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«Was sind Wörter, wir sagen uns nur irgendwelche Wörter.» Als Wiebke diesen Satz denkt, fühlt sie sich als eine andere. Sie weiß nicht, ob sie froh darüber sein kann. Aber was nun folgen wird, hängt nicht nur von der Reaktion ihres Mannes Albrecht ab. In drei Tagen ist viel geschehen. Wiebke und Albrecht, seit wenigen Monaten verheiratet, leben an seinem ersten Dienstort. Was so idyllisch schien, wird für die junge Frau allmählich unerträglich. Der Zweifel an dem Sinn ihres Lebens wächst, und dieser Sinn reduziert sich mehr und mehr auf ihre Rolle als werdende Mutter. Sie zweifelt an diesem Sinn. Sie zweifelt auch an der Liebe Albrechts, der als junger Offizier der Nationalen Volksarmee von seinen Soldaten geachtet wird. Aber Albrecht, ausgefüllt von seinem Leben in der Truppe, ständig gefordert von Soldaten und Vorgesetzten, spürt nicht, wie es um sie steht, wie ernst es ist. Darum kann er ihre Flucht nicht begreifen und darum verschärft sich der Konflikt zwischen beiden schnell. Es geht nun nicht um das Zerschlagen eines flüchtig geschürzten Knotens oder um eine perfekt nachzuvollziehende Entscheidung. Drei Tage (Frühling) im Leben der beiden Menschen, die in diesem Roman erzählt werden, bringen eine Lösung, die keiner von beiden gewollt oder bewirkt hat, aber die Partner treten sich nach drei Tagen anders gegenüber - um ihrer selbst willen. In das Geschehen der drei Tage, emotional tief und unmittelbar gestaltet, fließt die mögliche Antwort auf die Frage ein, wodurch Menschen wurden, wie sie sind, was sie selbst bewirkt haben könnten und inwiefern sie im jeweiligen Augenblick verwoben sind mit dem Schicksal anderer, mit dem Leben auf dieser Welt. Schwer ist die Verantwortung, das Menschenmögliche zu tun, für andere und für sich selbst.
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Seitenzahl: 365
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Heinz Kruschel
Der rote Antares
Roman
ISBN 978-3-95655-122-2 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1979 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Wie überall im Land, so sind auch die Menschen, die in unserer Geschichte vorkommen, organisiert: in Brigaden, Hausgemeinschaften, Meisterbereichen, Klassen, Zügen, Mannschaften, Abteilungen, Familien, Ehen. Wiebke und Albrecht Wenze führen erst seit Kurzem eine Ehe.
Die Menschen tun ihre Pflicht. Sie tun, was nötig ist, was verlangt wird, und oft ein wenig mehr, sie tun das Vorgeschriebene. Denn das Vorgeschriebene sollte doch der Bewusstheit entspringen: bei dem, der es vorschreibt, und möglichst auch bei dem, der es tut. Wäre der Grad der Bewusstheit gering, so würde nicht alles wie ein Uhrwerk laufen. Dabei gehen die Störungen, oft von einzelnen als lästig oder unerträglich empfunden, unter, wenn man das GROSSE GANZE sieht, das Uhrwerk, bei dem eins ins andere läuft.
Es gibt Menschen, die wissen, wie und warum alles so läuft und warum es nicht anders laufen kann. Dieser und jener Mensch ahnt es und kennt einzelne Bruchstücke. Und sicher gibt es Menschen, die weder wissen noch ahnen, wie es funktioniert, weil es ihnen zu unbequem ist, das Getriebe zu durchschauen. Nicht jeder ist sich darüber klar, was er tut und damit bewirkt und ob er sich seiner bewusst ist.
Die Menschen tun ihre Pflicht, sie verrichten ihren Dienst und ordnen ihr Schicksal einer weltverändernden Idee unter, aber weiß dabei jeder, dass er am effektvollen Zusammenspiel von Millionen beteiligt ist, dass er zu den wirkenden Kräften unserer Zeit gehört? Das Ehepaar Wenze glaubt es zu wissen.
Das ist nicht anders und doch anders an diesen Tagen des Ostermonats.
Es hört zu frieren auf, über Nacht. Es wird hell unter einer warmen Sonne, die man nicht mehr gewöhnt ist. Es wird nass unter einem milden Regen, sodass sich die Eiszapfen von den Dachrinnen lösen und zerspringen. Es treibt die Menschen hinaus, Wiebke freiwillig und Albrecht auf Befehl. Die aufregende Luft erhöht ihren Blutdruck. Sie entdecken die Knospen an den Büschen und erste bunte Krokusse und vergessen für eine Weile ihre Sorgen um eine schlimme Krankheit, um Störungen im Arbeitsprozess, um ihre Kinder, und diejenigen, die sich vorgenommen haben, ihr Schicksal zu meistern, vergessen sogar die Sorge wegen der rätselhaften Waffe, die westlich von ihrem Lande produziert und gelagert werden sollte. Diese Waffe kann im Kriege so eingesetzt werden, dass das Leben qualvoll endet, während Maschinen und Fabriken erhalten bleiben. In Friedenszeiten aber zerfällt die Waffe während der Lagerung von selbst, je länger sie liegt. Darum muss sie immer wieder produziert werden.
Die Menschen, die auf dem Planeten Erde leben, haben in einem Jahrhundert so viele schreckliche Waffen erlebt oder von ihnen gehört, dass auch die wissendsten, bewusstesten unter ihnen nicht lange darüber sprechen. Sie protestieren auf Kundgebungen, warnen einen fernen Mister President und sprechen dann über den Kauf der Ostergeschenke, den geplanten Urlaub, das bestellte Auto, das Fußballspiel, die Diskussion über das Verhütungsmittel, die Produktionsumstellung im Betrieb und das autogene Training, das die Spannung von ihnen nehmen soll.
Denn in Spannung leben die Menschen, sie erhöht sich noch durch den warmen, aufregenden Wind. Eine unruhige Spannung nach einem harten Winter. Die Menschen schlafen unruhig, sie treffen rascher ihre Entscheidungen und befinden voreiliger über andere, sie prüfen ihre Lebensvorstellung nicht lange genug. Und auch Wiebke und Albrecht, die sich für sehr bewusst halten oder dafür gehalten werden, bleiben von dieser unsteten Hast nicht verschont.
Vor solchen Morgen fürchtet sie sich. Aufwachen und wissen, es wird wieder gewachsen sein in mir, in einem solchen Monat ist die Frucht schon so groß wie eine Männerhand. Es wird wachsen und wachsen und mich immer wehrloser und abhängiger machen.
Vor solchen Morgen tastet sie sich ab, streicht über ihre Schenkel, ob da wieder diese klebrige Flüssigkeit ist.
Vor solchen Morgen fürchtet sie sich in dem Wohnheim, weil sie die Geräusche nicht mehr ertragen kann. Ringsum ist es ruhig, der Wald reicht bis an die Trockenplätze. Darum empfindet sie die Geräusche im Heim als unerträglich laut. Albrecht meint, das sei nur ihr Zustand.
Wiebke weiß am Morgen, wessen Kind weint und dass Frau Knobbe wieder so laut abwäscht, wer mit wem schimpft und in welchem Zimmer gehustet wird. Die Wände sind dünn, alles ist provisorisch. Man lebt das Leben der anderen mit. Und diese anderen wissen bestimmt, wann Albrecht mit ihr schläft, Albrecht ist stürmisch und vergisst dabei die Umwelt. Sie kann das meistens nicht, jedenfalls nicht im Wohnheim. Sie lauscht und ermahnt ihn. Dabei liebt sie es, wenn er die Umwelt vergisst. Vergäße er sie nicht, es wäre viel weniger schön.
