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Major Korsar, der in diesem Mordfall die Ermittlungen führt, ist ein Fuchs. Wenn Korsar laut vor sich hindachte, stieß er oft auf eine Einzelheit, an die bisher noch keiner gedacht hatte. Korsar wurde von manchen unterschätzt. Am nächsten Tag konnte in siebenstündiger Arbeit die Sicherung der Spuren beendet werden. Vorsichtig wurde eine Leiche aus der hart gefrorenen Erde gegraben, Schicht um Schicht musste nicht nur abgetragen, sondern zuweilen sogar abgeschabt werden, bis die Leiche auf einem Fundament lag. Sie war männlichen Geschlechts. Die Beine waren der Leiche gewaltsam abgetrennt worden. Die Männer legten den Rumpf auf eine aus Brettern gefügte Platte, überspannten sie mit durchsichtiger Folie und trugen sie vorsichtig den steilen Weg hinunter. Die Feuerwehr übernahm den Transport und brachte den Fund in das Institut der Gerichtsmedizin. Die Leiche war mit einem Turnhemd und einem Slip bekleidet, sie trug einen Strick von hundertfünfzig Zentimeter Länge um den Hals. Sie konnte, nach ungefährer Schätzung, zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren alt sein und war von großer, kräftiger Gestalt. Sie war schon in Fäulnis übergegangen. Am Abend des gleichen Tages, an dem man die Leiche ausgegraben hatte, fand der Leichenhund die unteren Extremitäten in unmittelbarer Nähe des schwarzen Tümpels. Sie waren in der gleichen Weise wie der Rumpf eingegraben worden. Korsar erhielt die Information telefonisch während einer Beratung der Morduntersuchungskommission des Bezirkes vom Gerichtsmedizinischen Institut. Im Unterkiefer fehlten mehrere Zähne, das Gebiss war saniert, Goldzähne ersetzten zwei Molaren. Offenbar hatte das Opfer keine grobe Handarbeit verrichtet. Die Leiche hatte mindestens vier Monate in der Erde gelegen, höchstens aber zwei Jahre. Todesursache: Strangulation. Korsar bedankte sich und legte den Hörer auf. Die Kriminalisten hatten über Lautsprecher alles mit angehört. „Also Erhängungstod“, sagte Franz. „Das ist vorschnell gefolgert“, sagte Korsar. „Sie haben recht. Wir wissen nicht, ob seine Augen geöffnet waren.“ Und mancher im Raum dachte wohl: Er könnte wahrgenommen haben, was in den allerletzten Sekunden seines Lebens mit ihm geschehen ist. Das heißt, er könnte den Menschen gesehen haben, der ihm das Leben nahm. Der Autor interessiert sich nicht einfach nur für das Lösen eines Falles, sondern mehr noch für die psychologischen Hintergründe dieses Verbrechens: Warum musste ein Mensch sterben? Welche Motive hatte der Täter?
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Seitenzahl: 311
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Heinz Kruschel
Tantalus
Kriminalroman
ISBN 978-3-95655-142-0 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
An manchen Stellen der aufgeweichten Erde lagen Schneereste. Das Land aber duftete schon und wuchs langsam dem Sommer entgegen.
Der Mann erreichte den Tunnel und ließ die Deichsel des Handwagens los, wischte sich das Gesicht ab und spürte sein Herz. Es raste und wollte nicht ruhiger schlagen.
Er hatte Angst vor dem Tunnel.
Dann kam die Säge von Licht.
Seine Ohren und Augen schmerzten. Die Straße ein Spiegel. Er schloss die Augen, weil der Spiegel ihn blendete.
Er drückte sich, während er schrie, gegen die feuchte Wand, aber die stemmte ihn von sich fort, sodass er sich umdrehte und die Finger in den rauen Mörtel der Fugen einkrallte.
Das Dröhnen brach sich in der Röhre des Tunnels. Dann war alles vorbei, er lebte. In der Ferne verglühten tückische rote Lichter.
Auf dem Feldweg am Rand des Kirchsteigs fühlte er sich sicherer. Keinen Menschen würde er bei diesem Wetter und um diese späte Zeit treffen.
Der Handwagen ließ sich nun, da es bergauf und über Geröll ging, viel schwerer ziehen als auf der Straße. Es tropfte von den dünnen Zweigen. An manchen Stellen waren die Büsche so dicht zusammengewachsen, dass er mit einer Hand die Äste hochhalten musste.
Er dachte: Alles hat seinen Preis, für alles muss man bezahlen. Die Laute der Nacht erschreckten ihn weniger als das dröhnende Licht auf der Straße. Knacken von trockenem Astwerk auf dem Weg. Prasselnde Regentropfen auf seiner Perlonhaut. Der asthmatische Pfiff einer Lokomotive. Das Schleifen seiner Wagenräder. Die eigenen hastigen Atemzüge.
Von einer Lichtung aus sah er den Lienhut. Die riesige Birke hob sich vor dem tiefblauen Himmel wie ein Scherenschnitt ab.
Er zog den Wagen bergan, dem Lienhut entgegen, und blieb auf einer kleinen Wiese stehen. Er nahm einen kurzen Feldspaten, stach säuberlich Grassoden aus und legte sie aufeinander. Es war kein Frost mehr in der Erde. Er grub einen dreiviertel Meter tief und einen Meter breit. Er arbeitete ruhig, wenn er auch keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er wollte nicht denken. Da ihm körperliche Bewegung nicht ungewohnt war, kam er zügig voran. Ein kleines Bäumchen ließ er stehen, nahm es dann samt seinen Wurzeln in einem Erdklumpen heraus und legte es beiseite. Nun maß er, wie tief er gegraben hatte. Die Grube ging ihm bis zum Bauch. Es war gute Erde, in der er grub.
Für einen Moment blieb er stehen und legte den Unterarm über seine Augen, weil ihm schwindlig wurde und weil er für diesen Moment glaubte, in die von ihm ausgehobene Grube stürzen zu müssen, in diese Finsternis.
Er grub und grub und dachte an nichts. Einmal glitt er aus und rutschte ab, die Erde war glitschig. Wieder maß er die Tiefe der Grube und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht, es schmeckte salzig.
Er grub eine Stunde und wurde ruhiger dabei. Dann hob er die Last aus dem Handwagen und wusste, dass die Decke, in die die Last eingeschnürt war, nicht reißen würde. Es war eine Decke von festem Stoff. Er tat die Last in die Grube, legte sie vorsichtig hinein, schaufelte Erde darüber und packte die Grassoden nebeneinander, nachdem er auch das kleine Bäumchen wieder eingepflanzt hatte. Es sollte weiterwachsen und groß werden. Bäume haben Wurzeln, Wurzeln wachsen unter der Erde und müssen den Baum bei Wind und Wetter festhalten. Hier oben stürmte es oft.
