Gänseliesel - Nataly von Eschstruth - E-Book

Gänseliesel E-Book

Nataly von Eschstruth

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Nataly von Eschstruth war eine deutsche Schriftstellerin und eine der populärsten und berühmtesten Erzählerinnen der Gründerzeit. Null Papier Verlag

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Nataly von Eschstruth

Gänseliesel

Heimatroman

Nataly von Eschstruth

Gänseliesel

Heimatroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-83-2

null-papier.de/487

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

Drit­tes Ka­pi­tel.

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Zehn­tes Ka­pi­tel.

Elf­tes Ka­pi­tel.

Zwölf­tes Ka­pi­tel.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­zehn­tes Ka­pi­tel.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Dan­ke

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Erstes Kapitel.

»Ihr Gäns­chen, dass ih­r’s alle wisst, Die Lie­sel eu’­re Kön’­gin ist – Gik – Gak – juch! – –«

Wei­te, wo­gen­de Korn­fel­der, rot­blü­hen­des Hai­de­land und bräun­li­che Step­pe, be­grenzt und durch­schnit­ten von end­lo­ser Kie­fern­wal­dung, eben­so me­lan­cho­lisch wie der Him­mel, wel­cher sich in ein­för­mi­gem Re­gen­grau, oder in wol­ken­los strah­len­der Som­mer­bläue, mit fern, fern ver­schwim­men­dem Ho­ri­zon­te dar­über spannt, wer kennt sie nicht, die­se ei­gen­ar­tig nor­di­sche Land­schaft, so arm an bun­ter und reiz­vol­ler Ab­wechs­lung, und den­noch eine zau­ber­vol­le, trä­nen­lä­cheln­de Poe­sie? Kei­ne Berg­kup­pe, kein ma­le­ri­sches Fel­sen­haupt strebt zum Him­mel, mei­len­weit schweift der Blick über die Ebe­ne, flach und ein­sam hin­ge­streckt, aus­drucks­los wie ein schla­fend An­ge­sicht. Aber dort, weit hin am Wal­dessaum, da leuch­tet und blitzt es plötz­lich auf wie ein zit­tern­des Sil­ber­band, da dehnt sich hell­kräu­seln­de Flut brei­ter und brei­ter vor un­serm Blick, ein schil­fum­kränz­ter See ist es, der tief ver­bor­gen zwi­schen Wald und Hai­de sein träu­me­ri­sches Lied von der Sehn­sucht rauscht. – – –

Juni war es, die Ro­sen blüh­ten. Die Luft schi­en zu zit­tern, so heiß und klar war sie, und ver­such­te es der Wind, die trä­ge Schwin­ge zu rüh­ren, so trug er nur schwü­le Duft­wo­gen her­zu, de­ren sü­ßer Atem ihm sel­ber den Sinn be­rausch­te, dar­um sank er kraft­los her­nie­der in die Lin­den­blü­ten und reg­te sich nicht mehr.

Am klei­nen Bach ent­lang, mit­ten durch brei­te Klee­fel­der und Kar­tof­fe­lä­cker, schritt ein jun­ges Mäd­chen. Ein grob­ge­floch­te­ner Gar­ten­hut, eine ver­bli­che­ne Band­schlei­fe als ein­zi­gen, un­gra­zi­ösen Schmuck tra­gend, hüll­te Stirn und Au­gen in Schat­ten und saß recht nach­läs­sig auf dem schlan­ken Köpf­chen, von wel­chem zwei köst­lich di­cke, gold­blon­de Flech­ten et­was wirr und zer­zaust über den Rücken hin­gen. Ein schlich­tes Kat­tun­kleid rausch­te steif­ge­stärkt um die zier­li­che Fi­gur, auf zwei große, der­b­le­der­ne Schu­he nie­der­fal­lend, wel­che ihre wuch­ti­gen Nä­gel­spu­ren tief in dem lo­cke­ren Sand­bo­den zu­rück­lie­ßen. Die sonn­ver­brann­te Hand führ­te ein um­fang­rei­ches But­ter­brot zum Mun­de, lang­sam und be­hag­lich, ab­wech­selnd mit den köst­li­chen Herz­kir­schen, wel­che auf brei­tem Kohl­blatt, wohl­ge­hü­tet auf dem ge­bo­ge­nen Arm la­gen. Zeit­wei­se blieb die jun­ge Dame ste­hen, blick­te sin­nend auf den Klee und bog mit der plum­pen Schuh­spit­ze die grü­nen Blät­ter aus­ein­an­der, lan­ge ver­geb­lich. End­lich beug­te sie sich has­tig vor, so eif­rig, dass die Kir­schen über die Hand in den Weg­sand roll­ten, und so in­ter­es­sirt, dass sie die Flücht­lin­ge gar nicht be­merk­te. »Ein Vier­blatt! End­lich!« klang es ju­belnd von den Lip­pen, »na, Mon­sieur Frie­del, jetzt mach’ die Au­gen auf! Bin ich im­mer noch ein Pech­vo­gel? Hier hab’ ich’s ja, das Glück, und wenn ich’s Dir ge­zeigt habe, esse ich’s auf. Gre­te sagt, das müs­se man, wenn’s wirk­lich Gu­tes brin­gen soll!«

