Die Erlkönigin - Nataly von Eschstruth - E-Book

Die Erlkönigin E-Book

Nataly von Eschstruth

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Nataly von Eschstruth war eine deutsche Schriftstellerin und eine der populärsten und berühmtesten Erzählerinnen der Gründerzeit. Null Papier Verlag

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Nataly von Eschstruth

Die Erlkönigin

Eine Heimatgeschichte

Nataly von Eschstruth

Die Erlkönigin

Eine Heimatgeschichte

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962810-77-1

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Dan­ke

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Die Schat­zin­sel

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Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

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Eine Weih­nachts­ge­schich­te

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1.

Das Mond­licht glänzt auf der Groß­mut­ter weißem Schei­tel. Dro­ben in den Lin­den­zwei­gen duf­tet’s und blüht’s, surr­t’s und summ­t’s, und streift die Blu­mens­ter­ne her­ab auf die lau­schen­den Blond­köpf­chen. Groß­müt­ter­chen aber er­zählt:

»Es war ein­mal ein Kö­nigs­sohn, der wuss­te nicht, was die Lie­be war. Er lehn­te an dem Mar­mor­fens­ter sei­nes Nord­land­schlos­ses und blick­te hin­aus in die tan­zen­den Schnee­flo­cken und frag­te sie um Rat, aber die schüt­tel­ten die wei­ßen Ge­sicht­chen und sto­ben da­von. Da­rauf blick­te er em­por zu den Wol­ken, die mit mäch­ti­gen Flü­geln über die Schlos­stür­me flo­gen, seufz­te tief auf und rief: ›Ihr Kin­der des Sturm­winds, wisst ihr viel­leicht, wo ich die Lie­be fin­de?‹ Aber die Wol­ken wa­ren düs­ter und stumm, und zo­gen in wil­der Hast zu ih­rem Mut­ter­haus, dem klüf­ti­gen Ge­birg, des­sen Schei­tel die Pfos­ten des Him­mels trägt. ›Ich weiß, wo die Lie­be ist!‹ sag­te ein schüch­ter­ner Son­nen­strahl, sich durch das Ge­wölk steh­lend, ›hier oben ist es zu kalt und ein­sam, hier wohnt nur die Me­lan­cho­lie mit ih­ren trä­nen­feuch­ten Wan­gen, und der Sturm ent­blät­tert die Rose, ehe sich ihr vol­ler Kelch er­schloss, die Lie­be aber will Glut und Blü­ten, die Lie­be will Licht und Zau­ber­pracht. Komm! Fol­ge mir zur Wie­ge der Poe­sie, atme den Duft der flüs­tern­den Mu­sen­hai­ne, be­krän­ze Dein Haupt mit ih­rem Lor­beer, und küs­se die Lip­pen, de­ren See­le ein Lied glü­hends­ten Emp­fin­dens ist, bli­cke em­por zu dem leuch­ten­den Him­mels­dom, ver­sin­ke in dem Auge, des­sen Rät­sel­nacht das Ge­heim­nis des Glückes birgt, und Du hast die Lie­be ge­fun­den, die Lie­be im Glan­ze des Lichts!‹ Da fass­te Sehn­sucht das Herz des nor­di­schen Prin­zen, er stürm­te da­von durch Schnee und Eis, und wan­der­te ohne Rast und Ruh, bis er das Land der Son­ne fand! Aber die Glut blen­de­te sein Auge, der Blü­ten­duft be­täub­te ihn, und der Klang der Man­do­li­ne trieb ihm Trä­nen un­ver­stan­de­nen We­hes in die Au­gen, der Him­mel blitz­te und fun­kel­te wie ein stol­zes Auge, das kein Mit­leid kennt, und die Lip­pen mit ih­rem Hauch der Lei­den­schaft ver­gif­te­ten sein Herz­blut, wähn­te er. Da lag er in­mit­ten der pa­ra­die­si­schen Pracht, un­ter blü­hen­dem Ge­zweig und ju­beln­der Vo­gel­schar wie ein Ver­schmach­ten­der, wel­cher die Hän­de ge­gen die Brust presst und seufzt: ›nur einen Hauch der fri­schen Nord­lands­luft!‹ Heim­weh quäl­te ihn und trieb ihn aus dem Land des Glückes, in wel­chem er ver­geb­lich nach Lie­be ge­sucht! Da braus­te von neu­em der Sturm der Hei­mat um des Jüng­lings auf­at­men­de Brust, da schäum­te und don­ner­te das Meer um die ein­sa­men Klip­pen, und den­noch sproß­te an den Zwei­gen das ers­te teu­re Ei­chen­grün! Auf­ju­belnd schlang der Kö­nigs­sohn die Arme um den deut­schen Baum und brei­te­te sich nach dem mäch­ti­gen Turm­bau sei­nes Va­ter­hau­ses aus, und wie er dann vor­wärts­stür­mend die knos­pen­den Zwei­ge aus­ein­an­der biegt, da steht er plötz­lich wie ge­bannt vor der schlan­ken Maid, wel­che ihm laut­lo­sen Schrit­tes ent­ge­gen­tritt. Von ih­rem Schei­tel fließt ei­tel Son­nen­gold, ihr wei­ßer Na­cken leuch­tet wie die Myr­then­blü­te des Sü­dens und in den Au­gen strahl­te ein tief­blau­er Him­mel lä­cheln­der Un­schuld. Der Kö­nigs­sohn aber fühlt es wie einen Schau­er sü­ßer An­dacht durch sei­ne See­le we­hen, und wie er klop­fen­den Her­zens nä­her tritt, tief und glück­se­lig in die­ses treue Auge schaut, da ju­belt er voll won­ni­gen Ent­zückens: ›Ja, das bist Du, o Lie­be!‹«

Groß­mut­ter schwieg. Mit glän­zen­dem Blick lausch­te die En­ke­lin, aber das klei­ne Blond­köpf­chen auf dem Schoß der Al­ten war lei­se her­ab­ge­sun­ken, die sei­de­nen Wim­pern mal­ten lan­ge Schat­ten auf die ro­si­gen Wan­gen und laut­los er­hob sich die Er­zäh­le­rin, um den klei­nen Schlä­fer drin­nen im Forst­haus auf wei­che Kis­sen zu bet­ten.

Im Schat­ten der Lin­de stand Nor­bert und blick­te noch un­ver­wandt nach der mond­hel­len Front des Förs­ter­hau­ses, in des­sen Tür Groß­mut­ter so­eben ein­trat. »Ja, das bist Du, o Lie­be!« klang es vor sei­nen Ohren, und er strich lang­sam mit der Hand die vol­len Haar­lo­cken aus der Stirn. Er hat­te sie also ge­fun­den!