Der Mann blieb noch eine Weile stillstehen, als gehörte es sich nicht, einfach so loszugehen.
Dann streute er Geäst und Zweige, von hartem Wind und böigem Regen abgebrochen, über die Stelle, um die Grabespuren zu verwischen, tat den Spaten in den Wagen und zog weiter. Er hatte noch eine zweite Last und wusste den anderen Platz so sicher wie schon den ersten. Die zweite Grube wurde kleiner, die Last war leichter.
Es regte sich kein Mitleid in ihm, eher ein zufriedenes Gefühl nach der getanen Arbeit. Gras würde über eine Sache wachsen.
Mit dem Spaten und mit der Axt, die noch im Wagen gelegen hatten, brach er sich einen Weg durch den Schilfgürtel zu einem schwarzen Tümpel. Er warf die Geräte ins Wasser. Vom Berge aus sah er den helleren Himmel über der Stadt. Morgen würde er auf einer Mülldeponie ein paar Sachen verbrennen, Wäsche und Schuhe und Handtücher und einen Koffer. In den nächsten Tagen würde eine Vermisstenanzeige geschrieben werden.
Den Weg hinunter ging es leichter. Der Kirchsteig war von den Leuten schon vor Hunderten von Jahren gegangen worden, wenn sie sonntags zur Kirche wollten oder einen Menschen zu Grabe trugen. Er sah zurück und wieder den Baum, den Lienhut. Er wirkte wie eine Riesenlampe.
Eine Weile zögerte er, wollte sich unter die Krone stellen, um in das merkwürdige Geäst hinaufzulauschen, unter dem man die Zukunft hören sollte, wie die Alten sagten. Sie raunte, auch wenn kein Wind ging. Die Zukunft hören, wer möchte das wirklich.
Gegen ein Uhr war er wieder im Tunnel. Der Handwagen tanzte, weil er leer war.
Er dachte: Es gab keinen anderen Ausweg. Er dachte auch: Wir müssen vergessen.
Wieder raste ein Fernlaster mit mächtiger Lichtsäge heran, aber jetzt drehte sich der Mann nicht weg, er ließ seine Augen offen, er schrie nicht. Nun war er darauf vorbereitet, geblendet und zerschnitten zu werden und dennoch auferstehen zu können.
Die beiden Jungen verließen den zugefrorenen Tümpel, nachdem sie lange Schlittschuh gelaufen waren.
Überall lag dicker Raureif. Der Weg, auf dem sie liefen, war hart gefroren.
Zu gleicher Zeit nahmen sie den Geruch wahr.
»Ein Tier. Ein Tier, das krepiert ist.«
»Oder geschlagen von einem Bussard.«
Dann sahen sie den Schädel, wenige Meter vom Pfad entfernt. Er steckte, gelblich und kuglig, im aufgekratzten Erdreich. Sie schluckten und schwiegen und sahen sich endlich an.
»Das ist kein Tier.«
»Nein. Das ist, das ist ein Schädel.«
»Rühre nichts an.«
Das Gras stand weiß, steif und glitzernd. Die Luft war klar. Es war schon zu kalt für den ersten Schnee.
»Reiß dich zusammen.«
»Ja doch. Mir ist aber schlecht.«
Einer brach Zweige ab und legte sie über Kreuz: von dem Wege, den sie gelaufen waren, bis zu der Stelle, wo der runde Schädel steckte. Der andere kam nicht näher. Sie sprachen wenig und erschraken, als schwarze Krähen langsam und fast lautlos aufstiegen.
Der Lienhut klirrte gläsern. Seine vereisten Zweige schlugen aneinander.
Sie liefen los, wie einem Befehl folgend, sie liefen den Kirchsteig hinunter, als könnten sie keine Minute länger warten. Manchmal strauchelten sie und fielen hin, kamen aber schnell wieder hoch und liefen weiter.
Sie liefen so schnell, als gelte es, Abstand zu einem Verfolger zu gewinnen. Wortlos und heftig atmend wandten sie sich noch einmal um, bevor sie durch den Tunnel gingen, sie blickten hinauf zum Lienhut.
Sie trafen den Bürgermeister vor der Schenke. Er redete mit einigen Männern in Arbeitskleidung, weil die Schneepflüge noch immer defekt und für den nahen Winter nicht einsatzbereit waren. Den Jungen aber hörte er gleich zu, weil er ihnen das Entsetzen ansah.
Er hörte zu und sagte: »Es gibt viele Wildschweine dieses Jahr, es wird ein Tierschädel sein.«
»Ein Wildschwein hat vielleicht den Schädel frei gescharrt, das kann sein.«
»Ihr meint wirklich, da ist ein Mensch vergraben?«
Sie nickten. Ein Mensch vergraben — das klang ungeheuerlich.
Der Bürgermeister ging, wichtig und schwer, in die Gaststube, um mit der Polizei zu telefonieren. Die Jungen folgten ihm und setzten sich an einen Tisch, gleich neben den großen Kachelofen.
Die Wirtin hatte mitgehört und braute ihnen einen Grog. »Beim Lienhut, sagt ihr?«
Die Jungen nickten, sie zitterten noch und legten ihre Hände um die Gläser.
»Es wird ein Tier sein«, sagte die Frau, »hier passiert nichts. Man kann seine Tür auflassen, man braucht kein Auto abzuschließen. Hier wird nicht mal ein Kaninchen gestohlen, drüben im Badeort, übern Berg, ist das anders, aber hier. Am Lienhut soll mal ein Mann seine Töchter und sich selber in die Glut des Ofens gestürzt haben. Das ist Märchen.«
Die Jungen kannten die Geschichte nicht.