An diesem Aprilmorgen aber weiß sie nicht, ob sie ihn noch liebt. Es ist vieles anders geworden, darüber will sie mit ihm sprechen. Sie kommt sich eingesperrt vor und beobachtet wie in einem Zoo. Sie ist nicht mehr die Wiebke Bassun, die vor drei Jahren noch die Stunden und Minuten zählte, bis er kam. Sie will hinaus und zu ihren Eltern ziehen. Sie freut sich nicht mehr auf das Kind. Dabei hat sie bewusst die Pille nicht mehr genommen. Sie hat sich das tägliche Zusammensein mit Albrecht anders vorgestellt, und nun soll in fünf Monaten ein Kind geboren werden, in einhundertfünfzig Tagen, und jeder Tag wird schlimmer werden.
Ein Kind muss sein in einer Ehe, sagt Mutter, sagt Albrecht, sagt Frau Knobbe, sagt Albrechts Mutter, sagen alle Leute. Warum muss ein Kind sein? Das ist der Sinn deines Lebens, weil du eine Frau bist. Wiebke will das Kind nicht mehr, sie sieht keinen Sinn darin. Wofür einen Sinn? Für die Ehe. Hat eine Ehe nur durch ein Kind einen Sinn?
Heute hört sie die vielen Geräusche im Wohnheim nicht, weil es draußen immer lauter wird. Sie kommen zurück. Die Fahrzeugkolonnen lassen die Wände zittern und die Lampen pendeln. Dann klingelt im Flur das Telefon, die Geräusche entfernen sich für eine Zeit.
Wiebke sieht zum Fenster hinaus. Der Himmel ist dunkel wie schwarze Johannisbeeren. Das Land ist aufgequollen vor Nässe. Der Frühling sitzt nicht länger ängstlich wie ein Jungtier im Bau, es ist vorbei mit den frostsplitternden Sternen eines langen Winters. Warmer Wind lässt die Blumen über Nacht aufbrechen und die Menschen unruhig schlafen. Sie hat kein Auge zugemacht.
Nun wartet sie auf ihn. Dann hört sie die Männer, die ruhig sein wollen und doch so viel Lärm auf dem Flur machen. Da hallt jedes Wort. Sie besetzen den Duschraum und werden im Dampf stehen. Wiebke hört sie reden und weiß, dass ihr Albrecht neben Hans Weider stehen wird. Sie reden und reden. Was haben wir geschafft und was nicht; worüber werden sie schon reden, über das Warum und über das Darum.
Heute will sie mit ihm sprechen, sie hat sich das gründlich überlegt.
Sie muss lange überlegen, weil sie vieles, was in ihr vorgeht, nicht klar ausdrücken kann. Das ärgert sie und macht sie unsicher. Sie zählt den Puls am Halse, in einer Viertelminute fünfundzwanzig Schläge. Sie streicht das glatte Laken noch einmal glatt auf der Liege, nimmt die Sektflasche aus dem Waschbecken, dreht den Hahn zu, trocknet die Flasche ab. Denn sie weiß, was er liebt und wie er es liebt.
Alles ist einstudiert, alles läuft ab nach einer Schablone, alles wiederholt sich. Sie hat das vorige Woche gemacht und vor einem Monat. Die Zeit geht darüber hin.
Nebenan wohnt Hans Weider. Er hat in seinem Zimmer nichts verändert, sondern nur ein paar Plakate an die Wand geklebt. Weider will von Frauen nichts mehr wissen. Es war einmal ein Mädchen, das liebte ihn, und das Mädchen kam ums Leben, weil es auch einen anderen liebte, und es kam mit diesem anderen um. Weider scheint das nicht vergessen zu können. Ich könnte das auch nicht vergessen, denkt Wiebke.
Weider ist nicht so praktisch veranlagt wie Albrecht Wenze, denn der hat das Zimmer mit leichten Platten abgeteilt und ein Appartement daraus gemacht: Schlafraum, Sitzecke und Wasch-Koch-Nische. Er hat gesagt: Wenn erst das Kind da ist, müssen sie uns eine Wohnung geben, sonst reiche ich meine Versetzung ein.
Alles ist wie immer, wenn er so spät kommt. Er denkt nicht daran, dass sie schon schlafen könnte, sie hat zu warten.
Er reißt die Tür auf, stößt sie mit dem Hacken hinter sich zu und bleibt vor ihr mit ausgebreiteten Armen stehen. Unter dem offenen Bademantel trägt er nur eine Turnhose.
Sie denkt: Er ist abgemagert in dem halben Jahr, seitdem wir hier wohnen, kein Gramm Fett auf den Rippen, er kommt aber auch nicht zur Ruhe. Sie weiß, dass er ausdauernd und sehr zäh ist.
Er hebt sie hoch und küsst sie und trägt sie vorsichtig zur Liege, er ist über ihr, und seine Hände streicheln ihre Brust, vorsichtig, zart. Leib auf Leib. Er fragt, ob er ihr wehtut, ihr oder dem Kinde. Er freut sich so sehr, dass er bald Vater sein wird. Sie schließt die Augen unter seinen Händen. Er riecht nach Seife, und seine Haare sind noch nass. Jetzt kann sie ihm noch nicht sagen: Ich will weggehen, ich halte es nicht mehr aus, ich will kein Kind, warum muss ich denn ein Kind bekommen, ich will hinaus, ich will unter Menschen. Und da ist noch mehr, Albrecht, das betrifft dich, ich habe so viele Zweifel.
Vielleicht sagt sie es später. Das Radio dudelt, ein Sänger singt einen dieser dummen Schlager. Während Albrecht mit den Händen ihre Hüften umspannt, so schmal ist sie in der Taille, dass seine Hände zum Gürtel werden können, schaltet sie das Radio aus. Sie mag keine Musik dabei, erst recht nicht solche. Das Licht ist ihr gleichgültig, sie schämt sich nicht. Ein wenig riecht er auch nach Diesel, dabei hat er seinen Körper rot geschrubbt.
Wiebke krallt die Finger in die Laken vor Spannung, lockert sich dann und umschlingt ihn. Erst schlafen miteinander, dann reden, aber reden bringt auch nichts ein. Er wird mich gar nicht verstehen, denkt sie, er wird sagen: Was hast du für dumme Gedanken, morgen fahren wir in die Stadt, und du kaufst dir etwas Schönes. Als ob es darum geht.
Dann denkt sie nicht mehr. Sie spürt ihn ganz nah, und sie. hebt ihren Körper ihm entgegen und vergisst alles, die gedachten Sätze, Hans Weider nebenan und auch, dass andere mithören können, wie sie sich lieben.
Oberstleutnant Hyder sitzt hinter seinem Schreibtisch. In den Unterkünften der Soldaten, die er von seinem Platz aus sehen kann, erlöschen die Lampen. Im Sessel sitzt steif der Oberleutnant Franke, die Mütze auf den Knien, und wartet darauf, dass Hyder ihn anspricht. Auf dem Schreibtisch steht eine kleine Plastik, ein nackter Soldat mit einer Maschinenpistole im Anschlag, über die Plastik haben sie schon oft gelästert. Der Akt in Bereitschaft.