»Nor­bert!« flüs­ter­te ein fri­sches Stimm­chen ne­ben ihm, »gehst Du noch nicht mit uns her­ein? es ist schon spät, Va­ter wird gleich nach Hau­se kom­men, und dann müs­sen wir Alle im Bett­chen lie­gen.«

»Du bist auch noch ein klei­nes Mäd­chen, das zei­tig zur Ruhe muss!« ent­geg­ne­te der jun­ge Mann mit dem Stolz ei­nes Pri­ma­ners, »ich blei­be noch auf und wer­de dem On­kel durch den Wald ent­ge­gen ge­hen; gute Nacht, Änn­chen!«

Änn­chen stell­te sich auf die Fuß­spit­zen und reich­te mit den klei­nen Ar­men in die Höhe, um sie zärt­lich um sei­nen Hals zu schlin­gen, »Gute Nacht, Nor­bert«, und ein herz­haf­ter Kuss krönt den Ab­schied, »musst mich aber mor­gen früh ge­wiss auf­we­cken, wenn Du fort willst! – ja?«

»Ei ver­steht sich!« nickt der Vet­ter, sich wie­der zu vol­ler Höhe em­por rich­tend, »und wenn ich dann von mei­nen Rei­sen zu­rück­kom­me, brin­ge ich Dir schö­ne Mu­scheln und einen Pa­pa­gei mit!«

Änn­chen jauchz­te lei­se auf, und husch­te hier­auf wie ein hel­ler Mond­strahl über den Kies­platz in das Förs­ter­haus. – Nor­bert aber über­leg­te noch einen Au­gen­blick, dann schritt er ge­dan­ken­voll in den stil­len Wald hin­ein.

»… und siehst Du nicht dort Erl­kö­nigs Töch­ter am düs­te­ren Ort?«

Die Bu­chen­zwei­ge flüs­ter­ten ganz lei­se, als sprä­chen sie im Traum. Der Wald­weg war breit und moo­sig, ma­le­ri­sches Ge­stein bau­te sich hier und da zur Sei­te auf, um­nickt von schlan­ken Far­ren­blät­tern, oder über­wu­chert von groß­blätt­ri­gen Brom­beer­ran­ken, wel­che sich in dich­tem Ge­wirr an den Ab­hän­gen hin­zo­gen. Die He­cken­ro­sen blüh­ten und der Duft ver­steck­ter Wald­blu­men weh­te süß und schmeich­le­risch durch die laue Som­mer­nacht; ein Flö­ten, Zir­pen und Ra­scheln ging durch die Laub­hol­zwip­fel, und fern im Tal lock­te noch eine Nach­ti­gall in den Ha­sel­nuß­stau­den.

Nor­bert schritt lang­sam bergab; »Un­sinn mit den Mär­chen!« dach­te er und pfiff kopf­schüt­telnd eine un­kla­re Me­lo­die vor sich hin, »Lie­be! bah, was geht mich Lie­be an!« und er stimm­te mit sei­ner vol­len Ba­ri­ton­stim­me an: »Lieb­chen ade! schei­den tut weh, mor­gen da geht’s in die wo­gen­de See!«

Das Mond­licht flim­mer­te wie Ne­bel­duft um die dun­keln Tan­nen­häup­ter, ein Nacht­schmet­ter­ling strich mit schwer­fäl­li­gem Flü­gel quer über den Weg, und aus dem Tal kam fri­scher Wind­zug, wel­cher die Grä­ser der Hal­de wie See­wel­len auf- und nie­der­wo­gen ließ. Der Wald ward licht und hör­te mit rau­schen­der Ei­chen­front plötz­lich auf. Ein en­ges Tal zog sich am Fuß der An­hö­he hin, durch­schnit­ten von den spru­deln­den Wel­len ei­nes Ge­wäs­sers, der Nie­der­kleen, de­ren aus­ge­spül­te Wie­se­nu­fer von sil­ber­nen Er­len und Wei­den be­schat­tet wur­den. Man sah die Stäm­me wie dunkle Ge­stal­ten aus dem grau­en Ne­bel­meer tau­chen, aben­teu­er­lich und selt­sam, wie klei­ne, buck­li­ge Gno­men, oder tan­zen­de Rie­sen­lei­ber, de­ren dür­re Glie­der halt­los zu wil­der Umar­mung in ein­an­der grei­fen.

Nor­bert blieb ste­hen und blick­te un­ent­schlos­sen in den düs­te­ren Kleen­grund hin­ab. Zwei Käuz­chen flo­gen schrei­end an ihm vor­über und ver­schwan­den im Dun­kel, kla­gen­de Un­ken­stim­men rie­fen von dem Was­ser zu ihm her­auf. Da plötz­lich blitz­te es hell durch den Ne­bel, dicht un­ter den El­lern tauch­te ein Flämm­chen auf, husch, tanz­te es un­ter den Zwei­gen hin, und dann war es wie­der ver­schwun­den wie ein Blitz­strahl!

»Ein Irr­licht!« jauchz­te Nor­bert auf, »halt, klei­ner Ge­sell, Dich will ich in der Nähe se­hen!« und wie der Sturm setz­te er den Hü­gel hin­ab über die Wie­se.

»Irr­wisch!« rief er: »Halt ein!«

Da stand das Flämm­chen auch wirk­lich still, und je nä­her Nor­bert kam, de­sto grö­ßer und deut­li­cher ward es, end­lich konn­te er es ganz ge­nau se­hen und – doch was war das? So sieht kein Irr­licht aus! Das war ja ein bren­nen­des Ker­zen­licht, wel­ches sich in ei­nem Gla­se spie­gelt.

»Wer ist denn da?« frag­te eine her­ri­sche Kin­der­stim­me plötz­lich, »macht, dass Ihr ins Schloss zu­rück­kommt und ver­sucht nicht, mich von hier weg zu ho­len! Ihr habt mir gar nichts zu be­feh­len, ich tue was ich will, ich bin die Her­rin von Al­tin­gen!«

Die letz­ten Wor­te klan­gen laut und hef­tig, das Licht kam schnell ein paar Schrit­te nä­her, und nun sah Nor­bert eine klei­ne, zier­li­che Mäd­chen­ge­stalt vor sich, im lan­gen, ge­stick­ten wei­ßen Nacht­kleid­chen, wel­ches un­acht­sam in die Höhe ge­rafft war und einen nack­ten Kin­der­fuß se­hen ließ.