Das But­ter­brot zwi­schen den Zäh­nen hal­tend, griff die Spre­che­rin vor­sich­tig in die dickab­ste­hen­de Klei­der­ta­sche, warf einen schnel­len Blick hin­ter sich auf den Weg und zog als­dann ein klei­nes, alt­mo­disch ge­bun­de­nes Büch­lein her­vor, einen Au­gen­blick hielt sie es nach­denk­lich zwi­schen den Fin­gern. »Hm, ich will auf­schla­gen, welch ein Glück mir die­ses Klee­blatt bringt«, über­leg­te sie mit rei­zend wich­ti­gem Zug um den klei­nen Mund, klapp­te lang­sam das Buch aus­ein­an­der und schau­te atem­los auf das Ge­druck­te un­ter ih­rem Dau­men. »Sah ein Knab’ ein Rös­lein stehn, Rös­lein auf der Hai­den«, las sie fei­er­lich, mit ei­ner Stim­me und Be­to­nung, wel­che Ham­lets Geist alle Ehre ge­macht ha­ben wür­de, las pflicht­ge­treu bis zu Ende und seufz­te tief auf, »half ihm doch kein Weh und Ach! Ich dan­ke für solch ein Glück! Un­sinn mit die­sem Ge­dicht, von wem ist es denn ei­gent­lich? Aha, Goe­the, also doch et­was Schö­nes, – – ich ver­ste­he es viel­leicht nur nicht recht!« so press­te es sich mur­melnd zwi­schen Zäh­nen und But­ter­brot her­vor, und die jun­ge Dame leg­te das Vier­blatt be­hut­sam zwi­schen die Blät­ter in Goe­thes Ge­dich­te und ver­senk­te das Bänd­chen wie­der in die ge­wal­ti­ge Tie­fe der Klei­der­ta­sche.

In be­schleu­nig­tem Tem­po schritt sie wei­ter, brach sich eine schlan­ke Wei­den­ru­te vom Ba­chu­fer und köpf­te mut­wil­lig die wei­ßen Schafgarb­dol­den, wel­che über­hoch am Feld­saum wu­cher­ten; die ro­ten Lip­pen spitz­ten sich, in ver­geb­li­chem Ver­such »Gau­de­a­mus igi­tur« zu pfei­fen, die­weil ihre Ge­dan­ken wie­der bei Pas­tors Frie­del weil­ten, und die­ser Herr Stu­dio­sus und be­sag­tes Lied ein un­zer­trenn­li­cher Be­griff wa­ren. Der Weg lenk­te jetzt von dem Ba­che seit­wärts auf eine große Wie­se, durch­duf­tet von dem köst­li­chen Heu, wel­ches in ho­hen Hau­fen dar­in auf­ge­türmt lag, und durch­schnit­ten von der san­di­gen Fahr­stra­ße, wel­che auf der an­de­ren Sei­te be­reits von hoch­stäm­mi­ger Kie­fern­wal­dung be­grenzt wur­de.

