Der verlorene Sohn - Nataly von Eschstruth - E-Book

Der verlorene Sohn E-Book

Nataly von Eschstruth

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Nataly von Eschstruth war eine deutsche Schriftstellerin und eine der populärsten und berühmtesten Erzählerinnen der Gründerzeit. Null Papier Verlag

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Nataly von Eschstruth

Der verlorene Sohn

Heimatroman

Nataly von Eschstruth

Der verlorene Sohn

Heimatroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-71-9

null-papier.de/483

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

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I.

Man nann­te sie einen wun­der­li­chen Cha­rak­ter. – Vie­le be­haup­te­ten, sie sei un­lie­bens­wür­dig und kalt­her­zig, we­ni­ge nah­men sie in Schutz und ver­si­cher­ten, hin­ter ih­rem küh­len, schrof­fen We­sen ber­ge sich ein tie­fes Ge­fühl, ein war­mes und großes Emp­fin­den, wel­ches je­doch ängst­lich ver­steckt wer­de, wie ein Licht un­ter dem Schef­fel.

Wer in sei­nem El­tern­hau­se nur mi­li­tä­ri­sche Prä­zi­si­on, Kom­man­dos und sol­da­ti­schen Drill ge­wöhnt sei, müs­se ja jede wei­che­re und zärt­li­che­re Re­gung des Her­zens als Ge­fühls­du­se­lei und lä­cher­li­che Sen­ti­men­ta­li­tät er­ach­ten.

Fräu­lein Mal­wi­ne von Ries sei das Eben­bild des Va­ters, ein Sol­dat in Mäd­chen­klei­dern. Was Pf­licht­ge­fühl, Ehre, Recht­schaf­fen­heit be­deu­te, sei ihr voll be­wusst, aber die Pas­sio­nen ih­rer Al­ters­ge­nos­sin­nen, ein ly­ri­sches Ge­dicht zu le­sen, abends an dem ge­öff­ne­ten Fens­ter in Len­zes­duft und Mon­den­schein hin­aus zu schwär­men, ein Ball­kleid ent­zückend und ein to­tes Vö­gel­chen zum Herz­bre­chen trau­rig zu fin­den, die­se schwär­me­ri­schen An­wand­lun­gen sei­en ihr ge­ra­de­zu un­ver­ständ­lich und wohl auch in tiefs­ter See­le zu­wi­der.

Ob Fräu­lein Mal­wi­ne sich wohl je­mals ver­lie­ben kön­ne und wer­de?

Man lä­chel­te bei die­sem Ge­dan­ken eben­so un­gläu­big wie bei dem fan­tas­ti­schen Plan ei­nes Stern­for­schers, zwi­schen Mars und Erde einen re­gel­rech­ten Mei­nungs­aus­tausch zu be­werk­stel­li­gen.

Fräu­lein Mal­wi­ne als Braut! – welch eine Iro­nie auf all die lieb­li­chen Tra­di­tio­nen, wel­che sich mit die­sem Wor­te ver­knüp­fen!

Wenn man das große, breit­schul­te­ri­ge Mäd­chen mit der stram­men Hal­tung, den knap­pen, wohl­ge­drill­ten Be­we­gun­gen, dem et­was großen Kopf mit dem frischwan­gi­gen Ge­sicht, aus wel­chem die Grau­au­gen so un­sag­bar nüch­tern und tief ernst blick­ten, – wenn man die­ses Mäd­chen voll ei­ser­nen Flei­ßes wirt­schaf­ten und zwi­schen Kochtöp­fen, Be­sen und Waschwan­ne han­tie­ren sah, dann kam es selbst dem fan­ta­sie­be­gab­tes­ten Men­schen nicht in den Sinn, sich Fräu­lein von Ries als ko­sen­de, won­nig bli­cken­de, in­nig an­schmie­gen­de Herz­liebs­te zu den­ken!

Wie hät­te der so her­be und re­si­gnier­te Mund wohl Wor­te der Lie­be und Zärt­lich­keit fin­den, wie hät­te er sich wohl voll be­ben­den Ent­zückens in süßem Kus­se hin­ge­ben kön­nen! Wie hät­ten die­se, wohl schön und edel ge­form­ten, aber doch so fest und rück­sichts­los zu­grei­fen­den Hän­de in hol­der Tän­de­lei durch ei­nes Jüng­lings Lo­cken strei­chen, sei­ne Rech­te voll lieb­li­cher Ban­gig­keit schutz­hei­schend um­schlie­ßen kön­nen!

Solch eine Idee war ein­fach lä­cher­lich, und dar­um kam sie auch kei­nem Men­schen, ob­wohl ein­mal ein ganz jun­ger Leut­nant bei dem An­blick der ho­hen, im­po­nie­rend statt­li­chen Er­schei­nung in dem blei­far­be­nen Sei­den­kleid jäh­lings aus­ge­ru­fen hat­te: »Don­ner­wet­ter! Die wäre ei­gent­lich eine Frau für einen kom­man­die­ren­den Ge­ne­ral! Wenn die einen so von oben bis un­ten mus­tert, fährt ei­nem schon ganz un­will­kür­lich der Dau­men an die Ho­sen­naht!«

»Hm – so übel nicht!« nick­te sein Nach­bar lä­chelnd, »sie wür­de ihre Di­vi­sio­nen si­cher eben­so gut im Zuge ha­ben, wie da­heim ih­ren Haus­halt! Fräu­lein Mal­wi­ne ist frag­los ein Edel­stein – aber doch ein et­was un­ge­schlif­fe­ner, eben­so wie ihr Va­ter, der hü­nen­haf­te Pen­sio­när dort, mit dem blau­ro­ten Ge­sicht, dem for­schen wei­ßen Schnauz­bart und der dröh­nen­den Bass­s­tim­me! So ur­an­stän­dig, vor­nehm den­kend und vor­treff­lich der Mann zeit­le­bens ge­we­sen ist, – eine ge­wis­se Här­te und Schroff­heit hat er nie über­wun­den, und eben­so er­geht es der Toch­ter! Ein fa­mo­ser Cha­rak­ter, – man kann Häu­ser auf sie bau­en, aber kühl bis ans Herz hin­an – und im Kom­man­die­ren sehr viel leis­tungs­fä­hi­ger als im Ko­sen!«

So hat­te man schon über sie ge­ur­teilt, als sie noch ein ganz jun­ges Mäd­chen war und ihre ers­ten Bäl­le be­such­te.

Sie sprach we­nig, kurz an­ge­bun­den und an­schei­nend sehr gleich­gül­tig, da­bei sah sie den Be­tref­fen­den mit den kla­ren, kal­ten Au­gen an, als er­tei­le sie ihm einen stren­gen Ta­del.

Es sah aus, als tan­ze sie nur aus Pf­licht­ge­fühl, weil es ein Ball nun mal so mit sich brin­ge. Wenn sie ein­mal nicht tanz­te, war es ihr eben­falls gleich­gül­tig. Sie stand dann hoch und stolz auf­ge­rich­tet und blick­te über die lus­tig wir­beln­de Men­ge hin­weg, als woll­te sie sa­gen: »Ihr scheint sämt­lich ver­rückt zu sein! Was für einen mo­ra­li­schen Zweck und Sinn hat die­ses ein­fäl­ti­ge Im-Krei­se-He­rum­dre­hen?«

Und dann setz­te sie sich in die Nähe ih­rer Mut­ter, ei­ner wort­kar­gen, blas­sen Frau, wel­che un­heil­bar an tiefer Er­bit­te­rung krank­te, weil ihr Gat­te es nicht zum Ex­zel­len­zen­ti­tel ge­bracht, und un­ter­hielt sich mit den al­ten Da­men sehr un­ter­rich­tet und sehr ehr­bar über Markt­prei­se, schlech­te Dienst­bo­ten und er­prob­te Kochre­zep­te, sehr un­be­küm­mert, ob sie dar­über die schöns­ten Tän­ze ver­säum­te und die Ko­til­lon­sträuß­chen im Sti­che ließ.

»Sie ist die ge­bo­re­ne alte Jung­fer!« schüt­tel­te selbst Frau von Ries den Kopf, und nur der Va­ter zog die Brau­en noch strup­pi­ger zu­sam­men und sprach grob: »Blöd­sinn! – Mal­wi­ne ist das ein­zi­ge Frau­en­zim­mer, wel­ches sich an­stän­dig be­nimmt und nicht nach den Män­nern an­gelt! Da­rum wird sie die ein­zi­ge sein, wel­che mal eine gute Hei­rat tut!«

»Das wäre!« hohn­lä­chel­te die Frau Oberst und sah ver­bit­ter­ter und sau­er­töp­fi­scher drein als sonst. »Von nichts – wird nichts. Aus Lie­be nimmt sie kei­ner und um des Gel­des wil­len auch nicht! Mei­ne arme Mal­wi­ne müss­te eben nicht mein Kind sein, wenn sie Glück ha­ben soll­te! – Das ist nie bei uns zu Hau­se ge­we­sen, das hat uns ewig stief­müt­ter­lich be­han­delt! Wenn ich al­lein be­den­ke, wie sie dir da­mals den Ab­schied ins Haus ge­schickt ha­ben! Ohne al­len Grund! Ohne jede Ver­an­las­sung! Dein Re­gi­ment war das bes­te im gan­zen Korps … sie muss­ten dich zum Ge­ne­ral ma­chen, wenn es noch Ge­rech­tig­keit im mi­li­tä­ri­schen Le­ben gäbe …«

Herr von Ries hob mit dro­hen­dem Blick das graue Haupt. »Him­mel­kreuz­don­ner­wet­ter! Schon wie­der die alte Li­ta­nei! Ich sage dir, dass ich ab­so­lut kein Stra­te­ge bin, dass ich im Ma­nö­ver die Bri­ga­de ganz nie­der­träch­tig, ganz un­ter al­ler Kri­tik ge­führt habe! Potz Wet­ter noch eins, ich hät­te mich sel­ber zum Teu­fel ge­jagt! – Eins schickt sich eben nicht für alle, ich habe nie Ta­lent zum Sol­da­ten ge­habt! Jä­ger hät­te ich wer­den sol­len, Forst­mann – aber der Va­ter steck­te mich ins Korps. Habe mir red­lich Mühe ge­ge­ben, durch Fleiß und Ei­fer das Feh­len­de zu er­set­zen, – aber wo nichts ist, hat der Kai­ser das Recht ver­lo­ren! Dan­ken muss ich, dass sie mir noch ein Re­gi­ment ge­ge­ben ha­ben! Und das tue ich auch, Alte, und bin zu­frie­den mit mei­nem Los, und – Potz­bom­ben­ele­ment! – du sollst das auch sein und das ewi­ge Rä­son­nie­ren las­sen! Ver­stan­den?« – und da­mit warf er die Tür kra­chend hin­ter sich zu und schritt da­von.

Frau von Ries aber kniff die schma­len Lip­pen noch schma­ler zu­sam­men, neig­te sich stumm über ihre Flick­ar­beit und sah noch um einen Schein bläs­ser und ha­ge­rer aus als sonst.

Mal­wi­ne stand un­ter­des­sen in der Plätt­stu­be, ta­del­te in ih­rer ru­hi­gen, ge­las­se­nen Wei­se das Mäd­chen, wel­ches Schmutz­streif­chen in die Vor­hemd­chen des gnä­di­gen Herrn ge­plät­tet hat­te, und steck­te voll küh­ler Ge­wis­sen­haf­tig­keit die un­sau­be­ren Stücke in den Wasch­kes­sel zu­rück, moch­te die Dore das Ge­sicht noch so wei­ner­lich und übel­lau­nig ver­zie­hen, dann aber griff sie stumm zu dem Bol­zen, trat an das Bü­gel­brett und nahm der ge­schol­te­nen Magd gut­wil­lig die Hälf­te der Ar­beit ab.

Sie streif­te die Är­mel an den vol­len, kräf­ti­gen Ar­men em­por, griff in den Korb und spreng­te die Wä­sche ein, und da­bei flog kein Trop­fen auf die große, weiß­lei­ne­ne Haus­schür­ze, und an dem schlicht­ge­schei­tel­ten Haar ver­schob sich kein Strähn­chen, das Bild ru­hi­gen, ta­del­lo­sen Flei­ßes stand sie in­mit­ten der Ar­beit, so ernst und still, als exis­tie­re kein an­de­res Glück in der Welt als das Wa­schen, Scheu­ern und Plät­ten.

