, solche Männer lassen keinen fallen, dürfen sie schon von Berufs wegen nicht. Man schwebt in den weißen Wagen und lässt die Gesichter zurück. Und diese gleichen Gesichter, die sie eben nur flüchtig gemustert haben, zeigen sich nun besorgt, mitfühlend, aufmerksam und neugierig, so schnell ändert sich das.
Und der Arzt sagt: Das wird alles wieder, Sie bleiben vorläufig bei uns, unter Kontrolle. Unter Kontrolle, das ist gut, das Essen wird ans Bett gebracht, allerdings salzlos, aber das schwemmt wenigstens nicht auf.
Die Stadt ist nicht groß, sie wird bedrängt von endlosen Feldern, auf denen die Zuckerrübe zu den schattenspendenden Gewächsen gezählt wird; sie ist eng und laut, und sie riecht nach Industrie. Sabine nimmt die Geräusche nicht wahr, dabei hätte sie es tun müssen nach der Einsamkeit in ihrer Außenstelle hinter der alten Wassermühle, wo in den Tümpeln an warmen Abenden die Krötenmänner auf den abgestorbenen Pflanzen hockten und dumpf nach den Weibchen schnarrten.
Gedanken, Gedanken, wieder ein neuer Einfall: ein paar Schritte auf die Straße tun, die man nur an den ampelbewehrten Übergängen betreten darf, Notbremsung, spitze Schreie, ein harter, trockener Schlag, kein Schmerz, aber feuchte, klebrige Wärme am Bein, und still liegenbleiben , während die Stimmen der Passanten auf den Fahrer einhacken.
Das kennt sie doch. Nicht nur aus dem Kino, sondern schon aus eigener Erfahrung, das hat sie hinter sich. Fast alles, was man so träumt, ist schon erlebt oder wird noch erlebt werden.
Und Sabine sieht die streng blickenden Polizisten vor sich, die mit Kreide auf dem Asphalt den Vorfall rekonstruieren, immer ein bisschen grauslich, wie so die Umrisse eines Menschen nachgezeichnet werden: Da lag sie nun, so jung, so hübsch, in dieser verkrampften Haltung. Und während die Zeugen noch eine Weile den Fall besprechen, liegt sie schon unter einer Narkose und träumt. Von der Kindheit. Von der lieber nicht, aber von den schönen Stunden, darüber müsste sie nachdenken, welche Stunden sie mitnehmen möchte als Privatfilm in so einen Narkosetraum. Wenn wir träumen, sind wir frei, das war immer Jimmys Parole. Und erst aufwachen, nachdem operiert und verbunden ist, ein bisschen weinen und die Fragen des Arztes beantworten, der etwas an sich hat von dem Erzieher Kurt Knuth, nicht äußerlich, aber von seiner bohrenden, ruhigen Art. Du kannst Sabine zu mir sagen, Doktor. Ja, ich bin erst einen Tag und eine Nacht in der Stadt, gestern habe ich Formalitäten erledigt, ich werde nachbetreut und habe mit meiner Wirtin, Frau Prieselank, Kaffee getrunken und mich bald schlafen gelegt, ich schlafe gern, im Heim hatten sie immer Mühe, mich wachzubekommen. Im Heim, na ja, im Werkhof, Heim klingt familiärer und mehr nach längerem Ausflug oder nach Kur. Ich hätte in den Betrieb gehen müssen, zur Anmeldung, ich habe es nicht getan. Nein, mein Vater wird mich bestimmt nicht besuchen, erstens hat er bei unangenehmen Dingen stets Sitzungen, und zweitens schämt er sich dieser Tochter. Ja, meine Mutter, die kommt bestimmt, sie wird weinen und Blumen, Konfekt und eingeweckte Heidelbeeren mitbringen, selber gepflückt. Nein, ich weiß nicht, wie das geschehen konnte auf der Straße, zu wenig gegessen, ein leichter Schwindel, angestoßen, ausgerutscht auf einer Bananenschale, heute gab es Bananen, ich esse sie nicht gern, sie stopfen so. Nein, ich habe keinen Kummer, jedenfalls hat mich keiner verlassen, im Gegenteil, Peggy kann mich mal, und mit Jimmy ist es endgültig vorbei. Und nun habe ich einfach richtige Lust darauf, dass sich andere Menschen um mich kümmern müssen, dass sie dazu verpflichtet sind. Ziemlich verrückt, was?
Der Mensch soll nicht gern allein sein. Sabine ist es schon gar nicht, Einsamkeit heckt düstere Gedanken. Heute früh war das anders. Sabine machte nicht einmal ihr Bett, das trostlose Zimmer war in warmes Licht getaucht, so dass die alten Möbel wie von innen heraus leuchteten, sie sang mit vollem Munde die Ballade von Gary Rader, biss mal von dem Brötchen ab, ließ Tasse und Frühstücksbrett stehen und lief los zu den Freunden. Freunde, denkt Sabine jetzt, Freunde, ich bin nur noch ihren mickrigen Abziehbildern begegnet.
Ja, schlafen ist gut, Doktor, geben Sie mir eine Spritze und lassen Sie mich eine schöne Weile hier.
Gedanken sind das, pure Drückebergerei. Fragen und Antworten, irgendwann gelesen, gehört oder schon selber gesprochen. Aus den Gedanken aber wird kein Sprung zur Tat.
Was hält sie denn zurück?
Sabine geht in eine kleine Anlage, in der graue Rentner sitzen, und kauft sich eine heiße Wurst, die scharf und fett schmeckt, aber sie isst nicht aus Hunger, nur die Zeit, die Zeit soll vergehen.
Dann geht sie zur Straße zurück und betrachtet in einem glotzäugigen Schaufenster ihr Spiegelbild: ein sonnenbraunes, steifes Gesicht, kurzes schwarzes Haar und woIIige Brauen, den nackten, flachen, sonnenbraunen Bauch zwischen Minibluse und Jeansbund. Sie zieht vor diesem Bilde Fratzen. Den Mund breit, das wird kein Lächeln; auf Befehl lächeln, das kann sie nicht. Von der Seite ganz schön blusig, das lässt sich sehen. Die Schultern hoch, den Kopf dazwischen, du Fischweibchen ohne Hals. Den Kopf in den Nacken, Reklame für Sonnenöl, und lächeln, lächeln, unecht und verlogen.
Sabine Wulff, das bist du nun. Achtzehn und eine richtige Akte. Allein und frei, das wolltest du doch? Allein wollte sie aber nie sein, frei sein, das wollte sie schon als kleines Kind, das ja. Sie wollte nicht in das Dorf am Rande des Harzes entlassen werden und fragt sich nun: Hast du dir wieder etwas vorgemacht? Du wolltest dir doch nie wieder etwas vormachen, du hast Vorsätze mitgebracht. Wirfst du sie weg, weil du zwei Enttäuschungen erlebt hast? Bist du so schwach? Dann geh nach Hause, ertrage deinen Vater.
Die Menschen vor dem Schaufenster sehen sie verwundert und belustigt an, ganz ulkig die Kleine, afft sich im Glas der Scheibe. Spaßvogel. Surrt da eine Kamera des Fernsehens, ist das eine Schlagersängerin, ein neuer Popstar, oder hat sie nicht alle bei sich, so genau weiß man das ja nicht. Sabine erwidert die Blicke ungeniert und klatscht sich dabei rhythmisch mit der flachen Hand gegen den Bauch. Ist doch noch was, ohne Ehespeck, ohne Fettseite, ohne Mütterfalten. Na ja, so sehr wohl ist ihr nicht dabei, es war ihr eigentlich nie wohl, wenn sie provozierte, sie hatte immer Herzklopfen.
Ihr ist schlecht, sie schwankt, ihr ist, als schaukele sie auf einer Welle. Und das erinnert sie an die Ostsee, an das letzte Lager des Werkhofs an der Steilküste Rügens, Wochen erst her. Weiße Wolkenbären am blauen Himmel, monotones Rauschen im Ohr, viel leiser als die Abfüllautomaten in der Waschmittelfabrik. Und diese gleichmäßige Schaukelbewegung hatte sie an den Tanz erinnert, soulmusic, die Derwische sollen stundenlang gleichmäßig tanzen, so dass sie sich später Stopfnadeln durch die Gedärme pieken können, also eine solche Bewegung, Trance auf dem Wasser, du kannst dich sinken lassen, ganz sanft. Du kannst dich treiben lassen, wie ein Stück Holz. Du kannst unter Wasser die vergrünte Welt sehen mit verschwommenen Umrissen und den stummen hastigen Fischschwärmen.
