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Neue Deutsche Rechtschreibung Nataly von Eschstruth war eine deutsche Schriftstellerin und eine der populärsten und berühmtesten Erzählerinnen der Gründerzeit. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 486
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Nataly von Eschstruth
Der verlorene Sohn
Heimatroman
Nataly von Eschstruth
Der verlorene Sohn
Heimatroman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-71-9
null-papier.de/483
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Inhaltsverzeichnis
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
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Man nannte sie einen wunderlichen Charakter. – Viele behaupteten, sie sei unliebenswürdig und kaltherzig, wenige nahmen sie in Schutz und versicherten, hinter ihrem kühlen, schroffen Wesen berge sich ein tiefes Gefühl, ein warmes und großes Empfinden, welches jedoch ängstlich versteckt werde, wie ein Licht unter dem Scheffel.
Wer in seinem Elternhause nur militärische Präzision, Kommandos und soldatischen Drill gewöhnt sei, müsse ja jede weichere und zärtlichere Regung des Herzens als Gefühlsduselei und lächerliche Sentimentalität erachten.
Fräulein Malwine von Ries sei das Ebenbild des Vaters, ein Soldat in Mädchenkleidern. Was Pflichtgefühl, Ehre, Rechtschaffenheit bedeute, sei ihr voll bewusst, aber die Passionen ihrer Altersgenossinnen, ein lyrisches Gedicht zu lesen, abends an dem geöffneten Fenster in Lenzesduft und Mondenschein hinaus zu schwärmen, ein Ballkleid entzückend und ein totes Vögelchen zum Herzbrechen traurig zu finden, diese schwärmerischen Anwandlungen seien ihr geradezu unverständlich und wohl auch in tiefster Seele zuwider.
Ob Fräulein Malwine sich wohl jemals verlieben könne und werde?
Man lächelte bei diesem Gedanken ebenso ungläubig wie bei dem fantastischen Plan eines Sternforschers, zwischen Mars und Erde einen regelrechten Meinungsaustausch zu bewerkstelligen.
Fräulein Malwine als Braut! – welch eine Ironie auf all die lieblichen Traditionen, welche sich mit diesem Worte verknüpfen!
Wenn man das große, breitschulterige Mädchen mit der strammen Haltung, den knappen, wohlgedrillten Bewegungen, dem etwas großen Kopf mit dem frischwangigen Gesicht, aus welchem die Grauaugen so unsagbar nüchtern und tief ernst blickten, – wenn man dieses Mädchen voll eisernen Fleißes wirtschaften und zwischen Kochtöpfen, Besen und Waschwanne hantieren sah, dann kam es selbst dem fantasiebegabtesten Menschen nicht in den Sinn, sich Fräulein von Ries als kosende, wonnig blickende, innig anschmiegende Herzliebste zu denken!
Wie hätte der so herbe und resignierte Mund wohl Worte der Liebe und Zärtlichkeit finden, wie hätte er sich wohl voll bebenden Entzückens in süßem Kusse hingeben können! Wie hätten diese, wohl schön und edel geformten, aber doch so fest und rücksichtslos zugreifenden Hände in holder Tändelei durch eines Jünglings Locken streichen, seine Rechte voll lieblicher Bangigkeit schutzheischend umschließen können!
Solch eine Idee war einfach lächerlich, und darum kam sie auch keinem Menschen, obwohl einmal ein ganz junger Leutnant bei dem Anblick der hohen, imponierend stattlichen Erscheinung in dem bleifarbenen Seidenkleid jählings ausgerufen hatte: »Donnerwetter! Die wäre eigentlich eine Frau für einen kommandierenden General! Wenn die einen so von oben bis unten mustert, fährt einem schon ganz unwillkürlich der Daumen an die Hosennaht!«
»Hm – so übel nicht!« nickte sein Nachbar lächelnd, »sie würde ihre Divisionen sicher ebenso gut im Zuge haben, wie daheim ihren Haushalt! Fräulein Malwine ist fraglos ein Edelstein – aber doch ein etwas ungeschliffener, ebenso wie ihr Vater, der hünenhafte Pensionär dort, mit dem blauroten Gesicht, dem forschen weißen Schnauzbart und der dröhnenden Bassstimme! So uranständig, vornehm denkend und vortrefflich der Mann zeitlebens gewesen ist, – eine gewisse Härte und Schroffheit hat er nie überwunden, und ebenso ergeht es der Tochter! Ein famoser Charakter, – man kann Häuser auf sie bauen, aber kühl bis ans Herz hinan – und im Kommandieren sehr viel leistungsfähiger als im Kosen!«
So hatte man schon über sie geurteilt, als sie noch ein ganz junges Mädchen war und ihre ersten Bälle besuchte.
Sie sprach wenig, kurz angebunden und anscheinend sehr gleichgültig, dabei sah sie den Betreffenden mit den klaren, kalten Augen an, als erteile sie ihm einen strengen Tadel.
Es sah aus, als tanze sie nur aus Pflichtgefühl, weil es ein Ball nun mal so mit sich bringe. Wenn sie einmal nicht tanzte, war es ihr ebenfalls gleichgültig. Sie stand dann hoch und stolz aufgerichtet und blickte über die lustig wirbelnde Menge hinweg, als wollte sie sagen: »Ihr scheint sämtlich verrückt zu sein! Was für einen moralischen Zweck und Sinn hat dieses einfältige Im-Kreise-Herumdrehen?«
Und dann setzte sie sich in die Nähe ihrer Mutter, einer wortkargen, blassen Frau, welche unheilbar an tiefer Erbitterung krankte, weil ihr Gatte es nicht zum Exzellenzentitel gebracht, und unterhielt sich mit den alten Damen sehr unterrichtet und sehr ehrbar über Marktpreise, schlechte Dienstboten und erprobte Kochrezepte, sehr unbekümmert, ob sie darüber die schönsten Tänze versäumte und die Kotillonsträußchen im Stiche ließ.
»Sie ist die geborene alte Jungfer!« schüttelte selbst Frau von Ries den Kopf, und nur der Vater zog die Brauen noch struppiger zusammen und sprach grob: »Blödsinn! – Malwine ist das einzige Frauenzimmer, welches sich anständig benimmt und nicht nach den Männern angelt! Darum wird sie die einzige sein, welche mal eine gute Heirat tut!«
»Das wäre!« hohnlächelte die Frau Oberst und sah verbitterter und sauertöpfischer drein als sonst. »Von nichts – wird nichts. Aus Liebe nimmt sie keiner und um des Geldes willen auch nicht! Meine arme Malwine müsste eben nicht mein Kind sein, wenn sie Glück haben sollte! – Das ist nie bei uns zu Hause gewesen, das hat uns ewig stiefmütterlich behandelt! Wenn ich allein bedenke, wie sie dir damals den Abschied ins Haus geschickt haben! Ohne allen Grund! Ohne jede Veranlassung! Dein Regiment war das beste im ganzen Korps … sie mussten dich zum General machen, wenn es noch Gerechtigkeit im militärischen Leben gäbe …«
Herr von Ries hob mit drohendem Blick das graue Haupt. »Himmelkreuzdonnerwetter! Schon wieder die alte Litanei! Ich sage dir, dass ich absolut kein Stratege bin, dass ich im Manöver die Brigade ganz niederträchtig, ganz unter aller Kritik geführt habe! Potz Wetter noch eins, ich hätte mich selber zum Teufel gejagt! – Eins schickt sich eben nicht für alle, ich habe nie Talent zum Soldaten gehabt! Jäger hätte ich werden sollen, Forstmann – aber der Vater steckte mich ins Korps. Habe mir redlich Mühe gegeben, durch Fleiß und Eifer das Fehlende zu ersetzen, – aber wo nichts ist, hat der Kaiser das Recht verloren! Danken muss ich, dass sie mir noch ein Regiment gegeben haben! Und das tue ich auch, Alte, und bin zufrieden mit meinem Los, und – Potzbombenelement! – du sollst das auch sein und das ewige Räsonnieren lassen! Verstanden?« – und damit warf er die Tür krachend hinter sich zu und schritt davon.
Frau von Ries aber kniff die schmalen Lippen noch schmaler zusammen, neigte sich stumm über ihre Flickarbeit und sah noch um einen Schein blässer und hagerer aus als sonst.
Malwine stand unterdessen in der Plättstube, tadelte in ihrer ruhigen, gelassenen Weise das Mädchen, welches Schmutzstreifchen in die Vorhemdchen des gnädigen Herrn geplättet hatte, und steckte voll kühler Gewissenhaftigkeit die unsauberen Stücke in den Waschkessel zurück, mochte die Dore das Gesicht noch so weinerlich und übellaunig verziehen, dann aber griff sie stumm zu dem Bolzen, trat an das Bügelbrett und nahm der gescholtenen Magd gutwillig die Hälfte der Arbeit ab.
Sie streifte die Ärmel an den vollen, kräftigen Armen empor, griff in den Korb und sprengte die Wäsche ein, und dabei flog kein Tropfen auf die große, weißleinene Hausschürze, und an dem schlichtgescheitelten Haar verschob sich kein Strähnchen, das Bild ruhigen, tadellosen Fleißes stand sie inmitten der Arbeit, so ernst und still, als existiere kein anderes Glück in der Welt als das Waschen, Scheuern und Plätten.