Hyder kann nicht ruhig sitzen, er nimmt Papiere aus dem Schreibtisch und steckt sie in seine Kollegmappe. Die Plastik schaukelt ein wenig.
Ich kann das nicht glauben, sagt Hyder, Leutnant Weider macht auf mich nicht den Eindruck eines Betrügers, vielleicht ist er ein Streber.
Ich weiß es aus sicherer Quelle, sagt Franke.
Zum Kotzen, aus sicherer Quelle, wie klingt denn das aus dem Munde eines Genossen. Sie erzählen, dass Weiders Ergebnisse frisiert sein sollen, das sagen Sie nicht in der Parteiversammlung, das sagen Sie mittags zwischen Rouladen und Rotkraut.
Es gab keine Parteiversammlung.
Dann hätten Sie besser geschwiegen. Wissen Sie, dass der Leutnant Sie einen Schwätzer genannt haben soll? Hyder schlägt mit der Hand auf den Schreibtisch, die Plastik schwankt stärker und droht umzufallen. Ich dulde dieses Klima in meinem Bataillon nicht.
Es ist nicht mit rechten Dingen zugegangen, Genosse Oberstleutnant, und wenn Weider mich beleidigt, so beweist das nur ...
Hyder steht auf, und der Akt fällt auf die Nase, Franke springt hinzu und stellt ihn wieder hin.
Nichts beweist das. Wir werden das überprüfen. Mir scheint ohnehin, dass sich von den drei Leutnants nur Fürst hier wohlfühlt bei uns.
Fürst ist auch der beste Leutnant.
So? Da bin ich mir nicht so sicher, Genosse Franke.
Die beiden Offiziere verlassen das Zimmer, der Unteroffizier vom Dienst grüßt. Von dem asphaltierten Hauptweg aus sieht Hyder, dass im zweiten Stock des Neubaus Licht brennt. Sonst kann man nicht weiter sehen, als man greifen kann. So dunkel ist es. Seine Frau wartet. Ihm fällt ein, dass sie sich heute beim Schulrat beschweren wollte. Den jüngsten Sohn hat man nicht zur Erweiterten Oberschule delegiert. Ihm ist ihre Eingabe nicht recht. Sie wird nichts erreicht haben, denkt er, atmet tief die frische, schwere Luft ein, ich wäre sogar enttäuscht, wenn sie etwas erreicht hätte, für Michaels Entwicklung ist ein Beruf besser, er schiebt jede Schwierigkeit von sich und dünkt sich schon so klug.
Vor der Wache verabschiedet sich Franke und steigt in sein Auto. Er wohnt in der Stadt, allein, die Frau hat sich scheiden lassen und die Kinder mitgenommen. Von Franke weiß man auch zu wenig. Wie mag so ein Mann ganz allein leben.
Im Treppenhaus ärgert sich Hyder darüber, dass ihm das Steigen schwerfällt. Er hat das Gefühl, dass er seiner Frau gegenüber nicht mehr gelassen reagieren wird, und denkt: Ich habe zuwenig geschlafen, mal zwei Stunden im Fahrzeug, wenn überhaupt. Gründe suchen und Gründe finden, das gehört zum Menschen, wenn er sich den wahren Grund nicht eingestehen will.
Weider hört von nebenan Albrechts lautes, gesundes Lachen und das Knallen eines Sektkorkens. Jedes Wiedersehen feiern die so, denkt er. Dass Albrecht seiner Frau in diesem Zustand überhaupt noch Alkohol gestattet und dass sie den verträgt.
Er versucht gar nicht erst, die Ohren zu spannen, darum fällt er bald in einen unruhigen Schlaf. Im Traum erscheint ihm Hyder, der einen großen Ochsen auf der Schulter trägt. Er hört laute Worte, die in seinen Schlaf wie kleine Ratten beißen: Betrug, der hat doch schon in der Schule betrogen. Wenn aus einer Nuss eine Laus wird, dann fängt sie an zu beißen. Weider will rufen. Hyder soll aus dem Wege gehen, wer beleidigt mich so. Aber er kann sich weder bewegen, noch kann er schreien, obwohl er es versucht. Er zuckt zusammen. Ein harter elektrischer Schlag geht durch seinen Körper, aber es ist nur ein Geräusch, weil der Brüller im Traum, dessen Gesicht er nicht erkennen kann, eine fette Laus zwischen Daumen und Zeigefinger zerknackt. Er hört das Knacken, das sich wiederholt und wandelt, als wenn dünnes, trockenes Holz zerbricht. Endlich erwacht Weider davon, er hört, das Knacken ist ein Klopfen an seiner Tür, und ruft, dass die Tür offen sei.
Wenze steht vor ihm, nur mit einer Pyjamahose bekleidet, und sagt: Hast du schon geschlafen? Komm doch rüber auf einen Schluck, Wiebke mag nicht und hat sich hingelegt.
Sie gehen hinüber, mischen den Sekt mit Bier und unterhalten sich halblaut. Weider erzählt von seinem Traum.
Du verdaust den Hyder nicht, sagt Albrecht, aber du musst ihn gar nicht erst verdauen wollen, denk dir dein Teil, der ist bald weg vom Fenster, lass dir doch nicht den Balg abziehen.
Weider denkt, dass es vielleicht gar nicht um Hyder geht, dass sie vielleicht auf der Schule nicht vorbereitet worden sind auf das, was man Praxis oder Basis oder auch nur «draußen» nennt. Sie reden von sich. Albrecht hat auch seinen Ärger. Falsch eingewiesen von einem übermüdeten Regulierer, war er mit seinem Zug viel zu spät im Stellungsraum angekommen.
Da sagt doch der Hyder zu mir, ich könne einen Zug nur theoretisch richtig führen, nur auf dem Papier. Dabei wusste er von dem Regulierer.
Weider lauscht, hört die Worte Albrechts und auch die tiefen, ruhigen Atemzüge der jungen Frau hinter der dünnen Wand, und er bildet sich ein, ihren Leib zu riechen. Für ihn ist Albrecht Wenze ein glücklicher, beneidenswerter Mensch, eine solche Frau zu haben, von einer Übung zurückzukommen und von einer solchen Frau erwartet zu werden. Ich bin allein, mein Mädchen ist tot, denkt er, aber Wenze sitzt wie in Abrahams Schoß, und doch höre ich in letzter Zeit häufig, wie sie sich streiten. Ich verstehe nicht, wie man sich mit Wiebke streiten kann.
Hyder ist eben seit Olims Zeiten schon dabei, sagt Weider, der war schon Genosse, als wir noch gar nicht lebten.
Soll das ein Grund sein? Sie stellen ihre Vermutungen an. Die drei neuen Leutnants verkraftet der Kommandeur nicht. Allzu scharf geworden mit den Jahren und darum auch schartig. Der müsse sich selber ändern. Und dann sagt Weider: Aber mit dem Fürst kommt er sehr gut aus.
Fürst, der dritte Absolvent. Wenze mag Fürst nicht, er war schon auf der Schule gegen ihn. Das weiß Weider. Er weiß auch, dass Wenze hilfsbereit ist, dass er sich um jeden Soldaten seines Zuges kümmert, dass er den Unteroffizier Obermeier umerziehen und aus Zipolle einen unerschrockenen Soldaten machen möchte, der nicht vor jeder Faust kuscht, aber Weider weiß auch, dass Wenze leicht in Vorurteilen hängen bleiben kann wie ein Kaninchen in der Schlinge.