Aber auf der See war wenigstens ein Schwimmer auf sie zugekrault, und Sabine Wulff hatte gleich gewusst, dass nur die Knuth oder ihr Mann so weit herauskommen würden, und es hatte ihr einen Stich gegeben: Nicht mal hier draußen lassen sie mich allein; nun rücke ich bestimmt nicht mehr aus. Aber zugleich war da ein Gefühl der Erleichterung: Ich weiß sie an meiner Seite, sie schwimmt neben mir her und lächelt mich ohne Vorwurf an aus ihren kurzsichtigen, schmalen Augen, und dabei sieht sie nicht einmal, ob ich überhaupt zurücklächle.
Der Strom der Passanten wird dichter. Sabine sieht die hastigen Menschen wie die stummen Fischschwärme in dem grünlichen Wasser, aber hier schwimmt keine Knuth auf sie zu, hier ist sie nun allein und frei.
Sie denkt: Über den heutigen Tag schreibe ich der Knuth einen Brief, das erleichtert, es ist besser als Heulen. Wenn man schreibt, dann scheint man mit einem Menschen zu sprechen.
Auf dem Kornmarkt, wo die kleinen Gassen beginnen, in denen früher die Tuchmacher und Lohgerber wohnten, hatten sie sich mal hingeflaggt, neben der alten Annenkapelle hatten sie gesessen und gelegen und Gitarre gespielt, dreckige Hüte auf den Köpfen. Arbeitsscheue, hatten ein paar Leute gesagt, und Hotte und Jimmy hatten mit dem Grünen diskutiert, ein progressiver Treff, ein Singeklub, eine kleine Schaffe. Das war ziemlich friedlich gewesen. The Cry Of Love, Mann, was der Jimmy alles aus der Gitarre herausholen konnte, das Glück in der Hand halten und träumen. Und wie der das machte. Three Little Bears. Sogar der Grüne hörte zu und fragte, ob sie nicht Black and White könnten, schließ dich uns an, du schwarzer Bruder. Da sagte Jimmy: Das können wir auch.
Heute stehen auf dem Kornmarkt Klettergerüste für die Kleinen und Bänke für ihre Mütter. Die Häuser in den mausgrauen Gassen haben welke Häute, Inschriften blättern vor sich hin: Rossschlächterei, echter Bohnenkaffee, Ausspann, Kostenlose Stimmprüfung, Kolonialwaren, Diwandecken, Taxator, Kautschukstempel. Sabine geht in eines der Häuser; in dem mit Ziegelsteinen ausgepflasterten Flur hört sie ihren Schritt als Echo. Auf der mit Jugendstilornamenten verzierten Wand hängen blecherne Briefkästen. Seitenhaus rechts, vierter Stock, bei Prieselank, darunter steht mit Filzstift: Sabine Wulff. Eingeordnet ist sie schon.
Durch ein flügellahmes Tor erreicht sie den Hof, zehn mal zehn Meter. Auf diesem sogenannten Hof stehen zwei Galerien mit Kette und Schloss abgesicherter Aschenkübel, jedem seine eigene Asche. Ein paar Motorräder, neben der Backstube ein Stangengestell, auf das der Geselle Kuchenbleche geschoben hat, es duftet nach Streusel und Mohn, und Sabine spürt ein flaues Gefühl in der Magengrube. Der Hof ist auch gemauert, überall Steine, Grün gibt es nur vor den Fenstern des dritten und vierten Stocks, zwei Sorten, Geranien und Petunien. Während das Mädchen Sabine auf dem dämmrigen Hof steht und auf dieses mickrige Grün vor den Fenstern plinkert, gegen die gelbe Dunstglocke sehend, hinter der sich eine Sonne redlich abquält, denkt sie an ihr Dorf, an den Geruch der Tannenwälder, an die Plantagen auf den Obsthügeln, die Kirschen so groß wie Mirabellen, und an die Falken, die sich über der Burgruine des ersten deutschen Königs in den Wind schwingen, und an ihren Vater. Sie hätte sogar Arbeit in einer der Verkaufsstellen, die ihrem Vater unterstehen, haben können, Arbeit und ihr Zimmer und dazu den väterlichen Rat: Ich verlange Unterordnung, in allem, du bist achtzehn, ich bin doch für dein Leben nicht mehr verantwortlich, leiste erst was, füge dich, du hast viel wiedergutzumachen, dann hast du meine Unterstützung.
Meine Unterstützung, Mutter würde er wieder unterschlagen, wenn er mein sagt, zählt er Mutter dazu.
Besten Dank.
Was also würde sie Doris Knuth denn schreiben?
Zum Beispiel: Sie wundern sich sicher, dass ich Ihnen heute schon schreibe, einen Tag nach der Entlassung, aber mir wäre wohler, ich könnte jetzt bei Ihnen sein und mich mit den andern zur Arbeit fertigmachen.
Sabine sieht auf die Uhr. Nein, um diese Zeit wäre sie in der Fabrik, schon bei dem Gedanken daran kribbelt ihr der Waschmittelstaub in der Nase.
Sie werden es nicht glauben, Frau Knuth, aber ich habe noch nicht einmal mein Zimmer aufgeräumt. Ich bin heute zu Peggy und Jimmy gegangen, von denen ich Ihnen erzählt habe. Sie fragen nach dem Warum? Sie wundern sich darüber? Aber wen habe ich denn schon hier?
Das könnte sie schreiben. Das wäre zugleich ein Eingeständnis: die Wulff immer mit dem Mundwerk vorneweg, und nun piepst sie klein wie eine Feldmaus im Loch. Wen interessiert das. Aber hier leben Peggy und Jimmy und die andern, hier lebt ein Stück aus der Vergangenheit.
Peggy sagt, sie wolle von dieser Vergangenheit nichts mehr wissen, ja, über diesen Besuch bei Peggy könnte ich schreiben und die kleine Wohnung schildern, Neubau, die schicke Küche mit Durchreiche, den weißen Popteppich mit knallroten Flecken, vor dem sie die Schuhe ausziehen musste. Peggys Eltern hatten ihr die Wohnung komplett eingerichtet, die alten Herrschaften machen immer noch ihren Reibach mit der Forellengaststätte am Kulkpaddenberg. Eine Bedingung hatten Peggys Eltern gestellt: Weg von dem alten Leben.
Durch Peggy, liebe Frau Knuth, habe ich Jimmy kennengelernt, und überhaupt war Peggy einmal meine letzte Hoffnung. Heute glaubte ich, sie könnte meine erste werden.
Nein, denkt Sabine, die Knuth würde sich fragen: Hat dieses Mädchen nichts kapiert? Die Zeit bei uns vergessen? Sie hat den eingerahmten Satz mitgenommen: Freiheit des Willens heißt nichts anderes, als mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Ja, Frau Knuth, ich habe den Satz gestern Abend noch über mein Bett gehängt, aber das ist nur guter Wille bis jetzt. Nein, Schreiben erleichtert nicht, denkt sie, während sie die ausgetretenen Stufen in den vierten Stock hinaufsteigt, Schreiben bringt alles wieder hoch, diese ganze Vergangenheit, als ob man mit einem Stock in einen Tümpel schlägt.
Die unteren Wohnungen sind geräumt, da lagert Baumaterial, der Schwamm soll schon bis in die zweite Etage gestiegen sein.
Frau Prieselank ist noch nicht zu Hause. Im Korridor riecht es nach kaltem Bratpfannenfett und Kartoffeln. Sabine reißt in ihrem Zimmer das Fenster weit auf und setzt sich auf das Bett. Es gibt gleich nach, sie sackt richtig ein, ein Kastenbett wie bei Oma, die Bettkante drückt die Kniekehlen.
Sie wird nicht schreiben. Sie will allein mit sich fertig werden. Auf einen solchen Brief würde die Knuth zu ihrem Mann sagen: Siehst du, Kurt, wir haben uns wieder etwas vorgemacht, wir hatten geglaubt, über solche Peggys ist Sabine längst hinaus.
Bin ich auch, denkt Sabine, aber der Mensch kann doch nicht einfach ein paar hundert Meter aus dem Film Vergangenheit herausschneiden und dann wieder zusammenkleben, die paar Meter verbrennen oder in einen der Aschenkübel auf den Hof werfen, ich habe nicht mal einen Schlüssel zu einem der Kübel.
Peggy aber könnte ich jetzt noch viel mehr sagen, hinterher fällt mir immer mehr ein, Schokoladenanarchistin, du kleinbürgerliche Pissnelke, Plüschfummel, du.