»Wer bist Du denn?« klang es er­staunt wei­ter, als der Licht­schein auf Nor­berts schö­nes Ge­sicht fiel, »ich ken­ne Dich ja gar nicht, was willst Du hier?«

»Ich glaub­te – ich – ich dach­te – es sei ein Irr­licht!« stot­ter­te der jun­ge Mann ver­wirrt, »ich ahn­te nicht, dass um die­se Zeit noch eine le­ben­de See­le hier sei.«

Sie lach­te lei­se und hart auf. »Das ahnt über­haupt nie­mand, auch drü­ben im Schlos­se dür­fen sie’s nicht wis­sen, wie oft ich hier bin; ich habe aber den Kleen­grund gern, und wenn ich den gan­zen Tag hier un­ten bin, dann kann ich’s auch zur Nacht sein, kann das ganz ma­chen wie ich will, ver­stan­den?« Da­mit ließ sie den Arm sin­ken und das vol­le Licht fiel auf ihr Ge­sicht. Bren­nend vor Neu­gier­de schau­te sie Nor­bert an. Selt­sam! Ein Kna­ben­kopf schi­en auf dem schlan­ken Häl­schen zu thro­nen, um­lockt von schwe­ren gold­blon­den, aber auf der Stirn kurz ver­schnit­te­nen Haa­ren, be­seelt durch zwei große, stolz­bli­cken­de Kin­derau­gen und mar­kiert von zwei Lip­pen, um wel­che Lau­nen und Ei­gen­sinn star­re, un­schö­ne Fal­ten ge­zo­gen hat­ten.

»Wer bist Du denn?« frag­te er fast schüch­tern.

»Kennst Du mich nicht?« klang es hoch­mü­tig zu­rück, und der klei­ne Kopf ward her­aus­for­dernd zu­rück­ge­wor­fen, »ich bin die Erl­kö­ni­gin! Hier der Kleen­grund ist mein Reich, dort der Wei­den­stamm über dem Was­ser mein Thron­ses­sel! Du musst ent­we­der sehr dumm oder fremd hier sein!« Das große Auge blick­te ihn durch­drin­gend an: »Weißt Du denn nicht, dass dort hin­ter den Ei­chen Schloss Al­tin­gen steht?«

»Nein«, sag­te er, kal­ter Schau­er war ihm un­will­kür­lich bei dem Na­men ›Erl­kö­ni­gin‹ durch die Glie­der ge­rie­selt.

»Wo wohnst Du denn, wie heißt Du?« fuhr sie un­ge­dul­dig fort.

»Drü­ben im Forst­haus habe ich mei­ne Groß­ma­ma be­sucht, ich hei­ße Nor­bert de San­goulè­me, und ging noch in den Wald, um mei­nem On­kel zu be­geg­nen.«

»de San­goulè­me?« wie­der­hol­te sie weich, »ein Fran­zo­se? Wie kommst Du nach Deutsch­land?«

Nor­bert schüt­tel­te den Kopf. »Ich nen­ne mich gut deutsch, trotz mei­nes aus­län­di­schen Na­mens«, sag­te er.

»Ja, aber wie kommt denn das?« wie­der­hol­te sie mit dem Tone des ver­zo­ge­nen Kin­des.

»Mei­ne Mut­ter, die Schwes­ter des hie­si­gen Ober­förs­ters, war deut­sche Gou­ver­nan­te in Frank­reich«, er­klär­te er ge­hor­sam, »und lern­te mei­nen Va­ter dort ken­nen. Sie hei­ra­te­ten sich und wie ich zwei Jah­re alt war, starb ihr Gat­te. Drauf kam mei­ne Mut­ter hier­her zu­rück, und ich ward in Deutsch­land er­zo­gen. Nun ist sie auch tot und ich rei­se mor­gen ab, um See­ka­dett zu wer­den.«

»Gou­ver­nan­te war sie?« wie­der­hol­te Erl­kö­ni­gin ge­ring­schät­zig, »und Du willst Ka­dett wer­den, warum denn nicht Lieu­ten­ant zur See?«

»Das wer­de ich hof­fent­lich mit der Zeit auch!« ent­geg­ne­te er et­was ge­reizt, »aber wer war denn Dei­ne Frau Mut­ter, Ma­je­stät Erl­kö­ni­gin, dass Du so ver­ächt­lich von Er­zie­he­rin­nen sprichst?« Auch sei­ne Stim­me konn­te ver­let­zen.

»Eine Grä­fin von Saa­l­eck-Har­den­burg!« klang es schnei­dend von ih­ren Lip­pen, »ich bin Ruth von Al­tin­gen und das Schloss da drü­ben ge­hört mir! Mei­ne Stief­mut­ter tut jetzt al­ler­dings, als wäre sie Her­rin, Al­les hat sie seit vor­ges­tern durch­ein­an­der ge­räumt, die schö­nen wil­den Ro­sen am Turm und den Epheu will sie auch noch her­un­ter rei­ßen las­sen, aber nein! ich lei­de es nicht! ich krat­ze ihr die Au­gen aus, wenn sie sich un­ter­ste­hen will!« Die Stim­me des Kin­des war hoch und schrill ge­wor­den, jetzt sank sie her­ab zum dump­fen Grol­len. »So­gar den Brecht­hald von Al­tin­gen hat sie aus der Ah­nen­ga­le­rie hän­gen las­sen, weil der Rit­ter die Hand auf einen Schä­del stützt und ma­man zu ner­vös für sol­chen An­blick ist! – Lä­cher­lich, nicht wahr? – O wenn ich der Brecht­hald wäre, ich er­schi­en ihr jede Nacht als Spuk­geist und jag­te sie in die Re­si­denz zu­rück!« –

»Und man hat Dich so ganz al­lein um Mit­ter­nacht hier in den Klee­grund ge­las­sen?« frag­te Nor­bert kopf­schüt­telnd.

Ruth warf mit sar­kas­ti­schem La­chen den Kopf zu­rück und die ge­stick­ten Fal­beln ih­res Nacht­kleid­chens zit­ter­ten um die ma­ge­ren klei­nen Schul­tern.