»Man erzählt, er besaß viel Silber und konnte Eisen gewinnen, man sieht ja noch Reste von Grundmauern im Brombeergestrüpp, dort hat mal ein Eisenhammer gestanden. Die beiden Töchter sollen freundlich und naiv gewesen sein, Dummerchen, die eines schönen Tages fahrenden Händlern alles weiße Eisen verkauften, denn sie wussten ja nicht, dass es Silber war. Sie wussten überhaupt nicht, dass es Silber gab. Der Vater hat sie, als er zurückkehrte, in die Glut des Ofens gestürzt, in seinem Jähzorn, in seiner Wut, und gleich darauf sich selber, denn die Töchter, die er getötet hatte, waren ihm das Liebste gewesen, nicht das weiße Eisen.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Vor Hunderten von Jahren. Oder vor tausend schon, wer weiß.«
Nach einer halben Stunde kam der Wagen der Kriminalpolizei aus der Bezirksstadt. Der Major, der die Morduntersuchungskommission leitete, hieß Korsar, ein älterer Mann mit breiter Brust und starken Schultern. Er hatte ein braunes Gesicht mit einer fleischigen Nase und einen kleinen Mund. Bei diesem Wetter, das den Winter ankündigte, spürte er eine alte Unfallverletzung an den Knien wie ein Rheumakranker sein Leiden. Und nun der mühselige Weg den Kirchsteig hinauf. Die Jungen gingen den Kriminalisten voraus, ihnen war warm vom Grog und schon wieder übel vor dem, was sie gleich wiedersehen würden. Nur ein jüngerer Mann, der sich mit >Franz< vorgestellt hatte, blieb an ihrer Seite. Franz war ein trainierter Mann, das merkten sie.
Dann standen sie vor dem Schädel.
»Ja«, sagte Korsar, »der kann schon Wochen liegen, sogar Monate, ein Jahr vielleicht. Morgen, wenn es hell wird, beginnen wir mit der Bergung. Das Gelände wird über Nacht abgesichert.« Franz fragte die Jungen: »Habt ihr irgendetwas verändert?«
Sie beteuerten, nichts angerührt zu haben.
»Aber mal gekratzt in der Erde, na?«, fragte Korsar.
Franz lief den Berg wieder hinunter, sie hörten seine schnellen Schritte.
»Nein. Mein Kumpel hier, der ist überhaupt nicht näher gekommen, der ist jetzt noch fertig. Ich habe die Zweige hingelegt, damit wir den Weg leicht finden.«
Korsar lobte ihn und nahm die Meldung des Mannes, der Franz hieß, entgegen, der inzwischen unten vom Wagen aus die Bereitschaftspolizei angefordert hatte und wieder heraufgekommen war. Er war nicht einmal außer Atem, Franz verfügte über eine ausgezeichnete Kondition.
Korsar sah sich um, zog seine Kreise um den Fund, ging bis zum Rand des Tümpels, der von einer dünnen Eisschicht bedeckt war, sah nachdenklich auf die Mauerreste des Eisenhammers und sagte: »Mehr können wir hier heute nicht machen.« Er stapfte mit den Jungen hinunter, ließ sie in den Wagen, und sie erlebten mit, wie er der Sekretärin, einer jungen, freundlichen Frau, die Fundortbeschreibung diktierte: »... kurz vor dem Lienhut, auf einer Lichtung, einhundert Meter westlich des Fußwegs, der Dorf und Badeort miteinander verbindet und der Kirchsteig genannt wird. Neben dem Schädel ein angewachsenes Bäumchen, das keine gelben Nadeln zeigt. Die Fichte ist einen knappen Meter hoch. Am Schädel wahrscheinlich Tierfraßerscheinungen ...«
Die Frau seufzte. Manchmal schlief sie in den Nächten nicht. Da war wieder ein Mensch gewesen, der gelebt hatte, gehofft, worauf auch immer, und nun solche Sätze, >am Schädel Tierfraßerscheinungen<, sie konnte sich noch immer nicht an die schrecklichen Fälle gewöhnen und blieb eigentlich nur Korsar zuliebe.
Drei Mannschaftswagen kamen durch den Tunnel und hielten vor dem Kirchsteig. Die Polizisten, alle in wattierten Jacken, wurden informiert. Korsar ließ die beiden Jungen in die Stadt zurückfahren.
Mit Franz, seinem Stellvertreter, ging er noch einmal hinauf. Nun wurde es dunkel, aber er hatte nicht die Ruhe, um nach Hause zu fahren. Morgen würde eine schwierige Arbeit beginnen.
Der Frost sang, das Gras rasselte steif, der Wetterbericht hatte keine Milderung gemeldet. Schicht um Schicht der harten Erde würden sie abtragen müssen. Korsar ging von der Annahme aus, dass auch der Körper der Leiche an dieser Stelle vergraben lag. Schicht um Schicht also abtragen, bis die Leiche frei vor ihnen wie auf einem Podest liegen würde.
Korsar und Franz blieben an der Fundstelle, bis die Kette, die die Polizisten in weitem Kreis um den Lienhut bildeten, geschlossen war und sie sich davon überzeugt hatten, dass kein zufälliger Wanderer den Fundort erreichen konnte, ohne bemerkt zu werden.
Sie stellten sich unter den Lienhut und sahen in die Krone hinauf, es sang, es klirrte.
»Er spricht«, sagte Korsar, »aber wir verstehen ihn nicht. Heute noch müssen alle Vermisstenmeldungen durchgesehen und überprüft werden.«
»Das läuft schon«, sagte Franz, der das Selbstverständliche über Funk vom Wagen aus eingeleitet hatte.
Korsar nickte ihm zu.
Franz: dreißig Jahre alt, ein Streckenläufer, der abendlich durch sein Wohngebiet lief, auch bei Regenschauer und am Heiligen Abend, und die Hunde, die Gärten und Siedlungshäuser zu bewachen hatte, schlugen nicht mehr an, wenn er kam, sondern blickten ihm sehnsüchtig nach.
»Er muss nicht aus unserem Bezirk sein«, sagte Korsar und klaubte mit froststeifen Fingern eine Zigarette aus der Packung.
Franz gab ihm kein Feuer, obwohl er Streichhölzer bei sich hatte. Er missbilligte Rauchen und Alkohol, aß keinen Kuchen und nahm auch bei starken Kopfschmerzen keine Tabletten ein. Korsar warf die Zigarette weg. »Hast ja recht, aber es gibt sogar eine Fußballmannschaft, die Empor Tabak heißt. Sein Gesicht, ich meine, es wird nicht mehr zu erkennen sein.«
Wenn Korsar laut vor sich hindachte, stieß er oft auf eine Einzelheit, an die bisher noch keiner gedacht hatte. Korsar wurde von manchen unterschätzt.
»Die Leiche wird auf dem Bauch liegen.«
»Möglich.«
»Wir müssen die Leiche auf eine Platte legen und mit Folie überspannen.«
»Ja, veranlasse das. Benachrichtige auch den Gerichtsmediziner. Alles muss schnell geschehen. Es kann tauen, wenn es auch nicht danach aussieht. Dann können kaum noch die Formen bestimmt werden.«
Vom Lienhut aus sah man andere Berge und die Bäderstadt und viele kleine Dörfer. An klaren Tagen erkannte man sogar die mittelalterlichen Türme der Bezirksstadt. Man sah die Essen des Betonwerkes und der Webereien, man sah Burgen und Rauch, der zum Himmel stieg. Zu Füßen des Lienhuts führte die Eisenbahnlinie vorbei, die Wiesen und Dorf durchschnitt und die Fernstraße überquerte. In einem der Häuser, hinter einem der erleuchteten Fenster, könnte ein Mörder leben, Bier trinken und über einen Witz lachen.