Das sind wirklich nicht ihre stärksten Minuten da auf dem Omabett, sie tut sich nur noch selber leid und beschimpft die ehemalige Freundin. Dabei könnte sie doch froh über die Reaktion Peggys sein. Froh könnte sie sein, weil sie eine alte, ungute Beziehung verloren hat, für immer. Für immer? Für dieses immer kann niemand eine Garantie übernehmen, und Sabine denkt beileibe nicht so analytisch, sie hat die neunte Klasse absolviert und ist nicht dumm, aber wenn sie jetzt über Peggy nachdenkt (und natürlich auch über Jimmy), droht der Bericht einseitig zu werden.
Darum könnte der Besuch bei Peggy wiedergegeben werden. Oder noch sachlicher: Frau Peggy Sandkorn, zur Aussage, bitte. Was können Sie uns über Sabine Wulff sagen?
Selbstverständlich, was denken Sie von mir? Ich bin zwanzig, ein gutes Jahr älter als Sabine Wulff. Ich arbeite in der hiesigen Schuhfabrik, Abteilung Zuschneiderei, und bin dabei, mich zu qualifizieren. Zurzeit Lohngruppe vier, sechshundert Mark. Mein Mann ist Fernfahrer im gleichen Betrieb, und er verdient gut. Er will nicht, dass ich mit Sabine wieder eine Verbindung aufnehme. Und er hat recht. Aber ein bisschen leid tat sie mir schon heute früh.
Das muss vor über drei Jahren gewesen sein, als Sabine zu mir kam. Mit dem Rad. Wir wohnten etwas außerhalb. Ihr Rücken schmerzte. Ihr Vater hatte sie verprügelt. Ich zog ihr noch einen kleinen Holzsplitter aus dem Rücken.
Ich hatte ein eigenes Zimmer unterm Dach und sagte, sie könne die Nacht bei mir bleiben, wir würden heiße Musik hören und Bier trinken, sie solle ihre alten Herrschaften schocken. Man kennt das doch. Wenn man nicht nach Hause kommt, werden die Alten ganz klein und denken, man hat sich was angetan. Da kriegen sie einfach Schiss.
Sabine fragte mich, ob meine Eltern nichts dagegen hätten. Aber die merkten von solchen Besuchen gar nichts. Die bedienten unten in der Kneipe und im Garten, zählten abends die Kasse und waren viel zu müde, um nach mir zu sehen. Sabine blieb also diese eine Nacht. Sie hat wohl damals das erste Mal Bier getrunken. Sie war blau und weinte und sagte, das wäre alles so schön bei mir.
Sabine war immer ein bisschen verrückt, sie wollte immer alles ganz haben: Jimmy, die Freiheit, das Glück, so absolut, sogar die Ehrlichkeit. Dabei hat sie mal im Selbstbedienungsladen geklaut. Aber das kam erst später. Nach dieser Nacht fuhr sie nach Hause zurück. Es gab mächtigen Krach mit ihrer Mutter. Für die war ich ein verdorbenes Früchtchen. Seitdem wohnte Sabine bei ihrer Oma und konnte ziemlich alles tun, was sie wollte. Mich besuchte sie jede Woche. Manchmal schwänzten wir die Schule, besonders dann, wenn die Hitparade von drüben übertragen wurde. Und später nahm ich sie mit zu Jimmy und zu seiner Gruppe in die Stadt, hierher, in diese Stadt. Das muss für sie völlig neu gewesen sein. Erst dieses Elternhaus und dann Jimmy, vor dem jede von uns weiche Knie bekam. Und die Musik vom Band, das Bier, die Zigaretten, der Schnaps, die Jungen und Mädchen, die kamen und gingen, wie sie wollten, die tanzten, tranken, redeten und die sich befühlten, um sich kennenzulernen, um jede Scheu zu verlieren. Entspannungspsychologie, sagte Jimmy dazu. Sie war gleich in ihn verknallt. Als sie allein tanzte, sagte er, sie solle doch die ulkige Bluse ausziehen. Sabine tat es auch, sie trug nie Büstenhalter. In der Nacht blieb sie bei ihm. Da war sie noch nicht einmal sechzehn. Jimmy sei das absolute Glück, sagte sie, bei ihm fühle sie sich frei und vergesse alles. Dabei nutzte er sie eigentlich aus. So sehe ich das heute. Ich habe auch mal mit Jimmy geschlafen. Davon darf aber mein Mann nie erfahren, da war Sabine schon im Werkhof. Es ist ein halbes Jahr her. Die Gruppe ist das wichtigste, sagte er, und man ist unfrei, wenn man nur einen Menschen liebt. Mit ihm schlief es sich gut. Eigentlich besser als mit meinem Mann, Jimmy wurde nicht müde und hatte immer neue Ideen. Aber ich will ihn nicht wieder sehen. Meine Eltern haben den Anstoß dazu gegeben und mich vor die Wahl gestellt.
Ist meine Entscheidung nicht normal? Entweder mit Jimmy auf den Bastmatten wie in einem chinesischen Schlafzimmer oder die tolle Wohnungseinrichtung hier. Entweder gammeln mit nichts in der Tasche oder sparen auf ein Auto. Entweder Großfamilie, in der kaum einer ein Einkommen hat, oder einen Ehemann mit über tausend Mark im Monat. Ich will mein Leben genießen.
Nun ist Sabine also wieder frei. Ich war froh, dass mein Mann sie nicht gesehen hat. Sie wird allerdings bei uns im Betrieb arbeiten. Zum Glück in der Stepperei. Ich hätte ihr wohl nicht erzählen dürfen, dass ein paar Frauen im Speiseraum gesagt haben: Da wird bestimmt bald geklaut werden, wir müssen unsere Klamotten wegschließen.
Sie ist ziemlich gemein geworden. Hab ich es nötig, mir das anzuhören? Nun ist es endgültig aus. Ich will nun auch nicht mehr, dass sie zu uns kommt. So eine kann mich gar nicht beleidigen. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen.
Aber die Jungs haben sich immer um Sabine gerissen. Gott, die leichte Ader, nicht wahr?
Sie hat gefragt, ob ich Komplexe hätte. Und ich solle mich von meinem Manne schön terrorisieren lassen. Ausdrücke hat die, richtig ordinär.
Ich weiß genau, dass sie wieder unter die Räder kommt. Von Jimmy lässt die nicht. Ich habe gehört, dass viele von denen, die aus dem Werkhof kommen, wieder rückfällig werden. Wetten, dass Sabine dabei sein wird? Das liegt im Charakter.
Mich interessiert, wie man schnell zu etwas kommt. Der Mensch lebt nur einmal. Alles andere lässt mich kalt. Darum leben wir auch gut. Ich arbeite nur bis zum ersten Kinde.
Und doch hat Sabine etwas, um das ich sie beneiden könnte. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Sie hat eigentlich immer gesagt, was sie dachte, und gemacht, was ihr einfiel, was sie gerade für richtig hielt. Da hat sie sogar den Lehrer Hardtgeb beleidigt.
Man muss sich anpassen können. Ich finde, wer ehrlich ist, der hat nur Nachteile...
Sabine ist nicht normal.
Das finden andere Leute auch, zum Beispiel Erich Wulff, Sabines Vater, der Schulfreund Frank, Lehrer Hardtgeb, die Erzieherin Wachtel vom Werkhof, die lange Vegas und sogar Jimmy.
Was heißt eigentlich NORMAL? Es könnte heißen, sich nach Normen zu bewegen und immer das zu tun, was derjenige, der sich selber für normal hält, von einem erwartet. Es könnte auch heißen, nicht aufzufallen, es mit keinem Menschen zu verderben, sich lieber die Zunge zu zerbeißen, als die Wahrheit zu sagen.
In diesem Sinne funktioniert sie nicht normal. Aber es gibt auch Menschen, die halten sie für normal, in einem anderen Sinne eben, wie das Erzieherehepaar Knuth, wie Onkel Karl Siedentopf und Hansel Voigt, ihr früherer Freund, wie Frau Doktor Ida Störeke und Direktor Schimmel, Hotte aus Jimmys Truppe und andere, für die es nicht nur Schubfächer für normale und solche für unnormale Menschen gibt.
Sabine sitzt nun schon seit einer reichlichen Stunde in ihrem schwülen Hinterhauszimmer.
Darum sagt sie sich: Ich schwitze, weil das ein warmer Tag war und ich mich nicht umziehen konnte, einen anderen Grund gibt es nicht.