Und doch klopfte ein Herz in ihrer Brust, so bang und unruhig, wie noch nie zuvor im Leben, und die kühlen Augensterne, welche anscheinend nur ihre Arbeit sahen, hoben sich verstohlen mit beinah schüchternem Blick zum Fenster, wenn ein schneller Schritt vor dem Souterrain ertönte.
Und dann ging es plötzlich wie ein lichter Schein über das strenge Mädchengesicht, die Lippen öffneten sich wie bei einer Dürstenden, und durch die Hände, welche so emsig schafften, ging ein seines, kaum merkliches Beben.
Groß und starr ward der Blick, als schaue er zurück, – weit hinweg über die Wäsche und das zischende Plätteisen bis hinein in die dämmerig stille Stunde des gestrigen Abends. Was war ihr Seltsames geschehen?
Nichts, o gar nichts Absonderliches. Sie hatte eine Teeeinladung zu der Familie ihres Hausarztes angenommen; sie war so ungern und unlustig hingegangen wie zu allen Gesellschaften.
Anfänglich war es auch nicht anders gewesen als sonst. Dann hatte man sich zu Tisch gesetzt und der Neffe des Hausherrn, ein junger Komponist, hatte ihr den Arm geboten.
Sie unterhielten sich, anfangs etwas steif und langweilig, mit dem unsicheren Tasten nach einem guten Gesprächsthema, welches zwischen zwei wildfremden, wortkargen Menschen nicht leicht zu finden ist. – Dann aber fand es sich doch, die Musik war die goldene Brücke. Seine dunklen, schwärmerischen Augen leuchteten wie verklärt, wenn er von seinen Idealen, seinen Plänen, seinen Kompositionen sprach. Er entwickelte ihr seine Ansichten über verschiedene Meister der Kunst, er suchte ihr Interesse für Wagner zu wecken, von welchem sie ehrlich eingestand, dass er ihr absolut unverständlich sei. Er erzählte von den Aufführungen seiner ersten Oper, von der bunten, seltsamen, wunderlichen Welt hinter den Kulissen, welche ihm eigentlich sehr unsympathisch sei.
»Sie glauben gar nicht, mein gnädiges Fräulein«, sagte er mit einer nervösen Bewegung seiner sehr bleichen, feingegliederten Hand nach dem leicht über die Stirn fallenden Haar, »wie es mir ein moralischer Schmerz war, die Gestalten meiner Oper, welche ich im Geist in höchster, idealster Vollkommenheit geschaut, plötzlich geschminkt und flitterbehängt, so entsetzlich prosaisch mit der Rolle in der Hand, oder ein paar Backpflaumen zwischen den Zähnen, vor mir zu sehen! So schön die Trägerin der Titelrolle auch war, und so hinreißend sie sang, – sie war hinter der Szene doch nur das Fräulein X. X., welches mir von den banalsten Alltäglichkeiten erzählte und ihren Glückwunsch zu dem schönen Erfolg der Oper in den wohl sehr gut gemeinten, in meinen Ohren aber grässlich klingenden Worten gipfeln ließ: ›Mit der Sache hier werden Sie Geld machen, Doktorchen! Heidengeld! – Na, wenn ich mal in der Tinte sitze, komme ich und pumpe Sie an!‹ Sie scherzte in übermütiger Laune – und jeden anderen hätte ihr Lächeln wohl entzückt, ich bin aber ein komischer Kauz in dieser Beziehung – ihr Scherz tat mir in jenem Augenblick höchster und reinster Begeisterung weh!«
Malwine starrte den Sprecher ein wenig betroffen an, denn sie hatte sich bisher gedacht, dass bei allem Schaffen das »Verdienen« doch die Hauptsache sei, nun errötete sie beinah über diesen ketzerischen Begriff und ihre hausbackene Ansicht über die Kunst.
In ihrer Verlegenheit sagte sie teilnehmend: »Dann erleben Sie sicher viel Enttäuschungen als Künstler, denn nirgends ist wohl Prosa, Unnatur und niedere Gesinnung – ich meine Neid, Kabale und Eifersucht – stärker ausgeprägt als auf den Brettern, welche die Welt bedeuten!«
Er nickte, seine großen, leuchtenden Augen verschleierten sich. »Ich bin für meinen Beruf nicht sehr glücklich beanlagt und denke wohl viel zu kindlich in dieser Zeit des bittersten Realismus, um mich ohne Wunden und schlimme Erfahrungen durch all ihre Dornen und Nesseln zu winden! Glauben Sie wohl, dass es mir einen Stich ins Herz gibt, wenn ich auf der Bühne stehe und sehe den Wald, den ich während meines Schaffens in zart-duftige Himmelsluft getaucht, in Sonnengold gebadet, flüsternd und raunend wie von Geisterstimmen, von Vogelfang durchhaut und Blütendurst durchzogen vor mir sah, als staubige Papierkulisse ragen, zusammengeleimt und numeriert als Stücklein Dekoration, – Gasgeruch, Getrampel und Geklingel? Anstatt Duft, Licht und Blattgeflüster der Jargon und die faulen Witze der Kulissenschieber – und der schwüle Theaterodem! … Warum lachen Sie nicht, gnädiges Fräulein? Man hat mich schon oft ausgelacht, wenn ich dieses Glaubensbekenntnis zum besten gab, und mich einen Fantasten genannt, welcher seine Werke demnächst unter Gottes freiem Himmel aufführen lassen würde!«
Nein, Malwine lachte nicht, sie war viel, viel zu überrascht und erstaunt über Ansichten, welche ihr zeitlebens so fern gelegen wie der Himmel von der Erde!
Sie hatte sich niemals über geschminkte Schauspieler und gemalte Dekorationen alteriert, sondern im Gegenteil die enorme Kunst und Technik der modernen Bühne angestaunt wie ein Wunder.
Trug und Schein gab’s ja überall in der Welt, nicht nur in dem Theater allein, und sie hatte stets solch resignierte, praktische und schrecklich prosaische Ansichten gehabt, dass ihr die Kulissenwelt mit all ihrem Schimmer und Glanz noch wie ein Paradies auf Erden erschien.
Und nun hört sie aus dem Mund eines Mannes die beinahe naive Klage, dass ihm seine Illusionen zerstört, seine Ideale auf der Bühne genommen werden!
Das war etwas ganz Außergewöhnliches, aber fraglos etwas Wahres, Schönes und Echtes, eine Künstlerseele, welche so hoch über allem Erdenstaub, allem Lug und Trug, allem Falsch und aller Verstellung, allem Niederen und Unlauteren, wie ein bunter Falter im Sonnenglanz, welcher es nicht ahnt und nicht wissen mag, dass unter den leuchtenden Blüten der Staub und Schmutz der Erde lagert, dass Spinnen ihre gefährlichen Netze gezogen und giftige Würmlein lauern, dass die lockendsten Früchte innen faul und die üppigste Wiese ein Sumpf ist!
Wie in atemlosen Staunen und Forschen trifft der Blick der nüchternen grauen Mädchenaugen das Antlitz ihres Nachbars, und es ist ihr, als sei sie bisher blind gewesen und schaue nun zum ersten Mal etwas Schönes auf der Welt. Und als er weiter redet, und seine milden, seelenvollen Augen aufleuchten bei dem Gedanken an all das wahrhaft Künstlerische und Schöne, das er schaffen möchte und zu vollenden hofft, da wird es ihr warm, ganz wundersam warm um das Herz, und sie begeistert sich plötzlich für Dinge, welche ihr sonst ganz fern lagen; sie begreift es selber nicht, wo sie mit einemmal alle Worte und Ansichten über Musik und Dichtung hernimmt. Es regt sie an und entzückt sie, dass er ihre Meinung so ernst nimmt, dass er ihr beipflichtet, dass er sich ihres Harmonierens freut, – das ist alles so neu, so eigenartig und fesselnd für sie!
Wie schön er spricht! Seine Stimme klingt so weich und melodisch, als sei sie extra geschaffen für die idealen Gedanken, welche doch so voll tiefen, reellen Wissens sind und es so heilig ernst mit der Kunst meinen.
Welch eine neue Welt erschließt sich ihr! – Vor ein paar Stunden noch hat sie geglaubt: Musik ist eben Musik – und wenn man sie klassifizieren will, so teilt man sie ein in ernste und heitere Melodien, Tänze oder Choräle, Liebeslieder oder Clementis Sonaten, welche sie ehedem sogar gehasst hat und nur aus Pflichtgefühl übte, weil zu der Bildung einer jungen Dame nun einmal »das bisschen Musik für den Hausbedarf« gehört!
Jetzt erschienen ihr plötzlich auch diese Sonaten und alle ihnen vorausgegangenen Fingerübungen als etwas Höheres, Besseres, als ein kleiner, goldheller Strahl, welcher durch das Schlüsselloch des Kunsthimmels fällt.