Und doch klopf­te ein Herz in ih­rer Brust, so bang und un­ru­hig, wie noch nie zu­vor im Le­ben, und die küh­len Au­gens­ter­ne, wel­che an­schei­nend nur ihre Ar­beit sa­hen, ho­ben sich ver­stoh­len mit bei­nah schüch­ter­nem Blick zum Fens­ter, wenn ein schnel­ler Schritt vor dem Sou­ter­rain er­tön­te.

Und dann ging es plötz­lich wie ein lich­ter Schein über das stren­ge Mäd­chen­ge­sicht, die Lip­pen öff­ne­ten sich wie bei ei­ner Dürs­ten­den, und durch die Hän­de, wel­che so em­sig schaff­ten, ging ein sei­nes, kaum merk­li­ches Be­ben.

Groß und starr ward der Blick, als schaue er zu­rück, – weit hin­weg über die Wä­sche und das zi­schen­de Plätt­ei­sen bis hin­ein in die däm­me­rig stil­le Stun­de des gest­ri­gen Abends. Was war ihr Selt­sa­mes ge­sche­hen?

Nichts, o gar nichts Ab­son­der­li­ches. Sie hat­te eine Tee­ein­la­dung zu der Fa­mi­lie ih­res Haus­arz­tes an­ge­nom­men; sie war so un­gern und un­lus­tig hin­ge­gan­gen wie zu al­len Ge­sell­schaf­ten.

An­fäng­lich war es auch nicht an­ders ge­we­sen als sonst. Dann hat­te man sich zu Tisch ge­setzt und der Nef­fe des Haus­herrn, ein jun­ger Kom­po­nist, hat­te ihr den Arm ge­bo­ten.

Sie un­ter­hiel­ten sich, an­fangs et­was steif und lang­wei­lig, mit dem un­si­che­ren Tas­ten nach ei­nem gu­ten Ge­sprächsthe­ma, wel­ches zwi­schen zwei wild­frem­den, wort­kar­gen Men­schen nicht leicht zu fin­den ist. – Dann aber fand es sich doch, die Mu­sik war die gol­de­ne Brücke. Sei­ne dunklen, schwär­me­ri­schen Au­gen leuch­te­ten wie ver­klärt, wenn er von sei­nen Idea­len, sei­nen Plä­nen, sei­nen Kom­po­si­tio­nen sprach. Er ent­wi­ckel­te ihr sei­ne An­sich­ten über ver­schie­de­ne Meis­ter der Kunst, er such­te ihr In­ter­es­se für Wa­gner zu we­cken, von wel­chem sie ehr­lich ein­ge­stand, dass er ihr ab­so­lut un­ver­ständ­lich sei. Er er­zähl­te von den Auf­füh­run­gen sei­ner ers­ten Oper, von der bun­ten, selt­sa­men, wun­der­li­chen Welt hin­ter den Ku­lis­sen, wel­che ihm ei­gent­lich sehr un­sym­pa­thisch sei.

»Sie glau­ben gar nicht, mein gnä­di­ges Fräu­lein«, sag­te er mit ei­ner ner­vö­sen Be­we­gung sei­ner sehr blei­chen, fein­ge­glie­der­ten Hand nach dem leicht über die Stirn fal­len­den Haar, »wie es mir ein mo­ra­li­scher Schmerz war, die Ge­stal­ten mei­ner Oper, wel­che ich im Geist in höchs­ter, ideals­ter Voll­kom­men­heit ge­schaut, plötz­lich ge­schminkt und flit­ter­be­hängt, so ent­setz­lich pro­sa­isch mit der Rol­le in der Hand, oder ein paar Back­pflau­men zwi­schen den Zäh­nen, vor mir zu se­hen! So schön die Trä­ge­rin der Ti­tel­rol­le auch war, und so hin­rei­ßend sie sang, – sie war hin­ter der Sze­ne doch nur das Fräu­lein X. X., wel­ches mir von den ba­nals­ten All­täg­lich­kei­ten er­zähl­te und ih­ren Glück­wunsch zu dem schö­nen Er­folg der Oper in den wohl sehr gut ge­mein­ten, in mei­nen Ohren aber gräss­lich klin­gen­den Wor­ten gip­feln ließ: ›Mit der Sa­che hier wer­den Sie Geld ma­chen, Dok­tor­chen! Hei­den­geld! – Na, wenn ich mal in der Tin­te sit­ze, kom­me ich und pum­pe Sie an!‹ Sie scherz­te in über­mü­ti­ger Lau­ne – und je­den an­de­ren hät­te ihr Lä­cheln wohl ent­zückt, ich bin aber ein ko­mi­scher Kauz in die­ser Be­zie­hung – ihr Scherz tat mir in je­nem Au­gen­blick höchs­ter und reins­ter Be­geis­te­rung weh!«

Mal­wi­ne starr­te den Spre­cher ein we­nig be­trof­fen an, denn sie hat­te sich bis­her ge­dacht, dass bei al­lem Schaf­fen das »Ver­die­nen« doch die Haupt­sa­che sei, nun er­rö­te­te sie bei­nah über die­sen ket­ze­ri­schen Be­griff und ihre haus­ba­cke­ne An­sicht über die Kunst.

In ih­rer Ver­le­gen­heit sag­te sie teil­neh­mend: »Dann er­le­ben Sie si­cher viel Ent­täu­schun­gen als Künst­ler, denn nir­gends ist wohl Pro­sa, Un­na­tur und nie­de­re Ge­sin­nung – ich mei­ne Neid, Ka­ba­le und Ei­fer­sucht – stär­ker aus­ge­prägt als auf den Bret­tern, wel­che die Welt be­deu­ten!«

Er nick­te, sei­ne großen, leuch­ten­den Au­gen ver­schlei­er­ten sich. »Ich bin für mei­nen Be­ruf nicht sehr glück­lich be­an­lagt und den­ke wohl viel zu kind­lich in die­ser Zeit des bit­ters­ten Rea­lis­mus, um mich ohne Wun­den und schlim­me Er­fah­run­gen durch all ihre Dor­nen und Nes­seln zu win­den! Glau­ben Sie wohl, dass es mir einen Stich ins Herz gibt, wenn ich auf der Büh­ne ste­he und sehe den Wald, den ich wäh­rend mei­nes Schaf­fens in zart-duf­ti­ge Him­mels­luft ge­taucht, in Son­nen­gold ge­ba­det, flüs­ternd und rau­nend wie von Geis­ter­stim­men, von Vo­gel­fang durch­haut und Blü­ten­durst durch­zo­gen vor mir sah, als stau­bi­ge Pa­pier­ku­lis­se ra­gen, zu­sam­men­ge­leimt und nu­me­riert als Stück­lein De­ko­ra­ti­on, – Gas­ge­ruch, Ge­tram­pel und Ge­klin­gel? An­statt Duft, Licht und Blatt­ge­flüs­ter der Jar­gon und die fau­len Wit­ze der Ku­lis­sen­schie­ber – und der schwü­le Thea­te­ro­dem! … Wa­rum la­chen Sie nicht, gnä­di­ges Fräu­lein? Man hat mich schon oft aus­ge­lacht, wenn ich die­ses Glau­bens­be­kennt­nis zum bes­ten gab, und mich einen Fan­tas­ten ge­nannt, wel­cher sei­ne Wer­ke dem­nächst un­ter Got­tes frei­em Him­mel auf­füh­ren las­sen wür­de!«

Nein, Mal­wi­ne lach­te nicht, sie war viel, viel zu über­rascht und er­staunt über An­sich­ten, wel­che ihr zeit­le­bens so fern ge­le­gen wie der Him­mel von der Erde!

Sie hat­te sich nie­mals über ge­schmink­te Schau­spie­ler und ge­mal­te De­ko­ra­tio­nen al­te­riert, son­dern im Ge­gen­teil die enor­me Kunst und Tech­nik der mo­der­nen Büh­ne an­ge­staunt wie ein Wun­der.

Trug und Schein gab’s ja über­all in der Welt, nicht nur in dem Thea­ter al­lein, und sie hat­te stets solch re­si­gnier­te, prak­ti­sche und schreck­lich pro­sa­i­sche An­sich­ten ge­habt, dass ihr die Ku­lis­sen­welt mit all ih­rem Schim­mer und Glanz noch wie ein Pa­ra­dies auf Er­den er­schi­en.

Und nun hört sie aus dem Mund ei­nes Man­nes die bei­na­he nai­ve Kla­ge, dass ihm sei­ne Il­lu­sio­nen zer­stört, sei­ne Idea­le auf der Büh­ne ge­nom­men wer­den!

Das war et­was ganz Au­ßer­ge­wöhn­li­ches, aber frag­los et­was Wah­res, Schö­nes und Ech­tes, eine Künst­ler­see­le, wel­che so hoch über al­lem Er­den­staub, al­lem Lug und Trug, al­lem Falsch und al­ler Ver­stel­lung, al­lem Nie­de­ren und Un­lau­te­ren, wie ein bun­ter Fal­ter im Son­nenglanz, wel­cher es nicht ahnt und nicht wis­sen mag, dass un­ter den leuch­ten­den Blü­ten der Staub und Schmutz der Erde la­gert, dass Spin­nen ihre ge­fähr­li­chen Net­ze ge­zo­gen und gif­ti­ge Würm­lein lau­ern, dass die lo­ckends­ten Früch­te in­nen faul und die üp­pigs­te Wie­se ein Sumpf ist!

Wie in atem­lo­sen Stau­nen und For­schen trifft der Blick der nüch­ter­nen grau­en Mäd­chen­au­gen das Ant­litz ih­res Nach­bars, und es ist ihr, als sei sie bis­her blind ge­we­sen und schaue nun zum ers­ten Mal et­was Schö­nes auf der Welt. Und als er wei­ter re­det, und sei­ne mil­den, see­len­vol­len Au­gen auf­leuch­ten bei dem Ge­dan­ken an all das wahr­haft Künst­le­ri­sche und Schö­ne, das er schaf­fen möch­te und zu vollen­den hofft, da wird es ihr warm, ganz wun­der­sam warm um das Herz, und sie be­geis­tert sich plötz­lich für Din­ge, wel­che ihr sonst ganz fern la­gen; sie be­greift es sel­ber nicht, wo sie mit ei­nem­mal alle Wor­te und An­sich­ten über Mu­sik und Dich­tung her­nimmt. Es regt sie an und ent­zückt sie, dass er ihre Mei­nung so ernst nimmt, dass er ihr beipflich­tet, dass er sich ih­res Har­mo­nie­rens freut, – das ist al­les so neu, so ei­gen­ar­tig und fes­selnd für sie!

Wie schön er spricht! Sei­ne Stim­me klingt so weich und me­lo­disch, als sei sie ex­tra ge­schaf­fen für die idea­len Ge­dan­ken, wel­che doch so voll tie­fen, re­el­len Wis­sens sind und es so hei­lig ernst mit der Kunst mei­nen.

Welch eine neue Welt er­schließt sich ihr! – Vor ein paar Stun­den noch hat sie ge­glaubt: Mu­sik ist eben Mu­sik – und wenn man sie klas­si­fi­zie­ren will, so teilt man sie ein in erns­te und hei­te­re Me­lo­di­en, Tän­ze oder Cho­rä­le, Lie­bes­lie­der oder Cle­men­tis So­na­ten, wel­che sie ehe­dem so­gar ge­hasst hat und nur aus Pf­licht­ge­fühl übte, weil zu der Bil­dung ei­ner jun­gen Dame nun ein­mal »das biss­chen Mu­sik für den Haus­be­darf« ge­hört!

Jetzt er­schie­nen ihr plötz­lich auch die­se So­na­ten und alle ih­nen vor­aus­ge­gan­ge­nen Fin­ger­übun­gen als et­was Hö­he­res, Bes­se­res, als ein klei­ner, gold­hel­ler Strahl, wel­cher durch das Schlüs­sel­loch des Kunst­him­mels fällt.