Aber trotz des offenen Fensters bleibt es für sie zu warm im Zimmer, so dass sie die Jeans auszieht und den Slip und die schmale Bluse und aus der angeschlagenen Karaffe Wasser in die Schüssel gießt, die auf der marmorierten Kommodenplatte steht. Das verschlagene Wasser kühlt ihren heißen Kopf auch nicht ab. Sie lässt ihn an der Luft trocknen, stützt die Hände in die Hüften und besieht sich im Spiegel, das Gesicht in dem vergilbten Glas ist ihr fremd. Alles ist ihr fremd in dem Zimmer, das nun gar nicht mehr von dem warmen, gelben Licht erfüllt ist. Es macht ihr deutlich, wie allein sie ist.
Wenn wenigstens die Wirtin da wäre.
Es hat mich gepackt wie lange nicht, denkt Sabine, ich sehne mich nach einer fremden Frau mit dünnem Dutt und warziger Nase, aber gestern um diese Zeit hatte sie mit der Prieselank Kaffee getrunken und sich die Begrüßungsrede angehört, Erwachsene halten ja immer Reden, auch wenn sie sich mit dir bloß unterhalten.
Die Prieselank schlürfte ihren Kaffee mit Genuss. Das hier bei mir ist kein Luxus, nicht wahr, aber billig, wenn du mir acht Mark den Monat gibst, dann reicht es, du kannst sie mir auch später geben, brauchst doch sicherlich so allerhand vor dem Winter, ein Ofen soll noch gesetzt werden, und ruhig ist es hier, nicht wahr, immer mehr Mieter ziehen weg in das Neubaugebiet, von der Straße hörst du nichts, Toilette eine Treppe tiefer, aber sehr sauber, nicht wahr, und mit Wasserspülung sogar. Wie das mit Jungs ist, weißt du ja, nach zehn soll es nicht mehr sein, und nebenan ist die Küche, die kannst du benutzen, das Geschirr auch. Und wenn du mich mal brauchst, Bahnsteig drei, da verkaufe ich Bier und Würstchen, du bist ein bisschen durcheinander jetzt, nicht wahr, aber du wirst dich schon noch eingewöhnen, wir kommen bestimmt miteinander aus, ich schließe nichts weg, Vertrauen gegen Vertrauen.
Diese Frau Prieselank. Sabine hat schon öfter solche Reden gehört, immer andere, aber im Grunde liefen sie immer auf dasselbe hinaus: Nur Mut, du schaffst das schon, wir haben Vertrauen zu dir. Klar, die Prieselank gehört schon zur sogenannten Nachbetreuung.
Aber Sabine Wulff hätte sich jetzt, an diesem ersten einsamen Abend, viel lieber Geschichten aus dem Leben der Witwe Prieselank angehört oder noch so eine Eröffnungsrede, als allein zu sein und das Frühstücksbrett und die Tasse in die Küche zu bringen, unter fließendem Wasser abzuwaschen und sich umzusehen. In der Küche könnten sich zehn Personen aufhalten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Da gibt es sogar noch eine richtige Grude wie bei Oma, oder wie in der Bergfestung von Onkel Karl. Der Küchenschrank ist unverschlossen, altes Geschirr, die Reste von verschiedenen Services, eine weiße, brütende Porzellanhenne, von der man den Buckel abnehmen kann, in ihrem Bauch liegt allerlei Krimskrams: Lichtrechnung, Passbilder aus verschiedenen Jahrzehnten, aber immer mit derselben Frisur, ein Bon von der Reinigung, Knöpfe und Nadeln, ein Zwanzigmarkschein und ein Ohrgehänge, die Klunkern sehen sogar echt aus. Und eine Halblitertasse von der Silberhochzeit, Oma hatte auch solche Tasse, in die sie immer ihr Brot einbrockte, Brot in süßen Milchkaffee. Oma hatte nur einen Zahn, den konnte sie mit der Zunge umlegen wie ein Raddampfer seinen Schornstein vor einer Brücke, aber von dem Zahn wollte sie sich nicht trennen, er war für sie die Bindung an das Leben. Oma fehlt mir, denkt Sabine, die Glastür des Schrankes zuknallend. Dieser Zwanzigmarkschein ist doch pure Absicht. Man müsste ein Kofferradio haben, Musik hören und tanzen, aber das Kofferradio steht zu Hause. Sabine tanzt gern allein, sie hat auch bei Jimmy meistens allein getanzt, während die andern nach der Musik dösten, das Tanzen brachte sie richtig hoch. Dunderlatter, sagte Oma immer, sai hett den Danzworm im Bauch, wenn sie sich als Kind nach der Grammophonmusik drehte.
Und nun inspiziert Sabine Wulff die Wohnung der Witwe Prieselank. Eine fremde Wohnung ist ein Geheimnis, hinter Gegenständen und Bildern verstecken sich ein Lebenslauf und ein Charakter.
Das Nachbarzimmer, in dem die alte Frau wohnt und schläft, ist ein kleines Möbellager. Die Prieselank muss eine größere Wohnung gehabt haben, und nun kann sie sich nicht von den Dingen trennen, das kennt Sabine, Oma war so ähnlich. Ein Bett, dessen Pfosten handgeschnitzt sind, ein wuchtiges Ungetüm. Aber es ist auch noch nicht gemacht. Sabine öffnet das Fenster und schüttelt die Federn auf, Pechmarie, Goldmarie, sie weiß es nicht, und darum nimmt sie von der halben Flasche Eierlikör, die auf dem Tisch steht, einen kräftigen Schluck. Sympathisch, diese Prieselank liebt also einen Schluck. Viele Fotos an den Wänden, solche Bilder sehen überall gleich aus: die Tante verdreht schmachtend die Augen, der schnurrbärtige Vater blickt als Sergeant unerschrocken dem Apparat ins Angesicht, solche Röcke haben die damals getragen, der pomadisierte Onkel sieht vielleicht auf dem Bilde ehrlicher aus als im Leben, je mehr das Objekt lügt, desto wahrer ist die mechanische Wiedergabe. Ein Fernseher aus den Gründerjahren, ein richtiger Guckkasten. Fernsehen ist blöde, denkt Sabine, Vater saß jede freie Minute davor, er besah sich alles zum Zwecke der Bildung. Ein Schrank mit Schreibplatte, vollgestopft mit Kisten und Schachteln, darin Fotos, Weinaufkleber, Bierdeckel, Münzen, Briefmarken und Knöpfe. Ein paar abgewetzte Teppiche übereinander, ein Gummibaum stützt die Zimmerdecke wie Atlas das kugelförmige Gebilde, auf dem es diese kleine Stadt gibt. Eine Statuette, ein nackter Kegler, der zum Schwunge ausholt in Richtung Fernseher. Die Bäuche der zwei großen Gipshände sind mit breiten Silastikbinden umwickelt, anscheinend trägt die Prieselank einen Verband, aber keine Kinderbilder neuerer Zeit, Bestandsaufnahme: keine Enkel, aber das war mal eine Ehe in gesicherten Verhältnissen, vielleicht der Mann im Osten gefallen, weil er die Russen befreien wollte, die das gar nicht wollten.
Die Schwüle des Tages hat sich in das alte Mauerwerk eingenistet. Sabine geht in die Küche zurück, immer noch nackt, so hatte sie lange nicht umherlaufen dürfen, dabei bewegt sie sich gerne so, sie bewegt sich nackt so sicher wie in einem Kleid aus dem Exquisit, nein, aus dem Exladen hatte sie bisher ein einziges Kleid getragen, das zu ihrer Jugendweihe, sie hat es nur ein einziges Mal angezogen und dann die Rüschen und Röschen abgeschnitten, sie bewegt sich splitternackt also so sicher wie in ihren heißgeliebten, abgewetzten Jeans.
Bisschen dunkel in der Küche. Eine schmale Tür führt in eine winzige Speisekammer, einen Kühlschrank besitzt die Prieselank nicht. Aber die Düfte in der kleinen Kammer! Sabines Magen knurrt, sie fischt sich aus einer Schüssel einen dicken, eingelegten Hering und verzehrt ihn und dann noch einen. Die schmecken, dazu dicke Gurkenscheiben und Zwiebelringe. So hat ihre Mutter immer die Heringe eingelegt, Mutter hat überhaupt immer alles allein gemacht, wie selbstverständlich war das, einkochen, Heidelbeeren sammeln, Hühner und Kinder versorgen, Wein ansetzen, Kuchen backen, mosten, Ziegen melken, Obstbäume beschneiden. Was hat sie eigentlich von ihrem Leben? Dabei ist sie nicht mal vierzig.