Als die Tafel aufgehoben wurde, glühten ihre Wangen, obwohl sie so gut wie keinen Wein getrunken, und sie umschloss die weiche, schlanke Künstlerhand, welche so heiß und nervös die ihre fasste, mit festem Druck. Da flog sein Blick wie in ehrlicher Bewunderung über ihre blühende, kraftvolle Gestalt.
»Welch eine Walküre sind Sie, mein gnädiges Fräulein!« lächelte er mit einem feinen Schimmer der Wehmut, »und wie schön muss es sein, über die Urkraft solch einer Wotanstochter zu verfügen! Was würden Ihnen die paar schlaflosen Nächte, welche mir am Mark des Lebens zehren, bedeuten?«
»Schlafen Sie so wenig und so schlecht?«
Wieder zuckte ein Lächeln um seine Lippen, und das marmorblasse Gesicht mit den schmalen, durchgeisteten Schläfen lehnte sich einen Augenblick wie müde in den Nacken zurück.
»Wer zu viel träumt, versäumt in der Regel den Schlaf darüber!« scherzte er. »Es ist seltsam, dass alle bleichen Schatten, alle Musen und Genien ihre Besuche zur Nachtzeit abstatten! Welch ein Singen und Klingen und Denken und Reimen ist’s dann hinter solch einer Künstlerstirn! Der Himmel steht offen, und die Erde mit ihren schwülen Rissen und schläfrigen Mohnblumen ist vergessen! Ja, wenn man auch die Nerven und Kräfte eines Gottes hätte, um schon hier in dieser Welt ein Gott zu sein!«
Der Hausherr war hinzugetreten und legte lachend die Hand auf die Schulter des Sprechers. »Die haben wir aber leider nicht, und du, mein lieber Helmut, am wenigsten! Sie müssen nämlich wissen, mein gnädiges Fräulein, dass sich unser künftiger Klassiker hier in unveranwortlicher Weise überarbeitet hat, und darum habe ich ihn mir hierher unter meine ärztliche Kontrolle geholt, um ihm die ›schläfrigen Mohnblumen‹ und ihr giftiges Säftlein abzugewöhnen! Komponiert wird jetzt ein Vierteljahr lang gar nicht; der Erfolg der ersten Oper war so bombenmäßig, dass er noch für eine lange Zeit anhält!«
»Das ist ein Mord, Onkel! Ich kann ohne Musik nicht leben!«
»Musik sollst du schon haben, mein Junge! Wir gründen ein stilvolles Kränzchen und spielen Skat! Da liegt noch Melodie drin! Und nun seien Sie mir nicht böse, mein gnädiges Fräulein, wenn ich Ihnen Ihren Schleppenträger für ein Weilchen entführe! Die Frau Geheimrat will in nächster Zeit nach Mentone reisen, und da unser Künstler von Gottes Gnaden den vergangenen Winter zum größten Teil dort zugebracht hat, soll er Rapport erstatten! – Also vorwärts, mein Junge, mache der gnädigen Frau mal tüchtig den Mund wässerig!«
Er ging, und Malwine setzte sich ihrer Gewohnheit gemäß zu den älteren Damen und wollte wie gewöhnlich über Butter- und Eierpreise, über Spinat und Grünkohl sprechen, aber seltsam, es war, als ob all ihre Gedanken einem Vogelschwarm glichen, welcher lange Zeit still und zahm auf staubiger Tenne die Körnlein gepickt, und mit einemmal, jäh aufgescheucht, hinausgeflattert sei, – zuerst scheu und lichtgeblendet, bald aber zuversichtlich einen höheren Flug nehmend, weit hinaus und hoch empor in lichte, sonnige Helle, da, wo die Erde tief drunten verschwindet und der Himmel anfängt!
Sie war zerstreut, still und einsilbig, und ihr Blick flog wie magnetisch angezogen hinüber nach dem anderen Salon, wo sie durch die geöffnete Tür just den jungen Komponisten neben dem Sessel der Geheimrätin stehen sah. Er sprach wieder lebhaft und begeistert, er schien die Wunder einer warmen, südlichen Welt mit Worten zu malen, seine Augen glänzten und sein Blick bekam etwas Sehnsuchtsvolles, als flöge er zurück zu den duftenden Orangen und dem blau schimmernden Meer.
Wie seltsam war dies alles für Malwine? Sie hatte auch Reisen gemacht, auch manch Schönes gesehen und angestaunt, aber ein solch schwärmerisches Entzücken war ihr nie in den Sinn gekommen, und zurückgesehnt nach irgendeinem schönen Erdenfleckchen hatte sie sich auch nicht. Warum das? Es gab Arbeit, Pflichten und Plackerei überall. Jetzt mit einemmal war es ihr zu Sinn, als habe sie viel, sehr viel versäumt, als habe sie jene Zeiten nur halb durchlebt. Sie hörte nicht den Stoßseufzer ihrer Nachbarin über die so unerschwinglich hohen Kohlenpreise, sie starrte wie geistesabwesend in den Nebensalon, wo ein junges Mädchen das Klavier öffnete und alsdann mit unwiderstehlichen Blicken und Worten zu dem Komponisten trat.
Die Majorin, welche von Fräulein von Ries keine Antwort erhalten, war ihrem Blick gefolgt. »Ah, das ist schön!« sagte sie und bewegte den Fächer behaglich auf und nieder, »Doktor Novalla soll uns etwas zum besten geben! Hoffentlich aus seiner neuen Oper. Man hört jetzt so viel davon sprechen und möchte doch auch ein wenig über die Musik mitreden können! Vortrefflich! Er scheint sich erweichen zu lassen. Seine Tante sagte mir vorhin, er sänge so schön, solle es aber nicht mehr, da seine Gesundheit so angegriffen sei. Na, das sieht man auf zehn Schritt weit, dass der arme Mensch in keiner festen Haut steckt. Wie Wachs so bleich und die Augen wie in permanentem Fieber leuchtend! Es ist seltsam, dass die Musiker meistens an ihren Schöpfungen zugrunde gehen. Wenn ich denke, der arme Bizet! So jung und so talentvoll, und doch gestorben! Wissen Sie, liebes Fräulein Malwine, ich muss bei Novalla immer an diesen Bizet denken! Die Musik soll ja auch so viel Gleiches haben, – klingendes Herzblut! Du lieber Gott, es wäre schrecklich, wenn der Doktor mit seinem ersten Werk auch schon sein Schwanenlied gesungen hätte! – Noch hoffe ich, dass unser wackerer Doktor hier ihn wieder hoch päppelt, – es war die höchste Zeit, dass er in seine Behandlung kam!«
Malwine hatte die Sprecherin mit weit offenen Augen angestarrt.
Es war ihr plötzlich, als griffe eine kalte Hand nach ihrem Herzen.
Sie nickte nur und sagte leise: »Das wäre schrecklich!«
Im Nebenzimmer hatte der junge Komponist währenddessen die Klavierlichter wieder ausgelöscht und den Stoß Noten, welchen seine kleine Cousine diensteifrig herangeschleppt hatte, auf einen Seitentisch geschoben.
»Ich kann’s auswendig und finde die Noten auch bei Nacht!« scherzte er.
»Aus deiner Oper, Helmut! Ach bitte, die Romanze und das Liebesmotiv!«
Er nickte. »Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen wollen!«
And dann neigte er das bleiche, schmale Antlitz einen Augenblick tief zur Brust und seine Hände glitten leise präludierend über die Tasten.
»Man hört es hier besser, als da drinnen!« sagte die Majorin und lehnte sich wohlgefällig in den Sessel zurück, Malwine aber erhob sich und trat, wie von unsichtbaren Gewalten getrieben, in die Tür, zog lautlos einen Stuhl heran und setzte sich nahe dem Klavier nieder.
Ein schneller Blick aus den dunklen Augen traf sie, – Novalla lächelte ihr zu, und das sonst so ernste, nüchterne und gleichgültige Mädchen von sechsundzwanzig Jahren fühlte plötzlich, wie ihr Herz schlug – schneller und schneller, so schnell, wie noch nie zuvor.
Dann klangen die süßen, wunderholden Melodien, eine Flut von zauberischen Tönen durch das Zimmer, leise wie Blattgeflüster, anschwellend wie Meereswogen und leidenschaftlich dahinbrausend wie der Sturmwind, welcher den Lenz auf seinen Schwingen trägt.
Malwine regte sich nicht, sie lauschte wie im Traum, und ihr Blick hing an dem blassen Gesicht des Künstlers. Die Erregung spiegelte sich darin, warm und rot leuchtete es durch die wachsfarbenen Schläfen, die Augen schienen zu wachsen, die lockigen Haare fielen wirr und genial immer tiefer in die Stirn.
»Klingendes Herzblut!« zog es durch Malwines Sinn; – ja, das ist klingendes Herzblut…
Und dann sang er, mit weicher, mäßig lauter, wundersam melodischer Stimme. Eigenartige Worte und eigenartige Töne, eine Welt voll fremden, leidenschaftlichen Empfindens, wie es in das graue, schwerfällige Alltagsleben Malwines noch nie gedrungen war.
»Verstehst du mich, Weib, Kannst du’s begreifen, Was flammenauflodernd Und göttergewaltig Die Brust mir durchzieht?…«
Seine Stimme schwoll an, wie ein Feuerstrom floss sie dahin in die Herzen der Zuhörer, und seine dunklen Wimpern hoben sich abermals und ein Blick traf Malwine – o Herr des Himmels, welch ein Blick!