Als die Ta­fel auf­ge­ho­ben wur­de, glüh­ten ihre Wan­gen, ob­wohl sie so gut wie kei­nen Wein ge­trun­ken, und sie um­schloss die wei­che, schlan­ke Künst­ler­hand, wel­che so heiß und ner­vös die ihre fass­te, mit fes­tem Druck. Da flog sein Blick wie in ehr­li­cher Be­wun­de­rung über ihre blü­hen­de, kraft­vol­le Ge­stalt.

»Welch eine Wal­kü­re sind Sie, mein gnä­di­ges Fräu­lein!« lä­chel­te er mit ei­nem fei­nen Schim­mer der Weh­mut, »und wie schön muss es sein, über die Ur­kraft solch ei­ner Wo­t­an­s­toch­ter zu ver­fü­gen! Was wür­den Ih­nen die paar schlaflo­sen Näch­te, wel­che mir am Mark des Le­bens zeh­ren, be­deu­ten?«

»Schla­fen Sie so we­nig und so schlecht?«

Wie­der zuck­te ein Lä­cheln um sei­ne Lip­pen, und das mar­mor­b­las­se Ge­sicht mit den schma­len, durch­geis­te­ten Schlä­fen lehn­te sich einen Au­gen­blick wie müde in den Na­cken zu­rück.

»Wer zu viel träumt, ver­säumt in der Re­gel den Schlaf dar­über!« scherz­te er. »Es ist selt­sam, dass alle blei­chen Schat­ten, alle Mu­sen und Ge­ni­en ihre Be­su­che zur Nacht­zeit ab­stat­ten! Welch ein Sin­gen und Klin­gen und Den­ken und Rei­men ist’s dann hin­ter solch ei­ner Künst­lerstirn! Der Him­mel steht of­fen, und die Erde mit ih­ren schwü­len Ris­sen und schläf­ri­gen Mohn­blu­men ist ver­ges­sen! Ja, wenn man auch die Ner­ven und Kräf­te ei­nes Got­tes hät­te, um schon hier in die­ser Welt ein Gott zu sein!«

Der Haus­herr war hin­zu­ge­tre­ten und leg­te la­chend die Hand auf die Schul­ter des Spre­chers. »Die ha­ben wir aber lei­der nicht, und du, mein lie­ber Hel­mut, am we­nigs­ten! Sie müs­sen näm­lich wis­sen, mein gnä­di­ges Fräu­lein, dass sich un­ser künf­ti­ger Klas­si­ker hier in un­ver­an­wort­li­cher Wei­se über­ar­bei­tet hat, und dar­um habe ich ihn mir hier­her un­ter mei­ne ärzt­li­che Kon­trol­le ge­holt, um ihm die ›schläf­ri­gen Mohn­blu­men‹ und ihr gif­ti­ges Säft­lein ab­zu­ge­wöh­nen! Kom­po­niert wird jetzt ein Vier­tel­jahr lang gar nicht; der Er­folg der ers­ten Oper war so bom­ben­mä­ßig, dass er noch für eine lan­ge Zeit an­hält!«

»Das ist ein Mord, On­kel! Ich kann ohne Mu­sik nicht le­ben!«

»Mu­sik sollst du schon ha­ben, mein Jun­ge! Wir grün­den ein stil­vol­les Kränz­chen und spie­len Skat! Da liegt noch Me­lo­die drin! Und nun sei­en Sie mir nicht böse, mein gnä­di­ges Fräu­lein, wenn ich Ih­nen Ihren Schlep­pen­trä­ger für ein Weil­chen ent­füh­re! Die Frau Ge­heim­rat will in nächs­ter Zeit nach Men­to­ne rei­sen, und da un­ser Künst­ler von Got­tes Gna­den den ver­gan­ge­nen Win­ter zum größ­ten Teil dort zu­ge­bracht hat, soll er Rap­port er­stat­ten! – Also vor­wärts, mein Jun­ge, ma­che der gnä­di­gen Frau mal tüch­tig den Mund wäs­se­rig!«

Er ging, und Mal­wi­ne setz­te sich ih­rer Ge­wohn­heit ge­mäß zu den äl­te­ren Da­men und woll­te wie ge­wöhn­lich über But­ter- und Eier­prei­se, über Spi­nat und Grün­kohl spre­chen, aber selt­sam, es war, als ob all ihre Ge­dan­ken ei­nem Vo­gel­schwarm gli­chen, wel­cher lan­ge Zeit still und zahm auf stau­bi­ger Ten­ne die Körn­lein ge­pickt, und mit ei­nem­mal, jäh auf­ge­scheucht, hin­aus­ge­flat­tert sei, – zu­erst scheu und licht­ge­blen­det, bald aber zu­ver­sicht­lich einen hö­he­ren Flug neh­mend, weit hin­aus und hoch em­por in lich­te, son­ni­ge Hel­le, da, wo die Erde tief drun­ten ver­schwin­det und der Him­mel an­fängt!

Sie war zer­streut, still und ein­sil­big, und ihr Blick flog wie ma­gne­tisch an­ge­zo­gen hin­über nach dem an­de­ren Sa­lon, wo sie durch die ge­öff­ne­te Tür just den jun­gen Kom­po­nis­ten ne­ben dem Ses­sel der Ge­heim­rä­tin ste­hen sah. Er sprach wie­der leb­haft und be­geis­tert, er schi­en die Wun­der ei­ner war­men, süd­li­chen Welt mit Wor­ten zu ma­len, sei­ne Au­gen glänz­ten und sein Blick be­kam et­was Sehn­suchts­vol­les, als flö­ge er zu­rück zu den duf­ten­den Oran­gen und dem blau schim­mern­den Meer.

Wie selt­sam war dies al­les für Mal­wi­ne? Sie hat­te auch Rei­sen ge­macht, auch manch Schö­nes ge­se­hen und an­ge­staunt, aber ein solch schwär­me­ri­sches Ent­zücken war ihr nie in den Sinn ge­kom­men, und zu­rück­ge­sehnt nach ir­gend­ei­nem schö­nen Er­den­fleck­chen hat­te sie sich auch nicht. Wa­rum das? Es gab Ar­beit, Pf­lich­ten und Pla­cke­rei über­all. Jetzt mit ei­nem­mal war es ihr zu Sinn, als habe sie viel, sehr viel ver­säumt, als habe sie jene Zei­ten nur halb durch­lebt. Sie hör­te nicht den Stoß­seuf­zer ih­rer Nach­ba­rin über die so un­er­schwing­lich ho­hen Koh­len­prei­se, sie starr­te wie geis­tes­ab­we­send in den Ne­ben­sa­lon, wo ein jun­ges Mäd­chen das Kla­vier öff­ne­te und als­dann mit un­wi­der­steh­li­chen Bli­cken und Wor­ten zu dem Kom­po­nis­ten trat.

Die Ma­jo­rin, wel­che von Fräu­lein von Ries kei­ne Ant­wort er­hal­ten, war ih­rem Blick ge­folgt. »Ah, das ist schön!« sag­te sie und be­weg­te den Fä­cher be­hag­lich auf und nie­der, »Dok­tor No­val­la soll uns et­was zum bes­ten ge­ben! Hof­fent­lich aus sei­ner neu­en Oper. Man hört jetzt so viel da­von spre­chen und möch­te doch auch ein we­nig über die Mu­sik mit­re­den kön­nen! Vor­treff­lich! Er scheint sich er­wei­chen zu las­sen. Sei­ne Tan­te sag­te mir vor­hin, er sän­ge so schön, sol­le es aber nicht mehr, da sei­ne Ge­sund­heit so an­ge­grif­fen sei. Na, das sieht man auf zehn Schritt weit, dass der arme Mensch in kei­ner fes­ten Haut steckt. Wie Wachs so bleich und die Au­gen wie in per­ma­nen­tem Fie­ber leuch­tend! Es ist selt­sam, dass die Mu­si­ker meis­tens an ih­ren Schöp­fun­gen zu­grun­de ge­hen. Wenn ich den­ke, der arme Bi­zet! So jung und so ta­lent­voll, und doch ge­stor­ben! Wis­sen Sie, lie­bes Fräu­lein Mal­wi­ne, ich muss bei No­val­la im­mer an die­sen Bi­zet den­ken! Die Mu­sik soll ja auch so viel Glei­ches ha­ben, – klin­gen­des Herz­blut! Du lie­ber Gott, es wäre schreck­lich, wenn der Dok­tor mit sei­nem ers­ten Werk auch schon sein Schwa­nen­lied ge­sun­gen hät­te! – Noch hof­fe ich, dass un­ser wa­cke­rer Dok­tor hier ihn wie­der hoch päp­pelt, – es war die höchs­te Zeit, dass er in sei­ne Be­hand­lung kam!«

Mal­wi­ne hat­te die Spre­che­rin mit weit of­fe­nen Au­gen an­ge­st­arrt.

Es war ihr plötz­lich, als grif­fe eine kal­te Hand nach ih­rem Her­zen.

Sie nick­te nur und sag­te lei­se: »Das wäre schreck­lich!«

Im Ne­ben­zim­mer hat­te der jun­ge Kom­po­nist wäh­rend­des­sen die Kla­vier­lich­ter wie­der aus­ge­löscht und den Stoß No­ten, wel­chen sei­ne klei­ne Cou­si­ne dienst­eif­rig her­an­ge­schleppt hat­te, auf einen Sei­ten­tisch ge­scho­ben.

»Ich kann’s aus­wen­dig und fin­de die No­ten auch bei Nacht!« scherz­te er.

»Aus dei­ner Oper, Hel­mut! Ach bit­te, die Ro­man­ze und das Lie­bes­mo­tiv!«

Er nick­te. »Wenn die Herr­schaf­ten für­lieb neh­men wol­len!«

And dann neig­te er das blei­che, schma­le Ant­litz einen Au­gen­blick tief zur Brust und sei­ne Hän­de glit­ten lei­se prä­lu­die­rend über die Tas­ten.

»Man hört es hier bes­ser, als da drin­nen!« sag­te die Ma­jo­rin und lehn­te sich wohl­ge­fäl­lig in den Ses­sel zu­rück, Mal­wi­ne aber er­hob sich und trat, wie von un­sicht­ba­ren Ge­wal­ten ge­trie­ben, in die Tür, zog laut­los einen Stuhl her­an und setz­te sich nahe dem Kla­vier nie­der.

Ein schnel­ler Blick aus den dunklen Au­gen traf sie, – No­val­la lä­chel­te ihr zu, und das sonst so erns­te, nüch­ter­ne und gleich­gül­ti­ge Mäd­chen von sechs­und­zwan­zig Jah­ren fühl­te plötz­lich, wie ihr Herz schlug – schnel­ler und schnel­ler, so schnell, wie noch nie zu­vor.

Dann klan­gen die sü­ßen, wun­der­hol­den Me­lo­di­en, eine Flut von zau­be­ri­schen Tö­nen durch das Zim­mer, lei­se wie Blatt­ge­flüs­ter, an­schwel­lend wie Mee­res­wo­gen und lei­den­schaft­lich da­hin­brau­send wie der Sturm­wind, wel­cher den Lenz auf sei­nen Schwin­gen trägt.

Mal­wi­ne reg­te sich nicht, sie lausch­te wie im Traum, und ihr Blick hing an dem blas­sen Ge­sicht des Künst­lers. Die Er­re­gung spie­gel­te sich dar­in, warm und rot leuch­te­te es durch die wachs­far­be­nen Schlä­fen, die Au­gen schie­nen zu wach­sen, die lo­cki­gen Haa­re fie­len wirr und ge­ni­al im­mer tiefer in die Stirn.

»Klin­gen­des Herz­blut!« zog es durch Mal­wi­nes Sinn; – ja, das ist klin­gen­des Herz­blut…

Und dann sang er, mit wei­cher, mä­ßig lau­ter, wun­der­sam me­lo­di­scher Stim­me. Ei­gen­ar­ti­ge Wor­te und ei­gen­ar­ti­ge Töne, eine Welt voll frem­den, lei­den­schaft­li­chen Emp­fin­dens, wie es in das graue, schwer­fäl­li­ge All­tags­le­ben Mal­wi­nes noch nie ge­drun­gen war.

»Ver­stehst du mich, Weib, Kannst du’s be­grei­fen, Was flam­men­auf­lo­dernd Und göt­ter­ge­wal­tig Die Brust mir durch­zieht?…«

Sei­ne Stim­me schwoll an, wie ein Feu­er­strom floss sie da­hin in die Her­zen der Zu­hö­rer, und sei­ne dunklen Wim­pern ho­ben sich aber­mals und ein Blick traf Mal­wi­ne – o Herr des Him­mels, welch ein Blick!