»Er wird nicht aus der Umgebung sein, sonst hätten wir hier gesucht, viele Vermisste haben wir nicht.«
»Haben wir überhaupt noch welche im Bezirk?«
»Wir werden sehen.«
»Es wird ein hartes Stück Arbeit.« Darin waren sie sich einig. Die Aufklärung einer schweren Straftat müsste im ersten Anlauf gelingen, also in drei bis fünf Tagen. Diese Tat aber war vor langer Zeit begangen worden. Je länger eine Tat zurücklag, desto schwerer wurde ihre Aufklärung.
Die beiden Männer gingen langsam in das schwarze Tal hinunter. Im Halblicht des Dämmerns sahen sie kaum, wohin sie traten und wie uneben der Weg war. Geröll rutschte unter ihren Schritten weg. Korsars Knie schmerzten wieder stärker.
Den Kirchsteig herab floss im Frühjahr das Schmelzwasser wie in einem Wildbach.
Im Auto saßen sie eine Weile still, die junge Frau suchte Musik im Super. Dann sagte Korsar, dass er Kriminalist geworden sei, weil er als kleiner Junge so gern auf Jahrmärkte gegangen wäre, nicht des Hundetheaters oder der tanzenden Liliputaner oder der dicken Berta wegen, die um ihren linken Oberschenkel mit leichtem Ach das Koppel eines strammen Soldaten schnallen konnte, auch nicht der Pferde und Kettenkarussells wegen, nein. »Da waren Guckkästen, in denen man die Welt und ihre Untaten sah. Ich machte mich größer. Für Kinder war das Panoptikum nämlich unerlaubt, nicht jugendfrei würde man heute sagen. Wir sahen, was uns kein Mensch erzählte, grausige Funde, Feuersbrünste, Flutkatastrophen, geheimnisvolles Verschwinden von Menschen, und immer wusste man nicht, warum und wer und wie, ja, diese Gräuelpanoramen waren pralles Leben, Blut und Rätsel, das waren meine Themen, lachen Sie nicht, Franz. Die Rätsel sind meine Welt geblieben.«
Am nächsten Tag konnte in siebenstündiger Arbeit die Sicherung der Spuren beendet werden.
Vorsichtig wurde eine Leiche aus der hart gefrorenen Erde gegraben, Schicht um Schicht musste nicht nur abgetragen, sondern zuweilen sogar abgeschabt werden, bis die Leiche auf einem Fundament lag. Sie war männlichen Geschlechts. Die Beine waren der Leiche gewaltsam abgetrennt worden.
Die Männer legten den Rumpf auf eine aus Brettern gefügte Platte, überspannten sie mit durchsichtiger Folie und trugen sie vorsichtig den steilen Weg hinunter. Die Feuerwehr übernahm den Transport und brachte den Fund in das Institut der Gerichtsmedizin.
Die Leiche war mit einem Turnhemd und einem Slip bekleidet, sie trug einen Strick von hundertfünfzig Zentimeter Länge um den Hals. Sie konnte, nach ungefährer Schätzung, zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahren alt sein und war von großer, kräftiger Gestalt. Sie war schon in Fäulnis übergegangen.
Am Abend des gleichen Tages, an dem man die Leiche ausgegraben hatte, fand der Leichenhund die unteren Extremitäten in unmittelbarer Nähe des schwarzen Tümpels. Sie waren in der gleichen Weise wie der Rumpf eingegraben worden.
Korsar erhielt die Information telefonisch während einer Beratung der Morduntersuchungskommission des Bezirkes vom Gerichtsmedizinischen Institut.
Im Unterkiefer fehlten mehrere Zähne, das Gebiss war saniert, Goldzähne ersetzten zwei Molaren. Offenbar hatte das Opfer keine grobe Handarbeit verrichtet. Die Leiche hatte mindestens vier Monate in der Erde gelegen, höchstens aber zwei Jahre. Todesursache: Strangulation.
Korsar bedankte sich und legte den Hörer auf. Die Kriminalisten hatten über Lautsprecher alles mit angehört.
»Also Erhängungstod«, sagte Franz.
»Das ist vorschnell gefolgert«, sagte Korsar.
»Sie haben recht. Wir wissen nicht, ob seine Augen geöffnet waren.«
Und mancher im Raum dachte wohl: Er könnte wahrgenommen haben, was in den allerletzten Sekunden seines Lebens mit ihm geschehen ist.
Das heißt, er könnte den Menschen gesehen haben, der ihm das Leben nahm.
So viele als vermisst gemeldete Personen gab es im Lande nicht, die meisten von ihnen waren nach geraumer Zeit unversehrt wieder aufgetaucht.
So war zum Beispiel ein verheirateter Mann vor seiner Frau geflohen, die ihn mit übergroßer Sorge und Liebe betuttelt hatte, also hatte er sich vor dieser weichen Hölle geflüchtet zu einer anderen Frau, die ihn nicht beherrschen wollte.
Er war zurückgekommen, resignierend, als er hörte, dass seine Frau drohte, sich das Leben zu nehmen.
Ein halbwüchsiger Junge, aus dem Heim ausgerissen, wurde von Spaziergängern in einem verlassenen Bahnwärterhäuschen entdeckt, in dem er vergnügt Eisenbahn spielte und die Weiche auf der totgelegten Strecke stellte.
Der dritte Vermisste aus dem Bezirk war in den Westen Deutschlands geflüchtet; er hatte sich von dort inzwischen schriftlich gemeldet.
Ein Fremder aus der Gegend von Senftenberg, ein alter Töpfer, der an seinem siebzigsten Geburtstag verkündet hatte, sich jetzt jene Städte und Burgen und Schlösser anzusehen, die er nicht kannte. Keiner hatte es ihm geglaubt, verlacht hatten sie ihn, er aber war zwei Monate lang mit seinem Motorrad auf Tour gegangen, hatte sich jung gefühlt, hatte heute in einer Scheune, morgen in einem Giebelzimmerchen und auch mal unter freiem Himmel übernachtet. Mit einer doppelseitigen Nierenentzündung war er heimgebracht worden.
Mit dem zerknirschten Ehemann, mit dem Jungen und mit dem immer noch kranken Großvater konnten die Kriminalisten sprechen, sie waren wieder da und lebten, nur einer war nicht zu sprechen, er lebte in einem anderen Land.