»Verstehst du mich, Weib?«
Sprach er zu ihr? – Allein zu ihr?
Wie ein Zittern geht es plötzlich durch ihre Glieder, sie fühlt, wie ihr alles Blut siedend in die Wangen steigt, – ja, ja, sie versteht ihn! Und wenn sie seine ganze, volle Genialität noch nicht fassen und begreifen kann, so wird sie es lernen, das weiß, das fühlt sie.
»Todesschatten umwallen mein Haupt – Schon reißt in den Händen der Norne der Faden, Ein letzter Pulsschlag braust mir zum Herzen – Liebe erfüllt ihn, Liebe, du Hohe, du Reine, zu dir!«
Welch ein Ausdruck der Stimme, welch eine herzbezwingende Gewalt zauberischer Harmonien!
»Todesschatten umwallen mein Haupt …«
Malwine schaudert zusammen. Ist dies wahrlich ein Schwanengesang? Ihr deucht es selber, dass seine Seele ihr tiefstes, reichstes, innigstes Leben in diesen Klängen ausströmt.
»Klingendes Herzblut …« – die Worte hallen ihr schrill und todesweh durch den Sinn.
Ein Beifallssturm umbraust den Sänger-Komponisten nach dem sekundenlangen atemlosen Schweigen, welches seinem Vortrag folgte.
Auch Malwine hat ihm gedankt – aber erst spät, ganz zuletzt, als er zu ihr trat und fragte: »Sind auch Sie zufrieden mit mir?«
Was sie auf seine scherzenden Worte erwidert, weiß sie nicht. Aber er hat es wohl in ihren Augen gelesen, wie sie es meinte, denn er blickte lange und forschend hinein.
»Ich möchte Ihnen gern einmal ein paar Partien meines neuesten Werkes, an welchem ich jetzt arbeite, vorspielen, mein gnädiges Fräulein. Haben Sie wohl Zeit für einen fahrenden Sänger?«
Sie versicherte ihn, dass er im Hause ihrer Eltern stets willkommen sein werde, und dass er ihr keine größere Freude bereiten könne, als durch die Erfüllung dieses Vorhabens!
Er dankte sichtlich erfreut und drückte ihre Hand.
»Ich werde kommen!«
Dann umringten ihn die alten Damen aus dem Nebenzimmer, man plauderte noch kurze Zeit, dann verabschiedete man sich. Zum ersten Mal schied Malwine ungern aus einer Gesellschaft.
Das war eine wunderliche Nacht.
Malwine wusste sich nicht zu entsinnen, dass sie jemals im Leben eine Nacht durchwacht hatte, kaum während der wenigen Kinderkrankheiten, welche sie durchgemacht.
»Malwine schläft sich immer wieder gesund!« hatte die Mutter oft gesagt und voll Stolz manch Anekdötchen über den gesunden Schlaf ihrer Tochter erzählt, – und heute?
Mit weit offenen Augen lag sie in den Kissen und wartete auf die Müdigkeit, welche nicht kommen wollte.
Vor ihren Ohren summte es wie Musik; all die Melodien, welche sie am Abend gehört, waren wunderholde geflügelte Genien geworden, die tanzten einen fantastischen Reigen um ihr Lager, die legten ihre glühheißen Händchen auf ihre Stirn und ihr Herz und blickten sie mit dunklen Augen an, lächelnd, mitleidig, selig und traurig zugleich.
Eine Stimme aber zog wie ein Echo voll traumhafter Süße durch die stille Nacht, die sang immer nur dieselben Worte, weh und klagend wie die Seufzer eines Sterbenden:
»Todesschatten umwallen mein Haupt …«
Und dann ging es wie ein Schauern und Frösteln durch die Seele des jungen Mädchens, obwohl ihre Wangen wie im Fieber brannten.
Ob sie auch die Augen schloss, sie sah doch ein bleiches, sinnendes, schier verklärtes Angesicht, welches sich ihr zuwendet und mit unbeschreiblichem Blick in ihre Augen voll schwärmerischer Innigkeit singt:
»Verstehst du mich, Weib, Kannst du’s begreifen. Was flammenauflodernd Und göttergewaltig Die Brust mir durchglüht?«
Nein, noch konnte sie es nicht begreifen!
Sie stand wie vor einem Rätsel.
Die Männer, welche bisher ihren Weg gekreuzt, die verstand und begriff sie, denn es waren zumeist Soldaten wie ihr Vater, – und sie glichen ihm.
Verkörperte Prosa, praktisch, reell denkend bis in die tiefsten Herzensfasern hinein, edel, brav, kernig, furchtlos und schroff, – hart und anspruchsvoll gegen sich selbst und gegen andere, – Menschen, vor deren scharfem und klarem Blick alle Phantome zerrannen, die kein Sinnen und Träumen, sondern nur Taten und nüchterne Arbeit kannten, die keine liebliche Muse mit Rosenlippen geküsst, sondern nur das geharnischte, eherne Weib, die Pflicht, mit rauer Hand gebieterisch durch das Leben führte.
Welch ein Unterschied zwischen ihrem Vater und Helmut Novalla, dem idealen, schwärmerischen Künstler!
Malwine war es, als sei plötzlich ein dichter Nebel vor ihren Augen zerronnen.
Alles, was sie unbewusst entbehrt und ersehnt hatte, was sie an dem Vater und den anderen vermisste, ohne sich dessen klar zu werden, das fand sie in dem jungen Komponisten, und weil es gar so neu und fremd für sie war, und weil es ihrem eigenen Wesen und Charakter so fern stand wie die Nacht dem Tage, – darum machte es einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf sie.
Malwine stand urplötzlich vor ihrem Schicksal, diesem lächelnden Weib mit den Sonnenaugen, welches an keinem Sterblichen vorübergeht, welches auch den Verborgensten findet und mit seinem weißen Finger zeichnet, »und nähme er selbst Flügel der Morgenröte!«
Der Soldat in Mädchenkleidern, die nüchterne, resolute und resignierte Malwine hatte die Liebe nie gesucht und nie begehrt, darum trat sie ihr ungerufen in den Weg und berührte erbarmungslos mit kühlen, ernsten Lippen ihre Stirn.
Was ihr an dem fremden Künstler so bezaubernd und hinreißend erschien, das süße Schmachten und Schwärmen, das war ihr selber ganz unmöglich. Und darum stand sie am anderen Morgen ebenso wie an allen anderen Tagen auf ihrem »Posten« bei der Arbeit, stärkte die Wäsche und führte den Bolzen, und wer in ihr ruhiges, unverändert ernstes Gesicht schaute, der ahnte nicht, dass dieses kahle und duftlose Lebensbäumchen über Nacht eine Knospe getrieben, frisch und schwellend, bereit, der ersten und einzigen Blüte die Hülle zu sprengen.
Stunde um Stunde verging.
Wieder und immer wieder huschte Malwines Blick durch das Souterrainfenster nach der Straße empor, – aber sie vergaß nichts und versäumte nichts, – und wenn auch für ihr Herz und all seine scheuen, heimlichen Gedanken ein großer, heiliger Sabbat angebrochen war, hier im Hause war es Werktag wie stets zuvor.
Ein leichter, schneller, etwas unregelmäßiger Schritt auf den Steinplatten draußen, – die Glocke an der Haustür tönt, und Malwine streicht, tief aufatmend, mit den schlanken, kräftig-großen Händen über das glatt gescheitelte Haar und sagt zu dem Hausmädchen:
»Öffnen Sie, und wenn es Besuch ist, führen Sie ihn in den Salon; ich komme sogleich.«
Sie sagt es so ruhig und gebietend wie stets, nicht eine Wimper zuckt in dem vollwangigen Antlitz, nur die Röte vertieft sich um einen Schein, und die Finger, welche die Schürze abbinden, greifen nicht so fest zu wie sonst.
»Herr Doktor Novalla möchte seine Aufwartung machen; – ich bat ihn, einzutreten.«
Dore legte die Visitenkarte auf das Plättbrett nieder und wandte sich gleichgültig dem Korb mit der eingesprengten Wäsche wieder zu, – sie war es nicht gewohnt, dass ihre Gebieterin sich mit ihr des längeren unterhielt.
»Melden Sie den Besuch bei dem Herrn Oberst und der gnädigen Frau an!«
»Die Herrschaften sind vor ein paar Minuten in die Stadt gegangen.«
»So, dann benachrichtigen Sie gnädige Frau sofort, wenn sie zurückkommt.«
Zum ersten Mal im Leben sagte Malwine etwas Überflüssiges, zum ersten Mal empfand sie eine Verlegenheit, welche sie nicht zeigen wollte.
Hastig wandte sie sich um und schritt die Steintreppe empor, nach dem Erdgeschoss.
Der Gedanke, noch einen Blick in den Spiegel zu werfen, durch irgendeine kleine Zutat ihren äußeren Menschen zu verschönen, kam ihr gar nicht in den Sinn. Und doch schlug ihr das Herz, als wolle es zerspringen.