»Köst­li­che Fra­ge! Als ob das über­haupt je­mand im Schlos­se ah­nen dürf­te! nein, ich bin heim­lich da­von ge­schli­chen, um für heu­te Nacht noch die ›neun Kräu­ter‹ zu ho­len, wir ha­ben ja Jo­han­nis!« füg­te sie wich­tig hin­zu. »Am Nach­mit­tag hat Mama mich nicht fort­ge­las­sen, weil mei­ne Gou­ver­nan­te die Ta­fel mit ar­ran­gie­ren muss­te, und sie be­haup­te­te, es pas­se sich nicht, wenn ich al­lein in den Wald ging, Un­sinn! ich gehe stets al­lein! Ich schlich mich ganz heim­lich aus dem Zim­mer, um mei­ne Er­len­zwei­ge zu ho­len, hier, mei­ne Pan­tof­fel habe ich in dem feuch­ten Gras aus­ge­zo­gen, sonst mer­ken sie’s mor­gen früh.« Sie öff­ne­te das zu­sam­men­ge­hal­te­ne Kleid­chen und wies auf ein paar rote Saf­fian­pan­töf­fel­chen, dann fass­te sie die Fal­ten be­hut­sam wie­der zu­sam­men, da­mit keins der Zweig­lein ver­lo­ren ging.

Nor­bert lach­te: »Die Kräu­ter muss man un­ter das Kopf­kis­sen le­gen, dann geht der Traum in Er­fül­lung, nicht wahr?« frag­te er.

Sie nick­te. »Suchst Du auch wel­che?«

»Soll ich?«

»Ge­wiss, es ist ja gar zu lus­tig! und mor­gen kommst Du wie­der hier­her und er­zählst, was Du ge­träumt hast, ja?«

»Mor­gen früh rei­se ich ja nach Kiel«, ent­geg­ne­te Nor­bert klein­laut, und zum ers­ten Male kam es ihm wie Be­dau­ern dar­über.

»Das ist dumm!« schalt Ruth ei­gen­sin­nig, »ich will, dass Du erst Dei­nen Traum er­zählst.«

»In ein paar Jah­ren kom­me ich wie­der, dann er­zäh­le ich!«

Ihm deuch­te es, als habe sie ihm eine klei­ne Gri­mas­se ge­schnit­ten, dann wand­te sie sich um. »Ich gehe jetzt nach Hau­se!« sag­te sie kurz.

»Ganz al­lein? fürch­test Du Dich nicht?«

Ruth sah ihn groß an. »Fürch­ten? in mei­nem Kleen­grund?« und sie zuck­te die Ach­seln, als woll­te sie sa­gen: der ist nicht recht ge­scheut!

»Wo willst Du denn da hin?« rief Nor­bert, jäh ih­ren Arm fas­send; Erl­kö­ni­gin bog näm­lich die Wei­den­zwei­ge aus­ein­an­der und plät­scher­te ver­su­chend mit dem Füß­chen in dem Was­ser.

»Durch­wa­ten!« ant­wor­te­te sie la­ko­nisch.

»Ich habe hohe Stie­feln an, ich neh­me Dich auf den Arm und tra­ge Dich hin­über!«

Das klei­ne Mäd­chen maß sei­ne schlan­ke Ge­stalt mit schnel­lem Blick. »Dann wä­rest Du doch zu et­was nüt­ze, Nor­bert de San­goulè­me«, spot­te­te sie, »aber hier kennst Du das Was­ser nicht, komm mit dort hin­auf, da ist es ganz gleich­mä­ßig.« Sie fass­te un­ge­niert sei­ne Hand und führ­te ihn am Ufer ent­lang. Der Bach lag hier frei­er im hel­len Mond­schein.

Dann blieb sie plötz­lich ste­hen. »Willst Du mich nun hin­über tra­gen?« Ihr Auge blick­te voll zu ihm em­por, Nor­bert sah, dass der Aus­druck die­ses Au­ges wie April­wet­ter wech­sel­te, aber die Far­be des­sel­ben zu un­ter­schei­den war un­mög­lich. Er beug­te sich schwei­gend her­ab und hob die klei­ne Ge­stalt wie eine Fe­der auf den Arm, der Ne­bel hat­te die wei­ßen Ba­tist­fal­ten feucht und schlaff ge­macht, die brei­ten Spit­zen fie­len kühl auf sei­ne Hand, und das gol­de­ne Kett­chen an ih­rem Hals flim­mer­te im Mond­licht. Nor­bert wähn­te, er drücke einen klei­nen Ni­xen­geist an sei­ne Brust.

Lang­sam schritt er durch das kla­re Was­ser und trug sei­ne blei­che Last noch ein paar Schrit­te wei­ter über das sump­fi­ge Ufer.

»Dan­ke«, sag­te Ruth und hielt ihm schnell die Hand hin, »nun bin ich gleich zu Haus!« Und gleich­zei­tig hob sie mit der Lin­ken flink die La­ter­ne em­por und leuch­te­te ihm in das Ge­sicht. – Eine kur­ze, schar­fe Mus­te­rung. »Eil Dich, dass Du Of­fi­zier wirst! See­ka­dett ist das­sel­be wie ein ge­mei­ner Ma­tro­se, kein Mensch hat Re­spekt da­vor, und in Al­tin­gen se­hen sie Dich vollends über die Schul­ter an! Als Leut­nant aber darfst Du mich wie­der­se­hen!«

»Kommst Du denn nie­mals in das Forst­haus?«

Erl­kö­ni­gin schüt­tel­te hef­tig die wil­den Haa­re zu­rück. »Nein! Ma­de­moi­sel­le Ma­ri­on sagt, das sei kein Um­gang für mich, da sei nicht ein­mal ein Die­ner, wel­cher den Kaf­fee ser­viert! Aber …« – und Ruth schi­en mo­men­tan zu über­le­gen –: »ich wer­de ein­mal heim­lich hin­ge­hen, den Hun­den zu lieb, Nim­rod und die Dia­na ha­ben mir längst ge­fal­len. Au­ßer­dem kann ich tun was ich will, ich brau­che kei­nen Men­schen zu fra­gen und nie­mand hat mir zu be­feh­len, ich bin die Her­rin von Al­tin­gen!« Wie­der zuck­te Trotz und Ei­gen­sinn um ihre Lip­pen, dann pack­te sie die Er­len­zwei­ge in ihr Röck­chen und reich­te ihm aber­mals die Hand: »Ver­giss nicht die neun Kräu­ter zu sam­meln, es ist ge­wiss kein Un­sinn da­mit! Adieu!«

Nor­bert hielt die schma­le Kin­der­hand für einen Au­gen­blick in der sei­nen. »Leb wohl!« sag­te er, »ich wer­de von Dir träu­men, Erl­kö­ni­gin.«

Sie sah schnell auf, es war ihm, als la­che sie, dann nick­te sie und wand­te sich schnell um. »Gute Nacht!« klang es zu­rück.

2.