Also ging Franz, der im kommenden Jahr Korsars Nachfolger werden sollte, zu Paul Holzmann, dem zuständigen Abschnittsbevollmächtigten jenes Gebietes, in dem der Geflüchtete, ein Adolf Peters, gewohnt hatte.
Holzmann war schon in dem Wohngebiet tätig, als Franz eingesetzt wurde. Holzmann: ein langer, dünner Mensch mit so eingefallenen Wangen, dass die Leute, wenn er zu ihnen kam, um sie zu ermahnen, den Bauschutt vorm Hause endlich wegzuschaffen, ihm erst etwas zu essen anboten, nicht um ihn zu bestechen, sondern weil er sie dauerte. Dabei war Holzmann ein Vielfraß, zu Abend aß er fünf gut belegte Stullen, aber er nahm nicht zu.
Sein Dienstzimmer ging zum Garten hinaus. Franz sah dagegen von seinem Dienstzimmer aus auf die Brandmauer eines grauen Hauses. Holzmann hatte im Garten Nistplätze und Futterstellen angelegt. Zottige Türkentauben pickten ihm die Körner aus der Hand, und die zahmsten setzten sich auf seine Schulterstücke.
»Adolf Peters«, sagte Franz, »weißt du noch, Paul, wann die Vermisstenmeldung abgegeben wurde? Und von wem?«
Holzmann blickte Franz verwundert an. Dieser alte Fall war doch klar, der Peters schrieb von drüben. »Das war im März oder April, vor einem drei viertel Jahr, ich kann nachsehen. Ich weiß, sein Betrieb hatte ein Telegramm geschickt, weil er drei Tage nicht kur Arbeit gekommen war. Frau Peters kam gleich zu mir, noch mit dem Telegramm in der Hand, sie hatte kein gutes Gefühl. Ich weiß das noch so genau, als wäre es eben gewesen. Ich konnte sie nicht trösten, sie ließ sich nicht trösten. Ich dachte doch, der gammelt bloß durch die Gegend, aber der Mann war weg und blieb weg, dieser Mauersegler.« Er hielt inne, draußen sang eine Amsel. Die Tonfolge erinnerte Franz an den Anfang der Italienischen Sinfonie. Ob der Komponist auf eine Amsel gehört hatte?
»Gibt es Beweise für Peters Flucht?«
»Beweise, ja, die Karten, es gibt auch Aussagen von Kollegen. Er hat geprahlt, abzuhauen und drüben zu arbeiten.«
»Du kennst Frau Peters?«
»Natürlich, ich kenne alle Leute in meiner Gegend.«
»Wie ist die Frau?«
»Apart, sehr apart. Fleißig, sehr fleißig.«
»Und wie war Peters?«
»In letzter Zeit trank er viel.«
»Haben sie sich gestritten?«
»Das bleibt wohl nicht aus. Sie hochpenibel, er verlottert. Sie ein Putzteufel, und er ließ die Asche auf den Teppich fallen.«
»Als sie sich das letzte Mal sahen, hatten sie da Streit miteinander?«
»Ja. Das hat sie aber gleich gesagt. Sie war in Utes Zimmer gegangen, weil sie es nicht mehr aushalten konnte. Ute ist die große Tochter der Peters, noch aus ihrer ersten Ehe. Sie heißt Thunberg. Peters soll geschrien haben, er habe genug, nun reiche es ihm. Er ist gegangen und nicht wiedergekommen. Ihr kennt die Aussagen doch alle, die Akte ist bei euch.« Holzmann wunderte sich, dass Franz noch einmal zu ihm kam, er musste die Akte besser als er kennen. Er sagte: »Erst dachte ich, der Peters will sie bestrafen oder erschrecken. Sie redete auch nicht schlecht über ihn. Nüchtern war er ja hilfsbereit und gutmütig. Aber wenn du mich fragst, der Kerl taugte nicht viel.«
»Wie kommst du darauf?«
»Zum Beispiel: Er hatte keine Freunde. Oder: Wir brauchten ein Foto von ihm. Frau Peters holte das letzte, es war im Sommer aufgenommen worden. Peters mit seiner Frau vor dem Zelt, sie im Bikini, er mit einer Flasche Radeberger in der Hand und den Arm so fest um die kleine Frau gelegt, dass er mit seiner rechten Tatze ihre Brust umschloss. Das ist mein Besitz, so ungefähr, verstehst du, was bin ich für ein Kerl, und dabei quoll ihm der Bauch übern Hosenbund. Der fühlte sich wohl dabei. Kann so ein Kerl etwas taugen?«
Holzmann hatte sich in Erregung gesprochen, Franz bemerkte es wohl, er kannte das Foto auch, aus dem sie damals Peters für die Fahndung herausgeschnitten hatten.
»Du magst die Frau ja richtig.«
»Wir alle mögen sie, und wir alle haben sie bedauert.« Holzmann öffnete spaltbreit das Fenster, zerkrümelte eine halbe Stulle auf dem Sims und erklärte, dass er die größte Taube Tamerlan genannt hatte, Tamerlan verjagte alle seine Artgenossen und sogar Krähen.
»Warum hat sie sich nicht von ihrem Mann getrennt?«
»Warum? Wer weiß das schon. Vielleicht liebte sie ihn. Vielleicht blieb sie aus Gewöhnung. Viele Ehen existieren nur, weil sich die Partner aneinander gewöhnt haben.«
»Du weißt von der Leiche am Lienhut?«
»Ja. Meint ihr denn, das könnte Peters sein? Nein, nein.«
»Wir haben das Gebiss geprüft. Es liegt ein stomatologisches Gutachten vor. Er ist es.«
»Kaum zu glauben. Muss sich die Frau solche Fotos etwa ansehen?«
»Sie würde ihn nicht darauf erkennen. Und wir möchten es ihr auch ersparen. Aber wir müssen die Arbeitskollegen von Peters noch einmal befragen, Bekannte und Freunde.«
Franz sah einem Vogelschwarm zu, der vor dem Fenster tanzte. Eine Amsel schlug mit den Flügeln gegen die Glasscheibe und stieg dann auf, wie erschrocken von ihrer Kühnheit.
»Arbeitet die Frau jetzt?«, fragte Franz.
»Ja, auf dem Weihnachtsmarkt. Sie verkauft Bäume.«
»Gehen wir also.«
Draußen begann Schnee zu fallen.