Albrecht Wenze kratzt sich die Brust und sagt, dass dem Fürst darum auch nie der Löffel fehle, wenn es süßen Brei regne, und Weider sagt, dass man an die eigenen Fehler denken solle, bevor man die der anderen nenne.
Und Franke? Hyder weiß doch, dass Franke dich beschuldigt.
Darüber will Weider nicht reden. Er hat Franke beleidigt, und das ist nicht seine Art. Er befühlt seine rot geschwollenen Augenlider und denkt in diesem Moment an die alte Legende, die der Soldat Rotmann aus Albrechts Zug draußen am Feuer für erzählenswert gehalten hat: Es war einmal eine Bäuerin, die hatte ein neugeborenes Kalb auf den Arm genommen und gestreichelt, seht nur, was für ein niedliches Tierchen, seht die schönen Augen und die weichen Nüstern. Und sie fuhr fort in ihren Liebkosungen. Woche um Woche, Monat um Monat nahm sie das Tier auf den Arm. Das Kalb gewöhnte sich daran, auf den Arm genommen zu werden. Sie trug es noch, als es längst zu einem großen Ochsen herangewachsen war. Eine Quälerei für die Bäuerin, eine viel zu große Last für die vernarrte Frau. Sie ging krummer und wurde krank. Wer sagt da, was für ein selten blöder Ochse? Nein, Leute, der war nicht blöde, der war es nicht anders gewöhnt. Der hatte Beine, doch wozu, das wusste der gar nicht. Nein, Leute, was für eine dumme Frau, die das Tier durch die Gewohnheit verdarb und verzog. Die Gewohnheit, Leute, die ist tyrannisch und macht blind und taub. Die Gewohnheit ist ein Schmarotzer, denn sie kann zubeißen, wenn ihr sie abschütteln wollt. Sie fühlt sich wohl im Nacken, auf dem Arm und im Kopfe. Und die Gewohnheit, Leute, eine solche Gewohnheit herrscht hier in dieser Truppe, ich finde, alle trotten, ohne zu denken.
Weider weiß, dass nicht jeder Soldat verstand, was Rotmann meinte, das war gut so. Rotmann hatte wohl auch nicht für jeden erzählt, vielleicht nur für den Leutnant Hans Weider, den er bemerkt hatte, obwohl er hinter dem Feuer stand.
Daran denkt Weider jetzt. Er hat Rotmann gesagt, dass die Gewohnheit einfach eine Handlung wäre, die durch Wiederholung erreicht werden könnte. Und eine Wiederholung stabilisierte eine Persönlichkeit oder eine ganze Gruppe von Persönlichkeiten.
Sie kann zum Beispiel Ihre Gruppe stabiler machen und auch Sie selber.
Ausgerechnet der Rotmann, der morgens immer Ausreden parat hatte, wenn er zu spät zum Frühsport erschien.
Die Gewohnheit kann stabilisieren, hat Rotmann höflich geantwortet. Er bewahrte immer die Form, er drängte sich auch mit seinem Wissen nicht auf. Es gibt die Möglichkeit eines positiven und eines negativen Einflusses, je nach der Stellung der Gewohnheit zu gesellschaftlichen Normen. Sie kann erstarren und zur Routine werden, gegen die man sich nicht mehr wehrt, weil sie zahm tut, zum Schweigen verführt und gerade deshalb so gefährlich ist.
Sie machen Sprüche, hat Weider gesagt, die schon komisch sind, Sie sind doch ein Philosoph, Sie sollten wissen, dass manches gut ist, wenn man nicht darüber philosophiert, und dass anderes nur gut ist, wenn man darüber nachdenkt. Die Frage ist doch, was gehört zu diesem und zu jenem? Offenbar wissen Sie das in diesem Falle nicht genau, Genosse Rotmann ...
Da ist Rotmann still geworden.
Weider erzählt Albrecht die Geschichte von dem Ochsen, und Abrecht stopft sich die Pfeife und sagt: Typisch Rotmann. Er ist mein bester Mann, er ist besser als die Unteroffiziere Obermeier und Donald, und er scheint recht zu haben.
Das ist mir zu einfach. Er hat nicht recht.
Viele Soldaten hören auf ihn, sie bestaunen seine Geschichten.
Weider nimmt Albrecht die Pfeife aus dem Mund. Du wirst doch nicht, denk an das Kind! Wir wissen, dass man Hyder draußen keine Gewohnheit anmerkt, draußen gibt er klare Befehle und liebt rasche Entscheidungen, wartet er mit verblüffenden Varianten auf. Nur in der Kaserne gibt er sich schwer wie ein alter Schalterbeamter.
Vom Reden biegen sie keinen alten Baum um, aber das Reden tut ihnen gut. Es lockert sie, und Wenze denkt: Man müsste viel mehr über alles reden, was uns bedrückt. Warum tun wir das so selten, wir haben es schon verlernt. Er sagt: Vielleicht kommt alles daher, weil er so klein ist.
Einsdreiundsechzig, Napoleon war noch kleiner.
Wie groß bist du?
Einsdreiundachtzig, warum?
Ich bin einseinundachtzig. Wenn du immer zu deinen Leuten aufsehen müsstest, dann kommst du dir wie ein Zwerg vor, wie Rumpelstilzchen oder ein Abc-Schütze.
Hinter der Trennwand gähnt Wiebke laut und sagt: Hört mit dem Flüstern auf, das raubt einem den Nerv, immer wieder dieser Weider.
Das meint sie nicht so. Auf Weider lässt sie nichts kommen. Wenze lässt auch nichts auf Weider kommen. Er wäre gern viel enger mit Weider befreundet, aber der zieht sich immer dann zurück, wenn ihm eine Freundschaft zu dick erscheint. Bei Wiebke ist das anders. Wenn Weider da ist, kann sie ihre Scheu abstreifen, schlagfertig sein und so plauschen wie der Star von Pastor Mehlhose aus ihrem Dorfe Lommen.
Albrecht staunt darüber. Er versucht es zu ergründen. Nur in Gegenwart Weiders hat er das bisher beobachtet. In ihrer eigenen Familie hört sie lieber zu und gilt als das stillste Mädchen unter ihren Geschwistern.
Was geht von Weider aus? Er muss einen Zauber oder so eine Art von Hypnose ausüben. Auf welcher Welle sendet er? Anscheinend kann Albrecht diese Welle nicht einstellen.
Er hat Wiebke einmal danach gefragt. Sie hat ihn verwundert angesehen und lange geschwiegen und später erklärt, dass ihr Weider vertraut sei, solange sie schon lebe. Aber dabei hat sie ihn erst vor zwei Jahren kennengelernt. Kennst du das Gefühl, hat sie erklärt, du trittst in ein Haus ein, das du nie vorher gesehen hast, und dir ist alles vertraut, du weißt Bescheid, aber woher, wieso, warum. Das ist Seelenwanderung, hat Wenze gesagt und versucht, die Angelegenheit ins Lächerliche zu ziehen, ein Wahrnehmungsfehler, ein kurzer Traum mit offenen Augen, der mit dem Leben nicht übereinstimmt, eine Nahtstelle zwischen Traum und Leben. Jag mir keine Angst ein, du, hat sie gesagt.