Sie trat in den Salon. Doktor Novalla wandte sich hastig von dem Klavier zurück. Er hatte einen Stoß Noten, welcher seitlich des Instruments auf einer kleinen Etagere lag, durchblättert.
Lächelnd hielt er ein abgegriffenes kleines Heft empor. »Diese Etüden und Sonaten verraten mir, dass der heilige Clementi auch an Ihnen nicht spurlos vorübergegangen ist!« scherzte er und drückte ihr fest und herzlich die Hand. »Das muss jetzt anders werden. Sie dürfen nur noch Novalla spielen!« und dann setzte er sich in seiner nervös-hastigen Weise auf den nächsten Sessel nieder und nickte ihr beinah wehmütig zu: »Ja, da bin ich nun, mein gnädiges Fräulein, ein Geist, welchen Sie gerufen haben! Nun sehen Sie zu, wie Sie mich wieder loswerden!«
Seine heitere Art wirkte sehr angenehm auf Malwines eigenartige Seelenstimmung, und wenn es ihr auch nicht möglich war, auf seinen scherzenden Ton einzugehen – der Humor fehlte ihr gänzlich, – so war doch ein harmloses Gespräch angeregt, welches sich bald lebhaft und interessant gestaltete.
Fräulein von Ries hatte dem jungen Komponisten schon am gestrigen Abend erzählt, dass der Bruder ihrer Mutter Generalintendant des Königlichen Theaters zu X. sei, und dass sie während längerer Besuche daselbst Gelegenheit gehabt habe, viele und gute Musik, sowie viele der bedeutendsten Sänger und Sängerinnen zu hören.
Dieses Thema schien Novalla sogleich interessiert zu haben. Auch jetzt lenkte er das Gespräch darauf zurück, nachdem er sich sehr höflich nach Frau von Ries erkundigt und Malwine die Eltern bei ihm entschuldigt hatte mit der Versicherung, dass dieselben wohl baldigst zurückkehren würden. And nun musste sie wieder von ihrem Besuch bei dem Onkel erzählen, von ihren interessanten Bekanntschaften, von den Aufführungen einzelner Werke.
Malwine hatte zumeist mit viel nüchterner Sachlichkeit von diesen Erlebnissen gesprochen, anerkennend und befriedigt, doch ohne die mindeste Begeisterung oder wärmeres Empfinden, denn das Theater war ihr stets ein fernliegender Begriff gewesen, auf welchen ihr Vater nicht einmal gut zu sprechen war.
»Narrheit und Firlefanz« nannte er die dramatische Kunst, welche in ihrer modernen Richtung nur eine polizeiwidrig laxe Moral predige, die Sitten verderbe und unerfahrenen Frauenzimmern ein böses Beispiel gebe! Der Leichtsinn sei ohnehin groß genug in der Welt, man brauche ihn wahrlich nicht noch extra mit elektrischem Licht zu beleuchten!
Malwine hatte zu solcher Kritik nur ganz einverstanden genickt und hinzugefügt: »Seit unsere Hanne ihre paar Groschen jeden Sonntag ins Theater trägt, ist sie für die Küchenarbeit unbrauchbar geworden! Das Geld wird verplempert und der Kopf verdreht – und Hanne ist nicht das einzige Opfer des Theaterteufels!«
Dies alles schien Malwine jetzt völlig vergessen zu haben. Die so schwärmerisch leuchtenden Augen in dem blassen Gesicht glichen Zauberseen, in welchen alles rettungslos versank, was ehemals die Grundsteine ihrer Ansichten gebildet. Sie hatte viel und geistreich in dem Hause des Onkels über Musik reden hören.
Damals hatte sie nur aus Höflichkeit zugehört, jetzt machte sie plötzlich Gebrauch von diesen Kenntnissen. Sie brüstete sich durchaus nicht damit, als seien es ihre eigenen Ideen, dazu war sie viel zu ehrlich und »pflichtgetreu«, aber sie erzählte von den Anschauungen und Meinungen dieses oder jenes Kapellmeisters, von den Eigenarten der Sänger, welche oft an wunderlichen Kleinigkeiten hängen, soll ihnen eine Rolle besonders zusagen.
Und Novalla hörte voll brennenden Interesses zu, zeigte es in seiner lebhaften und genial-ungenierten Weise so ehrlich, wie ihn die Unterhaltung fessele und anmute, dass sich die Röte auf Malwines Wangen immer mehr vertiefte und ihre Sprache beredt und ihre Augen glänzend wurden wie nie vorher. Man hatte sie ja nie im Leben durch viel Interesse ausgezeichnet, und sie hatte weder Teilnahme verlangt noch sonderlich erzeigt, sie glaubte viel zu vernünftig zu sein, um nach Liebenswürdigkeiten der Männer zu fragen, sie legte keinen Wert darauf und entbehrte sie nicht.
Aber in jedem Frauenherzen, und wenn es das kühlste und resignierteste ist, schläft unter aller Asche der Gleichgültigkeit doch ein winziges Samenkörnlein, die Eitelkeit, welches nur ein einziger Sonnenstrahl zu treffen, ein einziger Tautropfen zu netzen braucht, um es treiben, grünen und blühen zu lassen, oft als erstes Maienreislein, welches sich breit macht im Herzen, wächst und wächst und es mit der Zeit zum größten Teile ausfüllt, manchmal aber auch als Johannistrieb, welcher einmal nur in später Zeit Knospen ansetzt, um von baldigen Herbstfrösten zu Tode gefroren zu werden.
Walwine ward sich kaum klar über das glückselige Gefühl, einen Mann durch ihre Unterhaltung zu interessieren, es hatte sich wie zarte, rosenrote Wölklein über all ihr Denken und Sinnen gebreitet, sonst hätte ihr sonst so scharfer Verstand wohl bald bemerkt, wie es nur der Generalintendant und seine für einen Komponisten so einflussreiche Stellung war, welcher Novallas Aufmerksamkeit fesselte.
Malwine aber blickte in die dunklen, träumerischen Augen, lauschte der weichen Männerstimme mit dem schwermütigen Klang, und ohne dass sie es selber merkte, spann der süße Zauber einer ersten, tiefen Neigung die goldenen Fäden um ihr Herz.
Es dauerte lange, bis Herr und Frau von Ries heimkehrten, aber den Plaudernden war die Zeit verflogen wie ein Traum, und als Novalla sich endlich verabschiedete, hatte er auch auf Malwines Mutter einen recht sympathischen Eindruck gemacht, obwohl sie sich mit herb geschlossenen Lippen an ihren Nähtisch setzte und überlegte: »Ein netter Nensch, – auch ein recht hübscher, interessanter Mann. Aber – du lieber Gott! – Er scheint sich gut mit Malwine zu unterhalten und um ihretwillen gekommen zu sein, – na, und dann muss ihm entschieden das Beste zum Freier, die nötigen Dukaten, fehlen! Wie sollte zu uns ein solches Glück kommen? Uns geht ja alles quer im Leben!«
Der Oberst äußerte sich nicht über den Besuch, welcher ihm sicher sehr gleichgültig gewesen.
Er brummte etwas über unvorschriftsmäßig lange Haare, zu viel Weichlichkeit und das verdammte Parfüm im Schnupftuch – und zog sich in sein Zimmer zurück, wo die Mittagszeitung auf ihn wartete.
Malwine aber ging wieder schweigend an ihre Arbeit und rührte emsig die Hände. Über ihrem sonst so kühlen Antlitz lag etwas wie eine stille Glückseligkeit, ein fremder, milder Glanz, welcher es verklärte. Das bemerkte aber niemand, denn das gnädige Fräulein war keinem Menschen jemals verändert erschienen, darum hatte man es aufgegeben, sie zu beobachten.
Oberst von Ries war in allen Dingen korrekt; er gab nach zwei Tagen bei seinem Hausarzt eine Karte für Doktor Novalla, welcher sich just auf der Promenade befand, ab.
Dann vergingen abermals zwei Tage, und Malwines Mutter überlegte gerade, ob und wann sie den Komponisten einladen müssten, und ob es vorteilhafter sei, kaltes oder warmes Abendbrot zu geben, als ihre Tochter eiliger als sonst in das Zimmer trat und der Mama schweigend einen Brief hinhielt.
»Was ist denn los?« fragte Frau von Ries missmutig. »Du siehst, dass ich den Vogelkäfig neu bronziere und das Papier nicht anfassen kann!«
»Eine sehr liebenswürdige Einladung von Sanitätsrats für heute Abend. Es soll musiziert werden, und fragen sie an, ob es mir Freude machen würde, neue Kompositionen Novallas kennenzulernen.«
»Willst du hin? – Meinetwegen.«
Die Frau Oberst pinselte so eifrig an ihrem Gitter, dass sie gar nicht merkte, wie verändert die Stimme ihrer Tochter klang.
Wie sollte sie auch! Das hatte sie ja noch nie im Leben getan, wie sollte sie gerade jetzt beben und stocken?
Ach nein, solche Beobachtungen hatte Frau von Ries längst aufgegeben.
Sie sah auch nicht die leuchtenden Augen Malwines, sie hörte nur: »So werde ich zusagen!« – nickte und tupfte und pinselte weiter an dem altersschwachen Vogelhaus.