An dem fla­chen Gras­rain die­ser Stra­ße saß Bär­bel, die klei­ne Gän­sehir­tin. Die Son­ne schi­en gol­den auf ihr nuß­brau­nes Haar, wel­ches in ab­ste­hen­dem Knöt­chen auf dem Kopf­wir­bel auf­ge­bun­den war, schi­en auf den ge­bräun­ten Na­cken und die hart­ge­ar­bei­te­ten Hän­de, in wel­chen sich das An­ge­sicht barg, um di­cke, bit­te­re Trä­nen durch die Fin­ger zu wei­nen.

»Ei, Bär­bel, was heulst Du denn?« klang es plötz­lich ne­ben ihr, und ein leich­ter Ger­ten­klapps auf das ge­senk­te Haupt ließ die Klei­ne er­schro­cken auf­schau­en. »Hat Dir Je­mand ’was ge­tan?«

Mit blödem Blick starr­te Bär­bel aus den rot­ge­wein­ten Au­gen, seufz­te tief auf und schüt­tel­te weh­mü­tig den Kopf: »Ach nä, gnä’ Frö­len, mir hät Keen’s wat to Leed dohn! äwerst roh­ren1 möt ick doch!«

»Döm­lich Dirn, wo kannst’ Di for nix so hev­ven!« klang es voll wohl­ge­mein­ten Tros­tes zu­rück; »wist’ un­sen lee­ven Herr­got int’ Rä­gen­wet­ter pfu­schen? Gliek seggst mi, wat di an­kom­men is.«

Bär­bel wisch­te krampf­haft mit dem Han­drücken über das trä­nen­über­ström­te Ge­sicht. »Ach, gnä’ Frö­len, min’ oarm Mud­ding – –«

»Man tau! was is mit se?«

»Se is sit­n’ poar Da­gen all krank und tau Bed, un’ het Fe­ver2 seggt de Doc­tor – – und min lütt Swes­tern un de Brau­der sin nu ganz ohn’ Up­sicht, un Keens do, wat min Mod­der waar­ten kan!« rang es sich schluch­zend von Bär­bels Lip­pen. »Ach le­ver God, ick mächt woll gi­ern do sin!«

»Oll Dös­kopp! wor­üm gehst denn nich, un sitzt all dar?« war die un­zwei­deu­ti­ge, has­tig her­vor­ge­sto­ße­ne Ant­wort; »gliek gehst to Hus!«

»Ach, ik ging so gi­ern – äwerst de Gös!!« Und Bär­bel warf einen ver­zwei­fel­ten Blick über ihre schnat­tern­den Un­tert­ha­nen. »Ik möt jo bi dat Dei­vels­viech blie­ven, Frö­len Jo­se­phi­ning!«

Das gnä­di­ge Fräu­lein sah eben­falls be­trof­fen drein.

»Do hest recht, wat is dabi tau ma­ken? Hast nich Ee­nen, de för di hin könnt?«

Bär­bel schüt­tel­te trost­los den Kopf. »Is keen Men­schen­seel nich!« Und aber­mals stürz­ten die Trä­nen aus ih­ren Au­gen. »Ach, wenn ik nur för’n Ogen­blick nach’r seihn könnt?«

Da rich­te­te sich Fräu­lein Jo­se­phi­ne re­so­lut in die Höhe, klatsch­te Bär­bel mit der Wei­den­ru­te auf den Rücken, um die Rüh­rung zu ver­ber­gen, und sag­te kurz: »Sput di, oll’ Rohrdirn, un’ kiek een’s vör tu Hus, ik hevv twei Stunn’ Tid, ik bliev bi de Gös!«

»Ach gnä’ Frö­len! ach Frö­len Jo­se­phi­ning!« ju­bel­te die klei­ne Hir­tin un­ter al­lem Schluch­zen: »Sei wil­len bi de Gös blie­ven? Unse Herr­god ver­gel­t’s!« Und sie sprang flink em­por, reich­te Jo­se­phi­ne das Zei­chen ih­rer Macht, die lan­ge Ha­sel­nuß­ru­te, und schüt­tel­te die Heu­hal­me von dem ge­flick­ten Röck­chen. »Ik moak fi­xing! äwerst – gnä’ Frö­len – pas­sen’s ok gaut acht, dass de Gös nich int’ Koorn un in de Tüff­ten gahn, sonst kreeg ik wat upp’n Pu­ckel!« Und ehe nur die neue Stell­ver­tre­te­rin ant­wor­ten konn­te, flog Bär­bel glück­se­lig und be­händ wie ein Reh über Wie­se und Feld dem na­hen Dörf­chen zu.