»Ver­stehst du mich, Weib?«

Sprach er zu ihr? – Al­lein zu ihr?

Wie ein Zit­tern geht es plötz­lich durch ihre Glie­der, sie fühlt, wie ihr al­les Blut sie­dend in die Wan­gen steigt, – ja, ja, sie ver­steht ihn! Und wenn sie sei­ne gan­ze, vol­le Ge­nia­li­tät noch nicht fas­sen und be­grei­fen kann, so wird sie es ler­nen, das weiß, das fühlt sie.

»To­des­schat­ten um­wal­len mein Haupt – Schon reißt in den Hän­den der Nor­ne der Fa­den, Ein letz­ter Puls­schlag braust mir zum Her­zen – Lie­be er­füllt ihn, Lie­be, du Hohe, du Rei­ne, zu dir!«

Welch ein Aus­druck der Stim­me, welch eine herz­be­zwin­gen­de Ge­walt zau­be­ri­scher Har­mo­ni­en!

»To­des­schat­ten um­wal­len mein Haupt …«

Mal­wi­ne schau­dert zu­sam­men. Ist dies wahr­lich ein Schwa­nen­ge­sang? Ihr deucht es sel­ber, dass sei­ne See­le ihr tiefs­tes, reichs­tes, in­nigs­tes Le­ben in die­sen Klän­gen aus­strömt.

»Klin­gen­des Herz­blut …« – die Wor­te hal­len ihr schrill und to­des­weh durch den Sinn.

Ein Bei­falls­sturm um­braust den Sän­ger-Kom­po­nis­ten nach dem se­kun­den­lan­gen atem­lo­sen Schwei­gen, wel­ches sei­nem Vor­trag folg­te.

Auch Mal­wi­ne hat ihm ge­dankt – aber erst spät, ganz zu­letzt, als er zu ihr trat und frag­te: »Sind auch Sie zu­frie­den mit mir?«

Was sie auf sei­ne scher­zen­den Wor­te er­wi­dert, weiß sie nicht. Aber er hat es wohl in ih­ren Au­gen ge­le­sen, wie sie es mein­te, denn er blick­te lan­ge und for­schend hin­ein.

»Ich möch­te Ih­nen gern ein­mal ein paar Par­ti­en mei­nes neues­ten Wer­kes, an wel­chem ich jetzt ar­bei­te, vor­spie­len, mein gnä­di­ges Fräu­lein. Ha­ben Sie wohl Zeit für einen fah­ren­den Sän­ger?«

Sie ver­si­cher­te ihn, dass er im Hau­se ih­rer El­tern stets will­kom­men sein wer­de, und dass er ihr kei­ne grö­ße­re Freu­de be­rei­ten kön­ne, als durch die Er­fül­lung die­ses Vor­ha­bens!

Er dank­te sicht­lich er­freut und drück­te ihre Hand.

»Ich wer­de kom­men!«

Dann um­ring­ten ihn die al­ten Da­men aus dem Ne­ben­zim­mer, man plau­der­te noch kur­ze Zeit, dann ver­ab­schie­de­te man sich. Zum ers­ten Mal schied Mal­wi­ne un­gern aus ei­ner Ge­sell­schaft.

II.

Das war eine wun­der­li­che Nacht.

Mal­wi­ne wuss­te sich nicht zu ent­sin­nen, dass sie je­mals im Le­ben eine Nacht durch­wacht hat­te, kaum wäh­rend der we­ni­gen Kin­der­krank­hei­ten, wel­che sie durch­ge­macht.

»Mal­wi­ne schläft sich im­mer wie­der ge­sund!« hat­te die Mut­ter oft ge­sagt und voll Stolz manch An­ek­döt­chen über den ge­sun­den Schlaf ih­rer Toch­ter er­zählt, – und heu­te?

Mit weit of­fe­nen Au­gen lag sie in den Kis­sen und war­te­te auf die Mü­dig­keit, wel­che nicht kom­men woll­te.

Vor ih­ren Ohren summ­te es wie Mu­sik; all die Me­lo­di­en, wel­che sie am Abend ge­hört, wa­ren wun­der­hol­de ge­flü­gel­te Ge­ni­en ge­wor­den, die tanz­ten einen fan­tas­ti­schen Rei­gen um ihr La­ger, die leg­ten ihre glüh­hei­ßen Händ­chen auf ihre Stirn und ihr Herz und blick­ten sie mit dunklen Au­gen an, lä­chelnd, mit­lei­dig, se­lig und trau­rig zu­gleich.

Eine Stim­me aber zog wie ein Echo voll traum­haf­ter Süße durch die stil­le Nacht, die sang im­mer nur die­sel­ben Wor­te, weh und kla­gend wie die Seuf­zer ei­nes Ster­ben­den:

»To­des­schat­ten um­wal­len mein Haupt …«

Und dann ging es wie ein Schau­ern und Frös­teln durch die See­le des jun­gen Mäd­chens, ob­wohl ihre Wan­gen wie im Fie­ber brann­ten.

Ob sie auch die Au­gen schloss, sie sah doch ein blei­ches, sin­nen­des, schier ver­klär­tes An­ge­sicht, wel­ches sich ihr zu­wen­det und mit un­be­schreib­li­chem Blick in ihre Au­gen voll schwär­me­ri­scher In­nig­keit singt:

»Ver­stehst du mich, Weib, Kannst du’s be­grei­fen. Was flam­men­auf­lo­dernd Und göt­ter­ge­wal­tig Die Brust mir durch­glüht?«

Nein, noch konn­te sie es nicht be­grei­fen!

Sie stand wie vor ei­nem Rät­sel.

Die Män­ner, wel­che bis­her ih­ren Weg ge­kreuzt, die ver­stand und be­griff sie, denn es wa­ren zu­meist Sol­da­ten wie ihr Va­ter, – und sie gli­chen ihm.

Ver­kör­per­te Pro­sa, prak­tisch, re­ell den­kend bis in die tiefs­ten Her­zens­fa­sern hin­ein, edel, brav, ker­nig, furcht­los und schroff, – hart und an­spruchs­voll ge­gen sich selbst und ge­gen an­de­re, – Men­schen, vor de­ren schar­fem und kla­rem Blick alle Phan­to­me zer­ran­nen, die kein Sin­nen und Träu­men, son­dern nur Ta­ten und nüch­ter­ne Ar­beit kann­ten, die kei­ne lieb­li­che Muse mit Ro­sen­lip­pen ge­küsst, son­dern nur das ge­har­nisch­te, eher­ne Weib, die Pf­licht, mit rau­er Hand ge­bie­te­risch durch das Le­ben führ­te.

Welch ein Un­ter­schied zwi­schen ih­rem Va­ter und Hel­mut No­val­la, dem idea­len, schwär­me­ri­schen Künst­ler!

Mal­wi­ne war es, als sei plötz­lich ein dich­ter Ne­bel vor ih­ren Au­gen zer­ron­nen.

Al­les, was sie un­be­wusst ent­behrt und er­sehnt hat­te, was sie an dem Va­ter und den an­de­ren ver­miss­te, ohne sich des­sen klar zu wer­den, das fand sie in dem jun­gen Kom­po­nis­ten, und weil es gar so neu und fremd für sie war, und weil es ih­rem ei­ge­nen We­sen und Cha­rak­ter so fern stand wie die Nacht dem Tage, – dar­um mach­te es einen tie­fen, un­aus­lösch­li­chen Ein­druck auf sie.

Mal­wi­ne stand ur­plötz­lich vor ih­rem Schick­sal, die­sem lä­cheln­den Weib mit den Son­nen­au­gen, wel­ches an kei­nem Sterb­li­chen vor­über­geht, wel­ches auch den Ver­bor­gens­ten fin­det und mit sei­nem wei­ßen Fin­ger zeich­net, »und näh­me er selbst Flü­gel der Mor­gen­rö­te!«

Der Sol­dat in Mäd­chen­klei­dern, die nüch­ter­ne, re­so­lu­te und re­si­gnier­te Mal­wi­ne hat­te die Lie­be nie ge­sucht und nie be­gehrt, dar­um trat sie ihr un­ge­ru­fen in den Weg und be­rühr­te er­bar­mungs­los mit küh­len, erns­ten Lip­pen ihre Stirn.

Was ihr an dem frem­den Künst­ler so be­zau­bernd und hin­rei­ßend er­schi­en, das süße Schmach­ten und Schwär­men, das war ihr sel­ber ganz un­mög­lich. Und dar­um stand sie am an­de­ren Mor­gen eben­so wie an al­len an­de­ren Ta­gen auf ih­rem »Pos­ten« bei der Ar­beit, stärk­te die Wä­sche und führ­te den Bol­zen, und wer in ihr ru­hi­ges, un­ver­än­dert erns­tes Ge­sicht schau­te, der ahn­te nicht, dass die­ses kah­le und duft­lo­se Le­bens­bäum­chen über Nacht eine Knos­pe ge­trie­ben, frisch und schwel­lend, be­reit, der ers­ten und ein­zi­gen Blü­te die Hül­le zu spren­gen.

Stun­de um Stun­de ver­ging.

Wie­der und im­mer wie­der husch­te Mal­wi­nes Blick durch das Sou­ter­rain­fens­ter nach der Stra­ße em­por, – aber sie ver­gaß nichts und ver­säum­te nichts, – und wenn auch für ihr Herz und all sei­ne scheu­en, heim­li­chen Ge­dan­ken ein großer, hei­li­ger Sab­bat an­ge­bro­chen war, hier im Hau­se war es Werk­tag wie stets zu­vor.

Ein leich­ter, schnel­ler, et­was un­re­gel­mä­ßi­ger Schritt auf den Stein­plat­ten drau­ßen, – die Glo­cke an der Haus­tür tönt, und Mal­wi­ne streicht, tief auf­at­mend, mit den schlan­ken, kräf­tig-großen Hän­den über das glatt ge­schei­tel­te Haar und sagt zu dem Haus­mäd­chen:

»Öff­nen Sie, und wenn es Be­such ist, füh­ren Sie ihn in den Sa­lon; ich kom­me so­gleich.«

Sie sagt es so ru­hig und ge­bie­tend wie stets, nicht eine Wim­per zuckt in dem voll­wan­gi­gen Ant­litz, nur die Röte ver­tieft sich um einen Schein, und die Fin­ger, wel­che die Schür­ze ab­bin­den, grei­fen nicht so fest zu wie sonst.

»Herr Dok­tor No­val­la möch­te sei­ne Auf­war­tung ma­chen; – ich bat ihn, ein­zu­tre­ten.«

Dore leg­te die Vi­si­ten­kar­te auf das Plätt­brett nie­der und wand­te sich gleich­gül­tig dem Korb mit der ein­ge­spreng­ten Wä­sche wie­der zu, – sie war es nicht ge­wohnt, dass ihre Ge­bie­te­rin sich mit ihr des län­ge­ren un­ter­hielt.

»Mel­den Sie den Be­such bei dem Herrn Oberst und der gnä­di­gen Frau an!«

»Die Herr­schaf­ten sind vor ein paar Mi­nu­ten in die Stadt ge­gan­gen.«

»So, dann be­nach­rich­ti­gen Sie gnä­di­ge Frau so­fort, wenn sie zu­rück­kommt.«

Zum ers­ten Mal im Le­ben sag­te Mal­wi­ne et­was Über­flüs­si­ges, zum ers­ten Mal emp­fand sie eine Ver­le­gen­heit, wel­che sie nicht zei­gen woll­te.

Has­tig wand­te sie sich um und schritt die Stein­trep­pe em­por, nach dem Erd­ge­schoss.

Der Ge­dan­ke, noch einen Blick in den Spie­gel zu wer­fen, durch ir­gend­ei­ne klei­ne Zutat ih­ren äu­ße­ren Men­schen zu ver­schö­nen, kam ihr gar nicht in den Sinn. Und doch schlug ihr das Herz, als wol­le es zer­sprin­gen.

Sie trat in den Sa­lon. Dok­tor No­val­la wand­te sich has­tig von dem Kla­vier zu­rück. Er hat­te einen Stoß No­ten, wel­cher seit­lich des In­stru­ments auf ei­ner klei­nen Eta­ge­re lag, durch­blät­tert.