Am Abend zog sich Malwine schon früher als sonst zurück, um sich anzuziehen.
Ehemals hatte der Spiegel nur als unnütze Wanddekoration im Zimmer gehangen, heute wurden sogar noch extra zwei Lichter davor angesteckt und das geschliffene Glas mit dem Staubtuch vorher noch einmal blitzblank gerieben.
Fräulein von Ries hielt sogar sekundenlang die Brennschere in der Hand, legte sie aber errötend wieder nieder und blickte sich ganz verlegen um, ob auch niemand Zeuge dieses unsinnigen Vorhabens gewesen sei.
Die Haare brennen! Sie hätte es wirklich ganz gern getan, denn die Mutter hatte einmal gesagt: »Die Ballfrisur mit dem welligen Scheitel steht dir so gut, Malwine, sie macht dich um fünf Jahre jünger!«
Wie gern möchte sie heute recht jung und hübsch aussehen, aber was sollten die Eltern sagen und was würden die Menschen denken! Sie glaubten womöglich, sie putze sich für …
Malwine hielt ganz erschrocken im Denken inne, errötete noch mehr und legte das Eisen hastig in die Schublade zurück.
Um Gottes willen nicht auffallen!
Dieser Gedanke ist ihr seit jeher furchtbar gewesen, er passte so gar nicht zu den peinlich korrekten Ansichten, in welchen sie erzogen war.
Und warum auch auffallen? Es war ja so gar nichts Besonderes oder Hübsches an ihr zu sehen, und sie war bisher froh darüber gewesen, wenn sie recht unbeachtet und unbemerkt ihren geraden, ebenen Lebensweg gehen konnte.
Welch eine Veränderung war plötzlich mit ihr vorgegangen?
Sie fragt es sich selber und gibt sich doch keine Antwort darauf, im Gegenteil, sie möchte es machen wie ein Kind, welches die Augen schließt, um eine Gefahr nicht zu sehen.
Wendet das dieselbe ab?
Auch das möchte sie glauben voll kindlicher Sorglosigkeit und möchte sich plötzlich nur des Lebens freuen und es, ohne nachzudenken und ohne zu sinnen, genießen.
Dieselbe Malwine, welche noch vor wenig Tagen das Leben so schwer und ernst genommen. Sonst trug sie mit Vorliebe dunkelfarbige Kleider, heut hielt sie die hellblaue Toilette, welche ihr die Tante Generalintendant geschenkt – eine plötzliche Trauer ließ sie ihr entbehrlich erscheinen – nachdenklich in der Hand und schwankte ein paar Minuten, ob sie dieselbe anlegen solle oder nicht.
Dann schüttelte sie abermals mit leichtem Erröten den Kopf.
Wo waren heut nur ihre Gedanken! Es werden höchstens fünf oder sechs Menschen bei Sanitätsrats anwesend sein, dazu wählt man keine Dinertoilette, oder man macht sich lächerlich. Sie zieht eine schwarz und weiß gestreifte Bluse und einen schwarzen Rock an. Ihr Blick fällt auf die schönen, vollblühenden Kamelien auf dem Fensterbrett, – einen Augenblick verlegenen Zögerns, eine weiße oder eine rote?
Und sie schneidet eine rote ab und steckt sie mit unsicheren Händen an dem Busen fest.
Wie wunderlich ihr das vorkommt! Sie ist es so gar nicht gewöhnt, sich zu putzen.
Sie legt auch den Mantel um, ehe sie sich von den Eltern verabschiedet, sie schämt sich förmlich bei dem Gedanken, dass man die Blume als etwas Außergewöhnliches entdecken könnte.
Und dann schreitet sie hastig in den dunklen, frühen Abend hinaus.
Die Schneeflocken stieben in tollem Tanz um sie her und der Wind fährt mit leisem Klang durch die Baumkronen des Gartens, das Flackerlicht der Laternen zuckt unruhig über die Trottoirplatten, und tiefe, schwarze Schatten fallen über den Weg.
»Todesschatten umwallen mein Haupt …«
Wie ein Echo ziehen die Worte im Klang seiner Stimme durch ihr Herz, und Malwine friert plötzlich und schreitet hastiger aus, als müsse sie eilen, wenn sie das blasse Antlitz mit den fieberheißen Augen noch einmal sehen wolle.
Welch ein unbeschreiblich schöner, zauberhafter Abend.
Welch ein Plaudern, Lachen. Scherzen! – Malwine entsinnt sich nicht, jemals im Leben so froh und glücklich gewesen zu sein.
Nach dem Abendbrot wird wieder musiziert. Diesmal sind es fast ausschließlich heitere und lyrisch schwärmerische Lieder, welche erklingen, und wenn auch die dramatisch düsteren Arien und Rezitative dem jungen Komponisten besser liegen, so entzückt er die Zuhörer doch beinahe noch mehr durch diese lebensfrohen Vorträge, denn die Stimmung ist ihnen entsprechender.
Malwine lauscht mit glühenden Wangen den süßen Liebesworten, dem kecken, siegfreudigen Minnen und Werben, und wenn die dunklen Augen sie dabei suchen und mit unbeschreiblichem Blick in die ihren tauchen, dann überkommt es das stille Mädchen plötzlich wie ein heißes, ungestümes Verlangen nach Leben, Glück und Liebe, nach all der heiteren, rosigen Daseinslust, welche ihr bislang so ferngeblieben und an welche sie doch auch ein Recht hat, das große, heilige Recht eines jeden Menschenherzen!
Der Sanitätsrat setzt sich zu ihr und hat ihr viel Vertrauliches zu erzählen von den vielen Kabalen und Hindernissen, welche ein junger Komponist auf seinem Werdegang zu überwinden habe, von den ungeheuren Vorzügen, welche es hat, wenn er bei hervorragenden Intendanten oder Kapellmeistern gut empfohlen wird.
Malwine blickt lebhaft auf.
»Glauben Sie, dass Onkel Karl ihm nützen kann?« fragte sie fast atemlos.
»Der Generalintendant? Nun, das versteht sich, mein gnädiges Fräulein! Wenn Helmuts neue Oper zuerst an dem so hervorragenden Hoftheater unter wohlwollender Leitung Ihres Herrn Onkels aufgeführt würde bei einer so glänzenden Besetzung der Rollen, wie sie dort möglich ist, dann wäre Helmuts Glück gemacht. Läge es wohl in Ihrer Macht, ein freundliches Wort für unseren jungen Künstler bei Ihrem Herrn Onkel einzulegen?«
Malwine stimmt eifrig zu; ihre Augen leuchten in Entzücken, dass sie, gerade sie, so gut mit dem Onkel steht, dass sie Novalla die Wege ebnen kann, dass sie zu etwas nütze ist auf der Welt!
Der Sanitätsrat ist hocherfreut.
»Sie ahnen nicht, mein gnädiges Fräulein, welch einen Freundschaftsdienst Sie ihm dadurch erweisen würden!«
Und dann spricht er von der Persönlichkeit seines Neffen, welch ein ideal beanlagter vortrefflicher Mensch er sei, wie er seit dem Tode seiner Eltern so einsam lebe und wie gut es für ihn sein würde, wenn er heiratete. Seine pekuniäre Lage sei eine sehr günstige, nur mit der Gesundheit stehe es momentan noch schlecht, doch werde da gerade ein geregeltes, glückliches Eheleben wahre Wunder tun.
Malwine hat die Hände um den Fächer gekrampft, sie atmet kaum und ihre Lippen beben.
Um etwas zu erwidern, lenkt sie das Gespräch wieder auf ihren Onkel zurück, und da der junge Komponist in diesem Augenblick neben sie tritt und sich an der Unterhaltung beteiligt, gewinnt sie ihre Harmlosigkeit zurück.
Helmut ist beseligt bei dem Gedanken an Malwines Fürsprache.
Er nennt sie seinen guten Engel, seine Lady patroness, welche seinem Leben neuen Inhalt verleihe, und dann schmieden sie voll glücklichen Eifers Pläne, was zu tun sei, um Onkel Karl am wirksamsten für die neue Oper zu interessieren.
Gleich morgen wird Malwine an ihn schreiben, und dann muss die Partitur eingeschickt werden, Novalla muss sich dem Generalintendanten persönlich vorstellen, Fräulein von Ries wird es so einrichten, dass sie in dieser Zeit just im Hause des Onkels zu Besuch weilt, – nun, und dann wird eben alles nach Wunsch gehen!
Welche Zuversicht, welch ein Pläneschmieden von all den schönen Tagen, welche sie dann gemeinsam in der Residenz verleben werden! Von Musik, Kunst – allem Schönen, was Geist und Seele erquickt!
Solch ein Plaudern von gemeinsamen Interessen führt die Menschen schnell zusammen.
Es deucht Malwine, als sei Doktor Novalla schon seit langen, langen Jahren ihr bester Freund gewesen, und doch ist ihr alles so neu, so zauberhaft, glückselig neu!
Die Sanitätsrätin aber steht mit ein paar Damen abseits und blickt voll mütterlichen Wohlwollens zu Fräulein von Ries hinüber.