Hinter der Trennwand zischt eine Sprayflasche. Wie mit einen Ruck heben sie die Köpfe und schnuppern, denn noch haben sie den Dieselgestank in der Nase.
Für Albrecht könnte Weider jetzt gehen. Er weiß nicht, in welchem Aufzug Wiebke auftaucht. Früher hat er das immer gewusst.
Sie trägt einen eng anliegenden Morgenmantel, der unter den Armen spannt. Sie hat die Knöpfe nicht geschlossen, nur den Gürtel. Weider betrachtet so verstohlen ihre voll gewordene Brust, dass es Wiebke lächelnd und Albrecht mit hochgezogenen Brauen bemerkt.
Albrecht packt seiner Frau Kissen zurecht und schließt die Knöpfe an ihrem Mantel. Sie lässt ihn gewähren und sagt: Ich mag nicht, wenn man so über die Leute redet.
Du hörst doch sonst weg, wenn es um unsere Probleme geht, sagt Albrecht.
Ich verstehe Herrn Hyder jedenfalls.
Du verstehst ihn, weil du nichts verstehst.
Ich bin dumm, ich weiß.
Zankt euch nicht, sagt Weider. Er merkt, wie sich Albrecht ärgert, aber er will nicht gehen, er will Wiebke betrachten, die seinen Blicken nicht ausweicht.
Er kann ihr nicht ansehen, was sie denkt. Könnte er es, sie würde erröten und hinter die Trennwand laufen. Sie denkt: Weider hat seit diesem Unglück kein Mädchen wieder gehabt, in Weider hätte ich mich auch verlieben können. Vielleicht habe ich mich schon?
Wiebke mag also Hans Weider, sie fühlt sich von ihm angezogen, und Albrecht möchte eng mit Weider befreundet sein. Mit Hyder oder mit Franke dagegen nicht, und auch nicht mit diesem dritten Leutnant, diesem Fürst. Dabei kommt Wenze mit dem Soldaten Rotmann gut aus und Rotmann mit ihm. Menschen können einem sympathisch sein, sie können anziehend wirken, sie können abstoßen. Gilt denn im übertragenen Sinne das klassische Gesetz Newtons auch für die Menschen? Was bestimmt eigentlich die Stärke der Anziehung, was die Wechselwirkung der Gravitation, was die innere Mechanik, nach der wir von einem Menschen angezogen oder abgestoßen werden? Wieso können plötzlich Störungen auftreten, wieso verändern sich die Bewegungen zueinander?
Jeder Mensch kann in mehreren Gravitationsfeldern zugleich figurieren: außen, in einer Mitte, in mehreren Feldern zugleich.
Es wird sich zeigen, wie andere Soldaten seines Zuges zu Wenze stehen, auch jetzt, zu dieser nächtlichen Stunde, als die sechs Soldaten in ihrer Stube sind und das Licht gelöscht ist. Die Männer werfen sich unruhig von einer Seite auf die andere. Zipolle liegt auf einem der oberen Betten, am Fenster, und Rotmann liegt unter ihm. Beide sind wach und können nicht schlafen. Rotmann denkt an seinen Bruder, der in einem Kinderheim lebt, weil die Eltern im Ausland arbeiten. Raul ist schwierig, offen, intelligent und schreibfaul. Rotmann nimmt sich vor, mit Leutnant Wenze zu sprechen, er muss nach seinem Bruder Raul sehen, er wird einen Kurzurlaub beantragen. Wenze wird ihn bestimmt befürworten.
Rotmann merkt, dass Zipolle wach ist und unter der Decke seine Taschenlampe brennen lässt. Er weiß nicht, was Zipolle treibt, und will ihn nicht fragen, er könnte die anderen wecken.
Zipolle löst manchmal Kreuzworträtsel, um sein Wissen zu erweitern. Viel weiß Zipolle nicht, aber er ist gierig darauf, mehr zu erfahren. Zipolle fühlt sich zu ihm, Rotmann, hingezogen. Das beruht auf Gegenseitigkeit, Rotmann gefällt, wie ehrlich Zipolle ist, wie bescheiden und schnörkellos. Zipolle, das ist so ein Mensch, der nicht mit einer Lüge leben könnte, denkt Rotmann, und würde er, mit einer Lüge davonziehen, so könnte er dann nie zurückkommen.
Rotmann ist über den Schlaf hinaus. Er versucht, sich nur auf sich zu konzentrieren, um innerlich ruhiger zu werden. Es singt in allen Nerven seines Körpers, die Übung hat ihn angestrengt. Seine Glieder und Muskeln bleiben gespannt. Er bringt es nicht fertig, sie zu lockern. Er weiß, wenn es ihm nicht gelingt, wird er überhaupt nicht mehr schlafen können, und morgen ist Taktikausbildung. Das kann heiter werden.
Zipolle schreibt einen Brief an seine Mutter. Er schreibt langsam und malt die Wörter, er schreibt oft falsch und würde sich hüten, solche Wörter wie «Katarrh» oder «Gastritis» oder «Atmosphäre» zu verwenden. Mutter versteht ihn schon. Er überlegt sich jeden Satz und setzt Kommas dann, wenn er eine Pause einlegt, und Punkte, wenn er nach Stunden weiterschreiben will. Er schreibt: Ich bin zufrieden und froh, weil mich mein Leutnant Wenze wieder in seinen Zug geholt hat, bei dem andern, der heißt Fürst und ist auch wie so einer, bei dem habe ich mich nicht wohlgefühlt, dem war ich schnuppe, der freute sich noch, wenn einer sagte, der Zipolle ist treudoof, dem Zipolle kann man Pappe ums Maul schmieren, da hält der noch stille. Ich war bei dem Fürst im Zuge, warum, weiß ich doch nicht, sie nennen das hier Umstellung, es hat etwas mit Struktur zu tun, ich weiß auch nicht. Struktur heißt ungefähr Aufbau, ich sollte in der neuen Stube alles machen, die Klos schrubben, die Asche runterbringen und den Waschraum scheuern, da kommt man immer als letzter ins Bett, aber nun hat mich mein Leutnant ja zurückgeholt. Der ist vielleicht hager, dem kannst du das Vaterunser durch die Rippen blasen, ich müsste ihm mal ein Glas Leberwurst mitbringen.
Liebe Mutter! Du schreibst über deine Krankheit, ich mache mir Sorgen, aber es ist gut, wenn du darüber schreibst, der Leutnant Wenze meint auch, es ist eine gutartige Geschwulst. Du musst dir von diesen alten Schwestern nichts einblasen lassen, die haben sich doch schon dem stillen Suff ergeben, das hat der Bürgermeister gesagt. Leutnant Wenze hat mich nämlich gefragt nach meinen Sorgen, nicht dass du denkst, dass ich so von mir aus erzählt habe, da bin ich vorsichtig, mit dem Leutnant Fürst hätte ich nicht darüber gesprochen, auch nicht mit meinem Gruppenführer Obermeier, der kommt mir komisch vor. Zu dem muss man sein wie zu unserem Vorsitzenden, man muss ihn loben oder bitten, wie du mir so ich dir, weißt du, Mutter, ich werde dir den Zaun vor dem Haus streichen, wenn ich auf Kurzurlaub komme, und den Gartenanschluss für das Wasser lege ich auch, und die Hundehütte für Senta bauen wir ganz neu ... Zipolle sinkt mit dem Kopf auf die Taschenlampe und schläft ein. Er hat nicht auf Briefpapier geschrieben, sondern in ein Notizheft, er wird das Geschriebene noch sortieren und dann erst ins Reine schreiben. Er braucht eine ganze Woche für einen Brief.
