Zwei im Kreis - Heinz Kruschel - E-Book

Zwei im Kreis E-Book

Heinz Kruschel

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Beschreibung

Habuck schafft sich eine Bleibe in einer alten Mühle, um mit seinem Mädchen Torcky zusammen sein zu können. Er glaubt, ihr damit eine große Freude zu machen. Aber Torcky stellt sich Glück anders vor. Habucks Mutter versucht mit allen Mitteln, die beiden auseinanderzubringen. Verschiedener können die Elternhäuser auch nicht sein. Habucks Mutter ist Betriebsleiterin und tut alles für den einzigen Sohn. Torcky wuchs mit vielen Geschwistern in sehr beengten Wohnverhältnissen in einer Alkoholikerfamilie auf, die immer mal mit dem Gesetz in Konflikt kam. Ein einfühlsamer, überzeugender Roman über eine große Jugendliebe. LESEPROBE: Aber in diesem Treppenhaus kam sich Habuck vor wie ein Zinnsoldat, der seine Standhaftigkeit verliert. Dass es solche Hinterhäuser, solche Treppen noch gibt. Sechs mal sechs Stufen, hohe, breite und ausgetretene Stufen aus Stein, abgewetzt, ausgetreten von den Schritten der Mieter und Besucher in einem Jahrhundert. Es roch nach Klosett und Windeln. Es gab kein Fenster in diesem Treppenhaus, und hinter jeder Tür lauerten andere Geräusche. Noch war Habuck guter Dinge auf seiner Reise nach oben. Sechs mal sechs ist sechsunddreißig, ist der Mann auch noch so fleißig. Solche Sprüche stammen noch von Oma Tonine. Und die Frau ist niedrig, kriegt ’nen kleinen Friedrich. Aber dann klopfte er. Die Tür wurde hastig aufgerissen. Eine Frau zog, als sie ihn sah, ein schiefes Gesicht und gab damit ihre Unzufriedenheit über den Besuch zu erkennen. Ich dachte, sie haben ihn freigelassen, sagte sie. Das war nun Torckys Mutter. Habuck konnte keine Ähnlichkeit feststellen. Die Frau trug den dünnen Haarzopf zu einem filzigen Nest gesteckt, sie sah spitz aus wie ein Mensch, der leicht friert, und war so mager wie eine Schindel. Was wollen Sie, junger Mann? Ich suche Torcky. Die suche ich schon lange nicht mehr. Dann ist sie also bei Ihnen? Junge, die ist mir scheißegal, ich hab ganz andere Sorgen, die haben meinen Mann eingelocht, und Sie kommen hier rein wie ein Spielmann zur Hochzeit. Die Veronika macht einem bloß Wind vor, die macht immer ein Wesen von sich, ich komme ohne sie aus. Nun rein oder raus, sonst wird’s kalt. In der engen Küche stieg Habuck über einen Wäscheberg, um an den Stuhl heranzukommen, auf dem viele Strümpfe lagen. Die Frau fegte sie mit einer Handbewegung auf die Wäsche. Es duftete, es roch, und Habuck wusste nicht zu sagen, wonach es roch.

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Impressum

Heinz Kruschel

Zwei im Kreis

ISBN 978-3-95655-146-8 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1979 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Vor vier Stunden war die Welt laut und bunt und sehr groß, nun ist sie still, grau und eng. Das kann sich so schnell ändern.

Habuck findet dafür keine Erklärung, dabei ist er bekannt und berüchtigt dafür, dass er immer alles erklären kann. Aber solchen Ereignissen, die er nicht vorhersehen kann, steht er seit jeher hilflos gegenüber. Er kann ein Bild an den Himmel malen, aber dazu braucht er mindestens einen Himmel und Publikum. Der Himmel hatte sich bewölkt, und das Publikum hatte ihn verlassen.

Er saß auf der Luftmatratze, die immer schlaffer wurde, während das Licht der Petroleumlampe blakte und flackernde Schatten auf die holzgetäfelten Wände und gegen die eingezogene Decke warf. Jedes Brett hatte er selber verdeckt angenagelt, das harzige Holz roch noch. Und die Narzissen dufteten, die in einem tönernen Einlegetopf mitten im Zimmer standen.

Nun döste er vor sich hin. Vor vier Stunden hatte er seine Prüfung abgelegt, hatte Löcher bohren und Fragen beantworten müssen nach der Mächtigkeit des Salzes, hatte erklären müssen, warum er in diesem besonderen Falle den Kranz um das große Sprengloch enger legte, hatte das Bohrschema verteidigt und gemerkt, dass einige aus der Kommission ihn reinlegen wollten. Das ist doch der Junge, der aufgemuckt hat und der alles besser weiß, dem wollen wir mal auf die Finger sehen, noch grün hinter den Ohren und dann schon eine dicke Lippe riskieren. Er hatte damit gerechnet und ließ sich nicht hereinlegen. Otto Sauerbrei und Venzke waren dabei, das hatte ihm Mut gemacht. Und er hatte sich gefreut auf die Stunden nach der Prüfung, auf den Abend, auf die Nacht, die er hier mit Torcky hatte verbringen wollen. Diese Nacht und überhaupt alle Nächte.

Nun wusste er nicht, warum sie weggelaufen war. Er wusste nicht, wohin sie gelaufen war und ob er sie überhaupt suchen sollte. Und ob sie überhaupt gesucht werden wollte.