»Ich habe gar nicht geahnt, dass Fräulein Malwine so sehr musikverständig ist! Sehen Sie doch, in welche Begeisterung sich die beiden hineinreden! So jung und hübsch ist mir das Mädchen noch nie erschienen wie heute Abend, ich habe sie stets für etwas pedantisch und in ihrem ungeheuren Pflichtgefühl für geradezu altjüngferlich gehalten. Nun sieht man mal wieder, wie man sich irren kann!«
»Du liebe Zeit, wo sollte sie hier auch ihre Kunstinteressen betätigen!« sagte eine ältere Gesanglehrerin, welche ehemals Konzertsängerin gewesen war, und zuckte seufzend die Achseln. »Hier in der Stadt hat man kein Verständnis für Ideale, und wie wenig die Kunst gepflegt wird, wissen wir alle! Gott sei es geklagt, hier ruhen die Künstler wahrlich nur darum auf ihren Lorbeeren, weil sie die Matratzen versetzt haben!«
Welch selige, wonnevolle Tage waren das plötzlich! Zwar sah kein Mensch es Malwine an, dass ihre ganze Seele ein Meer voll Glanz und Licht geworden war, sie verrichtete unverändert still und gewissenhaft ihre Obliegenheiten in Haus und Hof, und wohl nur der feinen Beobachtung eines Menschenkenners wäre die Veränderung, welche mit ihr vorgegangen, aufgefallen.
Malwine hatte dem Onkel einen Brief geschrieben, welchen ihr begeistertes, glückzitterndes Herz diktiert hatte, und der darum nicht ohne Wirkung geblieben war.
Der Generalintendant antwortete umgehend, sehr liebenswürdig und interessiert und voll schmeichelhafter Anerkennung über das erste Werk Novallas, welches zu großen Hoffnungen berechtige. Er schlug selber vor, der Komponist solle die Partitur persönlich bringen und ihn und den Hofkapellmeister mit der Musik und dem Inhalt der neuen Oper bekanntmachen.
Herr und Frau von Ries hatten Sanitätsrats und ihren talentvollen Gast just zu einem »freundschaftlichen Abendessen« gebeten, als der Brief eintraf und Malwine überreichte ihn mit flammenden Wangen dem jungen Komponisten.
Novalla war auf dem Gipfel alles schwärmerischen Entzückens: die besten Beziehungen zu einer für ihn so wichtigen Hofoper waren angeknüpft, und die Tragweite eines eventuellen Erfolgs für alle Zukunft außerordentlich.
Die Freude und das dankbare Entzücken leuchteten ihm aus den Augen, seine Blicke, sein Händedruck, seine leise geflüsterten Worte versetzten Malwine in einen wahren Wonnerausch.
Da erschloss sich an dem kahlen, duftlosen Baum ihres Lebens die erste und einzige Blüte der Liebe, heimlich und verborgen, aber genährt von Lebensmark und Herzblut, ein spätes Frühlingsreis, an welchem der ganze Baum verblutet, wenn es das Schicksal mit grausamer Hand herniederreißt.
Novalla bestand darauf, umgehend nach X. abzureisen, um das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Der Sanitätsrat schüttelte missbilligend den Kopf. »Es ist ein Unsinn, Helmut! Warte gelinderes Wetter und eine Besserung deiner Erkältung ab! Du darfst bei dieser Kälte nicht reisen!«
Aber Novalla schüttelte aufgeregt den Kopf. »Es hängt zu viel davon ab, Onkel! Ich muss es!« beharrte er.
Auch Malwine bat, noch acht Tage zu warten, da sie vordem nicht abkömmlich hier sei und doch gern seiner Unterredung mit dem Onkel beiwohnen möchte!
Aber der junge Komponist versicherte sie, dass er seinen Aufenthalt in X. auf Wochen ausdehnen werde und vorerst nur alles Geschäftliche abwickeln wolle, ihre schönen Pläne sollten sich alsdann um so sicherer verwirklichen.
Und er setzte sich an das Klavier und sang den Jubel seines Herzens in zaubersüßen Liedern, dass selbst der Oberst die Whistkarten niederlegte und anerkennend nickte: »Donnerwetter, welche Stimme! Solch einen Tenor zum Kommandieren!«
Helmut Novallas Blick aber traf wiederum Malwine, und er sang, bis ein jäher Husten ihn unterbrach und der Sanitätsrat energisch das Klavier schloss.
Als die Gäste sich verabschiedet hatten, war Frau von Ries erregter als sonst.
Auf ihren hageren Wangen leuchteten rote Flecken und ihr Blick hing in unruhigem Forschen an dem Antlitz der Tochter, welche gewohnheitsgemäß das aus der Küche heraufgesandte und frisch geputzte Silber an dem nämlichen Abend noch in seiner Truhe verwahrte.
Sie verrichtete diese Arbeit ebenso geschäftsmäßig und ordentlich wie sonst, ohne einmal voll schwärmerischer Zerstreutheit aufzusehen ober sich zu verzählen, wie dies sonst bei verliebten Mädchen üblich ist.
Und doch war – doch musste sie in den Künstler von Gottes Gnaden verliebt sein!
Frau von Ries hatte sie bei dem Abschied von Novalla beobachtet, sie sowohl wie ihn.
Wie blickten sie einander in die Äugen! Wie erglühte Malwine bei seinen leise geflüsterten Worten, wie ausdrucksvoll küsste er ihr die Hand!
Wäre es möglich? Sollte sich da noch ein kleiner Roman anspinnen, jetzt noch, wo die Frau Oberst doch längst alle Hoffnung aufgegeben, ihre kühlherzige Tochter unter der Haube zu sehen?
Wie wäre solch ein Glück in ihrem Hause möglich? Denn ein Glück würde es sein.
Die Sanitätsrätin hatte ihr im Sofaeckchen vertrauliche Mitteilungen über den jungen Komponisten gemacht.
Er war in guter, beinah glänzender Lage. Seine Mutter, eine geborene Hamburgerin aus dem alten Patriziergeschlecht der Nachlers, hatte ein außerordentliches Vermögen mit in die Ehe gebracht, von welchem der gewissenhafte Justizrat Novalla nichts verbraucht, sondern alles für die beiden einzigen Kinder, Helmut und dessen Schwester Kläre, einer jetzigen Frau Leutnant von Hausmann, erhalten hatte.
Nach dem Tode der Eltern, hatten beide den Besitz des großen Vermögens angetreten, und Helmut konnte sich seiner Passion, zu komponieren, ruhig hingeben.
Er lebte viel auf Reisen und in großen Städten. Doch gerade dieses ungeregelte Leben und der Verkehr in Künstlerkreisen, welcher ja recht anregend, aber auch sehr aufreibend ist, da das wunderliche Völkchen der Gottbegnadeten ja zumeist des Nachts lebt, taugte nicht für Helmuts zarte Gesundheit, und so hoffe man sehr, dass der junge Mann nun ernstlich daran denke, sich einen eigenen Hausstand zu gründen.
Und bei diesen Worten hatte die Sprecherin der Frau von Ries so vielsagend zugelächelt, dass diese in ihrer Überraschung ganz vergessen hatte zu fragen, ob die Erwählte eines solchen Genies nicht auch eine hervorragende Künstlerin sein müsse?
Nun saß sie in tiefe Gedanken verloren und blickte erwartungsvoll auf die Tochter, ob diese ihr denn keine Andeutung machen werde, ob das Benehmen des Doktors zu Hoffnungen berechtige oder nicht.
Aber Malwine stand so ruhig und gelassen vor ihrem Silber, und sah wohl etwas erhitzt, aber nicht im mindesten aufgeregt aus.
Je nun, das war ja auch nicht ihre Art. Ihr so außergewöhnlich lebhaftes Wesen dem Komponisten gegenüber sagte ja genug: er gefiel ihr! Einen Korb wird sie ihm niemals geben, nun, und die Gewissheit genügte der vergrämten Frau.
Inniger als sonst schloss sie die Tochter, als diese ihr gute Nacht sagte, in die Arme, und dann lag sie noch eine Zeit lang wach im Bett.
Die Sanitätsrätin war dafür bekannt, dass sie gern ein wenig renommierte, – aber der Name Nachler sprach in diesem Fall für sich, – und dass sie gerade der Frau Oberst all diese Eingeständnisse machte?
Zum ersten Mal seit langen Jahren spielte ein Lächeln um die farblosen Lippen der verbitterten Frau, als sie die Augen schloss.
Währenddessen erörterten auch Sanitätsrats dies interessante Thema.