Nor­bert stand un­be­weg­lich und sah ihre wei­ße Ge­stalt sche­men­haft da­von hu­schen, das La­tern­chen blitz­te noch ein­mal auf, dann war es hin­ter den Tan­nen ver­schwun­den. Lang­sam schritt er end­lich durch das Was­ser zu­rück. »Wenn ich an Mär­chen glaub­te, so wür­de ich dar­auf schwö­ren, ei­nem klei­nen Ko­bold be­geg­net zu sein, aber es ist ei­tel Lüge mit den Feen­ge­schich­ten, ich bin kein Kind mehr!« Und er ging ge­dan­ken­voll wei­ter durch die mil­de Som­mer­nacht. In den Ei­chen flüs­ter­te es ge­heim­nis­voll, Jo­han­nis­kä­fer schwirr­ten wie hel­le Fun­ken über den Wald­bo­den und die Far­ren am Wege nick­ten ihm be­deut­sam zu, – der jun­ge Mann aber schritt lang­sam durch das Mond­licht und dach­te an den Kö­nigs­sohn, der nicht wuss­te, was Lie­be war!

Am an­dern Mor­gen stand ein ein­sa­mer Wan­de­rer auf der ho­hen Berg­stra­ße und war­te­te auf die Post, wel­che hier vor­über­kom­men muss­te. Er leg­te die Hand über die Au­gen und späh­te den Weg hin­ab, dann ging er un­ge­dul­dig dem lang­sa­men Ge­fährt ent­ge­gen. Hier macht der Wald­weg eine schar­fe Wen­dung und senkt sich jäh ab­fal­lend zu dem Tale, Nor­bert hemm­te über­rascht den Schritt und blick­te voll leb­haf­ten In­ter­es­ses auf das Bild, wel­ches sich sei­nem Bli­cke so un­ver­hofft ent­roll­te. Dort, dicht vor ihm er­hob sich ein ur­al­tes Jagd­sch­löss­chen aus dem um­gren­zen­den Ei­chen­wald. Mas­si­ve, graue Mau­ern bil­de­ten ein stol­zes Qua­drat, je an den vier Ecken von ei­nem nie­de­ren, run­den Tur­me ab­ge­schlos­sen, und um­zo­gen von jetzt zwar aus­ge­trock­ne­tem, aber den­noch schilf­be­wach­se­nem Wall­gra­ben, wel­cher von ei­ner schwe­ren boh­li­gen Zug­brücke über­dacht war. Dich­tes, fast ver­wil­der­tes Gerank von Epheu und wil­den Ro­sen um­zog die gan­ze west­li­che Sei­te des Schlos­ses und gab ihm fast das idyl­li­sche An­se­hen ei­nes Dorn­rös­chen-Palas­tes, nur die grell­far­bi­gen Flag­gen, wel­che von den bei­den Front­tür­men weh­ten, stör­ten den Ein­druck der ver­zau­ber­ten Kö­nigs­burg. Nor­bert ge­noss das Bild mit Ent­zücken. Die präch­ti­gen in Stein ge­haue­nen Hir­sche, wel­che zu bei­den Sei­ten der Freitrep­pe la­gen, das Dop­pel­wap­pen, wel­ches den Tür­knauf krön­te, end­lich die mo­der­nen Spit­zen­vor­hän­ge des einen Turm­zim­mers, und die plau­dern­den La­kai­en, wel­che einen glän­zen­den Gold­fuchs vor den klei­nen Wirt­schafts­wa­gen spann­ten, lie­ßen ihn nicht län­ger in Zwei­fel, dass er das Hei­matschloss der Erl­kö­ni­gin vor sich habe. Noch lag al­les im tiefs­ten Schlaf in Al­tin­gen; die Mor­gen­son­ne glit­zer­te über die blü­hen­den Ro­sen­he­cken, fri­sche Rä­der­spu­ren er­zähl­ten noch von den Gäs­ten der ver­flos­se­nen Nacht und drin­nen in den sei­de­nen Kis­sen träum­te sich die schö­ne Stief­mut­ter zu­rück in die Re­si­denz und fal­te­te ver­dros­sen die ge­nuss­durs­ti­gen Lip­pen, wel­che noch zwei Mo­na­te hier in die­ser »Wald­s­pe­lun­ke« aus­hal­ten muss­ten.

Hell und lus­tig klang das Post­horn von der Stra­ße her­auf und weck­te den jun­gen Mann aus sei­nen Träu­men, vor dem Schloss­tor hielt das Ge­fährt noch einen Au­gen­blick an, ein Die­ner sprang ei­lig die Stein­stu­fen her­ab und eil­te quer über Hof und Brücke, um die le­der­ne Brief­ta­sche dem Po­stil­lon em­por zu rei­chen, dann knall­te es auf­mun­ternd über die drei Brau­nen, und bald schwank­te der gel­be Wa­gen um den Vor­sprung des rau­schen­den Ei­chen­wal­des.

»Leb’ wohl, Erl­kö­ni­gin! Auf Wie­der­se­hen!« rief Nor­bert mit hel­ler Stim­me, dann schwenk­te er dem Po­stil­lon be­grü­ßend den Hut ent­ge­gen und schwang sich zu ihm auf den ho­hen Kut­scher­sitz. »Lieb­chen ade, Schei­den tut weh, mor­gen da gehts in die wo­gen­de See!« schall­te es ju­belnd durch den son­ni­gen Wald.

»Ich lie­be Dich, mich reizt Dei­ne schö­ne Ge­stalt!«

Die Zeit spann­te ihre viel­far­be­nen Flü­gel aus und flog um Jah­re vor­aus. Der Schnee war ge­schmol­zen. Im Kleen­grund ward es grün und licht, warm und früh­lings­duf­tig. Der Ra­sen sproß­te mit bun­ter Blu­men­pracht em­por, der letz­te gel­be Staub der Sei­den­kätz­chen schim­mer­te über das jun­ge Er­len­grün.

Von der Stra­ße her­auf klang das Post­horn, dann rausch­te und knack­te es in dem na­hen Ei­chen­wald wie flüch­tig zie­hen­des Wild, nä­her und nä­her kam es, end­lich teil­ten sich die letz­ten Bü­sche. »Grüß Gott, Kleen­grund!« rief eine fri­sche Män­ner­stim­me, und der has­ti­ge Wan­ders­mann trat, die Au­gen be­schat­tend, auf die Wie­se her­aus.

Hoch und stolz war sei­ne Ge­stalt, die blaue Ja­cke auf der Brust ge­öff­net und das dunkle Auge frisch und treu, und klar und frei, ech­ter See­manns­blick!