Habuck konnte sich das nicht erklären. Dabei hatte er den Abend vorbereitet und geplant, an alles hatte er gedacht, sogar seine Truppe hatte er überzeugt: Heute kommt ihr nicht, wir holen den Einstand nach, außerdem bin ich ganz bar, ich habe nur noch einen Zehnmarkschein für Benzin, ich will mit ihr allein sein, das versteht ihr doch.

An den Himmel hatte er den Abend und die Nacht gemalt. Kein Heimleiter würde mehr den Ausweis verlangen und seine Bestrafung fordern. Keine Mutter würde mehr horchen.

Er hatte heimlich, wochenlang, diese Bodenkammer ausgebaut zu einer kleinen Wohnung, und heute, am Tage seiner praktischen Prüfung, hatte er Torcky und sich diese eigene Wohnung, einen großen Raum und eine Miniküche, schenken wollen. Unsere Wohnung, Torcky, nun begreifst du endlich, warum ich seit Weihnachten so wenig Zeit für dich hatte. Eine Wohnung, zwar über dem Stallgebäude, aber getäfelt und gedielt. Bald werden Möbel darin stehen. Von Frau Zacharias bekomme ich den eichenen Tisch, der unten im Sägewerk steht und dessen Platte ich noch glatt hobeln muss, und sogar einen Bauernschrank, dessen Türen ich reparieren und bemalen werde. Wir kaufen uns kein Bett, sondern eine Liege, eine schöne breite Liege.

Junge Leute, die heiraten, bekommen Kredit, und wenn sie Kinder kriegen, schmilzt der Kredit weg, da der Staat froh über das Anwachsen der Bevölkerung ist. Und wir wollen doch heiraten.

Natürlich fehlt noch viel. In der Küche steht nur ein elektrischer Kocher auf einer Eimerbank, das Wasser muss aus der Waschküche die steile Treppe hochgetragen werden, aber dafür macht sich das Regal im Zimmer gut mit meinen Büchern. Es sind vierhundertdreiundzwanzig Stück, unter ihnen ein Schock utopische Werke und zwanzig dicke Sagenbücher, von Wieland dem Schmied bis Prometheus.

Mit dem Prometheus hatte es angefangen, mit einer Rede, die der Schüler Hans Buck, bester Absolvent seines Jahrgangs, vor den zehnten Klassen, vor den Lehrern und den Eltern gehalten hatte. Prometheus heißt: der Vorausdenkende.

Habuck hatte vorausgedacht, als er dieses Zimmer ausbaute. Er hatte es ausgebaut, weil seine Eltern das Mädchen Torcky ablehnten. Ihm war nicht klar, wieso dieses Vorausdenken das Gegenteil von der erwarteten Überraschung bewirken konnte.

Nun dachte er nicht mehr voraus. Im Ofen knackten Buchenscheite. Draußen schrie der bunte Hahn trotz Regen und Dunkelheit nach seiner liebsten Henne. Irgendwo baffte ein Fensterladen. Habuck wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte sich sogar die Sätze überlegt, die er einer überraschten, erfreuten, glücklichen Torcky sagen wollte: Hier werden wir wohnen. Ich will dich heiraten. Ich möchte, dass wir bald ein Kind haben. Bis zum Schacht sind es zwölf Kilometer. Sind wir in derselben Schicht, fahren wir zusammen. Mit meinem schnellen Hirsch sind wir in einer Viertelstunde da, den Weg über die Schwarze Brücke, wo immer noch unermüdliche Angler versuchen, in dem verseuchten Wasser müde kranke Fische zu fangen. Mit der Fähre dauert es länger. Aber wenn wir Zeit haben, im Juli, wenn die Sonne prallt, dann benutzen wir die Fähre über die Elbe. Sollten wir nicht in derselben Schicht sein, nimmst du einfach mein Fahrrad mit Anbaumotor, der alte Hackenwärmer tuckert noch. Frau Zacharias hat gesagt, sie macht Feuer im Ofen. Den hat Sauerbrei persönlich gesetzt, der hält für ein ganzes Leben. Es wird warm sein, wenn wir nach Hause kommen. Du wirst dich umziehen, ich werde dich küssen, und du wirst sagen: Ich möchte mich lieber ausziehen, mir ist so zumute. Und wenn es im Sommer so schön abendhaft ist, sitzen wir draußen, laden uns Freunde ein, essen die Pilze, die wir im Walde gefunden haben, wir feiern ganz tolle Feten. Ich hab dir gleich angesehen, wie du dich freust. Ich kenne dich so genau, dass ich mir deine Reaktionen im Voraus ausdenken kann. Ich freue mich, weil du dich so freust. Zieh das nasse Zeug aus, häng es in unsere Küche. Wenn du einen Brief schreibst, vergiss nicht die neue Anschrift: Hinter der alten Mühle eins. Eine Nummer zwei gibt es hier draußen gar nicht. Wir trinken jetzt nicht, vorher möchtest du nicht. Es soll nie wieder die Angst zwischen Tür und Angel stehen, die Angst vor diesem bulligen Hausmeister mit dem geilen Blick, die Angst vor meiner Mutter, die Angst vor dem Traktoristen auf dem Feld, der durch die Zähne pfeift.

Das hatte sich Habuck alles ausgedacht und vorgesagt und an den Himmel geschrieben. Und nun war alles Spinnerei. Er fühlte sich einsam und verlassen. Auf eine solche Situation war er nicht vorbereitet. Er sah keinen Ausweg. Er ließ sich auf die Matratze fallen. Er war nicht imstande, das Richtige zu tun. Er wusste auch nicht, was das Richtige in dieser Situation war. Er war nicht imstande, überhaupt etwas zu tun. Ein anderer würde erst recht nicht helfen können. Einem Jungen ist das Mädchen davongelaufen. Das passiert alle Tage. Aber dass es ihm passieren musste. Und Torcky ist nicht irgendein Mädchen. Torcky ist das erste Mädchen in seinem Leben, und er kann sich nicht vorstellen, dass nach Torcky ein anderes Mädchen kommen könnte.