Die beiden Männer gingen durch die schmalen, mittelalterlichen Straßen und mussten manchmal hintereinandergehen, es summte und brodelte von Menschen, es roch nach Bockwurst und Schmalzkuchen. Lichterketten spannten sich über die Straßen, Schwippbögen standen sogar auf Garagendächern. Engel und Nussknacker waren hinter Fensterscheiben aufgebaut, Krippenfiguren und geschnitzte Tiere, alles bunt, anheimelnd und gemütlich. Zwischen Markt und Kirche und dem Denkmal des Reformators drängten sich Käufer vor bunten Buden, standen Kinder an, um Karussell zu fahren. Die Musik überschlug sich, Marsch und Rock und Walzer und Süßer die Glöcklein und Alle Jahre wieder und She loves you.
Auch hinter dem Rathaus standen die Leute an, es gab Weihnachtsbäume, Fichten und Kiefern. Ein älterer Mann ließ die Käufer in kleinen Gruppen in ein abgezäuntes Viereck. Eine junge Frau kassierte.
»Das ist sie«, sagte Holzmann ernst, »das ist Sonja Peters, und der Mann, der dabei ist, der heißt Federer und hilft ihr öfter, auch im Sommer, wenn sie die Waldbaude am Tierpark hat.«
»Wer ist denn dieser Federer?«
Franz betrachtete den älteren, beweglichen Mann. Eine Zigarette zwischen den Zähnen, die Augen überall, Federer also.
»Er arbeitet bei der Post«, sagte Holzmann, »ein Freund der Familie Peters. Was man so Freund nennt. Das Foto, du weißt schon, Peters mit seiner Frau beim Camping, das hat dieser Federer aufgenommen. Peters soll auf ihn eifersüchtig gewesen sein.«
»Auf den? Sagte das Frau Peters?«
»Nein, die Leute.«
»Na ja«, sagte Franz, »wenn das die Leute sagen.«
Federer bewegte sich leichtfüßig, wie ein Sportler, ihm traute man einen Salto vom Dreimeterbrett zu, so sah einer aus, der das Wedeln am Hang noch beherrschte.
Die Frau wirkte sehr jungenhaft. Sie war gekleidet wie zu einem Bummel: enge Jeans, ein dicker Strickpullover, dessen Kragen so groß war, dass sie ihren Kopf darin verstecken konnte. So jung hatte sich Franz die Mutter einer halb erwachsenen Tochter nicht vorgestellt. Sie bewegte sich gewandt. Sie reagierte nicht schroff, wenn einem Käufer kein Baum gefiel. Man sah ihr gern zu. Sie ging gefällig den Leuten zur Hand.
»Hat sie solche Arbeit denn nötig?« Einmal ausgesprochen, ärgerte sich Franz schon über seine Frage.
»Nötig, was heißt nötig. Sie arbeitet gern, und sie arbeitet viel. Im Sommer verdient sie mit ihrer Baude vierhundert Mark im Monat und noch einmal so viel durch Überstunden.« Er winkte Frau Peters freundlich zu.
Sie kam heran und gab ihm die Hand. Dabei zog sie nicht die Handschuhe aus. Es roch würzig nach Kiefern und Tannen. Die kalte, feuchte Luft schien dem braunen, gesunden Gesicht der Frau nichts auszumachen.
Holzmann sagte zu ihr: »Frau Peters, das ist Herr Franz, ich stelle Ihnen Herrn Franz vor, er arbeitet auch bei der Polizei.«
In ihrem wollenen Pullover hingen Tannennadeln.
Franz rieb seine Hände, er trug keine Handschuhe, und sagte zu ihr: »Ich bin bei der Mordkommission, Frau Peters.« Er dachte: Wenn ich nun schon mit ihr sprechen muss, dann ohne Umschweife.
Es war, als halte Frau Peters für eine Weile den Atem an. Sie trat einen kleinen Schritt zurück und warf Holzmann einen kurzen, vorwurfsvollen Blick zu. Aber der sah über sie hinweg.
Sie atmete geräuschvoll aus. Der Rummelplatz dröhnte.
»Von der Mordkommission?«
Er sagte: »Sie haben sicher schon von dem Toten am Lienhut gehört, Frau Peters.«
»Ja, die Leute sprechen davon. Hier bleibt nichts verborgen.«
»Wir haben einen Mann gefunden.« Jetzt sah Franz die kleinen Fältchen in ihrem Gesicht, um. die Augen und um den Mund, Fältchen, die sich trotz Bräune und Schminke zeigten: eine Frau von sechsunddreißig, die weiß, wie es um sie steht und wie sie wirkt.
»Und da kommen Sie zu mir?«
Natürlich schwankte sie, natürlich griff sie in die Maschen des Drahtzauns, um sich zu halten, natürlich verfärbte sie sich, und das alles hatte Franz erwartet. Er stützte sie.
»Nein. Nein. Das ist unmöglich. Denn er hat sich gemeldet und lebt.«
»Die Karten sind sicher gefälscht.« Er dachte: Sie können hier geschrieben worden sein. Dann sind sie in Umschläge gesteckt und drüben abgeschickt worden.
Käufer unterbrachen das Gespräch und wollten Preise wissen. Federer schielte zu ihnen herüber, schleppte Bäume heran und stapelte sie zu verschiedenen Haufen. Dann ließ er alte Frauen in die eingezäunte Fläche, sie durften sich die abgebrochenen Zweige aufsuchen.
Frau Peters schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein.«
Franz war Holzmanns Art wegen verstimmt, musste das denn so plump vor sich gehen, besaß der Polizist kein Taktgefühl, er hatte die Frau sehen wollen und noch kein Gespräch verlangt. Hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt?
»Sie müssen sich irren. Bestimmt.« Sie beherrschte sich nicht länger.
Es gab einen kleinen Verschlag, budengroß, in dem eine Holzbank stand und ein elektrischer Ofen brannte. Franz führte sie mit Holzmanns Hilfe dorthin. Sie setzte sich und presste die Hand auf die Brust.
»Sie müssen sich irren. Das darf einfach nicht wahr sein.« Frau Peters wollte sich nicht helfen lassen, die Leute warteten, der Verkauf musste weitergehen. Wie hautlos wirkte sie jetzt, aber stützen, nein, niemand musste sie stützen.
»Wir werden bald mehr wissen«, sagte Franz, »Sie haben ein Recht, alles zu wissen.« Was für Worte, dachte er, hohle Worte. Es wäre ihm lieber gewesen, die Frau würde in eine Ohnmacht fallen, er müsste nicht mehr sprechen.
Aber Frau Peters schien beherrschter zu werden, anscheinend glaubte sie kein Wort.
»Sie brauchen doch Gewissheit«, sagte Franz.