Lä­chelnd hielt er ein ab­ge­grif­fe­nes klei­nes Heft em­por. »Die­se Etü­den und So­na­ten ver­ra­ten mir, dass der hei­li­ge Cle­men­ti auch an Ih­nen nicht spur­los vor­über­ge­gan­gen ist!« scherz­te er und drück­te ihr fest und herz­lich die Hand. »Das muss jetzt an­ders wer­den. Sie dür­fen nur noch No­val­la spie­len!« und dann setz­te er sich in sei­ner ner­vös-has­ti­gen Wei­se auf den nächs­ten Ses­sel nie­der und nick­te ihr bei­nah weh­mü­tig zu: »Ja, da bin ich nun, mein gnä­di­ges Fräu­lein, ein Geist, wel­chen Sie ge­ru­fen ha­ben! Nun se­hen Sie zu, wie Sie mich wie­der los­wer­den!«

Sei­ne hei­te­re Art wirk­te sehr an­ge­nehm auf Mal­wi­nes ei­gen­ar­ti­ge See­len­stim­mung, und wenn es ihr auch nicht mög­lich war, auf sei­nen scher­zen­den Ton ein­zu­ge­hen – der Hu­mor fehl­te ihr gänz­lich, – so war doch ein harm­lo­ses Ge­spräch an­ge­regt, wel­ches sich bald leb­haft und in­ter­essant ge­stal­te­te.

Fräu­lein von Ries hat­te dem jun­gen Kom­po­nis­ten schon am gest­ri­gen Abend er­zählt, dass der Bru­der ih­rer Mut­ter Ge­ne­ral­in­ten­dant des Kö­nig­li­chen Thea­ters zu X. sei, und dass sie wäh­rend län­ge­rer Be­su­che da­selbst Ge­le­gen­heit ge­habt habe, vie­le und gute Mu­sik, so­wie vie­le der be­deu­tends­ten Sän­ger und Sän­ge­rin­nen zu hö­ren.

Die­ses The­ma schi­en No­val­la so­gleich in­ter­es­siert zu ha­ben. Auch jetzt lenk­te er das Ge­spräch dar­auf zu­rück, nach­dem er sich sehr höf­lich nach Frau von Ries er­kun­digt und Mal­wi­ne die El­tern bei ihm ent­schul­digt hat­te mit der Ver­si­che­rung, dass die­sel­ben wohl bal­digst zu­rück­keh­ren wür­den. And nun muss­te sie wie­der von ih­rem Be­such bei dem On­kel er­zäh­len, von ih­ren in­ter­essan­ten Be­kannt­schaf­ten, von den Auf­füh­run­gen ein­zel­ner Wer­ke.

Mal­wi­ne hat­te zu­meist mit viel nüch­ter­ner Sach­lich­keit von die­sen Er­leb­nis­sen ge­spro­chen, an­er­ken­nend und be­frie­digt, doch ohne die min­des­te Be­geis­te­rung oder wär­me­res Emp­fin­den, denn das Thea­ter war ihr stets ein fern­lie­gen­der Be­griff ge­we­sen, auf wel­chen ihr Va­ter nicht ein­mal gut zu spre­chen war.

»Narr­heit und Fir­le­fanz« nann­te er die dra­ma­ti­sche Kunst, wel­che in ih­rer mo­der­nen Rich­tung nur eine po­li­zei­wid­rig laxe Moral pre­di­ge, die Sit­ten ver­der­be und un­er­fah­re­nen Frau­en­zim­mern ein bö­ses Bei­spiel gebe! Der Leicht­sinn sei oh­ne­hin groß ge­nug in der Welt, man brau­che ihn wahr­lich nicht noch ex­tra mit elek­tri­schem Licht zu be­leuch­ten!

Mal­wi­ne hat­te zu sol­cher Kri­tik nur ganz ein­ver­stan­den ge­nickt und hin­zu­ge­fügt: »Seit un­se­re Han­ne ihre paar Gro­schen je­den Sonn­tag ins Thea­ter trägt, ist sie für die Kü­chen­ar­beit un­brauch­bar ge­wor­den! Das Geld wird ver­plem­pert und der Kopf ver­dreht – und Han­ne ist nicht das ein­zi­ge Op­fer des Thea­ter­teu­fels!«

Dies al­les schi­en Mal­wi­ne jetzt völ­lig ver­ges­sen zu ha­ben. Die so schwär­me­risch leuch­ten­den Au­gen in dem blas­sen Ge­sicht gli­chen Zau­ber­seen, in wel­chen al­les ret­tungs­los ver­sank, was ehe­mals die Grund­stei­ne ih­rer An­sich­ten ge­bil­det. Sie hat­te viel und geist­reich in dem Hau­se des On­kels über Mu­sik re­den hö­ren.

Da­mals hat­te sie nur aus Höf­lich­keit zu­ge­hört, jetzt mach­te sie plötz­lich Ge­brauch von die­sen Kennt­nis­sen. Sie brüs­te­te sich durch­aus nicht da­mit, als sei­en es ihre ei­ge­nen Ide­en, dazu war sie viel zu ehr­lich und »pflicht­ge­treu«, aber sie er­zähl­te von den An­schau­un­gen und Mei­nun­gen die­ses oder je­nes Ka­pell­meis­ters, von den Ei­gen­ar­ten der Sän­ger, wel­che oft an wun­der­li­chen Klei­nig­kei­ten hän­gen, soll ih­nen eine Rol­le be­son­ders zu­sa­gen.

Und No­val­la hör­te voll bren­nen­den In­ter­es­ses zu, zeig­te es in sei­ner leb­haf­ten und ge­ni­al-un­ge­nier­ten Wei­se so ehr­lich, wie ihn die Un­ter­hal­tung fes­se­le und an­mu­te, dass sich die Röte auf Mal­wi­nes Wan­gen im­mer mehr ver­tief­te und ihre Spra­che be­redt und ihre Au­gen glän­zend wur­den wie nie vor­her. Man hat­te sie ja nie im Le­ben durch viel In­ter­es­se aus­ge­zeich­net, und sie hat­te we­der Teil­nah­me ver­langt noch son­der­lich er­zeigt, sie glaub­te viel zu ver­nünf­tig zu sein, um nach Lie­bens­wür­dig­kei­ten der Män­ner zu fra­gen, sie leg­te kei­nen Wert dar­auf und ent­behr­te sie nicht.

Aber in je­dem Frau­en­her­zen, und wenn es das kühls­te und re­si­gnier­tes­te ist, schläft un­ter al­ler Asche der Gleich­gül­tig­keit doch ein win­zi­ges Sa­men­körn­lein, die Ei­tel­keit, wel­ches nur ein ein­zi­ger Son­nen­strahl zu tref­fen, ein ein­zi­ger Tau­trop­fen zu net­zen braucht, um es trei­ben, grü­nen und blü­hen zu las­sen, oft als ers­tes Mai­en­reis­lein, wel­ches sich breit macht im Her­zen, wächst und wächst und es mit der Zeit zum größ­ten Tei­le aus­füllt, manch­mal aber auch als Jo­han­nis­trieb, wel­cher ein­mal nur in spä­ter Zeit Knos­pen an­setzt, um von bal­di­gen Herbst­frös­ten zu Tode ge­fro­ren zu wer­den.

Wal­wi­ne ward sich kaum klar über das glück­se­li­ge Ge­fühl, einen Mann durch ihre Un­ter­hal­tung zu in­ter­es­sie­ren, es hat­te sich wie zar­te, ro­sen­ro­te Wölk­lein über all ihr Den­ken und Sin­nen ge­brei­tet, sonst hät­te ihr sonst so schar­fer Ver­stand wohl bald be­merkt, wie es nur der Ge­ne­ral­in­ten­dant und sei­ne für einen Kom­po­nis­ten so ein­fluss­rei­che Stel­lung war, wel­cher No­val­las Auf­merk­sam­keit fes­sel­te.

Mal­wi­ne aber blick­te in die dunklen, träu­me­ri­schen Au­gen, lausch­te der wei­chen Män­ner­stim­me mit dem schwer­mü­ti­gen Klang, und ohne dass sie es sel­ber merk­te, spann der süße Zau­ber ei­ner ers­ten, tie­fen Nei­gung die gol­de­nen Fä­den um ihr Herz.

Es dau­er­te lan­ge, bis Herr und Frau von Ries heim­kehr­ten, aber den Plau­dern­den war die Zeit ver­flo­gen wie ein Traum, und als No­val­la sich end­lich ver­ab­schie­de­te, hat­te er auch auf Mal­wi­nes Mut­ter einen recht sym­pa­thi­schen Ein­druck ge­macht, ob­wohl sie sich mit herb ge­schlos­se­nen Lip­pen an ih­ren Näh­tisch setz­te und über­leg­te: »Ein net­ter Nensch, – auch ein recht hüb­scher, in­ter­essan­ter Mann. Aber – du lie­ber Gott! – Er scheint sich gut mit Mal­wi­ne zu un­ter­hal­ten und um ih­ret­wil­len ge­kom­men zu sein, – na, und dann muss ihm ent­schie­den das Bes­te zum Frei­er, die nö­ti­gen Du­ka­ten, feh­len! Wie soll­te zu uns ein sol­ches Glück kom­men? Uns geht ja al­les quer im Le­ben!«

Der Oberst äu­ßer­te sich nicht über den Be­such, wel­cher ihm si­cher sehr gleich­gül­tig ge­we­sen.

Er brumm­te et­was über un­vor­schrifts­mä­ßig lan­ge Haa­re, zu viel Weich­lich­keit und das ver­damm­te Par­füm im Schnupf­tuch – und zog sich in sein Zim­mer zu­rück, wo die Mit­tags­zei­tung auf ihn war­te­te.

Mal­wi­ne aber ging wie­der schwei­gend an ihre Ar­beit und rühr­te em­sig die Hän­de. Über ih­rem sonst so küh­len Ant­litz lag et­was wie eine stil­le Glück­se­lig­keit, ein frem­der, mil­der Glanz, wel­cher es ver­klär­te. Das be­merk­te aber nie­mand, denn das gnä­di­ge Fräu­lein war kei­nem Men­schen je­mals ver­än­dert er­schie­nen, dar­um hat­te man es auf­ge­ge­ben, sie zu be­ob­ach­ten.

Oberst von Ries war in al­len Din­gen kor­rekt; er gab nach zwei Ta­gen bei sei­nem Haus­arzt eine Kar­te für Dok­tor No­val­la, wel­cher sich just auf der Pro­me­na­de be­fand, ab.

Dann ver­gin­gen aber­mals zwei Tage, und Mal­wi­nes Mut­ter über­leg­te ge­ra­de, ob und wann sie den Kom­po­nis­ten ein­la­den müss­ten, und ob es vor­teil­haf­ter sei, kal­tes oder war­mes Abend­brot zu ge­ben, als ihre Toch­ter ei­li­ger als sonst in das Zim­mer trat und der Mama schwei­gend einen Brief hin­hielt.

»Was ist denn los?« frag­te Frau von Ries miss­mu­tig. »Du siehst, dass ich den Vo­gel­kä­fig neu bron­zie­re und das Pa­pier nicht an­fas­sen kann!«

»Eine sehr lie­bens­wür­di­ge Ein­la­dung von Sa­ni­täts­rats für heu­te Abend. Es soll mu­si­ziert wer­den, und fra­gen sie an, ob es mir Freu­de ma­chen wür­de, neue Kom­po­si­tio­nen No­val­las ken­nen­zu­ler­nen.«

»Willst du hin? – Mei­net­we­gen.«

Die Frau Oberst pin­sel­te so eif­rig an ih­rem Git­ter, dass sie gar nicht merk­te, wie ver­än­dert die Stim­me ih­rer Toch­ter klang.

Wie soll­te sie auch! Das hat­te sie ja noch nie im Le­ben ge­tan, wie soll­te sie ge­ra­de jetzt be­ben und sto­cken?

Ach nein, sol­che Beo­b­ach­tun­gen hat­te Frau von Ries längst auf­ge­ge­ben.

Sie sah auch nicht die leuch­ten­den Au­gen Mal­wi­nes, sie hör­te nur: »So wer­de ich zu­sa­gen!« – nick­te und tupf­te und pin­sel­te wei­ter an dem al­ters­schwa­chen Vo­gel­haus.