Lang­sa­mer schritt er jetzt da­her, und das Haupt sank tiefer und tiefer, bis er end­lich wie träu­mend auf den klei­nen Pfad vor sei­nen Fü­ßen nie­der­schau­te. Wie mit ei­nem Zau­ber­schlag wur­den lang ver­ges­se­ne Bil­der in dem hel­len Son­nen­licht le­ben­dig, er hör­te das Meer­rau­schen, den Sturm um die Tür­me des Nord­land­schlos­ses pfei­fen, er sah die ver­sun­ke­ne Pracht der Tro­pen un­be­dau­ert hin­ter sich lie­gen, er war auch ein Heim­keh­ren­der, der die Lie­be ge­sucht, und nicht ge­fun­den hat­te! Um die wei­te Welt war er mit schnel­len Se­geln ge­kreist, Pal­men und hei­li­ge Ce­dern hat­ten über sei­nem Haup­te ge­rauscht, frem­de, wun­der­sa­me Bil­der wa­ren gleich ei­ner Fata-Mor­ga­na an ihm vor­über­ge­zo­gen und die Wel­len fer­ner Mee­re hat­ten um sei­ne Füße ge­spült. Lie­der ori­en­ta­li­scher Lei­den­schaft um­rausch­ten voll Hass und Sehn­sucht wun­der­sam sein Ohr, der Flam­men­blick aus schwar­zen Au­gens­ter­nen wink­te ihm; schil­lernd wie glei­ßen­der Schlan­gen­leib hat­te ihn die gif­ti­ge Pracht der Zo­nen um­strickt und den­noch riss er sich los von ihr, den­noch spann­te er die Se­gel stets sehn­suchts­vol­ler aus und steu­er­te zu­rück zu der nor­di­schen Hei­mat, in de­ren Wäl­dern ver­zau­ber­te Sch­lös­ser schla­fen und Irr­lich­ter durch den ge­spens­ti­schen Grund tan­zen.

Da plötz­lich schrickt der Träu­mer em­por und bleibt wie ge­bannt vor den flüs­tern­den Zwei­gen ste­hen: »Ver­zei­hen Sie«, mur­mel­te er be­tre­ten.

Von dem Stamm ei­ner nie­de­ren, ver­krüp­pel­ten Erle sprang eine jun­ge Dame und trat ihm schnell ent­ge­gen.

»Ver­zei­hen? Dass ich Sie er­schreckt habe, Herr Nor­bert de San­goulè­me?« frag­te sie mit ver­hal­te­nem La­chen, »bit­te, das war sehr gern ge­sche­hen!« und nun lach­te sie wirk­lich, laut und me­lo­disch wie Was­ser­klin­gen. »Sie dach­ten wohl ge­ra­de an die Ge­s­pens­ter­ge­schich­ten des Kleen­grun­des?«

»Wenn Sie die Erl­kö­ni­gin un­ter die­sel­ben rech­nen, al­ler­dings«, gab er hei­ter zu­rück, »und au­ßer­dem bin ich ja See­mann, der steif und fest an Ni­xen und Was­ser­geis­ter glaubt! Sie ken­nen mich? Im Mond­schein trug ich einst ein Kind auf mei­nen Ar­men durch den Bach hier, Jah­re sind seit­dem ver­gan­gen, aber ich habe auch ein gu­tes Ge­dächt­nis. Sie sind Fräu­lein von Al­tin­gen!«

Ruth strich die vol­len Haa­re aus der Stirn. »Das ist gar nicht schmei­chel­haft, dass Sie mich wie­der­er­ken­nen!« neck­te sie mit schnel­lem Sei­ten­blick, »man sagt, ich sei häss­lich wie ein klei­ner Ko­bold ge­we­sen, und nun be­grü­ßen Sie mich gar mit solch un­ver­hoh­le­nem Schre­cken, dass ich es ei­gent­lich übel neh­men müss­te, wenn ich ei­tel wäre!«

»Wis­sen Sie nicht, dass man auch freu­dig er­schre­cken kann?«

Sie wand­te das Köpf­chen has­tig um und sah voll zu ihm em­por, ein klei­ner Wei­den­zweig glitt aus dem Haar und fiel zwi­schen die Gän­se­blüm­chen auf den Ra­sen.

»O ja!« lach­te sie lei­se, »Sie wer­den das gleich be­ob­ach­ten kön­nen! Kom­men Sie nur mit zu Groß­müt­ter­chen in das Forst­haus, wo alle Stu­ben ge­dielt und ta­pe­ziert wer­den, wo der Herd in der Kü­che ab­ge­ris­sen ist und die Be­suchs­stu­be bis un­ter die De­cke voll Mö­bel, Bett­zeug und üb­rig­ge­blie­be­ne Win­ter­vor­rä­te ge­packt, Al­les an­de­re, nur kei­nen Gast er­war­tet! Die wer­den Au­gen ma­chen, die gu­ten Leu­te, wenn plötz­lich der Wel­t­um­seg­ler San­goulè­me, den man noch bei den Hot­ten­tot­ten glaubt, über die Schwel­le tritt!«

Nor­bert blick­te amü­siert auf die zier­li­che Spre­che­rin her­nie­der. »Groß­mut­ter weiß doch hof­fent­lich, dass ein Ma­tro­se ge­wöhnt ist, in der Hän­ge­mat­te zu schla­fen? Ich fin­de schon ein Plätz­chen, wo ich mei­ne Hüt­te baue! Aber wo­her, um Al­les in der Welt, wis­sen Sie so ge­nau Be­scheid im Förs­ter­hau­se, gibt es jetzt viel­leicht einen Die­ner da, der den Kaf­fee ser­viert?«

Ruths schma­les Ge­sicht­chen färb­te sich hö­her. »Das klingt ja ge­ra­de, als ob ich ein­mal so ge­sagt hät­te!« ent­geg­ne­te sie, die Reit­ger­te ba­lan­cie­rend, »frü­her ge­fiel es mir al­ler­dings nicht bei Förs­ters, aber seit der Be­geg­nung mit Ih­nen bin ich das täg­li­che Brot dort. Ihre Kou­si­ne Ann­chen ist ja eben so alt wie ich, wir mu­si­zie­ren und le­sen zu­sam­men, und im Win­ter soll sie mich in der Re­si­denz be­su­chen.«

»Ann­chen in der Re­si­denz? was wird Ihre Frau Mama dazu sa­gen?« Nor­berts schö­nes Auge haf­te­te fest auf den Zü­gen der jun­gen Baro­nes­se, um de­ren Lip­pen es noch eben ei­gen­sin­nig zuck­te wie da­mals im Mon­den­schein.