»Gewissheit, ja. Nein. Ich weiß nicht, ob ich alles wissen will. Ja, ich bin nämlich zufrieden gewesen. Er war weg, er war drüben, gut. Sie können das nicht verstehen. Ich habe ruhig gelebt. So ruhig wie lange nicht. Nein. Nein, es kann nicht mein Mann sein.«
Federer rief ungeduldig nach ihr. »Sonja, komm doch endlich!«
Federer duzt diese Frau also, dachte Franz. Sie erwiderte nichts, sondern wandte sich an Holzmann: »Was sagen Sie denn dazu?«
Holzmann, der lange Holzmann sollte nun dazu seine Meinung sagen, jeder sah ihm an, wie leid ihm die Frau tat. »Warum vermuten Sie das eigentlich? Haben Sie erkannt, dass es mein Mann ist? Und woran denn? Er ist schon so lange weg. Kann ich ihn sehen?«
»Sie würden ihn nicht erkennen, Frau Peters.«
»Mein Gott. Aber Sie, Sie erkennen ihn, obwohl Sie ihn nie gesehen haben?«
»Ja. Wir haben ihn identifiziert. Wir müssen nicht darüber sprechen, Frau Peters. Jedenfalls nicht hier.«
Diese Peters. Wie sie auf der Holzbank hockte, wirkte sie wie ein gut gewachsener Junge und dennoch überaus fraulich. Ihr sah man sicher auf der Straße nach. Enge, verwaschene Jeans, ein gut geformter Kopf. Eine schöne Frau.
Als sich eine Käuferin, schiefmäulig und über die stakigen Bäume im Angebot dieses Jahres lamentierend, näherte, sagte die Peters, hochfahrend aus ihrer Erstarrung, sie werde ihr bei der Auswahl helfen, und Franz hatte einen Grund, sich zu verabschieden. Diese ganze Szenen hatte ihm nicht gefallen. Sie war dilettantisch. Er machte Holzmann Vorwürfe, nicht laut, nur in Gedanken, und sich selber gerechterweise auch.
Der Schnee fiel immer noch sacht und deckte die Stadt zu, winterlich weiß.
Die Untersuchungen liefen.
Korsar sprach mit Herbert Tetus, von dem seit der Vermisstenmeldung aktenkundig war, am siebten April dieses Jahres seinen Kollegen Adolf Peters niedergeschlagen zu haben.
Deswegen war der Mann nicht eingeschüchtert, das Wort >niedergeschlagen< war ihm zu brutal, und Polizei schreckte ihn nicht.
Ein redseliger Mann.
Korsar bremste ihn nicht. Er ließ die Leute gern erzählen, auch wenn sie vom Thema abkamen. Einhüllen in solche Geschichten, die nicht dazugehörten, sondern ablenken sollten, konnte man ihn nicht; es war eher umgekehrt: er fand die verwundbare Stelle leichter heraus, die der andere mit Wortgedröhn zu verbergen suchte.
»Ein Schleimscheißer war das«, sagte Tetus, der auf der Baustelle des Kraftwerks einen Dumper fuhr, »so richtig hat der nicht zu uns gepasst. Wir nannten ihn Blautze, nicht bloß, weil er hustete, der qualmte wie ein Schlot, nee, auch weil man ja auch Adolf nicht zu einem sagen kann, der muss ja noch zu Adolfs Zeiten geboren sein, oder wat? Fünf Jahre kenn’ ich den schon, aber ein Kumpel, höchst selten mal. Ganz schwammige Hände hatte der. Früher soll er mal Schaufenster dekoriert haben, aber der ist doch ’rüber, glaub mir, Genosse, davon hat der immer gequasselt. In seinem Spind hingen lauter bunte Karten, von Sylt und dem Schwarzwald und dem Kölner Dom und dem Rheinfall bei Schaffhausen, oder ist da gar kein Rhein? Das habe ich aber alles schon mal gesagt, im April, oder wat? Mein Freund war er nicht. Wir sind fünf Mann auf der Bude, Arbeiterunterkunft, Neubau, mit Küche und Bad, jeder muss mal was machen, aber denken Sie, Blautze hat sich mal gerührt? Keine Spur. Nachts kam er an und rumorte, wenn wir schon alle in der Falle lagen. Meistens war er in der Kneipe von Fischburg. Aber im Skat, da war er Klasse, der hatte Sachen drauf und konnte mit jedem Blatt was machen, die Karten waren seine Welt. Und Alk natürlich, klar, einmal hat er sogar das Kindergeld versoffen. Da rief seine Frau an, wie diese Frau mit dem auskommen konnte. Dumm ist er ja nicht gewesen, der konnte einen in alle Ecken quasseln und kannte Wörter, die kennt unsereiner nicht. Und wenn er angemacht wurde auf einer Versammlung, dann übte er sich in Selbstkritik so scharf, dass wir sagen mussten, nun heul bloß nicht Rotz und Wasser, so schlimm bist du auch wieder nicht. Was habe ich gesagt? Ein Schleimer, ein Schleimscheißer, sagt sich leicht, wat? Was seine Frau ist, von der erzählte er alles, wie die ist und was sie am liebsten hat, wie er es ihr machen muss. Er beschrieb sie uns, ja, Tatsache, kleine Titten, fester Hintern, sehr handlich, sagte der doch, macht man doch nicht als Mann, oder wat? Besuch bekam er selten, mal Saufkumpane, Skatbrüder. Warte mal, da war einer da, Mitte März vielleicht, ein junger Kerl, der ließ zwei Flaschen Korn da, denn Blautze war noch auf Schicht ...«
»Wer war das?«, fragte Korsar.
»Weiß wirklich nicht, weiß nicht mal, wie der ausgesehen hat, er blieb unten vor der Haustür. Als ich die Pullen hochholte, war er weg, Blautze hat selber nicht gewusst, wer das war, er hat rumgerätselt, oder er hat so getan, kann auch sein, wenn ich heute darüber nachdenke. Mies, obermies war er. Aber so mies auch wiederum nicht. Letzte Weihnachten zum Beispiel, da hat der uns Bierdeckel geschenkt, aus Fischburg, Sachsenbräu. Wir dachten erst, der läuft nicht rund, so’n blöden Bierdeckel, aber auf der grauen Rückseite hat der uns doch gezeichnet, Klasse, sage ich dir. Manche haben sich das Bild rahmen lassen, meine Frau auch. Zeichnen konnte der gut. Harter Schnaps hat den fertiggemacht, aus dem hätte was werden können, ehrlich. Fünfzehn Biere und genau so viel Kurze, die stieß der glatt ’rein. In Fischburg gab es eine Kellnerin, die sah gut aus, aber da war nichts, obwohl er gerne wollte, ich glaube, der konnte nicht mehr. Einmal, als seine Frau hier war, habe ich gehört, dass sie zu ihm gesagt hat, lass endlich den Schnaps, bist doch gar kein richtiger Mann mehr. Diesen Satz habe ich mir nun gemerkt, und viele andere, die vielleicht wichtiger waren, die habe ich vergessen. Wie das so ist. In Fischburg trank er immer mit den Männern vom Wohnschiff, die baggern doch den Kanal aus. Nee, eine andere Frau hatte der nicht. Der hatte schon die Pinselgicht. Nun kann er ja wirklich nicht mehr. Früher soll der mal in der Partei gewesen sein. Aber er denkt sozialdemokratisch, hat er gesagt, und darum ist er auch 'raus, hat er gesagt. Weiß ja nicht, ob das nun stimmt.«
»Sie haben ihn niedergeschlagen«, sagte Korsar, die Redeflut des Mannes nun doch unterbrechend.