Am Abend zog sich Mal­wi­ne schon frü­her als sonst zu­rück, um sich an­zu­zie­hen.

Ehe­mals hat­te der Spie­gel nur als un­nüt­ze Wand­de­ko­ra­ti­on im Zim­mer ge­han­gen, heu­te wur­den so­gar noch ex­tra zwei Lich­ter da­vor an­ge­steckt und das ge­schlif­fe­ne Glas mit dem Staub­tuch vor­her noch ein­mal blitz­blank ge­rie­ben.

Fräu­lein von Ries hielt so­gar se­kun­den­lang die Brenn­sche­re in der Hand, leg­te sie aber er­rö­tend wie­der nie­der und blick­te sich ganz ver­le­gen um, ob auch nie­mand Zeu­ge die­ses un­sin­ni­gen Vor­ha­bens ge­we­sen sei.

Die Haa­re bren­nen! Sie hät­te es wirk­lich ganz gern ge­tan, denn die Mut­ter hat­te ein­mal ge­sagt: »Die Ball­fri­sur mit dem wel­li­gen Schei­tel steht dir so gut, Mal­wi­ne, sie macht dich um fünf Jah­re jün­ger!«

Wie gern möch­te sie heu­te recht jung und hübsch aus­se­hen, aber was soll­ten die El­tern sa­gen und was wür­den die Men­schen den­ken! Sie glaub­ten wo­mög­lich, sie put­ze sich für …

Mal­wi­ne hielt ganz er­schro­cken im Den­ken inne, er­rö­te­te noch mehr und leg­te das Ei­sen has­tig in die Schub­la­de zu­rück.

Um Got­tes wil­len nicht auf­fal­len!

Die­ser Ge­dan­ke ist ihr seit je­her furcht­bar ge­we­sen, er pass­te so gar nicht zu den pein­lich kor­rek­ten An­sich­ten, in wel­chen sie er­zo­gen war.

Und warum auch auf­fal­len? Es war ja so gar nichts Be­son­de­res oder Hüb­sches an ihr zu se­hen, und sie war bis­her froh dar­über ge­we­sen, wenn sie recht un­be­ach­tet und un­be­merkt ih­ren ge­ra­den, ebe­nen Le­bens­weg ge­hen konn­te.

Welch eine Ver­än­de­rung war plötz­lich mit ihr vor­ge­gan­gen?

Sie fragt es sich sel­ber und gibt sich doch kei­ne Ant­wort dar­auf, im Ge­gen­teil, sie möch­te es ma­chen wie ein Kind, wel­ches die Au­gen schließt, um eine Ge­fahr nicht zu se­hen.

Wen­det das die­sel­be ab?

Auch das möch­te sie glau­ben voll kind­li­cher Sorg­lo­sig­keit und möch­te sich plötz­lich nur des Le­bens freu­en und es, ohne nach­zu­den­ken und ohne zu sin­nen, ge­nie­ßen.

Die­sel­be Mal­wi­ne, wel­che noch vor we­nig Ta­gen das Le­ben so schwer und ernst ge­nom­men. Sonst trug sie mit Vor­lie­be dun­kel­far­bi­ge Klei­der, heut hielt sie die hell­blaue Toi­let­te, wel­che ihr die Tan­te Ge­ne­ral­in­ten­dant ge­schenkt – eine plötz­li­che Trau­er ließ sie ihr ent­behr­lich er­schei­nen – nach­denk­lich in der Hand und schwank­te ein paar Mi­nu­ten, ob sie die­sel­be an­le­gen sol­le oder nicht.

Dann schüt­tel­te sie aber­mals mit leich­tem Er­rö­ten den Kopf.

Wo wa­ren heut nur ihre Ge­dan­ken! Es wer­den höchs­tens fünf oder sechs Men­schen bei Sa­ni­täts­rats an­we­send sein, dazu wählt man kei­ne Di­ner­toi­let­te, oder man macht sich lä­cher­lich. Sie zieht eine schwarz und weiß ge­streif­te Blu­se und einen schwar­zen Rock an. Ihr Blick fällt auf die schö­nen, voll­blü­hen­den Ka­me­li­en auf dem Fens­ter­brett, – einen Au­gen­blick ver­le­ge­nen Zö­gerns, eine wei­ße oder eine rote?

Und sie schnei­det eine rote ab und steckt sie mit un­si­che­ren Hän­den an dem Bu­sen fest.

Wie wun­der­lich ihr das vor­kommt! Sie ist es so gar nicht ge­wöhnt, sich zu put­zen.

Sie legt auch den Man­tel um, ehe sie sich von den El­tern ver­ab­schie­det, sie schämt sich förm­lich bei dem Ge­dan­ken, dass man die Blu­me als et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches ent­de­cken könn­te.

Und dann schrei­tet sie has­tig in den dunklen, frü­hen Abend hin­aus.

Die Schnee­flo­cken stie­ben in tol­lem Tanz um sie her und der Wind fährt mit lei­sem Klang durch die Baum­kro­nen des Gar­tens, das Flacker­licht der La­ter­nen zuckt un­ru­hig über die Trot­toir­plat­ten, und tie­fe, schwar­ze Schat­ten fal­len über den Weg.

»To­des­schat­ten um­wal­len mein Haupt …«

Wie ein Echo zie­hen die Wor­te im Klang sei­ner Stim­me durch ihr Herz, und Mal­wi­ne friert plötz­lich und schrei­tet has­ti­ger aus, als müs­se sie ei­len, wenn sie das blas­se Ant­litz mit den fie­ber­hei­ßen Au­gen noch ein­mal se­hen wol­le.

Welch ein un­be­schreib­lich schö­ner, zau­ber­haf­ter Abend.

Welch ein Plau­dern, La­chen. Scher­zen! – Mal­wi­ne ent­sinnt sich nicht, je­mals im Le­ben so froh und glück­lich ge­we­sen zu sein.

Nach dem Abend­brot wird wie­der mu­si­ziert. Dies­mal sind es fast aus­schließ­lich hei­te­re und ly­risch schwär­me­ri­sche Lie­der, wel­che er­klin­gen, und wenn auch die dra­ma­tisch düs­te­ren Ari­en und Re­zi­ta­ti­ve dem jun­gen Kom­po­nis­ten bes­ser lie­gen, so ent­zückt er die Zu­hö­rer doch bei­na­he noch mehr durch die­se le­bens­fro­hen Vor­trä­ge, denn die Stim­mung ist ih­nen ent­spre­chen­der.

Mal­wi­ne lauscht mit glü­hen­den Wan­gen den sü­ßen Lie­bes­wor­ten, dem ke­cken, sieg­freu­di­gen Min­nen und Wer­ben, und wenn die dunklen Au­gen sie da­bei su­chen und mit un­be­schreib­li­chem Blick in die ih­ren tau­chen, dann über­kommt es das stil­le Mäd­chen plötz­lich wie ein hei­ßes, un­ge­stü­mes Ver­lan­gen nach Le­ben, Glück und Lie­be, nach all der hei­te­ren, ro­si­gen Da­seins­lust, wel­che ihr bis­lang so fern­ge­blie­ben und an wel­che sie doch auch ein Recht hat, das große, hei­li­ge Recht ei­nes je­den Men­schen­her­zen!

Der Sa­ni­täts­rat setzt sich zu ihr und hat ihr viel Ver­trau­li­ches zu er­zäh­len von den vie­len Ka­ba­len und Hin­der­nis­sen, wel­che ein jun­ger Kom­po­nist auf sei­nem Wer­de­gang zu über­win­den habe, von den un­ge­heu­ren Vor­zü­gen, wel­che es hat, wenn er bei her­vor­ra­gen­den In­ten­dan­ten oder Ka­pell­meis­tern gut emp­foh­len wird.

Mal­wi­ne blickt leb­haft auf.

»Glau­ben Sie, dass On­kel Karl ihm nüt­zen kann?« frag­te sie fast atem­los.

»Der Ge­ne­ral­in­ten­dant? Nun, das ver­steht sich, mein gnä­di­ges Fräu­lein! Wenn Hel­muts neue Oper zu­erst an dem so her­vor­ra­gen­den Hof­thea­ter un­ter wohl­wol­len­der Lei­tung Ihres Herrn On­kels auf­ge­führt wür­de bei ei­ner so glän­zen­den Be­set­zung der Rol­len, wie sie dort mög­lich ist, dann wäre Hel­muts Glück ge­macht. Läge es wohl in Ih­rer Macht, ein freund­li­ches Wort für un­se­ren jun­gen Künst­ler bei Ihrem Herrn On­kel ein­zu­le­gen?«

Mal­wi­ne stimmt eif­rig zu; ihre Au­gen leuch­ten in Ent­zücken, dass sie, ge­ra­de sie, so gut mit dem On­kel steht, dass sie No­val­la die Wege eb­nen kann, dass sie zu et­was nüt­ze ist auf der Welt!

Der Sa­ni­täts­rat ist hoch­er­freut.

»Sie ah­nen nicht, mein gnä­di­ges Fräu­lein, welch einen Freund­schafts­dienst Sie ihm da­durch er­wei­sen wür­den!«

Und dann spricht er von der Per­sön­lich­keit sei­nes Nef­fen, welch ein ide­al be­an­lag­ter vor­treff­li­cher Mensch er sei, wie er seit dem Tode sei­ner El­tern so ein­sam lebe und wie gut es für ihn sein wür­de, wenn er hei­ra­te­te. Sei­ne pe­ku­ni­äre Lage sei eine sehr güns­ti­ge, nur mit der Ge­sund­heit ste­he es mo­men­tan noch schlecht, doch wer­de da ge­ra­de ein ge­re­gel­tes, glück­li­ches Ehe­le­ben wah­re Wun­der tun.

Mal­wi­ne hat die Hän­de um den Fä­cher ge­krampft, sie at­met kaum und ihre Lip­pen be­ben.

Um et­was zu er­wi­dern, lenkt sie das Ge­spräch wie­der auf ih­ren On­kel zu­rück, und da der jun­ge Kom­po­nist in die­sem Au­gen­blick ne­ben sie tritt und sich an der Un­ter­hal­tung be­tei­ligt, ge­winnt sie ihre Harm­lo­sig­keit zu­rück.

Hel­mut ist be­se­ligt bei dem Ge­dan­ken an Mal­wi­nes Für­spra­che.

Er nennt sie sei­nen gu­ten En­gel, sei­ne La­dy pa­tro­ness, wel­che sei­nem Le­ben neu­en In­halt ver­lei­he, und dann schmie­den sie voll glück­li­chen Ei­fers Plä­ne, was zu tun sei, um On­kel Karl am wirk­sams­ten für die neue Oper zu in­ter­es­sie­ren.

Gleich mor­gen wird Mal­wi­ne an ihn schrei­ben, und dann muss die Par­ti­tur ein­ge­schickt wer­den, No­val­la muss sich dem Ge­ne­ral­in­ten­dan­ten per­sön­lich vor­stel­len, Fräu­lein von Ries wird es so ein­rich­ten, dass sie in die­ser Zeit just im Hau­se des On­kels zu Be­such weilt, – nun, und dann wird eben al­les nach Wunsch ge­hen!

Wel­che Zu­ver­sicht, welch ein Plä­ne­schmie­den von all den schö­nen Ta­gen, wel­che sie dann ge­mein­sam in der Re­si­denz ver­le­ben wer­den! Von Mu­sik, Kunst – al­lem Schö­nen, was Geist und See­le er­quickt!

Solch ein Plau­dern von ge­mein­sa­men In­ter­es­sen führt die Men­schen schnell zu­sam­men.

Es deucht Mal­wi­ne, als sei Dok­tor No­val­la schon seit lan­gen, lan­gen Jah­ren ihr bes­ter Freund ge­we­sen, und doch ist ihr al­les so neu, so zau­ber­haft, glück­se­lig neu!

Die Sa­ni­täts­rä­tin aber steht mit ein paar Da­men ab­seits und blickt voll müt­ter­li­chen Wohl­wol­lens zu Fräu­lein von Ries hin­über.