Jo­se­phi­ne stand mo­men­tan in rat­lo­ser Ver­le­gen­heit. Um sie her schnat­ter­ten und wa­ckel­ten die Vö­gel des Ka­pi­tols, mit lau­ter Ova­ti­on die neue Her­rin grü­ßend, wel­che es sich zur ers­ten Pf­licht mach­te, die Ha­sel­nuß­ger­te auf dem Fe­der­rock des re­vo­lu­tio­nären Gan­ters in Be­we­gung zu set­zen, bis auch er, der ein­zi­ge Re­bell, das ener­gi­sche Re­gi­ment der Thron­fol­ge­rin an­er­kann­te und sich lei­se pfau­chend in die Nes­seln des Chaus­see­gra­bens zu­rück­zog.

Auf­merk­sam be­ob­ach­te­te die jun­ge Dame ihre Schutz­be­foh­le­nen, jede Be­we­gung wur­de streng über­wacht, ob sich viel­leicht ein Korn- oder Kar­tof­fel­ge­lüs­te der be­fie­der­ten Un­hol­de kund tue; aber alle Ach­tung vor Bär­bels treff­li­cher Er­zie­hung! kei­ne der Gän­se mach­te nur Mie­ne, das er­laub­te Ter­rain zu über­schrei­ten. Die Son­ne schi­en heiß, und Jo­se­phi­ne be­gann sich zu lang­wei­len. Sie rück­te mit kräf­ti­gen Ar­men das Heu in den Schat­ten ei­nes Ebe­re­schen­bau­mes, wel­cher mit vie­len an­de­ren lau­bi­gen Kol­le­gen die wald­freie Sei­te der Chaus­see säum­te, be­rei­te­te sich einen nicht ge­ra­de raf­fi­niert ma­je­stä­ti­schen, aber doch einen herr­lich duf­ten­den Kö­nigs­thron und zog mit ei­nem Seuf­zer der Er­leich­te­rung den brei­ten Hut von den Haa­ren, um ihn recht fürst­lich un­dank­bar, gleich dem Moh­ren, wel­cher sei­ne Schul­dig­keit ge­tan, in die tiefs­te Tie­fe des Gra­bens zu schleu­dern. Hel­les Licht flu­te­te über das rei­zen­de Ge­sicht­chen des gnä­di­gen Fräu­leins. Schel­me­rei und Mut­wil­len blitz­ten die dun­kelblau­en Kin­derau­gen un­ter schwar­zen, lang­ge­schweif­ten Wim­pern, schlu­gen sich voll auf in nai­vem, neu­gie­rig for­schen­dem Stau­nen und ver­schlei­er­ten schüch­tern den Blick lau­tes­ter Her­zens­gü­te, gleich dem keu­schen Blu­men­kelch, wel­cher vor un­be­ru­fe­ner Hand die Blätt­lein schließt, um nicht zu zei­gen, wie reich und schön er ist. Kind und Jung­frau strit­ten sich noch um die See­le die­ses Blickes. Jetzt streif­te er nach­denk­lich das frisch­ge­wa­sche­ne Kat­tun­kleid, das Her­ze­leid der Tan­te Re­na­te, wel­ches nun ein­mal vol­le acht Tage ge­tra­gen wer­den muss, coûte qui coûte! »Ich wer­de es völ­lig zer­knit­tern!« über­leg­te die klei­ne Gän­se­ma­je­stät, »und mir wo­mög­lich Gras­fle­cken drein ma­chen, au­ßer­dem ist es so steif und un­be­quem wie ein Brett! Es ist ja kei­ne Men­schen­see­le in der Nähe, und kommt wirk­lich aus­nahms­wei­se et­was die Chaus­see ent­lang, so sind es die Ta­ge­löh­ner aus Groß-Stauf­fen oder die Milch-Jet­te, wer soll­te sich denn sonst in die­se Ein­sam­keit ver­lie­ren!« Und gar nicht an die Mög­lich­keit ir­gend ei­ner zi­vi­li­sier­ten Be­geg­nung den­kend, streif­te Jo­se­phi­ne flink den blau­en Klei­der­rock aus und trug ihn et­was ab­seits hin­ter das schir­men­de El­lern­ge­büsch, wo er gleich ei­nem ku­gel­run­den Luft­bal­lon an nie­de­rem Ast über der Erde schweb­te. Dann warf sie sich selbst in woh­ligs­tem Be­ha­gen mit­ten in das Heu hin­ein.