Bedecke deinen Himmel mit Wolkendunst.

Das hatte der schon gemacht. Draußen goss es. Der Regen trommelte gegen die kleinen runden Fenster. Es war schwierig gewesen, solche Fenster verglasen zu lassen.

Bei diesem Regen war Torcky losgelaufen, mitten in den Aprilschauer hinein.

Habuck wurde sehr müde und sehr traurig. Die Wärme, die Ereignisse des Tages, die eingetretene Ruhe und die allmähliche Entkrampfung ließen ihn erschlaffen, zurücksinken und einschlafen.Er schlief unruhig, rutschte von der Matratze und lag auf den blanken Dielen. In der eingezogenen Decke knackte es, das Holz arbeitete noch. Dann durchzuckte es ihn, er richtete sich auf und sah sich verstört und benommen um, als müsste er sich erinnern, was geschehen war und wo er sich befand.

Ich habe mich lange nicht um sie gekümmert, dachte er, ich bin jede freie Stunde in die alte Mühle gefahren, um das Zimmer auszubauen. Ich musste das Material besorgen, sie sollte davon nichts erfahren. Das ging Wochen und Monate so. Nach Weihnachten und nach Silvester bin ich eigentlich nur einmal einen vollen Tag mit ihr zusammen gewesen, am ersten Sonntag im Januar.

Stundenlang war er an jenem Sonntag mit Torcky durch die Plastikausstellung gelaufen. Am liebsten hätten sie den kleinen dicken Zeus mitgenommen, der rund und nackt, mit vorgerecktem Bierbauch von seiner Bedeutung überzeugt schien. Der Bildhauer hatte ihn als einen alten Schlemmer dargestellt, sympathisch und machtlos zugleich. Er wirkte von allen Seiten lustig, und Torcky hatte gesagt, so müssten sich alle Menschen das vorstellen, was sie Schicksal nennen oder Vorbestimmung oder Es-kommt-doch-alles-wie-es-kommen-muss.

Er konnte sich genau an ihre Worte erinnern, sie sprach laut, andere Besucher störten sie nicht, und manche blieben stehen, hörten ihr zu und lächelten. Torcky sagte immer ihre Meinung.

An diesem Tage trug sie ihre Jeans und einen Pullover mit einem Rollkragen, der so hoch war, dass sie ihn über Mund und Ohren ziehen konnte.

Warum fiel ihm gerade der kleine fette Zeus ein? Warum gerade Torcky in dieser Kleidung?

Es war ihr letzter gemeinsamer Tag gewesen. Es hatten hier in diesem Zimmer so viele gemeinsame Tage folgen sollen.

Er dachte: Ich bin zu zerschlagen, um sie zu suchen, aber suchen muss ich sie, sie muss einsehen, dass Weglaufen großer Quatsch ist. Nachdem sie das hier erlebt hat, muss sie wissen, warum ich mich nicht um sie kümmern konnte. Zu Vater und Mutter gehe ich nicht zurück. Ich will an meinem Plan festhalten.

Das Weglaufen passte nicht zu einem Mädchen wie Torcky, es hätte zu Verena gepasst.

Habuck schloss die Augen und versuchte, ruhig und langsam zu atmen, weil das Blut in seinen Ohren tuckerte und das Herz klopfte.

Es war sehr heiß im Zimmer. Im Ofen brannte das Feuer, dass das Kniestück des Rohrs glühte.

Es könnte ein anderer Mann sein, dachte er, aber das hätte sie mir erzählt. Es könnte ein Geheimnis sein, ja, ich erinnere mich, dass sie einmal gesagt hat, ein Mensch müsse auch seine Geheimnisse haben, sonst stehe er ganz nackt da. Ich hätte ihr gern den kleinen Zeus geschenkt, aber der hätte viel Geld gekostet, er war aus Bronze, und Bronze ist teuer.

Habuck wusste, dass seine Mutter glücklich wäre, wenn er nach Hause kommen und sagen würde: Räumt mein Zimmer nicht aus, ich brauche es noch.

Wir wussten, dass du zurückkehren wirst, würde seine Mutter sagen, dieses Mädchen war nichts für dich.

Und sie würde am nächsten Tag mit ihm reden: Du könntest mit Verena ausgehen, die mag dich noch immer.

Mutter würde alles erfahren, sie kann sehr beharrlich sein, er würde sich ausreden, und sie würde ihm sagen: Du kannst im Schacht nicht den Steiger und den Brigadier angreifen, das gehört sich nicht, du wirst dich entschuldigen und höflich fragen, warum das so und nicht nach der Vorschrift gemacht wird. Es gibt für alles Gründe. Und du könntest das Abitur an der Volkshochschule nachholen und studieren.

Ja, dachte Habuck, ich soll brav an der Leine laufen und Fett ansetzen und lernen, dass viele Groschen den Taler bringen und viele Taler einen Trabant. Nein, Mutter, ich bin erwachsen und will nach meiner Vorstellung leben und nicht nach deiner, du schreibst mir mein Leben nicht länger vor.

Er wusste, dass es in diesem Moment Menschen gab, die ihn beneideten, nicht nur Torckys wegen, sondern auch dieses Zimmers wegen.