Zipolle schreckt auf, als Rotmanns Kopf auftaucht. Aber der knipst nur die Taschenlampe aus. Rotmann ist in Ordnung. Radieschen auch, nur riecht der immer nach Zwiebeln und schnarcht auch laut. Andere schnarchen auch, aber so, dass man dabei schlafen kann, es gibt melodische Schnarcher und angriffslustige. Bei den angriffslustigen Schnarchern denkt man, sie ruinieren ihre Stimmbänder. Radieschen ist angriffslustig, aber nur im Schlaf.
Wiebke sagt: Gut, dann verstehe ich eben nichts, ich werde auch nie den Unterschied zwischen einem Panzer und einem Espewe begreifen, ich kenne keine Abkürzungen und weiß nicht, warum man Medpunkt zu einer Krankenstube und Objekt zu einer Kaserne sagen muss. Aber ich denke mir, dass sich so ein Mann wie der Herr Hyder darum sorgt, dass alles wie ein Uhrwerk läuft, jeder an seinem Platz. Und dass er aber Rücksicht nehmen muss, weil der eine Offizier noch keine Wohnung hat, der andere eine kranke Frau. Soldaten haben ihren Kummer mit den Bräuten, aber keiner macht sich Gedanken, was er selber für Sorgen hat, mit seinen Vorgesetzten, mit sich, mit seiner Familie, so ganz menschliche Probleme.
Du nimmst ihn in Schutz und kennst ihn kaum, sagt Albrecht.
Ich kenne seine Frau. Ich kenne hier übrigens viele Frauen, die aus unserem Wohnheim und die von drüben aus den Neubauten. Seine Frau läuft von Pontius zu Pilatus, um den Sohn auf die höhere Schule zu bringen. Und der Mann soll manchmal ins Bitterfeldische fahren und seine Tochter besuchen, die drei Kinder von drei verschiedenen Männern haben soll. Für seine Frau aber soll diese Tochter nicht mehr existieren, sagen die Leute.
Sagen die Leute, sagen die Leute. Du redest selber über andere und wirfst uns das vor.
Sie sieht von Albrecht zu Weider und sagt: Aber ich verurteile doch keinen.
Sie nimmt eine altmodisch gekleidete Charakterpuppe aus der Sofaecke und legt sie sich in den Schoß. Die Puppe ist sehr alt und heißt Zilli. Sie stammt noch von der Großmutter ihrer Mutter und trägt Kleid, Unterwäsche und Schnürstiefel und ein Korsett wie in jenen letzten Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende.
Sie steht auf und will sich wieder hinlegen, zwei Stunden vor sechs schon, bald beginne wieder die Rennerei auf den Gängen.
Weider glaubt, in ihrem Blick, mit dem sie ihren Mann ansieht, Unverständnis und Ratlosigkeit zu bemerken, und erschrickt dabei, so leer ist ihr Blick. Sie leckt mit der Zungenspitze über die spröden, ungeschminkten Lippen.
Ich hätt zu gern noch mehr über diesen Franke erfahren, sagt sie, aber ich kann nicht mehr, entschuldigt mich.
Sie hat also alles mit angehört, denkt Weider, ihre tiefen Atemzüge waren nur gestellt. Er kann sich jetzt darüber keine Gedanken machen, solche Gedanken brauchen ihre Zeit. Sie sind schmerzlich, weil sie zum Zusammenstoß mit anderen führen können, weil sie einen selber unsicher machen. Wer leidet schon gern an seinem eigenen Irrtum.
Wiebke geht hinüber, Weider steht auf und sieht zum Fenster hinaus. Die Dunkelheit reicht, gewölbt wie der Bogen eines halb geöffneten Auges, bis zu den Neubauten hinüber, die man jetzt sehen kann, da hinter einigen Fenstern das Licht brennt. Vielleicht ist Hyders Wohnung darunter.
Albrecht stellt sich neben ihn und sagt, dass ihn Wiebkes Plappern aufrege in letzter Zeit, es sei sein Ärger, dass sie sich für nichts interessiere, nun ja, die Schwangerschaft, heute, da redete sie mit.
Für uns ist alles neu hier, sagt Weider, aber wir haben unseren Dienst. Für sie ist auch alles neu, und sie hat nur dich. Für sie ist es noch viel schwerer.
Albrecht antwortet nicht. So ist als einziges Geräusch das Ticken des eiligen Weckers im Raum.
Weider ist gegangen. Albrecht liegt neben seiner Frau und streicht über ihren Kopf, spielt mit ihrem langen Haar. Tagsüber trägt sie das Haar zu einem Knoten gebunden. Die Frisur ist nicht modern, aber ihr steht sie.
Wiebke liegt mit dem Gesicht zur Wand und bewegt sich nicht. Er hat das Gefühl, sie schläft nicht. Er berührt ihren Leib, umfasst sie und will sie zu sich herumdrehen. Da spürt er ihren Widerstand. Wiebke macht sich ganz steif und schmiegt sich an die Wand, als sei sie ein Schutz für sie. Das hat er noch nicht erlebt. Er möchte sie beruhigen und sie um Verzeihung bitten, wenn er sie beleidigt haben sollte.
Lass mich, flüstert sie, lass mich bitte in Ruhe. Sie presst ihre Schenkel zusammen und zittert und wiederholt ihre Worte: Du sollst mich in Ruhe lassen.
Er fragt, warum, er begreift nicht, warum sie sich so abweisend verhält, und könnte sie nehmen. Sie erregt ihn sehr. Er rückt von ihr ab und weiß nicht, ob sie tief atmet oder ein wenig schluchzt. Albrecht ist gekränkt. Er liegt auf dem Rücken und denkt daran, wie sie sich das erste Mal geliebt haben. Es war am Ufer des Lommer Sees. Sie lagen im seichten, warmen Wasser. Ihre Haut bedeckte sich mit kleinen Pickeln, als er sie küsste, aber sie fror nicht, sie hielt ihn fest umklammert, und ihm war klar, dass sie beide es zum ersten Mal taten. Ihr Gesicht verzerrte sich, sie riss die Augen vor Schmerzen auf, und er wollte von ihr ablassen. Aber sie zog ihn an sich und verschränkte ihre Füße hinter seinem Rücken. Dann lächelte sie. Blaue Libellen schwirrten, am gegenüberliegenden Ufer schwabbte eine weiße, große Fläche, eine ganze Legion Enten von der Farm. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und sah ihn lächelnd an. Ich bin sechzehn und du? Als die Sonne hinter dem blauen Kiefernwald versank, wurde es kühler. Wir müssen gehen, Wiebke. Sie wollte noch nicht. Diesmal schmerzte es nicht mehr, es war wie ein Wunder. Ein Storchenpaar segelte über den See, sie lachte darüber und zeigte es ihm. Zurück sprachen sie auf dem Wege kein Wort. Sie hielten sich umschlungen. Er pflückte seiner Tante einen Strauß Feldblumen, schenkte ihn aber Wiebkes Mutter, weil die ihre Tochter so traurig anblickte. Du hast ihn erst zum dritten Male gesehen, Kind. Ein halbes Jahr später brach Wiebke ihre begonnene Lehre als Verkäuferin ab und zog nach Halle, um in der Nähe seiner Hochschule zu leben und ihn so oft wie möglich sehen zu können.