Et­li­che Mi­nu­ten ver­schränk­te sie noch die Arme im dol­ce far ni­en­te un­ter dem Köpf­chen und be­ob­ach­te­te mit blin­zeln­den Au­gen die rup­fen­de und zup­fen­de He­er­de Bär­bels, dann lang­weil­te sie sich aber­mals, sprang auf, hol­te Goe­thes Ge­dich­te aus dem Kleid und über­ließ die Gän­se, in un­er­schüt­ter­li­chem Ver­trau­en auf de­ren Wohl­er­zo­gen­heit, ih­rem Schick­sal. Lang hin­ge­streckt, dem Him­mel den Rücken zu­keh­rend und bei­de Ell­bo­gen auf das Heu ge­stemmt, stütz­te sie den Kopf in die Hän­de und ver­sank, ohne mehr rechts oder links zu bli­cken, völ­lig in den zau­be­ri­schen Wo­gen Goe­the­scher Poe­sie. Zu­erst fand sie noch Zeit, die saf­ti­gen Gras­hal­me ge­dan­ken­los zwi­schen den Zäh­nen zu zer­mal­men; als aber Sei­te um Sei­te um­flog, und die Au­gen im­mer grö­ßer und im­mer ver­ständ­nis­lo­ser wur­den, als die Ge­dich­te nicht nach der Qua­li­tät, son­dern nach der Quan­ti­tät ver­schlun­gen wur­den, da stan­den auch die klei­nen Per­l­zäh­ne still, und ihre Be­sit­ze­rin fand geis­ti­ge Nah­rung so über­reich, dass ve­ge­ta­ria­ni­sche Genüs­se voll­kom­men zu ent­beh­ren wa­ren. Die Son­ne aber stand am Him­mel und zit­ter­te mit ein­zel­nen Strah­len über das wild­lo­cki­ge blon­de Mäd­chen­haupt. Bär­bels grau­en Zwilch­sack, den Schutz ge­gen Re­gen, Sturm und Ge­wit­ter, hat­te Jo­se­phi­ne vor­sorg­lich über ihr hel­les Un­ter­kleid ge­schla­gen, und nur die Na­gel­schu­he schau­ten wie klei­ne Un­ge­heu­er, lei­se im Vers­rhyth­mus den Bo­den klop­fend, aus den gro­ben Fal­ten her­vor. Also hü­te­te die der­eins­ti­ge Er­bin von vie­len Tau­sen­den, Frei­in Jo­se­phi­ne Wet­ter von Stauf­fen­berg, die Gän­se an dem Chaus­seerain.

Wo der Fahr­weg fast stun­den­lang durch die Wal­dun­gen führt, ein­tö­nig ge­ra­de­aus durch stark duf­ten­de Fich­ten und Kie­fern, so eng be­stan­den und bu­schig, dass sie sich wie hohe, grü­ne Wän­de an bei­den Sei­ten hin­zie­hen, oder, lich­ter wer­dend, wie schlan­ke Palm­schäf­te em­por­ra­gen, von de­ren knor­ri­gen Häup­tern die Na­del­bär­te ma­le­risch her­nie­der­we­hen, trab­ten lang­sam hin durch die fuß­ho­hen Sand­fur­chen zwei Rei­ter. Das Ge­spräch stock­te mo­men­tan; der letz­te Ge­wit­ter­re­gen hat­te einen be­trächt­li­chen Teil des lo­sen Sand­wal­les her­nie­der­ge­schwemmt, und die Passan­ten wa­ren ge­nö­tigt, die ein­ge­grenz­te Stre­cke We­ges hin­ter­ein­an­der zu­rück­zu­le­gen.