»Er scheint sich wirklich für Malwine zu interessieren!« sagte die Gattin, »ein wunderlicher Geschmack! Aber die Gegensätze berühren sich ja so oft, und einen so kränklichen Mann wie Helmut muss solch frische, blühende Walkürenkraft entzücken! Es würde mich sehr freuen, Malwine ist ein vortreffliches Mädchen, und dass sie bis über die Ohren in ihn verliebt ist, sieht ja ein Blinder! Die Erregung steht ihr gut und macht sie jung und mädchenhaft, ich finde sie in den letzten Tagen auffallend verändert!«
Der Sanitätsrat legte seine Krawatte bedächtig auf den Toilettentisch und zuckte die Achseln. »Glaubst du wahrlich, dass Helmut ans Heiraten denkt und Ernst machen wird? Anfänglich glaubte ich es auch, weil er ihr tatsächlich den Hof macht. Aber ich überlegte mir, dass dies Künstlermanier ist. Schmachten und Schwärmen gehört da zum täglichen Brot und wird nicht ernsthaft genommen. Du weißt, dass Helmut stets sehr impulsiv war. Auch halte ich es nicht für unmöglich, dass er in diesem Falle etwas jesuitisch denkt und Malwine nur als ›Weg‹ zum Onkel Generalintendant erachtet!«
»Pfui, das wäre arg!«
»Aber menschlich!«
»Das würde ich ihm nie verzeihen! Malwine ist eine Natur, welche an unglücklicher Liebe zeitlebens kranken würde!«
»Hoffen wir also das Beste!«
»Ich werde ihm einmal Moral predigen!«
Der Sanitätsrat zog scherzend die Schultern hoch. »Dann Gnade Gott dem jungen Mann! Das Moralpredigen verstehst du, Mütterchen! Mir geht die Reise des zukünftigen Bräutigams weit mehr im Kopf herum, ich halte sie bei dieser Kälte für einen Unfug! – Vielleicht würdest du dir mehr Verdienst erwerben, wenn du ihm diese Idee ›auspredigen‹ würdest!«
»Mit einem Sieb schöpfe ich kein Wasser! Von dieser Reise hält ihn keine Macht der Welt zurück, er fiebert ja vor freudiger Erregung und Hingeduld!«
»Je nun, – dann lass ihn fahren dahin!« gähnte der alte Herr. »Vielleicht ist’s ja wirklich von großem Vorteil für ihn! Und nun gute Nacht, Mütterchen! Denk’ dir einstweilen ein recht schönes Verlobungsmenü aus!«
Und auch Sanitätsrats schliefen in recht gehobener Stimmung ein.
Nur Helmut und Malwine schliefen nicht.
Ersterer schrieb noch ein paar flüchtige Zeilen an seine Schwester.
»Herzenskläre!
Morgen reise ich nach X. – Die besten Beziehungen zu dem dortigen Generalintendanten sind angeknüpft und hoffe ich, dass mein sehnlichster Wunsch, meine neue Oper dort zur Premiere anzubringen, in Erfüllung geht. Ich danke die Vermittlung einer sehr netten, scharmanten jungen Dame, welche mir überaus gut gefällt, wohl darum, weil wir so sehr verschieden sind. – Auch Dir würde sie gefallen. Du liebst ja auch das Solide so sehr und fürchtest stets, ich könne in die Netze einer Diva geraten! – Wenn ich einmal heiraten soll, so weiß ich jetzt wenigstens, wie die Betreffende sein muss! – Also halte den Daumen, dass alles glückt, – die Premiere und – die Heirat!
Dein ganz übermütiger Helmut«
Während er dies schrieb, stand Malwine an dem Fenster und blickte zu dem klaren Nachthimmel empor. Sie faltete krampfhaft die Hände. Es war ihr, als müsse sie aus tiefstem Herzensgrund ein Gebet voll banger Angst zum Himmel senden. Ihre heißen Wangen waren kühl und blass geworben, ihr erst so glückselig bebendes Herz schwer, – unbegreiflich und unfasslich weh und schwer.
Zwischen all dem Lachen und Singen und Klingen hindurch tönte es wie eine Totenglocke durch ihre Seele:
»Todesschatten umwallen mein Haupt …«
Tief aufatmend schlief sie endlich ein, ein Seufzer lag noch auf ihren Lippen und schwere Träume quälten sie. – Eine Rose erschloss sich vor ihrem Blick, eine köstliche, purpurne Rose. Entzückt griff sie danach, sie zu pflücken, – da entblätterte sie plötzlich und zerrann wie ein Tränenstrom zwischen ihren Fingern.
Träume sind Schäume.
Schon der nächste Morgen bewies es.
Die Tür ward hastig geöffnet und Frau von Ries trat über die Schwelle.
Sie sah sehr erregt aus. Die schmalen Wangen waren gerötet, die Lippen bebten.
In ihrer Hand duftete ein herrlicher Rosenstrauß, ein länglich großer Brief von steifem Büttenpapier schwankte zwischen ihren Fingern.
»Malwine, ein Morgengruß von Novalla!« rief sie so laut und unvermittelt, dass die sonst so nervenstarke Tochter mit leisem Schreckenslaut emporschrak.
»Sieh diese köstlichen Blumen! – Und hier ein Brief!«, fuhr die Frau Oberst hastig fort. »Was er wohl schreiben mag? Es ist noch so dämmerig hier,am Bett, ich werde an das Fenster treten und dir vorlesen!«
Und sie legte die Rosen schnell auf die Bettdecke, trat zurück, schob die Gardine ein wenig zur Seite und erbrach mit nervös zitternden Fingern den steifen Umschlag.
Ach, wenn es ein Heiratsantrag wäre! zog es wie ein heißer, flehender Wunsch durch ihre Seele.
Kaum vermochte sie es, die krausen, wunderlich verschnörkelten Buchstaben mit dem Blick zu überfliegen.
»Mein hochverehrtes, gnädigstes Fräulein! Da es mir in dieser frühen Morgenstunde nicht mehr möglich ist, persönlich zu Ihnen zu eilen, mich mit verehrungsvollstem Handkuss zu verabschieden, so muss ich diese Rosen für mich sprechen lassen und inständigst bitten, die duftenden Boten freundlich aufzunehmen. Ich reise in der festen und beglückenden Hoffnung, dass unsere Wege sich bald wieder im Hause Ihres Herrn Onkels zusammenfinden. – Ich fahre jetzt direkt nach F., meine dort zurückgelassene Partitur aus dem Schreibtisch zu holen. – Sie wissen ja, dass der gestrenge Onkel mir alles Arbeiten in seinem Hause verboten hatte! – Sollte das eine Duett, welches ich Ihnen gestern Abend vorspielte und mir noch nicht durchgeistigt genug erschien, noch gefeilt werden müssen, bleibe ich einen Tag dort, – ich glaube heute Nacht den richtigen Gedanken gefunden zu haben; das Sehnsuchtsmotiv muss wie ein Echo, das Liebesmotiv wie die Morgenröte erwachender Empfindung hineinklingen. Es lässt sich leicht machen, – die Begleitung muss den ersten Anklang bringen, dann erhebt sich die Frauenstimme klar und voll über die weichen Flötentöne – die Sehnsucht atmet aus die kleine Änderung getroffen, geht es geradesweges in die Residenz zu Ihrem Herrn Onkel. Dort auf Wiedersehen! – Im Geiste erklingt mir auch jetzt das Sehnsuchtsmotiv! – Ich küsse Ihre Hände und nenne mich ganz den Ihren!
Helmut Novalla.«
Die Leserin ließ den Brief sinken; sie sah zwar ein wenig enttäuscht, aber nicht entmutigt aus.
Langsam trat sie an das Lager der Tochter, setzte sich darauf nieder und steckte den Brief wieder in den Umschlag.
»Malwine«, sagte sie leise, »ich glaube, Novalla interessiert sich für dich! – Seltsam, ihr seid so grundverschieden, aber gerade die Gegensätze berühren sich ja so oft im Leben!«
Ihr forschender Blick traf das heiß gerötete Antlitz der Tochter, aber Fräulein von Ries neigte sich nur tief über die Rosenkelche und sagte so ruhig wie stets:
»Wir haben uns in rein künstlerischen Interessen gefunden, Mama! Bitte, mache dir keine Illusionen, es wäre so traurig, wenn du enttäuscht würdest.«
»Er ist ein sehr netter, scharmanter Mensch, – er gefällt dir auch!« – drängte die Mutter mit beinahe flehendem Blick. »Seine Vermögenslage ist so günstig! Und wenn dies auch keine Hauptsache ist, so ist es doch eine absolute Notwendigkeit.«
»Er gefällt mir sehr gut, aber zwischen dem Gefallen und Heiraten liegt noch eine große, große Kluft! Wie gesagt, ich glaube nicht, dass er irgendwelche Absichten hat!«
»Dann schickte er keine Rosen!«
»Höflichkeit!«
»Der Brief klingt mehr als höflich, – das Herz spricht durch die Zeilen!«
»Künstler wägen ihre Worte nicht ab!«
»Sie lassen sich huldigen, aber sie huldigen nicht selber!«
»Mamachen, ich beschwöre dich! Gib dich keinen falschen Hoffnungen hin!«
»Wenn er aber um dich anhielte – würdest du ja sagen, Malwine?« drängte Frau von Ries fast ungeduldig.
Da ward das erst so heiß gerötete Gesicht blass.
Malwine legte die Hand auf den Arm der Mutter und sagte so ruhig und gelassen wie stets: »Ich glaube es, Mama!«
Man kannte keine Sentimentalität oder Zärtlichkeit im Hause des Obersten, es war zeitlebens alles nur kühl und geschäftsmäßig aufgefasst und besprochen, und auch jetzt lag es nicht in der Art von Mutter und Tochter, eine lyrische Szene heraufzubeschwören.