Groß sind Albrechts Erfahrungen mit Mädchen nicht. Von sich aus hat er noch nie ein Mädchen angesprochen, wenn es ihm auch noch so gefiel. Er hätte auch Wiebke nicht angesprochen, wenn nicht seine Tante Marlis gewesen wäre, die nach Lommen gezogen war und ihn zum Sommerurlaub eingeladen hatte.
Wenn nicht seine Tante Marlis. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre.
Denn seine Tante Marlis, fünf Jahre älter als er, hatte einen Mann geheiratet, der ihretwegen seine hohe Funktion beim Rat des Kreises verloren hatte, der sich ihretwegen scheiden ließ, der dem Alter nach ihr Vater sein könnte. Marlis kannte sich gut aus in den Beziehungen der Geschlechter, aber er doch nicht.
Wenn also die hübsche, blonde, große Marlis nicht so faul gewesen wäre, hätte sie ihr Abitur besser bestanden und einen Platz an der Universität bekommen. Dann hätte sie nicht das Institut der Kreisstadt besucht, hätte nicht zum Abschlussball den stellvertretenden Vorsitzenden des Rates zum Tanz holen und sich in ihn verlieben können, sie hätte nicht eine nach außen normale Ehe zerstört. Und der Mann hätte sich kein Verfahren und keine Strafversetzung nach Lommen eingehandelt. Sie wäre nie in dieses Dorf gekommen, um hier zu wohnen, die Kinder der Unterstufe zu unterrichten, die Frau Bassun aus der Hortküche kennenzulernen und deren Tochter Wiebke. Alles wäre anders gekommen, Albrecht und Wiebke wären sich nie begegnet, oder wenn, dann hätte er sie nicht angesprochen. Er weiß einiges über Militärpsychologie, aber wenig über Mädchen.
Er liegt da und hört die Uhr ticken, hört auch Wiebke atmen und denkt an die Mädchen, die ihn im Leben schon geküsst haben. Es waren vor Wiebke nur drei. Als er fünf war, küsste ihn Gretel Munz, obwohl das laut Textbuch nicht vorgesehen war, durch die Gitterstäbe eines hölzernen Stalls. Der Stall stand im Festsaal des alten Rathauses, und Gretel küsste ihren Hans direkt auf den Mund. Ein nasser, nach Lakritze und Pfefferminz schmeckender Kuss, der die Zuschauer zu einem heiteren Applaus außer der Reihe hinriss. Albrecht kam sich blamiert vor. Dafür steckte er Gretel zwei tote Mäuse in die Brottasche. Später rächte sie sich, wo sie nur konnte, am empfindlichsten aber, als er Kotschubej war, der die Rotgardisten der Oberstadt kommandierte: Sie stahl ihm die wichtigsten Attribute seiner Macht und brachte sie den gegnerischen Farmern in der Unterstadt, den Helm, den ihm der Soldat Kolja in Naumburg geschenkt hatte, den Stab mit dem daran befestigten Keilriemen, die Schießlatte, mit der er — mittels einer Weckring-Abschuss-Vorrichtung — auf zwanzig Meter einen Groschen treffen konnte, und den Lauf eines Maschinengewehrs aus dem ersten Weltkrieg, den er auf dem Boden seines Großvaters Heinrich gefunden hatte. Da er nicht zugeben wollte, ein Mädchen habe ihm die Insignien gestohlen, verlor er die Führung der Truppe, denn ein Kommandeur musste Außergewöhnliches aufzuweisen haben. Auch Budjonny hatte seinen mächtigen Bart und seinen mächtigen Säbel. So rächte sich die erste verschmähte Liebe.
Als Albrecht der Flaum auf der Oberlippe zu wachsen begann, nahmen ihn ein paar Jungen aus den höheren Klassen mit in die Scheune bei Hassenhausen, wo der französische General Davoust vor einhundertsechzig Jahren mit seinem Stab gelegen hatte. In dem warmen stickensauren Halbdunkel fingen sich Mädchen und Jungen, versanken in lockerem Stroh und balgten sich, aber alles lief ab ohne Gekreisch, ohne Schreie, Juchzer, Rufe. Albrecht war das unheimlich, aber kneifen wollte er nicht. Eine kleine Bezopfte hatte es auf ihn abgesehen, sie setzte sich rittlings auf ihn, als er unten lag, und küsste ihn ab. Er merkte, dass sie keinen Schlüpfer trug. Sie fragte: Ist doch schön, ja? Albrecht spürte Veränderungen an seinem Geschlecht, die er immer dann bemerkte, wenn er sonntags länger im Bett bleiben konnte. Er zog die Beine an und warf sich herum, dass die Bezopfte kreischend von ihm abfiel, noch hielt sie alles für einen neuen Spaß. Was machen wir jetzt?
Albrecht lief ins Freie und wollte sich erbrechen, aber er würgte nichts heraus. Später tuschelten die Mädchen über ihn: Der ist doch nicht koscher. Es machte ihm nichts aus. Er dachte: Mädchen sind blöde Gänse und haben Häkchen in den Köpfen.
Sein Lehrer Kittner wollte, dass er auf die höhere Schule ging, dazu müsste er die kleine Stadt verlassen. Mutter weinte. Da war ein neuer Bruder und auch ein neuer Vater, der ihm nicht gefiel. Er fuhr über das Gebirge, aber die neue Schule passte ihm auch nicht. In Geschichte sprach er über die Doppelherrschaft und bekam eine Vier, Kittner hätte ihm dafür eine Zwei gegeben. In Latein sagte er die verlangten Sätze und Vokabeln. Eine Drei, Wenze. Da meldete sich ein Mädchen und protestierte, der hat doch alles gewusst, warum nur eine Drei? Der Lehrer: Soll ich ihm für eine leichte Leistung eine gute Note geben? Das Mädchen schaukelte ihn hoch, als er die Schule wieder verlassen wollte. Thea Hinkelmann, sie war ein Stück größer als er. Im Kino legte er seinen Arm um sie. Sie gingen oft ins Kino. Als er mit der Hand ihre kleine Brust streichelte, fragte er noch, ob er das dürfe. Sie antwortete nicht, sie öffnete den Büstenhalter. Ihre Haut war weich. In der Nacht träumte er von Thea, aber um ihr näherzukommen, dazu fehlte ihm der Mut. In der Zwölften hatte sie einen anderen und sagte, es hätte so schön angefangen zwischen ihnen, wie es heutzutage nur noch selten zwischen Jungen und Mädchen anfinge, aber dann hätten sie wohl beide einen Fehler gemacht. Er hätte weitergehen sollen, mit ihr schlafen, aber er hatte sich gefürchtet vor der Blamage, wenn sie sich geweigert hätte.
Als er an der Offiziershochschule studierte, gab es solche Mädchen, die gar nicht immer wussten, von wem ihr Kind war. Sie kamen zum Tanz. Auch Albrecht tanzte mit ihnen. Mehr nicht. Der Spott der anderen war nicht ätzend, eher vorsichtig und abwartend, denn im Zug wussten alle, dass Albrecht in dieser Beziehung keinen Spaß verstand. Im zweiten Studienjahr hatte er den bulligen Otto Jux zusammengeschlagen, weil er ihm eine weibliche Kleiderpuppe ins Bett gepackt hatte.