»Ich habe ihn mir vorgenommen, das gebe ich zu. Das habe ich schon im April zugegeben, oder wat? Der Blautze, ich glaube, der hatte keinen Freund, und der hatte keinen Feind, der war bloß da. Und wenn er nicht da war, hat kein Schwein nach ihm gekräht. Ist das nicht schlimm?
Aber wie wird denn einer so? Der schlappte mutterseelenallein ins Kino. In dem Film, wo einer von eigenen Kollegen fertiggemacht wird, die noch dazu Polizisten sind, den hat er sich sechsmal angesehen, Vertiko oder Serpiko oder so ähnlich. Sechsmal, denken Sie sich, ist doch nicht normal, oder wat? Ich sehe, das willst du nicht wissen, klar, verstehe ja, also, an dem Tage, dem bewussten, hat der Blautze falsch gespielt. Ein Lehrling, der Mark, hat es gesehen und mir heimlich gesagt. Ich saß in der Runde. Erst blieb ich ganz ruhig, bis Blautze verrückt spielte und ein Bierglas zerkloppte, der hat gemerkt, dass Mark mir was gesagt hatte, und wollte mit dem Henkel in der Faust auf Mark los. Da wurde ich zum Sheriff. Gerechtigkeit muss sein, oder wat? Ich habe Blautze hingestaucht und brav nach Hause gebracht. Nun kommen Sie und sagen niedergeschlagen. Mann, wie das klingt, das klingt richtig brutal. Ich habe den sogar noch unter die Dusche gestellt, weil er so stank. Den nächsten Tag schlief er seinen Rausch aus, den übernächsten Tag war Blautze weg. Aber ich kriegte es erst später mit, ich war in Bitterfeld, das haben Sie alles überprüfen lassen, mein Großer wurde vierzehn, und ich hatte drei Tage Urlaub. Als ich zurückkam, fehlte einer auf der Bude, Blautze. Aber dass der ganz weg war, das wusste ich doch nicht, oder wat? Sie denken doch nicht etwa, der ist meinetwegen weggeblieben?« Korsar schüttelte treuherzig den Kopf. Er bemühte sich, wach zu bleiben, und besah sich die großen, schweren Fäuste, die Tetus selbstsicher auf den Tisch legte. »Damit kann ich einem ein blaues Auge verpassen, ich kann einen auf den Kopf stellen oder auch eine ganze Reihe umkippen, wenn es sein muss, aber dieser Blautze lag ja gleich wie ein Maikäfer auf dem Rücken, und dabei habe ich nur einmal hingelangt. Nee, was soll ich denn noch sagen, das meiste wissen Sie ja. Dass der früher jede Woche nach Hause gefahren ist, mit dem Barkas vom Betrieb, den haute er voll Gemüse und Obst, seine Frau hatte wohl solchen Laden, in dem sie das Zeug verkaufte. Aber nun müssen wir Sprit sparen, da fuhr er nur noch jede dritte Woche, ist auch unbequem, erst Bahn und dann Bus bis in die Berge hoch. Er war allein hier. Mal hast du gedacht, der ist gar nicht so, wie bei der Sache mit den Bierdeckeln. Oder wenn er sich Mühe gab und einem was erklärte oder ein paar Witze erzählte, aber am nächsten Tag tat der schon wieder so, als wärst du schlechte Luft für ihn. Ich denke, der hat Lust gehabt, richtig was kaputt zu machen, Lust zur Arbeit hatte der selten. Kein sympathischer Typ, aber sehr empfindlich, wenn es um ihn ging, bei anderen nicht, bei anderen immer drauf.«
Tetus schwieg nach seiner langen Rede und wischte sich die feuchte Stirn ab, anscheinend war er doch nicht so ruhig und selbstsicher, wie er tat.
»War Peters eigentlich öfter krank?«, fragte Korsar.
»Mal Montag blau«, sagte Tetus, »und dann atmete der schwer, wie einer, der Asthma hat, der rauchte ja seine zwei Packungen täglich und nicht die feinste Sorte, da kannste bald keine Luft mehr holen, oder wat?«
Das Bild eines Menschen sollte sich Korsar nun machen. Es wollte ihm manchmal schon gelingen, aber dann meldeten sich Zweifel und Widersprüche an. Warum wurde dieser Mann getötet und verstümmelt?
Korsar blätterte in der Akte, las Aussagen, zum wiederholten Male. In der Wohnung befanden sich an dem Tage, da Peters das letzte Mal gesehen worden war, an dem er geschrien hatte, er habe nun genug, seine beiden kleinen Kinder Yvonne (vier) und Danny (zweieinhalb), die Stieftochter Ute Thunberg, deren Freund Gerald Stern und Sonja, seine Frau. Yvonne und Danny hatten schon geschlafen, aber die Aussagen aller anderen stimmten überein: betrunken, geschrien, es würde nun reichen, sie sollten machen, was sie wollten, doch ohne ihn, Sachen in einen Koffer, Türenschlagen, die Treppe hinunter.
Gerald hatte ihn zurückhalten wollen. Aber mit Peters konnte man nicht mehr reden, wenn er getrunken hatte. Das bestätigten auch die Arbeitskollegen.
Peters hatte oft gedroht, wegzugehen, und war darüber in seinem Sessel eingeschlafen. Diesmal nicht. Diesmal war er gegangen, laut und polternd. Und das bezeugten auch die Nachbarn. Sie hatten das Schreien und Toben in der Wohnung gehört. Sie hatten auch gehört, wie es die Treppen hinunterpolterte. Wahrscheinlich hat er einige Stufen verfehlt, der Säufer, sagten sie. Gesehen hatten sie Adolf Peters nicht.