Sabine denkt, während sie der Versuchung widersteht, noch einen Schluck von der herrlichen, weißgelben Soße zu trinken: Vielleicht bin ich tatsächlich eine Akte geworden, weil ich nicht so ein Leben führen wollte. Sie hat diesen Gedanken schon öfter gehabt und war eigentlich schon mal weiter, weil die Knuth zu ihr gesagt hatte: Das ist mir zu billig und zu einfach, das ist nichts weiter als eine bequeme Entschuldigung, mich trifft es nicht, meine Mutter hat die Schuld. Nein. Schuld nicht, aber Mutter war so etwas wie eine lebendige, abschreckende Anschauung.
Sabine leckt sich die Finger ab und trinkt tatsächlich nicht und widersteht auch noch einer zweiten Versuchung, nämlich von der Knoblauchwurst abzubeißen, die vor ihrer Nase verlockend duftet. Knoblauch mag sie sehr. Aber nun hast du wieder geklaut, Sabine Wulff. Einen Schluck Eierlikör und zwei eingelegte Heringe, na, wenn schon. Die Prieselank könnte die Heringe gezählt haben, Vertrauen gegen Vertrauen. Ja, ja, ja, gezählt und nummeriert.
Aber diese Frau Prieselank sieht nicht so aus, als ob sie eingelegte Heringe zählen würde, eher so, als ob sie auch einen Hering, einen fremden Hering wohlgemerkt, aus der Schüssel fischen könnte. Solche Typen sind gefährlich, denkt Sabine, weil man leicht auf sie reinfällt.
Wieder in ihrem Zimmer, schüttelt sie das schwere Federbett auf, das Deckebedde, wie Oma sagte, legt das Nachthemd zusammen und baut das Bett, denn das hat sie gelernt, das musste sie immer den Zugängen zeigen, glatt wie mit der Messlatte gestrichen.
Sie haben dir Leitsätze und Normen eingehämmert, hatte Jimmy zu ihr gesagt, lass nur, das kriegen wir schon wieder hin.
Der und mich hinkriegen, dieser Tarzan, denkt sie, der Dämelack mit seinem Traum von der Blockhütte, braucht man da nicht mindestens mal einen Zahnarzt oder ein paar Brötchen oder eine Pille, der kann doch ohne sein Bandgerät gar nicht leben, der geht doch nicht mal in den Wald, weil's ihm da zu stille ist, alles Phrasen eines Faulpuckels.
Sie setzt sich auf den einzigen Stuhl. Aber der Traum von der Blockhütte war für sie einmal das absolute Glück, und was Jimmy sagte, fand sie mal so prima.
Aus der Ecke, in der ein Ofen gestanden hat, grinst sie blankes Mauerwerk an. Eine Kabache das, kein möbliertes Zimmer. Und dann das einzige Bild, von dem sie weiß, dass es ein Hochzeitsgeschenk war: hüpfende Lämmer auf einer Wiese, deren Grün der Verblichene akkurat nachgepinselt hat, das Grün ist grell. Das also ist dein Anfang, Sabine Wulff, nutze ihn.
Sabine meint, die Stimme Direktor Schimmels zu hören: Sie müssen Ihren Platz in unserer Welt planen und den Anfang nutzen und neugierig sein auf das, was kommt. Bestimmt werden Sie vieles entdecken, der Anfang wird nicht leicht sein, aber Sie erwarten ja keine Traumwelt mehr, kein Leben ohne Konflikte. Sie werden gebraucht...
Und was habe ich entdeckt? Das Grün auf der Wiese, die Heringe in der Schüssel, die Aschenkübel, den Eierlikör, Jimmy und Peggy als zwei Contis, mir geht es schlecht, ich bin gar nicht mehr gespannt auf morgen. Nun bin ich ein Schaf ohne Herde, aber nicht mehr lange, friss von dem schönen Grün, wir brauchen dich.
Sabine steht auf und schaltet das Deckenlicht ein, Fliegendreck klebt unterm Glas, da müsste sie mal eine stärkere Birne reinschrauben. Sie holt sich einen gestreiften Pulli aus dem Schrank, zieht ihn über, steigt in die Jeans und fährt sich mit gespreizten Fingern durch das kurze Haar. Es knistert, immer wenn sie erregt ist, knistert ihr Haar, als wäre es elektrisiert. So knisterte es auch heute Morgen bei Jimmy, als er sie in die Arme nahm.
Mit Sachkenntnis entscheiden. Der Satz hängt über dem Bett. Bei Jimmy hatte sie sich mit Sachkenntnis entschieden. Oder mehr aus dem Gefühl heraus? Oder weil Doris Knuth sie vorprogrammiert hatte?
Jimmy war famos wie früher.
Kannst dich bei mir hinflaggen, Sabsy, das wird einsame Klasse, endlich ändert sich mal was bei mir.
Ich bleibe nicht hier, Jimmy.
Warum denn nicht?
Arbeitest du jetzt?
Du fragst vielleicht. Sabsy, ich habe Wein besorgt, drei Flaschen Lindenblättrigen, ich habe ganz tolle Bänder mitgeschnitten, wir machen uns einen schönen Tag und reden dann über alles, okay?
Nein. Ich will arbeiten gehen.
Bitte, ich hindere dich nicht daran, deswegen kannst du doch hier wohnen.
Und darf mir anhören, wie du von der Blockhütte schwärmst, vom Träumen, von der Freiheit, alles schon mal gehört, Jimmy.
Wir reden noch über alles, Sabsy, heute schließen wir die Bude ab und lassen keinen mehr rein.
Aber erst lässt du mich raus. Mann, kapiere doch, ich will tatsächlich arbeiten, komisch, was?
Du hältst mich wohl für 'nen blinden Passagier, der mitfährt, ohne aus dem Fenster zu gucken, was? Ich arbeite nämlich auch, Sabsy, ich wasche Taxischlitten und nebenbei auch die Wagen anderer gegen Trinkgeld, es läppert sich ganz schön zusammen. Ich habe sogar schon ein zweites Besteck und eine Suppenterrine.
Trotzdem bleibe ich nicht.
Bin ich ein Geschwür? Mann, ich habe gehofft, hab gewartet, du bist vielleicht eine Enttäuschung geworden, Sabsy.
Und du bist eine Enttäuschung geblieben.
Wer sagt dir denn das? Muss ich geblieben sein, wie ich vor einem halben Jahr mal war? Ich habe auch nachgedacht, Sabsy. Es war doch mal schön. Ich will nicht mehr, es geht nicht mehr, lass mich in Ruhe, ja, aber schön, schön war das mal.
Es wird wieder schön. Mach doch nicht soviel Theaterwellen.
Ich darf nicht bleiben, ich weiß das.
Haben sie dir das befohlen?
Quatsch, ich bin nur nicht mehr so doof wie früher.
Bist du nie gewesen, Sabsy, die haben dir was eingeredet, irgendwelche Lehrsätze und Normen, du bist doch zu mir gekommen, warum denn?
Vielleicht weil das pure Gewohnheit war, weil ich allein bin, weil ich dich hören wollte...
Bleib doch, Sabsy.
Enttäuscht von Jimmy. Aber warum eigentlich enttäuscht? Was hatte sie erwartet? Konnte sie sich überhaupt nach ihm sehnen, wenn sie sich geändert hat? Da kenne sich einer aus in den Mädchen.
Sabine kennt sich, sie weiß, dass sie jetzt aus ihrem Zimmer heraus muss, sie wird sich von Minute zu Minute steigern. Nicht der Gashahn, nein. Wenn schon der Gashahn, dann müsste Frau Prieselank neben ihr stehen und sie auffangen: Aber Kleines, das tut man nicht, so jung, das ganze Leben liegt vor dir, bestimmt kommt ein properer junger Mann eines Tages, im Krankenhaus pumpen sie dir den Magen aus, dann ist alles wieder gut.
Während sie ihr Entlassungsgeld zählt und zwei Hundertmarkscheine zwischen die Wäsche legt, denkt sie wieder daran, dass es das mit dem Krankenhaus schon mal gegeben hatte für sie, nicht nur ausgedacht, und nach dem Krankenhaus war sie zurückgekommen in den Werkhof, am Bahnhof abgeholt von Kurt Knuth, einem schweigsamen Kurt Knuth, voll von unausgesprochenen Vorwürfen. Die Vorwürfe sprach erst Doris Knuth aus: Du bist entwichen, warum? Vor den großen Spielen der Jugend der Welt in Berlin. Du bist FDJ-Sekretär der Außenstelle, du hast alle enttäuscht, warum?