Die ihn beneiden, Kolwe, Spargel, Hinrichsen und die andern, trinken um diese Zeit Sekt mit Bier und klaren Korn. Am Tag der Prüfung fällt das Geld aus dem Ärmel. Sie alle beneiden ihn. Sie wissen ja nicht, was passiert ist.

Wenn die alle wüssten, dass sein schöner Traum in tausend kleine Stückchen zersplittert ist. Sie wissen nicht, aber bald werden sie alles wissen.

Habuck konnte sich schon vorstellen, wie sie redeten: Kolwe, das Monster, mit dem er sich geprügelt hatte und dem er, der Nachwirkungen wegen, eigentlich dafür dankbar sein musste; der lange Hinrichsen, der ihm beim Bettenbau geholfen hatte; der dicke Wille, der seine hausgemachte Wurst selber fraß; der schöne Boschko, der ihm immer noch nachtrug, dass er nicht mehr der Natschalnik der Gruppe war; der schwatzhafte Spargel und der kleine Holger, dem Kolwe einige Whiskynasen gedreht hatte. Sie redeten über einen Sieger und wussten nicht, dass er ein Versager war.

Habt ihr gesehen, wie sie im strömenden Regen losgefahren sind? Wein und Broiler hatte Habuck bei sich.

Und Torcky wusste nicht einmal, wohin sie fahren.

Sie war ganz blass, vielleicht kriegt sie was Kleines.

Dazu ist die zu schlau.

Auf seine Schultern hat sie getrommelt. Wo wollen wir hin, ich will nicht weg, ich will hierbleiben!

Habuck hat nur gegrient, der hat gut grienen, und gesagt: Warum? Alldarum, du wirst schon sehen!

Hoffentlich sind sie drüben am Wald nicht umgekippt, der Weg hat seine Tücken. Sogar Kolwes Rallyekenntnisse haben nichts genützt, wisst ihr noch, wie der im Dreck gelegen hat?

Du Nase, ich hatte gusseiserne Platten für Habucks Ofen geladen.

Dann kurvt Habuck auf den Hof der Zacharias, bitte absteigen, wir sind da.

Und Torcky sieht sich ganz beduselt um und wischt sich den Regen aus dem Gesicht. Sie sieht ein altes Fachwerkhaus, einen Stall, einen Teich mit Entengrütze drauf, eine Sägemühle, die vor sich hin schläft, und ein altes rüstiges Weib in Männerkleidung.

Was wollen wir hier, Habuck?

Willkommen, brummt die Zacharias, wisst ihr noch, wie die brummen kann?

Na ja, die ist nicht richtig.

Sie heißt aber Frau Zacharias.

Das hat nichts zu bedeuten. Die wirkt wie ein Mann.

Ob Habuck sein Mädchen die Treppe hochgetragen hat, wie man das im Kino sieht?

Im Kino nehmen sie dazu eine Puppe. Und die Stufen der Treppe sind verdammt wacklig, da müssen wir uns drum kümmern.

Bitte, wird Habuck sagen und eine seiner eleganten Handbewegungen machen, das hat der drauf, das gehört alles uns, man sieht es dem Stall von außen nicht an, was?

Die fällt ihm glatt um den Hals.

Natürlich ziehen sie sich aus, ihre Klamotten sind nass, der Ofen spuckt Wärme und hat einen mächtigen Zug, den hat Sauerbrei gut hingekriegt.

Wo ist Sauerbrei überhaupt?

Krankgeschrieben.

Aber zur Prüfung war er doch noch da.

Du kennst doch Otto Sauerbrei, den Seelentröster.

Jedenfalls wird Torcky lachen und weinen, sich drehen und wenden.

Sie ist von keinem schlechten Aussehen.

Das kannst du laut sagen, die ist durchweg Klasse.

Die Zacharias wird ihnen für den Wein die Gläser hochbringen.

Aber vielleicht will sie auch nicht stören.

Ich möchte da Mäuschen sein, da spielt sich was ab.

Du spinnst.

Beneiden wir ihn?

Klar, wir beneiden ihn. Er hat es verdient. Aber wir hätten es auch verdient, er war nur schneller.

Er war ihr Typ.

Wenn Kolwe ihn nicht karwatscht hätte, dann wären sie nie ein Paar geworden.

Ein Prost auf sie, sie sollen leben, sie sollen lieben.

Das ist ein Mädchen, die ist sogar sexy in ihrer Cordhose, wenn sie während der Arbeit die Proben nimmt.

Stimmt, eine Brust hat sie, allerhand Holz vor der Tür.

Und schmale Hüften und Beine, und so dünn in der Taille.

Und auch einen Kopf, du Arsch! An die kommst du nicht ran.

Wir merken uns den Tag, Leute! In neun Monaten, Anfang Januar, wenn da was Kleines ankommt.

Ob sie das Licht noch anhaben?

Klar, bei Licht ist es viel schöner.

Das verstehe ich nicht.

Ach, Spargel, du musst dich noch ganz schön mausern.

Prost! Ich habe einen Brand. Prost auf unseren Habuck, er soll nicht übermütig werden.

Ich bin nicht übermütig, ich bin mutlos, dachte Habuck, richtete sich schwerfällig auf und sah sich im Zimmer um. Er dachte daran, dass es so ähnlich gewesen war. Die Zacharias hat uns begrüßt und Torcky eine Schlackwurst in die Hand gedrückt. Glück auf! und alles Gute.

Sie meinen sicher Habuck, hatte Torcky gesagt, er hat seine Prüfung bestanden, nicht ich.

Ich meine Sie beide, Kindchen, und ich wünsche Ihnen beiden viel Seligkeit in den eigenen vier Wänden.