»Ich habe gar nicht ge­ahnt, dass Fräu­lein Mal­wi­ne so sehr mu­sik­ver­stän­dig ist! Se­hen Sie doch, in wel­che Be­geis­te­rung sich die bei­den hin­ein­re­den! So jung und hübsch ist mir das Mäd­chen noch nie er­schie­nen wie heu­te Abend, ich habe sie stets für et­was pe­dan­tisch und in ih­rem un­ge­heu­ren Pf­licht­ge­fühl für ge­ra­de­zu alt­jüng­fer­lich ge­hal­ten. Nun sieht man mal wie­der, wie man sich ir­ren kann!«

»Du lie­be Zeit, wo soll­te sie hier auch ihre Kuns­t­in­ter­es­sen be­tä­ti­gen!« sag­te eine äl­te­re Ge­sang­leh­re­rin, wel­che ehe­mals Kon­zert­sän­ge­rin ge­we­sen war, und zuck­te seuf­zend die Ach­seln. »Hier in der Stadt hat man kein Ver­ständ­nis für Idea­le, und wie we­nig die Kunst ge­pflegt wird, wis­sen wir alle! Gott sei es ge­klagt, hier ru­hen die Künst­ler wahr­lich nur dar­um auf ih­ren Lor­bee­ren, weil sie die Ma­trat­zen ver­setzt ha­ben!«

Welch se­li­ge, won­ne­vol­le Tage wa­ren das plötz­lich! Zwar sah kein Mensch es Mal­wi­ne an, dass ihre gan­ze See­le ein Meer voll Glanz und Licht ge­wor­den war, sie ver­rich­te­te un­ver­än­dert still und ge­wis­sen­haft ihre Ob­lie­gen­hei­ten in Haus und Hof, und wohl nur der fei­nen Beo­b­ach­tung ei­nes Men­schen­ken­ners wäre die Ver­än­de­rung, wel­che mit ihr vor­ge­gan­gen, auf­ge­fal­len.

Mal­wi­ne hat­te dem On­kel einen Brief ge­schrie­ben, wel­chen ihr be­geis­ter­tes, glück­zit­tern­des Herz dik­tiert hat­te, und der dar­um nicht ohne Wir­kung ge­blie­ben war.

Der Ge­ne­ral­in­ten­dant ant­wor­te­te um­ge­hend, sehr lie­bens­wür­dig und in­ter­es­siert und voll schmei­chel­haf­ter Aner­ken­nung über das ers­te Werk No­val­las, wel­ches zu großen Hoff­nun­gen be­rech­ti­ge. Er schlug sel­ber vor, der Kom­po­nist sol­le die Par­ti­tur per­sön­lich brin­gen und ihn und den Hof­ka­pell­meis­ter mit der Mu­sik und dem In­halt der neu­en Oper be­kannt­ma­chen.

Herr und Frau von Ries hat­ten Sa­ni­täts­rats und ih­ren ta­lent­vol­len Gast just zu ei­nem »freund­schaft­li­chen Abendes­sen« ge­be­ten, als der Brief ein­traf und Mal­wi­ne über­reich­te ihn mit flam­men­den Wan­gen dem jun­gen Kom­po­nis­ten.

No­val­la war auf dem Gip­fel al­les schwär­me­ri­schen Ent­zückens: die bes­ten Be­zie­hun­gen zu ei­ner für ihn so wich­ti­gen Hof­o­per wa­ren an­ge­knüpft, und die Trag­wei­te ei­nes even­tu­el­len Er­folgs für alle Zu­kunft au­ßer­or­dent­lich.

Die Freu­de und das dank­ba­re Ent­zücken leuch­te­ten ihm aus den Au­gen, sei­ne Bli­cke, sein Hän­de­druck, sei­ne lei­se ge­flüs­ter­ten Wor­te ver­setz­ten Mal­wi­ne in einen wah­ren Won­ne­rausch.

Da er­schloss sich an dem kah­len, duft­lo­sen Baum ih­res Le­bens die ers­te und ein­zi­ge Blü­te der Lie­be, heim­lich und ver­bor­gen, aber ge­nährt von Le­bens­mark und Herz­blut, ein spä­tes Früh­lings­reis, an wel­chem der gan­ze Baum ver­blu­tet, wenn es das Schick­sal mit grau­sa­mer Hand her­nie­der­reißt.

No­val­la be­stand dar­auf, um­ge­hend nach X. ab­zu­rei­sen, um das Ei­sen zu schmie­den, so­lan­ge es heiß war. Der Sa­ni­täts­rat schüt­tel­te miss­bil­li­gend den Kopf. »Es ist ein Un­sinn, Hel­mut! War­te ge­lin­de­res Wet­ter und eine Bes­se­rung dei­ner Er­käl­tung ab! Du darfst bei die­ser Käl­te nicht rei­sen!«

Aber No­val­la schüt­tel­te auf­ge­regt den Kopf. »Es hängt zu viel da­von ab, On­kel! Ich muss es!« be­harr­te er.

Auch Mal­wi­ne bat, noch acht Tage zu war­ten, da sie vor­dem nicht ab­kömm­lich hier sei und doch gern sei­ner Un­ter­re­dung mit dem On­kel bei­woh­nen möch­te!

Aber der jun­ge Kom­po­nist ver­si­cher­te sie, dass er sei­nen Auf­ent­halt in X. auf Wo­chen aus­deh­nen wer­de und vor­erst nur al­les Ge­schäft­li­che ab­wi­ckeln wol­le, ihre schö­nen Plä­ne soll­ten sich als­dann um so si­che­rer ver­wirk­li­chen.

Und er setz­te sich an das Kla­vier und sang den Ju­bel sei­nes Her­zens in zau­ber­sü­ßen Lie­dern, dass selbst der Oberst die Whist­kar­ten nie­der­leg­te und an­er­ken­nend nick­te: »Don­ner­wet­ter, wel­che Stim­me! Solch einen Te­nor zum Kom­man­die­ren!«

Hel­mut No­val­las Blick aber traf wie­der­um Mal­wi­ne, und er sang, bis ein jä­her Hus­ten ihn un­ter­brach und der Sa­ni­täts­rat ener­gisch das Kla­vier schloss.

III.

Als die Gäs­te sich ver­ab­schie­det hat­ten, war Frau von Ries er­reg­ter als sonst.

Auf ih­ren ha­ge­ren Wan­gen leuch­te­ten rote Fle­cken und ihr Blick hing in un­ru­hi­gem For­schen an dem Ant­litz der Toch­ter, wel­che ge­wohn­heits­ge­mäß das aus der Kü­che her­auf­ge­sand­te und frisch ge­putz­te Sil­ber an dem näm­li­chen Abend noch in sei­ner Tru­he ver­wahr­te.

Sie ver­rich­te­te die­se Ar­beit eben­so ge­schäfts­mä­ßig und or­dent­lich wie sonst, ohne ein­mal voll schwär­me­ri­scher Zer­streut­heit auf­zu­se­hen ober sich zu ver­zäh­len, wie dies sonst bei ver­lieb­ten Mäd­chen üb­lich ist.

Und doch war – doch muss­te sie in den Künst­ler von Got­tes Gna­den ver­liebt sein!

Frau von Ries hat­te sie bei dem Ab­schied von No­val­la be­ob­ach­tet, sie so­wohl wie ihn.

Wie blick­ten sie ein­an­der in die Äu­gen! Wie er­glüh­te Mal­wi­ne bei sei­nen lei­se ge­flüs­ter­ten Wor­ten, wie aus­drucks­voll küss­te er ihr die Hand!

Wäre es mög­lich? Soll­te sich da noch ein klei­ner Ro­man an­spin­nen, jetzt noch, wo die Frau Oberst doch längst alle Hoff­nung auf­ge­ge­ben, ihre kühl­her­zi­ge Toch­ter un­ter der Hau­be zu se­hen?

Wie wäre solch ein Glück in ih­rem Hau­se mög­lich? Denn ein Glück wür­de es sein.

Die Sa­ni­täts­rä­tin hat­te ihr im So­faeck­chen ver­trau­li­che Mit­tei­lun­gen über den jun­gen Kom­po­nis­ten ge­macht.

Er war in gu­ter, bei­nah glän­zen­der Lage. Sei­ne Mut­ter, eine ge­bo­re­ne Ham­bur­ge­rin aus dem al­ten Pa­tri­zi­er­ge­schlecht der Nach­lers, hat­te ein au­ßer­or­dent­li­ches Ver­mö­gen mit in die Ehe ge­bracht, von wel­chem der ge­wis­sen­haf­te Jus­tiz­rat No­val­la nichts ver­braucht, son­dern al­les für die bei­den ein­zi­gen Kin­der, Hel­mut und des­sen Schwes­ter Klä­re, ei­ner jet­zi­gen Frau Leut­nant von Haus­mann, er­hal­ten hat­te.

Nach dem Tode der El­tern, hat­ten bei­de den Be­sitz des großen Ver­mö­gens an­ge­tre­ten, und Hel­mut konn­te sich sei­ner Pas­si­on, zu kom­po­nie­ren, ru­hig hin­ge­ben.

Er leb­te viel auf Rei­sen und in großen Städ­ten. Doch ge­ra­de die­ses un­ge­re­gel­te Le­ben und der Ver­kehr in Künst­ler­krei­sen, wel­cher ja recht an­re­gend, aber auch sehr auf­rei­bend ist, da das wun­der­li­che Völk­chen der Gott­be­gna­de­ten ja zu­meist des Nachts lebt, taug­te nicht für Hel­muts zar­te Ge­sund­heit, und so hof­fe man sehr, dass der jun­ge Mann nun ernst­lich dar­an den­ke, sich einen ei­ge­nen Haus­stand zu grün­den.

Und bei die­sen Wor­ten hat­te die Spre­che­rin der Frau von Ries so viel­sa­gend zu­ge­lä­chelt, dass die­se in ih­rer Über­ra­schung ganz ver­ges­sen hat­te zu fra­gen, ob die Er­wähl­te ei­nes sol­chen Ge­nies nicht auch eine her­vor­ra­gen­de Künst­le­rin sein müs­se?

Nun saß sie in tie­fe Ge­dan­ken ver­lo­ren und blick­te er­war­tungs­voll auf die Toch­ter, ob die­se ihr denn kei­ne An­deu­tung ma­chen wer­de, ob das Be­neh­men des Dok­tors zu Hoff­nun­gen be­rech­ti­ge oder nicht.

Aber Mal­wi­ne stand so ru­hig und ge­las­sen vor ih­rem Sil­ber, und sah wohl et­was er­hitzt, aber nicht im min­des­ten auf­ge­regt aus.

Je nun, das war ja auch nicht ihre Art. Ihr so au­ßer­ge­wöhn­lich leb­haf­tes We­sen dem Kom­po­nis­ten ge­gen­über sag­te ja ge­nug: er ge­fiel ihr! Ei­nen Korb wird sie ihm nie­mals ge­ben, nun, und die Ge­wiss­heit ge­nüg­te der ver­gräm­ten Frau.

In­ni­ger als sonst schloss sie die Toch­ter, als die­se ihr gute Nacht sag­te, in die Arme, und dann lag sie noch eine Zeit lang wach im Bett.

Die Sa­ni­täts­rä­tin war da­für be­kannt, dass sie gern ein we­nig re­nom­mier­te, – aber der Name Nach­ler sprach in die­sem Fall für sich, – und dass sie ge­ra­de der Frau Oberst all die­se Ein­ge­ständ­nis­se mach­te?

Zum ers­ten Mal seit lan­gen Jah­ren spiel­te ein Lä­cheln um die farb­lo­sen Lip­pen der ver­bit­ter­ten Frau, als sie die Au­gen schloss.

Wäh­rend­des­sen er­ör­ter­ten auch Sa­ni­täts­rats dies in­ter­essan­te The­ma.