Aber die Knuth war wenigstens dagewesen mit ihren Vorwürfen, jetzt war niemand da, und die dicke Hertha war dagewesen und Vegas, die sie so nannten, weil sie einsneunundneunzig groß war und meinte, mit dieser Größe hätte sie in Las Vegas tanzen können, die waren alle da mit ihren Anspielungen und mit ihren Gefühlen: neidisch oder verärgert, gehässig oder misstrauisch, ablehnend oder kumpelhaft. Aber das waren doch wenigstens Gefühle, und was ist hier, wo hat hier einer ein Gefühl für sie?
Keiner will was von ihr wissen, damals wollten sie wissen, warum sie drei Monate vor ihrer Entlassung noch türmen wollte, warum sie das Auto überhaupt anfahren konnte, warum ausgerechnet bei ihr die Sicherungen durchbrannten, warum, warum, heute will ein amtliches Schreiben, dass sie in der Schuhfabrik der Stadt anfangen und bei Frau Prieselank wohnen soll.
Sabine denkt: Punkt zwei habe ich erfüllt, Punkt eins kommt morgen, ich habe ein sogenanntes möbliertes Zimmer, hallo Möbel, hackt weiter, ihr Holzwürmer, ich grüße euch, ihr Ticker, ihr lebt wenigstens und braucht so etwas Nutzloses nicht wie Gefühle.
Nun holt Sabine doch Briefpapier hervor und setzt sich wieder, denn sie will das mit dem Befehl an sich selber ausprobieren. Die Knuth hat gesagt, man müsse sich selber Befehle erteilen und auch befolgen können, das sei die höchste Form in der Entwicklung einer Persönlichkeit, dieses Thema liebt die Knuth. Also der Befehl: Ich, Sabine Wulff, ehemalige Raupe, befehle dir, Sabine Wulff, du Schmetterling von übermorgen, nun nicht länger an Jimmy und Prieselank und Ohnmacht und Krankenhaus zu denken, sondern einen klaren Brief an Frau Knuth zu schreiben.
Gemacht, erteilt ist so ein Befehl ja leicht.
Liebe Frau Knuth, wie hat das alles nur angefangen? Ich bin achtzehn und habe den Werkhof hinter mir. Der heutige Tag war öde. Angefangen hat es mit mir wohl zu Hause, im Dorfe, Sie kennen ja die Briefe, die meine Mutter ins Heim geschrieben hat, der Vater hat nie geschrieben, er hat sich geschämt, der angesehene Bürger, und das ist wohl doch schon ein Widerspruch? Sie haben selber gesagt, objektiv leiste mein Vater eine sehr gute Arbeit für den Sozialismus, seine Verdienste im Handel, seine gesellschaftlichen Verpflichtungen, seine Funktionen, aber in Wirklichkeit, ich meine, zu Hause, sah das ganz anders aus. Ich will nicht heulen, Frau Knuth, darum schreibe ich Ihnen...
Sabine legt den Kopf auf die Arme und schiebt den Block von sich. Das weiß die Knuth doch alles aus der Akte, aber sie weiß nicht, wie faszinierend das bei Jimmy damals war. Heute nicht mehr, heute kommt ihr die Staffage in Jimmys Zimmer vor wie die Dekorationen zu einer Beatoperette im Puppentheater. Ich bin älter geworden, bin ich klüger geworden, überlegt sie, warum wirkt es heute nicht mehr auf mich, warum wirkte es damals? Wirkt es nicht mehr, weil die Knuth mir eingeredet hatte, bei Jimmy hätte ich nun nichts mehr zu suchen?
Da hing ein Fischernetz gleich hinter der Tür, Jimmy hatte ein altes Sofa stehen, einen kleinen Schrank und eine Kommode. Er besaß einen Teller, ein Besteck und einen Topf, das war nicht viel, doch mehr wollte er nicht. Das fand ich toll, und ich verglich ihn darin mit meinem Vater. Der wollte immer mehr, in unserem Garten standen drei Bungalows, für die Stadtdummen, wie er sagte, aber sie brachten viel Geld ins Haus. Jimmy war ganz anders, von Geld hielt er nichts. Seine Kleidung bestand aus insgesamt zwei Hosen, davon war eine total abgeschabt, Unterwäsche, einer Felljacke und einer Wildlederjacke mit Fransen. Wir gingen meistens in das andere Zimmer, in dem nur Matten auf dem Fußboden lagen. In der Ecke stand ein Tonbandgerät, das ist alles heute noch so, ich bin überzeugt, dass sie auch noch zu ihm kommen, der Schlüssel lag immer unter dem Abtreter. Jeder konnte zu jeder Zeit zu ihm hingehen. Manchmal kamen welche, die eigentlich niemand kannte, das war uns egal, wir unterhielten uns mit denen auch, Vorname genügte. Keiner wollte unbedingt recht haben, alles konnte man aussprechen, die größten Zweifel, Ahnungen, Dummheiten. Damals dachte ich viel an den Tod. Wir kauften Bier und Schnaps, Zigaretten natürlich auch, das Geld legten wir zusammen. Für mich war das aufregend neu und sehr schön. Jimmy konnte gut zeichnen, er hatte keine Tapete an den Wänden, auf die eine Wand hatte er eine Indianersiedlung gemalt, auf die andere eine Beatgruppe. Wir hörten Musik vom Band und tranken Bier, so viel, bis wir halb im Rausch waren, nicht total besoffen, die Musik dazu, die gab uns den Rest. Ich fühlte mich glücklich und leicht. Ich wünschte mir, dass das nie zu Ende gehen würde, es war alles ganz wunderbar, ich durfte nicht daran denken, dass ich in ein paar Stunden wieder zu Hause sein sollte oder in der Schule oder sonst wo, daran hatte Jimmy den größten Anteil. Er war so ganz anders als die Jungen, die ich bisher gekannt hatte. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen werden, Frau Knuth, das wurde immer schlimmer, wenn er mich an den Fingern berührte, da war ich schon weg...
Natürlich versteht sie das, denkt Sabine und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, die feucht sind, die Knuth hat ja Phantasie, aber die braucht sie gar nicht, wo sie alle Tage mit solchen Fällen zu tun hat. Aber die Einzelheiten sind doch auch wichtig. In einer Einzelheit, so sagte Doris Knuth, steckt oft die Erklärung, sie versteckt sich darin wie in einer vollgekramten Tasche.
Da waren viele Mädchen bei Jimmy, aber ich wollte auffallen, beim zweiten Mal hatte ich einen alten Hut und zerfetzte Klamotten von Oma mitgebracht und zog mich auf der Treppe um, weil ich mich auf der Straße in dieser Aufmachung geniert hätte. Aber später fuhr ich so verkleidet in die Stadt. Jimmy sagte, man müsse gegen das Feine und das sogenannte Vornehme sein, bei jedem Stück, das man trägt, immer aufpassen, dass nichts schmutzig wird, das sei was für Spießer, wir aber seien progressiv. Ja, ich wollte gerade ihm auffallen, ich legte es direkt darauf an...
Sabine zerreißt den Anfang des Briefes. Wozu soll sie das der Knuth schreiben, das kann man gar nicht schreiben, das muss man erlebt haben. Darum verlässt sie die Wohnung der Witwe Prieselank, geht die Treppe hinunter, über den sogenannten Hof und durch den gruftkühlen Flur auf die Straße. Es dämmert schon.
Was fängt sie denn nun mit dem restlichen Teil des Tages an, mit dieser erworbenen Freiheit? Wo will sie beginnen?
Sie geht in den "Paragraphen". Mit Jimmy war sie öfter in den "Paragraphen" gegangen. Fahrräder lehnen draußen an der Wand, es ist voll, und der dünne Wirt, der Sabine gleich erkennt, sagt, sie sei lange nicht dagewesen. Komischer Wirt eigentlich, sonst haben Wirte immer Bierbäuche.
Ich war auf Montage, sagt sie, so eine Art Tournee. Und lacht, froh über den Einfall.
Wie früher, Sabine? Setz dich an den Stammtisch, da ist noch ein Stuhl frei. Warm heute, da läuft das Bier. Ist wohl aus mit Jimmy? Der kommt jetzt immer mittwochs.
Am Stammtisch sitzen drei Männer unterschiedlichen Alters und eine strammgewachsene, rothaarige Frau. Ihr Gespräch verstummt, als der Wirt vor Sabine ein helles Bier und einen doppelten Braunen hinstellt.
Anders als du mit deinem Pfefferminzlikör, sagt der Mann am Tisch, der seine tätowierten Unterarme vorzeigt, die ist für was Scharfes. Die Frau wirft schnippisch den Kopf zurück.