»Die El­tern wer­den den Win­ter im Sü­den ver­le­ben, weil Papa schon län­ge­re Zeit sehr lei­dend ist, ich soll ihr Haus in D. be­woh­nen und un­ter dem Schutz der Grä­fin Ler­s­nek die Ge­sel­lig­keit mit­ma­chen; ob das ge­schieht, kommt auf mich an, Änn­chen geht aber ganz be­stimmt mit mir und nimmt or­dent­li­chen Sing­un­ter­richt. Und nun kom­men Sie, ich möch­te am liebs­ten gleich mit in das Forst­haus, um den Empfang zu se­hen, aber zu­erst wer­de ich doch nach Al­tin­gen zu­rück­rei­ten, um ein Be­suchs­zim­mer in Stand set­zen zu las­sen. Sie wer­den es sich schon ge­fal­len las­sen müs­sen, bei mir zu woh­nen, auch Änn­chen und der klei­ne Hans sind seit fünf Ta­gen mei­ne Gäs­te!« Ohne eine Ge­gen­re­de ab­zu­war­ten, schritt sie ihm vor­aus quer durch die Wie­se. Nor­bert ver­such­te noch mit ihr über die letz­te Be­stim­mung zu de­bat­tie­ren, aber Ruth von Al­tin­gen war nicht der Cha­rak­ter, sich um­stim­men zu las­sen, und so folg­te er ihr, schwei­gend – und be­trach­tend.

Ruths gan­ze Er­schei­nung war eben­so ge­win­nend wie selt­sam. Sie trug ein dunkles Reit­kleid aus schwe­rem Tuch­stoff, wel­ches sich weich und knapp um die zier­li­che Fi­gur schmieg­te und mit lan­ger Schlep­pe die klei­nen Grä­ser am Wege knick­te. Die jun­ge Dame beug­te sich nie­der und schlang die Fal­ten empor­neh­mend um den Arm. Gro­ße Stul­phand­schu­he trug sie ab­ge­streift in der Hand. Das Haar lock­te sich gold­blond um die schma­le Stirn, und ver­schlang sich am Hin­ter­kopf zu lo­sem Kno­ten, wel­chen ein Zweig­lein Erle mit lan­gen, sil­ber­glän­zen­den Blät­tern, als ein­zi­ger Schmuck zier­te. Die auf­fal­lend großen grau­grü­nen Au­gen ka­men Nor­bert be­kannt vor, er hat­te einst ein Bild ge­se­hen »Wald­ge­spräch«, auf wel­chem die Rhein­ni­xe den jun­gen Rit­ter mit den­sel­ben rät­sel­haf­ten Au­gen zum wil­len­lo­sen Skla­ven macht – –. An ei­ner nie­der­äs­ti­gen Bu­che der Wald­wie­se neig­te ein Gold­fuchs ru­hig gra­send den Kopf in die wie­gen­den Hal­me.

»Se­hen Sie dort mei­nen Freund Su­waroff?« wand­te sich Ruth leb­haft zu­rück und hob die Hand mit der Reit­ger­te, nach der Rich­tung zu wei­sen, »den hat mir Papa zu Weih­nach­ten ge­schenkt, weil mein Pony zu al­ters­schwach wur­de! Rei­ten Sie auch?«

Nor­bert neig­te be­ja­hend den Kopf. »Recht gern, aber lei­der recht herz­lich schlecht. Auf dem Schiff ge­hört das Spa­zie­ren­rei­ten zu den an­ge­neh­men Träu­me­rei­en, wel­che uns meis­tens eben­so­fern lie­gen, wie die er­sehn­te Küs­te!«

»Ich den­ke es mir ent­setz­lich lang­wei­lig in solch schwim­men­dem Stu­ben­ar­rest!« ent­geg­ne­te sie mit ver­ächt­li­chem Ach­sel­zu­cken, »au­ßer Rat­ten und Zwiebä­cken sieht man nichts In­ter­essan­tes; das ein­zi­ge ei­gen­wil­li­ge We­sen ist der Baro­me­ter, und die Haupt­ver­wal­tung dreht sich mit der Win­dro­se! Nie und nim­mer möch­te ich See­mann sein!«

»Sie ur­tei­len schnell, Fräu­lein von Al­tin­gen!« Über die Stirn San­goulè­mes flamm­te es hell auf, »lang­wei­lig kann es un­ter dem Se­gel nur sol­chen Men­schen sein, wel­che sich durch­aus nicht geis­tig, nicht mit sich selbst zu be­schäf­ti­gen wis­sen! Wer zu sei­ner Zer­streu­ung und Un­ter­hal­tung al­ler­dings rau­schen­de Ver­gnü­gun­gen und ewig wech­seln­des Le­ben braucht, wer ver­langt, dass die Welt stets neue Bil­der ent­rol­le, um das Auge zu be­schäf­ti­gen und den Geist an­zu­re­gen, wer eben nur se­hen, ge­nie­ßen und aus­ru­hen will, nein! für den ist das Schiff ein Grab und Ge­fäng­nis, für den wird es nie ein be­glücken­der Bo­den sein! Ich habe sel­ten, fast nie Lan­ge­wei­le emp­fun­den. So lan­ge wir auf der See wa­ren, gab es ge­nü­gend Ar­beit, um un­se­re Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen, es gab Sturm und brau­sen­de Wo­gen, wel­che gar erns­te Psal­men der Ewig­keit sin­gen, und wohl den Sinn auf Hö­he­res len­ken, als wie auf ein Ver­gnü­gungs­re­gis­ter hei­te­rer Tage! Es gab stil­les, blauglän­zen­des Meer, weit und un­er­mess­lich aus­ge­brei­tet wie das son­ni­ge Him­melsall, mit wel­chem es fern am Ho­ri­zon­te pur­pur­leuch­tend in ein­an­der schwimmt, es gab eine ma­je­stä­ti­sche Nacht voll kla­rer Stern­bil­der, eine Nacht voll träu­feln­den Ne­bels, eine Nacht voll Don­ner und Blitz! Und schließ­lich, Fräu­lein von Al­tin­gen, ha­ben Sie denn so ganz das Ziel der lan­gen Rei­sen ver­ges­sen? Was kann schö­ner, was in­ter­essan­ter, was un­ter­hal­ten­der sein, als end­lich das er­sehn­te Land vor Au­gen zu ha­ben, als die ge­träum­te Herr­lich­keit von tau­send und ei­ner Nacht wahr und hand­greif­lich vor sich zu se­hen! Von der ein­sa­men In­sel trägt uns das Schiff wei­ter zum bun­ten lär­men­den Han­dels­ha­fen! Da schwirrt und summt es durch­ein­an­der wie tol­ler Mas­ken­scherz, alle Na­tio­nen, alle Spra­chen, alle Pracht der wei­ten Erde hält hier ih­ren glän­zen­den Jahr­markt, ein sol­ches Bild hält kein Ma­ler fest! Ich wünsch­te, Fräu­lein von Al­tin­gen, Sie könn­ten eine ein­zi­ge Rei­se mit uns ma­chen, Sie wür­den den See­mann nicht mehr be­mit­lei­den, son­dern fest zu sei­ner Flag­ge schwö­ren!«