»Zum Teu­fel mit die­ser gott­ver­ges­se­nen Ein­öde!« groll­te der jün­ge­re der bei­den Her­ren, sei­nen ele­gan­ten Gold­fuchs pa­rie­rend, um hin­ter dem Beglei­ter zu­rück­zu­blei­ben; »soll­te man sol­che Zu­stän­de im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert für mög­lich hal­ten! Bei Nacht bricht man sich hier Hals und Bei­ne – stop, ›gol­den dre­am‹, stop! –«

Der Spre­cher war ein auf­fal­lend schö­ner Mann, sei­ne Be­we­gun­gen die ei­nes vollen­de­ten Ka­va­liers. Groß und schlank, von je­ner leich­ten und gra­zi­ösen Si­cher­heit im Sat­tel, wel­che auf den ers­ten Blick den Sports­mann ver­rät und wel­che in die­ser Vollen­dung nur dem Ka­val­le­rie­of­fi­zier ei­gen ist, trug sei­ne gan­ze Er­schei­nung das Ge­prä­ge sorg­los la­chen­der Hei­ter­keit. Dun­kel flam­men­de Au­gen er­zähl­ten un­ter der De­vi­se »Ich kam – man sah mich – und ich sieg­te« – ein über­mü­ti­ges Lust­spiel von Tri­um­phen, zu wel­chem der spöt­ti­sche Zug um die Mund­win­kel, wel­cher die Lip­pen so her­aus­for­dernd, fast leicht­sin­nig über den blen­den­den Zäh­nen schürz­te, das ewig alte und ewig neue Dra­ma von dem ge­bro­che­nen Her­zen hin­zu­füg­te – »Pour pas­ser le temps!« lau­tet sein ge­wis­sen­lo­ser Re­frain. Ein dunk­ler, sehr zier­li­cher Schnurr­bart kor­re­spon­dier­te mit dem Haupt­haar, wel­ches in lo­cki­ger Fül­le, wohl­fri­sirt, die Stirn um­rahm­te; das Zi­vil war nicht dan­dy­haft, aber mit Ge­schmack und viel Sorg­falt ge­wählt.

An­ders, durch­aus an­ders sein Beglei­ter. Von großer, vier­schrö­ti­ger Fi­gur und et­was lin­ki­schen Be­we­gun­gen, mit ei­nem brei­ten, frisch­geröte­ten Ge­sicht, aus wel­chem zwei hell­blaue, un­end­lich treu­her­zi­ge Au­gen schau­ten, gelb­blon­dem Bart und Haupt­haar. Es gab wohl nicht leicht einen grö­ße­ren Kon­trast, als zwi­schen ihm und sei­nem Ge­fähr­ten. Er wand­te das Haupt und lach­te. »Man sieht, wie ver­wöhnt Du bist, Gün­ther, wie we­nig Hin­der­nis­sen Du bis jetzt, ex­cep­té im Stee­ple-Cha­se, auf Dei­nem Le­bens­we­ge be­geg­net bist. Dan­ke den Göt­tern für die­se Sand­schan­zen und nimm sie mit ge­wohn­ter Schnei­dig­keit, sie ver­hü­ten die zwei­te Auf­la­ge ei­ner Po­ly­kra­te­s­tra­gö­die!«

»Da­für hat be­reits mein Va­ter ge­sorgt, als er mei­ne Wie­ge auf den ste­rils­ten, lang­wei­ligs­ten Sand­bo­den des gan­zen deut­schen Rei­ches stell­te«, war die grol­len­de Ant­wort, »als er mich jetzt um die schöns­ten Wo­chen mei­nes Ur­lau­bes kränk­te, den mo­der­nen Ro­bin­son Cru­soe auf der ei­ge­nen Schol­le zu spie­len! Mil­le dia­bles, ich war ab­so­lut nicht neu­gie­rig auf hie­si­ge Ver­hält­nis­se und wäre wirk­lich nicht auf Hel­go­land an Sehn­sucht nach dem Schloss mei­ner Ah­nen ge­stor­ben, aber der Alte tat’s nicht an­ders, ich soll durch­aus in dem stol­zen Ge­füh­le ei­nes Groß­grund­be­sit­zers hier schim­me­lig wer­den!«