Sabine riecht an dem Kognak, sieht über den Rand des Schwenkers hinweg auf die Tischrunde, nickt den Leuten freundlich zu und trinkt aus, dann nimmt sie einen gehörigen Schluck vom Bier und wischt sich den Schaum vom Mund.
Schmeckt das Bier, Mädchen?
Sie müssten eben mal eins trinken, dann wüssten Sie's ja.
Sie lachen. Der jüngste der drei Männer, einer mit Vorderglatze und braunen Augen, bestellt noch eine Runde, aber für den ganzen Tisch, bitte, sie hätten allen Grund, Alfreds Prämie außer der Reihe, und der dritte sieht auf die Uhr und zieht sich die Trainingsjacke aus. Das Training schaffe ich heute nicht mehr, die Jungs müssen mal ohne mich auskommen, nur das Spiel darf ich nicht verpassen.
Angetrunken sind sie, angetrunken sind sie hier alle. Nebenan erzählt einer am Tisch, wie er Material für drei Garagen besorgen könne, die Abbruchsteine von dem Gemäuer vor dem neuen Kaufhaus, den Kies unter der Hand, natürlich musst du Staub zahlen, aber sonst kriegst du ja nichts.
Na, prost, brausen wir uns das Bier unters Hemd. Bist wohl nicht von hier, Mädchen?
Nein, sagte sie, ich bin vom Fernsehen, wir suchen Kleindarsteller.
Der Tätowierte grient, die Frau runzelt die gemalten Brauen, als müsse sie angestrengt nachdenken.
Am Nebentisch sagt der Garagenbauer, dass sie die Steine natürlich gemeinsam klopfen müssten, die Träger könne er besorgen, im Zaun des Betriebes gäbe es eine Lücke, da lägen die Träger rum, das merke keiner, das falle auch nicht weiter auf, vier Träger zu vier Metern, eine Bagatelle.
Die will uns doch auf den Arm nehmen, sagt die Frau.
Das schaffe ich bei dir nicht, erwidert Sabine.
Nur nicht frech werden, du, also habt ihr das gehört, die duzt gleich!
Der Junge mit der Glatze sagt: Das habt ihr doch auch so gemacht mit ihr.
Na höre mal, das ist wohl was anderes.
Weil du doppelt so alt bist wie sie?
Die Frau zieht eine Schmolllippe, dass Sabine lächeln muss, sie trinkt aus und merkt, dass ihre Stimmung umschlägt, der Alkohol lässt sie entschweben, um sie herum sind Blumen, Musik und viel Sonne, eine helle Sonne wie am Meer. Tatsache, sagt sie, wirklich vom Fernsehen, wir suchen Kleindarsteller, zwanzig Mark die Drehstunde, aber Sonne muss sein.
Was is'n das für'n Film, erkundigt sich der Tätowierte und lässt die Schlange auf seinem Arm tanzen und damit auch die schwerbusige Schönheit nervös zucken, um deren Leib sich das Reptil ringelt. Das ist Kunst, was, hat mir einer in Algier gemacht.
Sabine nickt ergriffen wie ein Kind im Kasperletheater, und sagt: Western, richtig Saloon mit allem Drumherum, aber Sonne muss sein, oder habt ihr schon mal einen Western ohne Sonne gesehen? Die Dame da könnte bedienen, ich müsste nur sehen, ob sie einigermaßen mit dem Hintern wackeln kann.
Der Sportler verschluckt sich vor Vergnügen, rückt näher an Sabine heran, legt seinen Arm um sie und fragt: Und ich? Ich meine, hast du für mich auch 'ne Rolle?
Der Alkohol trägt Sabine in die Luft auf das blaue Dach zu den Tauben, die ihre gelben und roten Perücken spreizen, solche Tauben züchtet Onkel Karl in ihrem Dorfe. Du, du hechtest über die Theke und hackst den andern die Beine weg, du spielst doch mindestens Kreisklasse, was?
Die spinnt doch, sagt die Frau, die ist doch viel zu jung fürs Fernsehen.
Lass sie mal, Gisa, sagt der mit der Vorderglatze, ich habe sie schon mal gesehen, wirklich, aber wo, wo und wann war das bloß?
Na, auf dem Bildschirm, Kollege, sagt Sabine rasch, du musst eine schöne Leiche spielen und richtig echt fallen, das muss ganz locker aussehen, ganz locker vom Bocker.
Der Tätowierte fragt, ob er den Schläger mimen solle, eine andere Figur käme ja kaum noch in Frage, höchstens noch Sheriff, und Sabine nickt und tippt mit der Fingerspitze auf die Hand des Sportlers, denn diese Hand schiebt sich an ihre Brust heran.
Die ist bestimmt nicht echt, aber...
Was? Was soll hier nicht echt sein?
Diese Brust, aber toll, toll gemacht.
Da schiebt Sabine ruhig ihren Pullover hoch, einen Büstenhalter trug sie noch nie, und sieht in die Runde mit einem gespannten Gesicht, denn so wohl ist ihr wieder nicht dabei, und zieht dann den Pullover wieder straff. Die Rothaarige stößt einen kleinen Schrei der Empörung aus, so ein drei Zentimeter hohes C und behält danach den Mund offen. Einen Moment sind sie alle still, sogar die Garagenbauer vom Nachbartisch, bis der Tätowierte fragt, ob sie richtig Striptease könne, der Wirt hätte tolle Platten.
Das weiß Sabine. Hier hatte sie öfter mit Jimmy gesessen, seine Hand gespürt, hier hatte sie ihm zugehört, wenn er mal auf der Gitarre spielte. Sie fragt den Tätowierten, weil der Ärger in ihr aufsteigt, der grüne Ärger: Und du bist doch bestimmt verheiratet? Sie merkt, wie sie dabei ist, die Grenze zu überschreiten, und empfindet kein Bedauern darüber, denn als der Tätowierte nickt, fragt sie laut: Und deine Mutti, die strippt wohl nicht mehr?
Lass das, Mädchen, sagt der mit der Vorderglatze, reiß dich zusammen.
Die Rothaarige sitzt breitbeinig auf dem Holzstuhl, die Hand des Tätowierten zuckt unruhig auf ihren Schenkeln, ihr Lidstrich ist verschmiert. Das muss man auch können oder besser sein lassen, denkt Sabine.
Du bist eine rotzfreche Göre, sagt endlich die Rothaarige, die sie Gisa nennen, hier so offen das zu zeigen, und rülpst und hält sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Aber nicht schlecht, sagt der Sportler, Mensch, nicht schlecht und alles Natur.
Als der Wirt die nächste Runde auf den Tisch stellt, sagt er leise zu Sabine: Reiß dich zusammen, in meiner Gaststätte nicht.
Du bist aber nicht ihr Mann, sagt Sabine zu dem Tätowierten, der die Sprache noch nicht wiedergefunden hat, wo arbeitet ihr eigentlich?
In der Schuhfabrik, wo schon. Machst du das immer so, bist du so eine? Der Tätowierte ist beleidigt, seine Ehefrau hätte sie nicht erwähnen dürfen, das kränkt ihn.
Wenn ich solche treffe, wie ihr welche seid, dann bin ich so oder anders. Und sie denkt: In der Schuhfabrik, das hat mir noch gefehlt. Und dabei schmelzen die roten Perückentauben und das blaue Dach und die Blumen und die helle Sonne.
Gelernt hast du wohl eine Menge·dort, sagt der junge Mann plötzlich, und da weiß Sabine, dass er sich erinnert hat, und sie weiß auch, wo sie ihn schon mal gesehen hat: er ist von der Jugendhilfe, ein sogenannter Ehrenamtlicher, wahrscheinlich hat er auch im Saal unter den Schöffen gesessen. Sie hat zu schnell getrunken und will nicht, dass die Glatze alles erzählt. Aber das tut der Mann nicht, er malt nasse Kreise auf die hölzerne Platte, Pünktchen, Pünktchen, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht, und dann zieht er senkrechte Streifen darüber, ein Gitterwerk, und sie versteht. Wenn du nüchtern bist, überlegst du dir, ob das hier richtig war.
Gehen wir, fordert die Rothaarige den Tätowierten auf. Der ruft nach dem Wirt und erkundigt sich, wo sie denn wirklich arbeite.
Na, auch in der Schuhfabrik, das war bloß ein Spaß vorhin.
Die spinnt doch, nun komm schon, Alfred, da müssten wir sie schon mal gesehen haben, die spinnt, habe ich es nicht gleich gesagt, komm endlich, Alfred.