»Er scheint sich wirk­lich für Mal­wi­ne zu in­ter­es­sie­ren!« sag­te die Gat­tin, »ein wun­der­li­cher Ge­schmack! Aber die Ge­gen­sät­ze be­rüh­ren sich ja so oft, und einen so kränk­li­chen Mann wie Hel­mut muss solch fri­sche, blü­hen­de Wal­kü­ren­kraft ent­zücken! Es wür­de mich sehr freu­en, Mal­wi­ne ist ein vor­treff­li­ches Mäd­chen, und dass sie bis über die Ohren in ihn ver­liebt ist, sieht ja ein Blin­der! Die Er­re­gung steht ihr gut und macht sie jung und mäd­chen­haft, ich fin­de sie in den letz­ten Ta­gen auf­fal­lend ver­än­dert!«

Der Sa­ni­täts­rat leg­te sei­ne Kra­wat­te be­däch­tig auf den Toi­let­ten­tisch und zuck­te die Ach­seln. »Glaubst du wahr­lich, dass Hel­mut ans Hei­ra­ten denkt und Ernst ma­chen wird? An­fäng­lich glaub­te ich es auch, weil er ihr tat­säch­lich den Hof macht. Aber ich über­leg­te mir, dass dies Künst­ler­ma­nier ist. Schmach­ten und Schwär­men ge­hört da zum täg­li­chen Brot und wird nicht ernst­haft ge­nom­men. Du weißt, dass Hel­mut stets sehr im­pul­siv war. Auch hal­te ich es nicht für un­mög­lich, dass er in die­sem Fal­le et­was je­sui­tisch denkt und Mal­wi­ne nur als ›Weg‹ zum On­kel Ge­ne­ral­in­ten­dant er­ach­tet!«

»Pfui, das wäre arg!«

»Aber mensch­lich!«

»Das wür­de ich ihm nie ver­zei­hen! Mal­wi­ne ist eine Na­tur, wel­che an un­glück­li­cher Lie­be zeit­le­bens kran­ken wür­de!«

»Hof­fen wir also das Bes­te!«

»Ich wer­de ihm ein­mal Moral pre­di­gen!«

Der Sa­ni­täts­rat zog scher­zend die Schul­tern hoch. »Dann Gna­de Gott dem jun­gen Mann! Das Moral­pre­di­gen ver­stehst du, Müt­ter­chen! Mir geht die Rei­se des zu­künf­ti­gen Bräu­ti­gams weit mehr im Kopf her­um, ich hal­te sie bei die­ser Käl­te für einen Un­fug! – Vi­el­leicht wür­dest du dir mehr Ver­dienst er­wer­ben, wenn du ihm die­se Idee ›auspre­di­gen‹ wür­dest!«

»Mit ei­nem Sieb schöp­fe ich kein Was­ser! Von die­ser Rei­se hält ihn kei­ne Macht der Welt zu­rück, er fie­bert ja vor freu­di­ger Er­re­gung und Hin­ge­duld!«

»Je nun, – dann lass ihn fah­ren da­hin!« gähn­te der alte Herr. »Vi­el­leicht ist’s ja wirk­lich von großem Vor­teil für ihn! Und nun gute Nacht, Müt­ter­chen! Denk’ dir einst­wei­len ein recht schö­nes Ver­lo­bungs­me­nü aus!«

Und auch Sa­ni­täts­rats schlie­fen in recht ge­ho­be­ner Stim­mung ein.

Nur Hel­mut und Mal­wi­ne schlie­fen nicht.

Ers­te­rer schrieb noch ein paar flüch­ti­ge Zei­len an sei­ne Schwes­ter.

»Her­zensklä­re!

Mor­gen rei­se ich nach X. – Die bes­ten Be­zie­hun­gen zu dem dor­ti­gen Ge­ne­ral­in­ten­dan­ten sind an­ge­knüpft und hof­fe ich, dass mein sehn­lichs­ter Wunsch, mei­ne neue Oper dort zur Pre­mie­re an­zu­brin­gen, in Er­fül­lung geht. Ich dan­ke die Ver­mitt­lung ei­ner sehr net­ten, schar­man­ten jun­gen Dame, wel­che mir über­aus gut ge­fällt, wohl dar­um, weil wir so sehr ver­schie­den sind. – Auch Dir wür­de sie ge­fal­len. Du liebst ja auch das So­li­de so sehr und fürch­test stets, ich kön­ne in die Net­ze ei­ner Diva ge­ra­ten! – Wenn ich ein­mal hei­ra­ten soll, so weiß ich jetzt we­nigs­tens, wie die Be­tref­fen­de sein muss! – Also hal­te den Dau­men, dass al­les glückt, – die Pre­mie­re und – die Hei­rat!

Dein ganz über­mü­ti­ger Hel­mut«

Wäh­rend er dies schrieb, stand Mal­wi­ne an dem Fens­ter und blick­te zu dem kla­ren Nacht­him­mel em­por. Sie fal­te­te krampf­haft die Hän­de. Es war ihr, als müs­se sie aus tiefs­tem Her­zens­grund ein Ge­bet voll ban­ger Angst zum Him­mel sen­den. Ihre hei­ßen Wan­gen wa­ren kühl und blass ge­wor­ben, ihr erst so glück­se­lig be­ben­des Herz schwer, – un­be­greif­lich und un­fass­lich weh und schwer.

Zwi­schen all dem La­chen und Sin­gen und Klin­gen hin­durch tön­te es wie eine To­ten­glo­cke durch ihre See­le:

»To­des­schat­ten um­wal­len mein Haupt …«

Tief auf­at­mend schlief sie end­lich ein, ein Seuf­zer lag noch auf ih­ren Lip­pen und schwe­re Träu­me quäl­ten sie. – Eine Rose er­schloss sich vor ih­rem Blick, eine köst­li­che, pur­pur­ne Rose. Ent­zückt griff sie da­nach, sie zu pflücken, – da ent­blät­ter­te sie plötz­lich und zer­rann wie ein Trä­nen­strom zwi­schen ih­ren Fin­gern.

Träu­me sind Schäu­me.

Schon der nächs­te Mor­gen be­wies es.

Die Tür ward has­tig ge­öff­net und Frau von Ries trat über die Schwel­le.

Sie sah sehr er­regt aus. Die schma­len Wan­gen wa­ren ge­rötet, die Lip­pen beb­ten.

In ih­rer Hand duf­te­te ein herr­li­cher Ro­sen­strauß, ein läng­lich großer Brief von stei­fem Büt­ten­pa­pier schwank­te zwi­schen ih­ren Fin­gern.

»Mal­wi­ne, ein Mor­gen­gruß von No­val­la!« rief sie so laut und un­ver­mit­telt, dass die sonst so ner­ven­star­ke Toch­ter mit lei­sem Schre­ckens­laut em­por­schrak.

»Sieh die­se köst­li­chen Blu­men! – Und hier ein Brief!«, fuhr die Frau Oberst has­tig fort. »Was er wohl schrei­ben mag? Es ist noch so däm­me­rig hier,am Bett, ich wer­de an das Fens­ter tre­ten und dir vor­le­sen!«

Und sie leg­te die Ro­sen schnell auf die Bett­de­cke, trat zu­rück, schob die Gar­di­ne ein we­nig zur Sei­te und er­brach mit ner­vös zit­tern­den Fin­gern den stei­fen Um­schlag.

Ach, wenn es ein Hei­rats­an­trag wäre! zog es wie ein hei­ßer, fle­hen­der Wunsch durch ihre See­le.

Kaum ver­moch­te sie es, die krau­sen, wun­der­lich ver­schnör­kel­ten Buch­sta­ben mit dem Blick zu über­flie­gen.

»Mein hoch­ver­ehr­tes, gnä­digs­tes Fräu­lein! Da es mir in die­ser frü­hen Mor­gen­stun­de nicht mehr mög­lich ist, per­sön­lich zu Ih­nen zu ei­len, mich mit ver­eh­rungs­volls­tem Hand­kuss zu ver­ab­schie­den, so muss ich die­se Ro­sen für mich spre­chen las­sen und in­stän­digst bit­ten, die duf­ten­den Bo­ten freund­lich auf­zu­neh­men. Ich rei­se in der fes­ten und be­glücken­den Hoff­nung, dass un­se­re Wege sich bald wie­der im Hau­se Ihres Herrn On­kels zu­sam­men­fin­den. – Ich fah­re jetzt di­rekt nach F., mei­ne dort zu­rück­ge­las­se­ne Par­ti­tur aus dem Schreib­tisch zu ho­len. – Sie wis­sen ja, dass der ge­stren­ge On­kel mir al­les Ar­bei­ten in sei­nem Hau­se ver­bo­ten hat­te! – Soll­te das eine Duett, wel­ches ich Ih­nen ges­tern Abend vor­spiel­te und mir noch nicht durch­geis­tigt ge­nug er­schi­en, noch ge­feilt wer­den müs­sen, blei­be ich einen Tag dort, – ich glau­be heu­te Nacht den rich­ti­gen Ge­dan­ken ge­fun­den zu ha­ben; das Sehn­suchts­mo­tiv muss wie ein Echo, das Lie­bes­mo­tiv wie die Mor­gen­rö­te er­wa­chen­der Emp­fin­dung hin­ein­klin­gen. Es lässt sich leicht ma­chen, – die Beglei­tung muss den ers­ten An­klang brin­gen, dann er­hebt sich die Frau­en­stim­me klar und voll über die wei­chen Flö­ten­tö­ne – die Sehn­sucht at­met aus die klei­ne Än­de­rung ge­trof­fen, geht es ge­ra­des­we­ges in die Re­si­denz zu Ihrem Herrn On­kel. Dort auf Wie­der­se­hen! – Im Geis­te er­klingt mir auch jetzt das Sehn­suchts­mo­tiv! – Ich küs­se Ihre Hän­de und nen­ne mich ganz den Ihren!

Hel­mut No­val­la.«

Die Le­se­rin ließ den Brief sin­ken; sie sah zwar ein we­nig ent­täuscht, aber nicht ent­mu­tigt aus.

Lang­sam trat sie an das La­ger der Toch­ter, setz­te sich dar­auf nie­der und steck­te den Brief wie­der in den Um­schlag.

»Mal­wi­ne«, sag­te sie lei­se, »ich glau­be, No­val­la in­ter­es­siert sich für dich! – Selt­sam, ihr seid so grund­ver­schie­den, aber ge­ra­de die Ge­gen­sät­ze be­rüh­ren sich ja so oft im Le­ben!«

Ihr for­schen­der Blick traf das heiß ge­röte­te Ant­litz der Toch­ter, aber Fräu­lein von Ries neig­te sich nur tief über die Ro­sen­kel­che und sag­te so ru­hig wie stets:

»Wir ha­ben uns in rein künst­le­ri­schen In­ter­es­sen ge­fun­den, Mama! Bit­te, ma­che dir kei­ne Il­lu­sio­nen, es wäre so trau­rig, wenn du ent­täuscht wür­dest.«

»Er ist ein sehr net­ter, schar­man­ter Mensch, – er ge­fällt dir auch!« – dräng­te die Mut­ter mit bei­na­he fle­hen­dem Blick. »Sei­ne Ver­mö­gens­la­ge ist so güns­tig! Und wenn dies auch kei­ne Haupt­sa­che ist, so ist es doch eine ab­so­lu­te Not­wen­dig­keit.«

»Er ge­fällt mir sehr gut, aber zwi­schen dem Ge­fal­len und Hei­ra­ten liegt noch eine große, große Kluft! Wie ge­sagt, ich glau­be nicht, dass er ir­gend­wel­che Ab­sich­ten hat!«

»Dann schick­te er kei­ne Ro­sen!«

»Höf­lich­keit!«

»Der Brief klingt mehr als höf­lich, – das Herz spricht durch die Zei­len!«

»Künst­ler wä­gen ihre Wor­te nicht ab!«

»Sie las­sen sich hul­di­gen, aber sie hul­di­gen nicht sel­ber!«

»Ma­ma­chen, ich be­schwö­re dich! Gib dich kei­nen falschen Hoff­nun­gen hin!«

»Wenn er aber um dich an­hiel­te – wür­dest du ja sa­gen, Mal­wi­ne?« dräng­te Frau von Ries fast un­ge­dul­dig.

Da ward das erst so heiß ge­röte­te Ge­sicht blass.

Mal­wi­ne leg­te die Hand auf den Arm der Mut­ter und sag­te so ru­hig und ge­las­sen wie stets: »Ich glau­be es, Mama!«

Man kann­te kei­ne Sen­ti­men­ta­li­tät oder Zärt­lich­keit im Hau­se des Obers­ten, es war zeit­le­bens al­les nur kühl und ge­schäfts­mä­ßig auf­ge­fasst und be­spro­chen, und auch jetzt lag es nicht in der Art von Mut­ter und Toch­ter, eine ly­ri­sche Sze­ne her­auf­zu­be­schwö­ren.