In welchen Wänden denn, was geht hier vor, Habuck?

Er hatte Torcky die Treppe hochgeführt, natürlich vorsichtig, denn es brannte kein Licht, und das Geländer schwankte. Dann das Zimmer. Alles gehört uns, hier werden wir wohnen.

Habuck hatte sich schon gewundert, wie still Torcky während der Rede der Zacharias und beim Hinaufgehen gewesen war. Und im Zimmer lachte sie erst, dann weinte sie ohne Übergang, und dann wurde sie still. So still, dass es ihm unheimlich wurde. ■

Nein, Habuck, das kannst du mit mir nicht machen, du entscheidest einfach wie deine Mutter. Du lässt wochenlang nichts von dir hören, und dann mimst du den King. Du schreibst mir vor, dass ich hier wohnen soll, zusammen mit dir. Aber du selber willst dir nichts vorschreiben lassen, so ist es doch? Du bist in Wahrheit nicht anders als deine Mutter, die bestimmt über dich, wie sie in ihrem großen Betrieb das Sagen hat, gut, alles muss nach Plan gehen. Du willst nicht so sein wie sie, aber du bist so. Das kann ich nicht ertragen, so kann ich nicht leben. Ich kann dir heute nicht alles sagen, Habuck. Du wirst es später mal verstehen. Es gibt einiges, was du nicht weißt, was du nun auch nicht erfahren wirst. Lass mich, du, ich kann einfach nicht mehr.

Sie hatte den Parka nicht ausgezogen, nicht den langen Schal abgewickelt, nicht die Strickmütze abgesetzt. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit für eine Zigarette.

Die Treppe hinunter, dass sie schwankte. Über den Hof, zum Tor hinaus, in den Wald hinein. Sie hatte immer eine Vorliebe für das Ungewöhnliche.

Er war ihr nachgerannt. Der Wind schüttelte die Bäume. Er hörte Torckys Schritte nicht mehr. Er rief und rief und bekam keine Antwort. Da war er zurückgegangen und hatte Frau Zacharias gesucht. In der Küche brannte Licht. Aber auch sie fand er nicht. Darum war er wieder in sein Zimmer hinaufgegangen, hatte sich auf die Luftmatratze gesetzt, war eingeschlafen, saß nun wieder da und grübelte. Was konnte sie mir nicht sagen? Du wirst einiges nicht erfahren. Das klang so endgültig.

Sie hatte sich nicht einmal gefreut, sondern ihm vorgeworfen, wie seine Mutter zu sein. Warum?

Warum? Alldarum. So antworteten die Kinder in Blassfurt, wenn sie spielten oder auf die lästige Frage Warum antworten sollten. Er war kein Kind mehr. Erwachsen, im neunzehnten Lebensjahr, seit heute Facharbeiter. Ihm war flau in der Magengrube, er kam sich vor wie ein steinalter Mann.

Ich muss aber etwas tun, dachte er, ich könnte mich betrinken und in einen tiefen Schlaf sacken und auf das große Wunder hoffen. Das Wunder heißt Torcky, die müsste neben mir sitzen und sagen: Junge, hast du dir aber einen angesupt, der war nicht von schlechten Eltern, hat es dich so mitgenommen, aber vergessen wir das, ich hab deiner Freude den Kopf abgebissen, weil ich mich beschämt fühlte, verzeih, vergiss, da ist kein Geheimnis, da ist nichts, was du nicht wissen darfst.

Habuck musste etwas tun, und wenn er nur in den Wald schrie oder zum Deich rannte.

Als er über den Hof ging, hörte er Geräusche. Er ging ihnen nach. In der Waschküche stand die Zacharias vor der Tür, an der ein geschlachtetes Kaninchen hing, und buffte mit der Faust das Fell des Tieres ab. Es löste sich langsam unter ihren kräftigen Fäusten. Sie hatte sein Kommen überhört. Er sah sie an, wie sie dastand, kräftig und breitbeinig, eine Männerjoppe über der Kittelschürze, strähnig die grauen Haare. Er dachte daran, was er in der Fährkneipe über sie gehört hatte. Früher soll sie weit und breit die Schönste gewesen sein. Aber sie hat keinen Mann an sich herangelassen. Wer weiß, auf wen die wartet, hatten die Leute gesagt, auf einen Studierten, einen Doktor gar. Sie lebte, nachdem ihre Eltern gestorben waren, allein in der Wassermühle, die ein Sägewerk betrieb. Sie erfüllte alle Aufträge, längte das Rundholz ab, schleppte die Stämme, schob sie durch das Gatter, stapelte Bretter und Bohlen. Sie arbeitete wie ein Mann, sie wurde ein Kerl, sagten die Leute, man müsste Herr Zacharias zu ihr sagen. Mondmeier, dem die Kneipe gehörte, hatte den Leuten das Geschwätz verboten. Das ist ein fleißiger Mensch mit einem schweren Leben, einem solchen Menschen hängt man nichts an, merkt euch das. Und das ist ein tapferer Mensch, der eine ganze Schar von verrückt gewordenen Jungen gerettet hat, fragt den Fährmann, ohne sie würde der heute nicht sein.

Frau Zacharias hatte Habucks Kommen nicht überhört und sagte: Nun aber, Junge, ob die so bald wiederkommt, und morgen wollte ich Kaninchen machen, lass dich nur nicht gleich begraben mit deinem Plan.

Sie kommt nicht wieder.

Frau Zacharias sah zu ihm hin und hustete ohrenbetäubend. Das ist ja gerade, als ob mich der Wind angepustet hat, sagte sie, oder ich habe zu lange im Zug gestanden. Sie bellte noch einmal rau.