»Bist Du denn wahr­lich zum ers­ten Male hier, Freund For­tu­na­tus? Un­be­greif­lich! ich fin­de Dei­ne Hei­mat char­mant, eine Idyl­le voll Frie­den und Ruhe, die mir wohl­tut wie ein Schluck fri­schen Was­sers nach lan­ger, bren­nen­der Öde in­mit­ten des er­sti­cken­den Re­si­denz­stau­bes!«

»Ja, das bist Du auch, mein bra­ver Hat­ten­heim! – Quell­was­ser, Schwarz­brot und ein Hütt­chen, in wel­chem Raum für ein glück­lich lie­bend Paar ist, das sind die ho­hen An­for­de­run­gen Dei­nes Ge­schmackes!« lach­te Gün­ther voll gut­mü­ti­gen Spot­tes auf. »Hät­te ich nicht ge­wusst, welch ein rüh­rend ge­nüg­sa­mer Kerl un­ter Dei­ner Flach­sper­rücke steckt, ich hät­te nie­mals mei­ne Ein­la­dung nach Lehr­bach ris­kirt. Gott sei Dank, dass Du hier bist, al­ter Jun­ge, ohne Dich wäre aus dem Prin­zen For­tu­na­tus be­reits ein Flie­gen klat­schen­der Hy­po­chon­der ge­wor­den. Aber Tat­sa­che ist es, dass ich zum ers­ten Mal, we­nigs­tens mit Voll­be­wusst­sein die­ser Zu­mu­tung, Schloss Lehr­bach mit mei­ner Ge­gen­wart heim­su­che. Siehst Du, Hat­ten­heim, das kam so: Bis zu mei­nem sie­ben­ten Le­bens­jah­re be­wohn­ten mei­ne El­tern ihre hie­si­ge Be­sit­zung je­den Som­mer und sie­del­ten erst nach mei­nes Va­ters schnel­lem Avan­ce­ment dau­ernd in die Re­si­denz über, wo Mama, schon da­mals viel lei­dend, stets ge­nö­tigt war, statt Lehr­bach heil­sa­me Bä­der auf­zu­su­chen. Die Gü­ter wur­den ver­pach­tet, Mama starb, und mein Va­ter stieg so hoch in Amt und Fürs­ten­gunst, dass er we­der Zeit noch Ge­dan­ken für sei­ne Schol­le hat­te. Wenn Du ein­mal Mi­nis­ter bist, lie­ber Rei­mar, wirst Du das be­grei­fen. Ich hat­te na­tür­lich auch mehr zu tun, als hier die Mot­ten aus­zu­klop­fen, und so kam’s, dass selbst mei­ne Kin­de­rerin­ne­run­gen, bis auf mein Moos­haus im Park, par­don! ein­sch­lie­fen und ver­gilb­ten.«

»Und jetzt? Sei­ne Ex­cel­lenz der Mi­nis­ter nebst dem Herrn Sohn zu glei­cher Zeit auf vier Wo­chen all­hier in den ›oub­li­et­tes‹ zu Lehr­bach frei­wil­lig ein­ge­ker­kert?« Über Hat­ten­heims fri­sches Ge­sicht flog das be­hag­li­che Schmun­zeln, wel­ches ihm bei ei­nem ver­meint­li­chen Witz ei­gen war.

»›Oub­li­et­tes‹ ist gut!« lach­te Gün­ther; »aber ›frei­wil­lig‹ ist eine Nie­te, Di­cker! Mei­ne Be­reit­wil­lig­keit we­nigs­tens hat­te den Kapp­zaum auf, und mein Va­ter? Sieh mal Du, die jähr­li­chen Ren­ten sind ganz in­fa­me Ty­ran­nen, die rüt­teln selbst eine Ex­cel­lenz aus ih­rer Apa­thie! Un­ser Pacht­kon­trakt war ab­ge­lau­fen, und neue Ab­schlüs­se be­din­gen eine ge­naue Kennt­nis der Sach­la­ge, er­go hieß es: An die Pfer­de! Der alte Graf und Herr zu Lehr­bach aber fürch­te­ten sich vor Ein­sam­keit und Lan­ge­wei­le, dar­um kom­man­dier­te er sei­nen Sohn Job Gün­ther, Gra­fen und Herrn zu Lehr­bach, zur per­sön­li­chen Dienst­leis­tung, und da die­ser Un­heil und auf­zie­hen­de Wet­ter ahn­te, sorg­te er bei Zei­ten für einen Blitz­ab­lei­ter, wel­cher all­hier hoch zu Ros­se breit und wohl­ge­nährt vor ihm her trabt, – – nichts für un­gut, lie­ber Hat­ten­heim! Die­ses not­wen­di­ge Übel bist Du!«