Mit leuch­ten­den Au­gen stand der See­ka­dett vor Ruth, sein ed­les Pro­fil zeich­ne­te sich scharf ge­gen das dunkle Tan­nen­grün ab, Be­geis­te­rung hauch­te leb­haf­te Röte über die freie Stirn und die hohe Ge­stalt schi­en noch stol­zer em­por­zu­wach­sen un­ter dem tie­fen Atem­zug, wel­cher die Brust hob. La­chend fuhr er fort: »Und Rat­ten? Gott Lob und Dank, wenn un­se­re lie­ben Rat­ten bei uns blei­ben! Lie­ber von ih­nen auf­ge­fres­sen, als von ih­nen ver­las­sen sein!« –

Sie wa­ren an der Ei­che an­ge­langt; die Her­rin von Al­tin­gen stand ne­ben ih­rem Fuchs und hat­te die be­hand­schuh­te Rech­te leicht strei­chelnd auf sei­nen schlan­ken Hals ge­legt, mit klu­gen Au­gen lausch­te sie zu dem leb­haf­ten Spre­cher em­por, still und atem­los wie ein Kind, wel­chem man Mär­chen er­zählt.

»Sie müs­sen mir noch von Ihren Fahr­ten er­zäh­len, viel, sehr viel. Es klingt so schön, wenn Sie spre­chen, Sie müs­sen mich oft in Ge­dan­ken zum fer­nen Sü­den zau­bern! Und wenn der See­mann au­ßer sei­nem tie­fen Ge­müt, sei­nen Rat­ten und Mäu­sen auch eine feu­ri­ge See­le zum Schil­dern hat«, füg­te sie schel­misch hin­zu, »dann schwör’ ich treu zu sei­ner Fah­ne!«

Schnell warf sie die Zü­gel in ihre an­de­re Hand und sprang auf den Gras­rain, um den klei­nen Fuß in den Bü­gel zu stel­len. Schon war Nor­bert an ihre Sei­te ge­tre­ten und reich­te hel­fend sei­ne Hand em­por, un­ge­niert ließ sich Ruth stüt­zen, einen Au­gen­blick ruh­ten ihre Fin­ger auf sei­ner Schul­ter.

»Dan­ke! nun geht’s, eins – zwei, drei! Se­hen Sie? Da saß ich! Wenn Sie sich aber das Groß­kreuz ver­die­nen wol­len, rei­chen Sie mir mei­nen Hut dort aus dem Gras – da hin­ter Ih­nen! Ich dan­ke!« Sie nahm den breit­krem­pi­gen Fe­der­hut aus sei­ner Hand, drück­te ihn acht­los auf das Haar, und nick­te kurz zu­rück; dann fiel die Reit­ger­te an­trei­bend auf den Hals des ed­len Su­waroff, und ker­zen­ge­ra­de em­por­stei­gend wand­te sich der Gold­fuchs, um die Rei­te­rin pfeil­ge­schwind über die wo­gen­de Wie­se zu tra­gen.

3.

Lan­ge stand Nor­bert und schau­te ihr nach, wand­te sich has­tig ab und schritt den fel­si­gen Wald­weg ent­lang. Vor sei­nen Ohren schwirr­ten ihre letz­ten Wor­te, er sah ih­ren klu­gen Blick fest auf sei­nem Ant­litz ru­hen, er fühl­te ihre klei­ne Hand in der sei­nen.

»Von ih­rem Schei­tel floss das Licht der Son­ne, ihr Na­cken schim­mer­te weiß, wie Myr­then­blü­te, und ihr Auge spie­gel­te Him­mels­blau«, hör­te er plötz­lich Groß­müt­ter­chens Stim­me wie­der mär­chen­er­zäh­lend un­ter dem Lin­den­baum, »der Kö­nigs­sohn aber ju­bel­te voll se­li­gen Ent­zückens: ja, das bist Du – o Lie­be!«

»Ja, das bist Du, o Lie­be!« flüs­ter­te Nor­bert lei­se, er blieb ste­hen und wand­te sich sin­nend zu dem Kleen­grund zu­rück. »Erl­kö­ni­gin, der Fürs­ten­sohn weiß jetzt, wo sein Glück zu su­chen ist!«

Durch den Wald aber spiel­ten gol­de­ne Son­nen­lich­ter, weich wie Mai­en­hauch schmei­chel­te die Luft um knos­pen­des Ge­zweig, und auf der Lich­tung schau­kel­ten sich neu die Blu­menglöck­chen über vor­jäh­ri­gem Herbs­tes­laub. Da blitz­te es durch das Grün wie tau­send schim­mern­de In­sek­ten­flü­gel, da tanz­ten die lus­ti­gen Mücken­wol­ken über den Weg, und rings­um sang und klang und schmet­ter­te es tau­send­stim­mi­gen Ak­kord glück­se­li­ger Früh­lings­luft!

»Nun, Groß­müt­ter­chen, was habt ihr Alle für Au­gen ge­macht, wie plötz­lich die Ein­quar­tie­rung von ›Per­nam­bu­co‹ ein­traf?« rief Baro­nes­se Ruth schon über den Kies­platz hin­über, la­chend fass­te sie ihr Kleid zu­sam­men und la­vier­te sich durch ein Boll­werk von Back­trö­gen und Waschwan­nen.

»Grüß Gott, lie­be Fräu­lein Ruth!« und die Ge­frag­te trat ihr, eif­rig die Hän­de über die wei­ße Schür­ze glei­ten las­send, ent­ge­gen, »es ist im­mer noch So­dom und Go­mor­rah bei uns, ver­zei­hen Sie, wenn der Weg so ge­wal­tig ver­ram­melt aus­sieht! Ach und nun erst der Jun­ge in all die­sen Wirr­warr hin­ein, ich traue ja mei­nen Au­gen nicht, wie er plötz­lich da vor mir steht, aber eine Freu­de war es, o, du mein Herr Je­sus, wie habe ich mich über den lie­ben Sch­lin­gel ge­freut!« und noch im An­den­ken wisch­te die grei­se Frau die Au­gen, mit strah­len­dem Lä­cheln drück­te sie die Hand des jun­gen Mäd­chens.