Dann kam schon Wiebke. Die Tante Marlis ging mit ihm zu den Bassuns, Streuselkuchen essen am Sonntagnachmittag, der Bauer musterte ihn, sie schwatzten über die Technik. Wiebkes Vater war schon im Rentenalter. Er war vor der Bodenreform der stolzeste Bauer weit und breit und hatte den jungen Burschen das flotte Flüchtlingsmädchen weggenommen. Frau Bassun war an die dreißig Jahre jünger und wirkte wie seine Tochter.
Wiebke saß still dabei. Die jungen Leute möchten sicher an die Luft gehen, nicht wahr. Sie waren beide still, und Albrecht ärgerte sich, weil ihm nichts einfiel. Das Mädchen ging vor ihm. Sehr schmale Hüften, ein kräftiges Becken, lange, schöne Beine, helle Haut. Er wusste nicht, ob er ihr gefiel, sie gingen über einen alten Friedhof, auf dem viele Geschlechter der Bassuns steinhart schliefen, und dann auf sandigen Wegen durch einen Kiefernwald. Er verscheuchte die Bremsen von ihren bloßen Armen. Sie trug eine Bluse mit Puffärmeln. Heute weiß er, dass sie solche Blusen mag und Rollkragenpullover und lange Hosen.
An dem Tage fiel ihm nichts ein. Sie hatten kein Badezeug mit, als sie am See ankamen. Er ärgerte sich über sein puckerndes Herz. Vielleicht hätte er sagen sollen: Weit und breit kein Mensch, wir könnten ohne baden. Er sagte es nicht. Er besuchte sie jeden Tag seines Urlaubs. Sie war mit der zehnten Klasse fertig und sollte Verkäuferin werden. Mit Kindern hätte sie lieber zu tun gehabt. An seinem letzten Urlaubstag schwammen sie hinaus. Draußen erst merkte er, dass sie nackt hinausgeschwommen war. Er streifte im Wasser seine Badehose ab und ließ sie hinuntersinken. Am flachen Ufer machte sie die Augen zu, als er sie küsste.
Es war einmal. Heute, da liegt sie steif neben ihm und zieht sich zusammen, wenn er sie berührt.
Er denkt: Sie hat doch alles, sie muss nicht in eine Fabrik gehen, sondern kann sich auf die Geburt des Kindes vorbereiten; sie kann sich wieder hinlegen, nachdem ich zum Dienst gegangen bin; wir sind täglich zusammen, nun ja, die Übungen ausgenommen; und all das, wovon wir geträumt haben, das hat sich verwirklicht, und es wird sich noch mehr verwirklichen, eine Wohnung im Neubaugebiet und der Junge, erst durch ein Kind wird man richtig Familie. Vielleicht ist es das. Er denkt: Sie hat ihre Probleme, einer Frau muss man viel nachsehen in diesem Zustand.
Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass er bald anfangen müsste, auch bei sich Gründe zu suchen und sich selber nicht immer auszuklammern.
Wiebke schämt sich. Sie betastet ihre Oberschenkel und ihren Bauch. Zwischen den Beinen ist es feucht und klebrig. Albrecht soll davon nichts merken. Es graut draußen schon, sie wird heute liegen bleiben und dann alles in Ordnung bringen, wenn er gegangen ist.
Sie schämt sich, weil sie zu feige ist, ihm zu sagen, warum sie ihn zurückgestoßen hat. Er weiß auch nicht, dass sie seit der letzten Schwangerenberatung Medikamente bekommt, die das zu frühe Einsetzen von Wehen verhindern sollen. Sie hatte nie eine Abtreibung und nie eine Unterbrechung, sie leidet weder an einer Krankheit noch an einer Hormonstörung, sie ist gesund bis auf eine geringe Abweichung, die ihr der Arzt verraten hat. Ihre Gebärmutter ist etwas infantil, also kleiner als gewöhnlich.
Sie hat es Albrecht nicht gesagt, weil es ihre Art ist, über solche Sachen nicht zu sprechen. Mutter konnte zu Hause auch nicht über solche intimen Dinge im Beisein des Vaters sprechen. Albrecht freut sich sehr auf das Kind, das unbedingt ein Junge werden soll. Er soll sich freuen. Sie will nicht, dass er noch ängstlicher wird und ihr auch noch den Wassereimer abnimmt, sie will nicht behandelt werden wie eine Kranke. Er legt sie auch ohne dieses Wissen schon in Watte. Sie weiß nicht, warum sie sich auf das Kind freuen soll.
Wiebke wickelt sich ganz fest in ihre Decke. Sie atmet tief durch und tut so, als schlafe sie fest.
Dann überfallen sie die Geräusche. Der Wecker summt. Von überallher klingeln und summen die Wecker. Hähne werden aufgedreht, Spülungen rauschen, es gurgelt und hustet. Radios, Rekorder und Schallplattenspieler. Das Gerenne auf dem Flur. Türen knallen. Kinder weinen. Der Tag beginnt sehr früh.
Sie dreht sich nicht um. In der Waschecke steht Albrecht und hustet sich aus. Von den Zigaretten ist er weg, aber Pfeife muss er noch rauchen. Er gurgelt laut und putzt mehrmals seine Zähne. Ihr dauert das zu lange. Er hat Teewasser aufgesetzt und lässt den Kessel pfeifen.
Dann dröhnen die Nachrichten durch das Gebäude. Von überallher dieselbe Stimme. Libanesische Städte werden bombardiert. Palästinensische Lager brennen. Der Weltsicherheitsrat hat einen Beschluss gegen den Angriff der israelischen Streitkräfte gefasst.
Sie steht nicht auf. Es kommt ihr vor, als ob Albrecht immer geräuschvoller, immer lauter, als wenn er absichtlich immer lauter wird. Sie steckt den Kopf unter die Decke und will nichts sehen und nichts sagen. Sie hat ihm gern zugesehen, wenn er nackt in der Ecke stand und sich wusch. Er wäscht sich mit der Gründlichkeit einer Hebamme.
Sie sieht nicht mehr gern zu. Als sie das noch gern getan hatte, da sahen sie sich nur im Monat ein paar Tage. Nun erlebt sie es Tag um Tag, Woche um Woche, vielleicht noch viele Monate und Jahre gar.
Er rasiert sich, spült den Pinsel sauber. Alles dauert so lange, alles geschieht so langsam. Sie möchte endlich allein sein und nachsehen können bei sich.
Als er sich an den Tisch setzt, sagt er: Bleib ruhig liegen, es war eine kurze Nacht für dich.
Der Satz klingt für sie wie ein Vorwurf: Na, aber für mich erst, ich war bis Mitternacht auf den Beinen, habe kaum Schlaf gehabt in den letzten Tagen, während du dich ausruhen konntest, ich habe nichts dagegen, im Gegenteil, das kommt alles dem Kinde zugute, aber ein bisschen Rücksicht, ein wenig Entgegenkommen, du bist doch sonst nicht so, Wiebke.
Er sagte nichts von alledem. Die Spiegeleier brutzeln, er isst jeden Morgen vier Spiegeleier. Den Geruch muss sie auch noch aushalten. Sie richtet sich auf und sagt, er möchte das Fenster öffnen.
Ist dir nicht gut?
Doch, die Luft ist schlecht. Sie könnten aufhören, so stark zu heizen.
Was machst du heute?
Was soll ich schon machen. Ich räume auf, ich fege das Zimmer, ich wasche ab, ich wische Staub, ich warte.