Wo kann Torcky nur hin sein?

Nun aber, du kennst sie besser, ich denke mir, das ist nicht der Typ, der bei dem Schmadderwetter losläuft und sich irgendwo im Wald verkriecht, hab keine Bange.

Während Frau Zacharias das Tier ganz abbalgte und das Fell mit Salz einrieb, sagte sie, er solle vor lauter Furcht bloß nicht eingehen wie ein nackter Täuber. Der Wind sei so hart, dass sich am Teich die Erde abgelöst habe, richtig ab- geschwulkt sei der Weg. Sie sei draußen gewesen, als das Mädchen an ihr vorbeigelaufen war, sie sei gelaufen, als wüsste sie, wohin.

Meinen Sie?

Habuck ging in den Hof zurück, setzte den Helm auf und startete sein Motorrad. Er fuhr vorsichtig auf dem Uferweg, von dem die Wellen ein großes Stück weggebrochen hatten, und schlingerte mit abgespreizten Beinen am Walde entlang. Linker Hand die Pfähle der Viehkoppel, vor ihm die ersten geduckten Häuser des Dorfes, rechts von ihm der Wald.

Auch durch den Wald führten mehrere Wege dem Dorf zu. Im Dorf aber kannte Torcky keinen Menschen. Sie war heute das erste Mal in dieser Gegend gewesen.

Habuck parkte vor der Gaststätte „Zum Monde“ gleich hinter dem Deich. Es war wenig Betrieb im Schankraum, eine Skatrunde alter Männer saß in der Ecke unter dem Foto, das Mondmeier als Ringer zeigte. Der Fährmann trank stehend am Tresen sein Bier. Keine Torcky. Da fühlte sich Habuck wieder ganz kraftlos.

War ein Mädchen hier?

Ich habe ja keine Disco, sagte Mondmeier, aber ein Mädchen hat hier gesessen.

Wie sah sie aus? Nun rede schon.

Mondmeier sah den Fährmann an. Nun bequem dich.

Der Fährmann war ein langer, hagerer Mann, alle nannten ihn Baumel, weil er sich beim Gehen wiegte wie ein Seemann. Er sagte: Die hat sich’s wohl bedacht, jedenfalls hat dasselbe bannige Mädchen hier gesessen, mit dem du vorhin vom Ostufer gekommen bist.

Tatsache? Und wo ist sie?

Weg, sagte Mondmeier, wer will auch hier wohnen, in dieser Einöde, ein solches Mädchen doch nicht, höchstens ein verrückter Dichter aus Berlin, der krause Oden klopfen und glatte Schafe züchten möchte.

Nun sag endlich, wo sie ist!

Weg. Und die kommt so bald nicht wieder. Dir stehen ja Angsttropfen auf der Nase, nun bescheiß dich man nicht.

Und wohin ist sie?

Rüber mit Baumel, sagte Mondmeier, sie hat zwei doppelte Klare getrunken und vier Zigaretten geraucht, aber keine von der guten Sorte, sie hat nicht geheult, sie hat gewartet, wahrscheinlich auf dich.

Nee, auf mich, sagte Baumel, ich hatte ein Blatt auf der Hand, die beiden Alten und fünf Eichel, da hat sie gesagt, machen Sie nur, ich habe Zeit, die verstand was von Skat.

Bringst du mich auch rüber?

Nee, das Wetter droht. Der Kleinen ist schon schlecht geworden. Wie heißt sie überhaupt?

Torcky.

Torcky ist ein Pferdename, und wie heißt sie wirklich?

Veronika.

Veronika, der Lenz ist da, trinkst du ein Bier mit?

Ich habe das Motorrad draußen. Ich muss ins Werk, sie wird ins Wohnheim gefahren sein.

Gelaufen, meinst du, jetzt fährt kein Bus mehr drüben, sagte Baumel.

Sie wird per Anhalter fahren.

So sieht die aus, das stimmt.

Mondmeier holte einen Brief aus dem Schürzenlatz und sagte zu Habuck: Einen herzlichen Gruß von Verena, und du sollst dich schön einrichten, und sie hat sich nun auch verlobt. Nämlich meine Nichte, sagte er zu Baumel, sie ist mit Habuck in eine Schule gegangen, unten in Blassfurt, sie schwärmt immer noch von ihm.

Verena, dachte Habuck, die hätte ich haben können, aber die wollte ich nicht. Gib mir doch einen Kaffee, sagte er zu Mondmeier.

Barfuß oder eine Stulle dazu?

Barfuß.

Verena hatte ihm zu Weihnachten den Tipp gegeben: Mein Onkel hat eine Fährkneipe an der Elbe, der kennt die Leute, da gibt es einsame Gehöfte und eine alte Frau, die meinen Vater einmal vor dem Werwolf bewahrt hat, da kannst du mit deinem Mädchen wohnen, das regelt der für dich. Und mit Tränen in den Augen hatte sie gesagt: Ich wünsche euch viel Glück, ich verstehe deine Eltern auch nicht, mach was.

Für Verena aber wären seine Eltern sofort gewesen. Mutter hatte ihm einmal eine Karte ins Wohnheim geschrieben, schon nach dreimonatiger Lehrzeit: Wir haben zum nächsten Wochenende Verena eingeladen, du freust dich doch, nicht wahr?

Und wie er sich freute. Auf einer offenen Karte hatte Mutter das geschrieben, und Holger, der die Post verteilte, hatte sie natürlich gelesen und für entsprechende Verbreitung gesorgt: Der Jugendfreund Hans Buck, genannt Habuck, bekommt nun endlich sein Mädchen zugeteilt, die Mama hat ihm schon was ausgesucht, exquisit natürlich. So unrecht hatte Holger nicht.