Alfred will aber noch bleiben, sagt Sabine. Und sie merkt, wie ihre Stimmung weiter abflaut. Das sind nun die Normalen, denkt sie, die sind nun alle brav, der Tätowierte geht mit der Roten irgendwohin in den Park und dann zu seiner Frau, Überstunden, Mutter, wir hängen doch mit der neuen Serie, und der Sportler möchte am liebsten auch mit mir gehen, er betrachtet mich die ganze Zeit und weiß nicht einmal, ob ich überhaupt achtzehn bin, und der Glatzkopf ist entweder verklemmt oder er ist Peggys Mann, der keinen Umgang mit einer Entlassenen wünscht, ach, ihr braven Kunden.
Sie steht auf, geht an die Theke und bezahlt alles, was sie getrunken hat, auch das, was die andern am Tisch für sie mitbestellt hatten.
Beim Hinausgehen hört sie noch, wie der Garagenbauer vom Nachbartisch laut sagt: "So jung, so jung und schon so verdorben!"
Da bleibt sie stehen und dreht sich um, lächelt mit spröden, trockenen Lippen, spürt den hautfeuchten Pulli und die Blicke der Gäste wie die Stiche eines Eisregens. Der Wirt winkt ihr zu, nun hau schon ab, keine weitere Vorführung, wenn ich bitten darf.
Aber daran denkt sie gar nicht, das Lächeln ist Maske, sie fühlt sich getroffen wie von einem scharfen Strahl kalten Wassers. Sie möchte rufen. Warum, möchte sie rufen, warum soll ich gehen, warum soll ich verdorben sein, warum wollt ihr mich nicht? Sie ruft nicht, sie könnte es nicht, sie geht und sieht über der Tür das Wirtshausschild in einem sanften Winde baumeln, das Paragraphenzeichen, und es wirkt auf sie wie die offene Schlinge eines Galgens. Einen Moment denkt sie daran, dass Jimmy sie einmal die ausgehöhlten Stufen hinuntergetragen hat, da hing ein Maschenwerk von Edelsteinen am Himmel, da hatte sie den baumelnden Paragraphen für einen tieffliegenden Sputnik gehalten.
Wie freundlich ist eigentlich die Welt?
Nun steht sie auf der engen Gasse, die menschenleer ist, hört die Geräusche aus den geöffneten Fenstern, die klein wie eingekerbte Schießscharten sind, fest mit Perlongardinen verhängt.
Sie fühlt sich ausgeschlossen und tut sich schon wieder leid, Sabine neigt zu Übertreibungen. Sie bleibt einfach hinter sich zurück und wird sich an diesem Abend nicht mehr entdecken können.
Sabine ist im ältesten Teil der Stadt. Die Häuser, ·die sich gegenseitig stützen, stehen unter Denkmalschutz. Aber das interessiert Sabine nicht. Davon würde sie jetzt nichts hören wollen, aber sie würde jetzt mit jemandem gehen wollen, nur so gehen. Sie würde, käme Jimmy angeschlendert, vor ihm stehenbleiben, zu ihm aufsehen und sagen: Junge, lass uns reden oder lass uns nur so gehen bis zum Fluss, aber gib mir deine Hand. Eine Hand möchte sie halten.
Der Fluss gürtet mit zwei Armen die Altstadt, und diese alte Stadt war früher eine Siedlung von Steinzeitmenschen. Die neuen Wohnviertel liegen draußen, vor dem Stadtkern, der eine lange Geschichte hat. Die ersten Menschen, die sich vor Tausenden von Jahren hier angesiedelt hatten, werden sehr praktisch gedacht haben: Da liegt eine Insel mitten im Fluss, das ist ein natürlicher Schutz für uns; da ist Wasser mit vielen Fischen und Wald mit vielen Tieren, das ist Nahrung für uns. Von dieser Überlegung künden Steinwerkzeuge, beinerne Geräte, Tonbehälter und Bronzen, die im Museum vorgezeigt werden. Inzwischen haben die Menschen in den Jahrhunderten den Wald abgeholzt, und Fische finden sich nur noch in stillen Nebenarmen. Heute wird vor dem Fluss gewarnt, zu viele eisenhaltige, warme Abwässer binden seinen Sauerstoff, so dass sich das Wasser nicht mehr selbst reinigen kann, denn auch Bakterien benötigen für ihre Reinigungsarbeit Sauerstoff, die kleine Stadt hat schon ihre Probleme. Gehört das noch zu der Geschichte?
In dieser Stadt wird Sabine wohnen und arbeiten, in ihr sucht sie den neuen Anfang. Hat sie an diesem ersten Tage, der nun bald zu Ende gehen wird, einen Versuch gemacht? Noch drei Stunden hat der Tag. Sie hat viel falsch gemacht.
Sabine könnte..., ja, was könnte sie denn? In ihr Zimmer gehen und lange schlafen, um ausgeruht morgens sechs Uhr durch das Tor der Schuhfabrik zu gehen. Aber sie erlebt nach vielen Monaten Werkhof den ersten vollen Tag Freiheit, und was hat sie bisher schon erlebt. Nun denkt sie wieder an diesen Jimmy und wird doch nicht, trotz vorgerückter Stunde und gefasster Vorsätze, zu ihm hingehen?
Darum sollte auch Jimmy befragt werden nach dem Mädchen Sabine Wulff, denn Jimmy scheint eine größere Rolle als die frühere Freundin in ihrem Leben zu spielen. Also bitte, nehmen Sie Stellung!
Aber meinetwegen, weil's um Sabs geht. Ich bin einundzwanzig, war noch nicht bei der Fahne, heiße eigentlich Herbert, arbeite zurzeit bei VEB Taxi als Wagenwäscher, bin kein Faktotum und bin kein Knecht.
Sabs ist gegangen, draußen wird sie geheult haben. Oder sie wird es jetzt nachholen. Sie war immer für eine Überraschung gut, aber das hätte ich nicht von ihr gedacht. Und was für fromme Töne ich von ihr hören durfte: Arbeitest du denn, Jimmy, ich habe für dich ja mal klauen müssen, Jimmy, hast du dich gar nicht verändert, Jimmy, wir müssen reden miteinander.
Fast Politunterricht, es fehlte nur noch, dass sie gesagt hätte, Freiheit und Notwendigkeit gehörten zusammen, dass ich nicht lache, da kann jeder kommen und sagen: Das ist notwendig, also bist du frei, wenn du die Notwendigkeit einsiehst. Ich bin kein blindes Pferd, das unter Tage die Karren zieht.
Wir hatten zu Sabs' Zeiten mal so'n Vater aus der Gruppe gefeuert, der redete auch so komisch: Unkenntnis bringt Unsicherheit hervor und damit auch Unfreiheit, denn man wird von einem Gegenstand beherrscht, den man eigentlich beherrschen sollte... Ich gebe zu, da ist was dran, aber jeder kann selber bestimmen, wie und wohin er sein Leben führen will.
Und wer wird eigentlich von einem Gegenstand beherrscht? Ich doch nicht. Wenn ich in meiner Waschhalle stehe und zwischendurch für einen grünen oder roten Schein die Privatschlitten mit abspritze, dann höre ich manches Gezwitscher. Ein Trabant ist doch kein Auto, hahaha, ein Wartburg muss es sein, ich bitte Sie, ein Zweitakter, Shiguli, am besten Lada, na, damit sind wir auch bald dran. Diese armen Meisen. Die raffen, aber die leben gar nicht richtig, die müssen besitzen, Auto, Bungalows und Boot und den neuesten Fernseher mit Bedienung vom Sessel aus; die müssen ans Schwarze Meer reisen und sich ihre Bäuche unbedingt bulgarisch bräunen lassen, sie müssen Radeberger in einer polnischen Bar trinken und sich auf einem Idiotenhügel bei Zakopane das Bein brechen. Wer lässt sich denn von toten Dingen beherrschen? Ich brauche das alles nicht, ich fühle mich freier. Die Autobesitzer schimpfen über ihre Abteilungsleiter, die Abteilungsleiter über die Direktoren, aber wenn sie vor den Schreibtischen ihrer Vorgesetzten stehen, dann halten sie die Klappe, weil sie Angst haben. Wovor denn? Sie fürchten, vergessen zu werden bei der nächsten Prämie, Gehaltserhöhung oder Beförderung. Das ist doch pure Heuchelei.
Was man hat, das ist man. Ich habe soviel, wie ich zum Leben brauche. Ich verkaufe mich nicht. Gut, ich gebe zu, Sabine hat mal für mich geklaut. Sie hätte es nicht tun brauchen, ich hätte damals auch jeden Tag trockene Brötchen gegessen, das macht mir nichts aus.