Habucks Mutter war im ganzen Bezirk bekannt. Ihr Bild brachten die Zeitungen. Ihr Betrieb, eine industrielle Anlage der Landwirtschaft, war ein Muster, das man vorzeigte, wenn ausländische Delegationen kamen. Sie war ein guter Leiter. Zu Hause auch. Sie bestimmte den Kurs in der Familie. Und Habucks Vater, der stille, kluge Tom Buck, lächelte zu den Anordnungen seiner Frau und führte sie aus. Er war im selben Betrieb als Abteilungsleiter beschäftigt, war voller Ideen, aber hatte nicht die Kraft, seine Ideen durchzusetzen. Diese Kraft besaß Habucks Mutter. Die Leute erfuhren nicht, dass die Ideen, die sie einbrachte und verwirklichte, eigentlich die Ideen ihres Mannes waren. Tom Buck lächelte dazu. Und Christel Buck hatte auch die Erziehung Habucks in jedem Lebensalter fest in der Hand. Er hatte gelernt, wie man sich eine Meinung bildet. Sie brachte die Probleme ein, sie forderte ihn heraus, sie verteilte Lob und Tadel. Es gab kein wichtiges Ereignis, das unbesprochen blieb.

Und nun hatte sie ihm auch ein Mädchen besorgt, wie sie ihm Schuhe, Pullover und Hemden kaufte und dabei seinen modischen Geschmack beeinflusste.

Verena, hatte er gedacht, das scheue Mädchen mit der schönsten Figur der Klasse, Verena kommt also, ich werde zusammen mit ihr tanzen gehen, sehen lassen kann ich mich mit ihr überall, und geküsst hat sie mich auch schon einmal, nach dieser Rede. Aber er hatte auch gedacht: Wieder hat Mutter etwas bestimmt, auf ihre besondere Weise, wir haben sie eingeladen, mein Junge, bitte sehr, das ist natürlich deine Sache, ich will dir nur behilflich sein, alle deine Freunde haben ihre Mädchen, in deinem Alter muss das sein, und du kannst sie gern mit nach Hause bringen. Wie großzügig Mutter war. Aber sie merkte nicht, dass ihn diese Großzügigkeit kränkte.

Ja, nach der Rede hatte Verena ihn geküsst. Vor den Augen der Klasse, der Lehrer und der Eltern. Und des Schulrates sogar. Ihn hätten alle anderen Mädchen der Klasse auch geküsst. Nur dieser Rede wegen.

Nun saß Habuck in der alten Fährkneipe, in der schon Schills Vorhut übernachtet hatte, trank Kaffee und dachte sich von Torcky weg zu Verena und wieder zu der vermaledeiten Rede, die er vor zwei Jahren gehalten hatte.

Aber mit dieser Rede hatte es nicht angefangen.

Als die Werber vom neuen Schacht in die Schule kamen, war er fünfzehn Jahre alt und ein Schüler, auf den sich Lehrer und Eltern jederzeit verlassen konnten. Ein Schüler, dessen Lebensweg vorgezeichnet war: nach der zehnten Klasse Berufsausbildung mit Abitur, anschließend Studium, Richter oder Staatsanwalt.

Er war mit seinen Eltern zufrieden. Sie hatten ihn zur Jugendweihe gefragt, was ihm lieber wäre, Budapest eine Woche lang oder eine große Feier mit allen Verwandten und Bekannten. Er hatte Budapest gewählt und auf die Geschenke verzichtet. Und er war auch mit seinen Lehrern zufrieden gewesen, das heißt, er hatte sie akzeptiert. Dass der eine das Klassenbuch auf dem Lehrertisch zerschlug, war die Folge einer Kriegsverwundung am Kopf; dass ein anderer zu ihm sagte, bei so einer Mutter, die sogar in der Bezirksleitung ist, musst du selbstverständlich Spitze sein, das nahm er hin, er schluckte es und vergaß es wieder.

Als die Werber in die Schule kamen, war er schlechter Laune. Seine Mutter hatte ihm am Morgen gesagt, er solle bis zum Wochenende den neuen Granin lesen, am Freitagabend hätte sie Zeit, dann wollten sie darüber reden. Er aber hatte zwei utopische Erzählungen erstanden, wollte diese lesen und nicht den neuen Granin, mochte dieser noch so gut sein. Mutter befahl einfach. Sollte das immer so bleiben?

Die Werber redeten und redeten und priesen die Vorzüge des neuen Werkes. Nur Habuck meldete sich. Dabei hatte seine Mutter mit ihm alles besprochen: Du machst in meinem Betrieb deinen Agrotechniker mit Abitur, gehst zur Armee und studierst.

Und wäre nicht die Aufforderung gewesen, den neuen Granin zu lesen, er hätte sich nicht gemeldet. So aber dachte er daran, dass er wohl nie selber für sich würde entscheiden können, und sagte: Geben Sie mir eine Broschüre. Ich werde zu Ihnen kommen. Aber ich will nicht über Tage arbeiten, sondern richtig einfahren und vor Ort sein.

Mutter hatte das zuerst für eine Marotte gehalten, für einen verspielten Einfall, so wie jeder Junge mal Flieger oder Matrose oder Taucher werden möchte. Sie hätte ihn vielleicht von dem Plan abgebracht, wenn da nicht ihr eigener Vater gewesen wäre, Habucks Großvater, den alle in Blassfurt den „alten Schächter“ nannten, weil er sein Leben unter Tage verbracht hatte und auch heute noch nicht von den Bergwerken loskam.

Der alte Schächter stand Habuck bei und bestärkte ihn, sodass er seiner Mutter sagte: Ich will nach zehn Jahren Schule erst mal was mit eigenen Händen schaffen und nicht wieder eine Schulbank drücken. Ich möchte mir ansehen können, was und wie viel ich produziert habe und ob ich das mit meinen Händen überhaupt zustande bringe. Wohl war ihm nicht gewesen, als er das sagte, aber zurücknehmen wollte er kein Wort.

Seine Mutter war eine anerkannte Autorität, überall: in der Schule, im Betrieb, im Wohngebiet, in der Partei und in der Familie. Ihr Wort hatte Gewicht. Diesmal staunte sie erst über seinen Widerspruch, dann wurde sie wütend über seine Bockigkeit.

Sie konnte sich nicht erklären, was in dem Jungen vorging, der bisher fünfzehn Jahre lang brav und zuverlässig, anständig und widerspruchslos und auch ohne Ansprüche gewesen war. Hatte sie vergessen, zu entdecken, wie er sich millimeterweise veränderte? War er in Opposition gegangen, weil sie alles vorschlug und vormachte und vordachte? Hatten ihn irgendwelche Ereignisse beeinflusst?

Ein anderer Bewerber würde für ihn die Stelle „Berufsausbildung mit Abitur“ erhalten, eine sehr begehrte Stelle.

Habuck selber brannte in den Tagen und Wochen nach diesem Entschluss nicht mehr so hell, aber er wollte nicht klein beigeben, diesmal nicht. Er nahm sich vor: Ich gehe in den Schacht.

Er hatte richtig Hunger auf den Schacht, auf diese fremde und geheimnisvolle Welt unter Tage, und er hatte auch richtige Angst vor ihm. Was würde da auf ihn zukommen? Keine Mutter würde telefonieren können mit irgendeiner Person oder einer Instanz und ihm Schwierigkeiten aus dem Weg räumen.

Ich gehe in den Schacht, das klang wie eine Sensation. Schacht war so faszinierend wie Afrika oder Tibet.

Nachts malte er sich das aus, sah eine zugige Baracke, in der er schlafen musste, sechs Mann in einem stinkenden Zimmer; sah dunkle Strecken unter Tage, mit Salzstaub bedeckt, sah sich verirren, träumte davon, wie er unter dem Hangenden hockte und auf sein Ende wartete wie die Kumpel aus Zolas „Germinal“. Aber tagsüber warf er sich in die Brust und suchte eine eigene Meinung, er wurde gierig auf eine eigene Meinung, er wollte widersprechen, um jeden Preis. Der Mutter, dem Vater, den Lehrern. Sogar die Rabauken in der Klasse fanden Habuck nunmehr sehr annehmbar und gaben ihm eine Fußballkarte ab, wenn der Klub spielte.

In der Schule interpretierte Habuck das Prometheusgedicht, das sie zu lernen hatten, sehr eigenwillig: Das sagt uns, nicht vorgefertigte Wege zu gehen, selber zu denken und zu entscheiden, nicht verklemmt zu sein, sondern selber entdecken, was in einem und um einen herum vorgeht. Da ich ein Kind war, nicht wusste, wo aus noch ein ... Er berauschte sich an diesem Gedicht wie an fünf Flaschen Cola.

Als bester Schüler sollte er die Abschlussrede halten. Der Direktor gab ihm die Rede komplett vor: damit du nicht so viel Arbeit hast, Hans. Natürlich war alles in ihr enthalten: der Rückblick auf die schwere Zeit nach dem Krieg, die keiner von ihnen erlebt hatte; der harte Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung auf deutschem Boden, diesen Aufbau kannten sie aus den Geschichtsbüchern; die daraus resultierenden Verpflichtungen für alle, die sie so oft gehört hatten, denn sie wuchsen mit solchen Verpflichtungen auf wie mit dem Viertelliter Schulmilch und dem Frühstücksbrot, - und der Ausblick auf die Zukunft, und die Zukunft, das war für sie das Sommerlager am See, der Lehrvertrag oder die EOS und natürlich der Frieden, der „kein Geschenk der Natur“ ist, und der Dank an die Eltern und an die Lehrer.

Früher hätte Habuck die Rede durchgelesen und anstandslos gehalten, er konnte gut und betont ablesen und dabei so tun, als spräche er frei. Diesmal fand er die Rede schlecht. Seine Mutter bestärkte ihn darin. Das verwunderte ihn, aber er wusste nicht, dass sie ihn immer noch von seinem Berufswunsch abbringen wollte, darum also sagte sie: Alles nullachtfünfzehn, du machst eine neue, denk mal an den Prometheus, wie der dem alten Zeus trotzt, geh davon aus, die sollen schon sehen, wie tief du schürfen kannst.

Und Mutter half ihm wirklich, sie saß neben ihm, während die Kumpel auf der Straße hupten und ihn zum Baden abholen wollten. Sie diktierte ihm ihre Gedanken so geschickt, als wären sie seine eigenen, die er zwar gedacht, aber nur noch nicht ausgesprochen hatte.

Und Mutters Rede war besser als die des Direktors. Sie hatte ihm oft bei der Gliederung der Hausaufsätze geholfen, schließlich hatte sie einmal vier Semester Journalistik studiert, bevor sie auf Zootechnik umgestiegen war. Du bist doch zu jeder Zeit gut mit Mutters Rat gefahren, Hans Buck.