Bei den letz­ten Wor­ten di­ri­gier­te Graf Gün­ther sei­nen Gold­fuchs »gol­den dre­am« in kur­z­er Vol­te an die Sei­te sei­nes Freun­des, da der Weg wie­der breit und frei vor ih­nen lag.

Ein fast zärt­li­cher Blick Rei­mar von Hat­ten­heims streif­te das schö­ne Ant­litz des Ka­me­ra­den, des­sen lus­ti­ges La­chen, ging das­sel­be selbst auf Kos­ten sei­ner ei­ge­nen oft be­wit­zel­ten Per­sön­lich­keit, zum Son­nen­schein sei­nes ein­sa­men Le­bens ge­wor­den war.

Bei­de jun­ge Män­ner stan­den bei ei­nem Re­gi­ment, den in der Re­si­denz gar­ni­so­nie­ren­den Husa­ren, wohn­ten ein­an­der vis-à-vis und wa­ren so­gar durch Ur­va­ter Adam und eine an­ge­hei­ra­te­te Cou­si­ne et­was ver­wandt. Hat­ten­heim, früh ver­waist und viel auf sich selbst an­ge­wie­sen, still und be­schei­den, durch manch bit­te­re Er­fah­rung ver­schlos­sen und neu­en Be­kannt­schaf­ten un­zu­gäng­lich, war lang­sam, sehr lang­sam, aber de­sto si­che­rer der Freund Lehr­bachs ge­wor­den. Les ex­trê­mes se tou­chent – so ver­schie­den wie die bei­den Cha­rak­tere, so ver­schie­den wa­ren auch die Mo­ti­ve der Freund­schaft, wel­che erst ver­schie­de­ne Sta­di­en zu durch­lau­fen hat­te, ehe sie sich zu dem auf­rich­ti­gen, von bei­den Sei­ten so ehr­lich ge­mein­ten Ver­hält­nis­se rück­halt­lo­sen Ver­trau­ens her­an­ge­bil­det hat­te. Lehr­bach, durch Glück und Son­nen­schein ver­wöhnt und et­was ober­fläch­lich be­an­lagt, war egois­tisch und be­rech­nend, wenn auch nur in Be­zie­hung auf sei­ne Per­sön­lich­keit und das mit der­sel­ben ver­knüpf­te Su­pre­mat über Par­quet und Her­zen. Sein letz­tes Stück Brot hät­te er ohne Be­sin­nen, sein Hab und Gut viel­leicht leicht­sin­nig mit Hat­ten­heim und man­chem An­de­ren sei­ner Ka­me­ra­den ge­teilt, aber Frau­en­gunst und den in heißem Kamp­fe er­ober­ten Platz als Löwe des Ta­ges, als en­fant chéri der Re­si­denz, den teil­te er mit Nie­man­dem, selbst mit dem bra­ven Hat­ten­heim nicht. »Ich will kei­ne an­de­ren Göt­ter ha­ben ne­ben mir!« blitz­ten sei­ne dunklen Au­gen, und die­se, sei­ne ei­fer­süch­ti­ge Ei­tel­keit, war die ers­te egois­ti­sche Ur­sa­che sei­ner An­nä­he­rung an Rei­mar ge­we­sen. Es war eine sel­te­ne und auf­fal­len­de Tat­sa­che, dass Gün­thers Ka­me­ra­den fast sämmt­lich sehr be­lieb­te Ge­sell­schaf­ter wa­ren, ent­we­der durch ein ein­neh­men­des Äu­ße­re, oder durch man­nig­fa­che Ta­len­te aus­ge­zeich­net, wel­che sie über­all zu gern­ge­se­he­nen und be­vor­zug­ten Gäs­ten mach­ten. »Es ist zum Ra­send­wer­den mit dem Gra­fen Vroneck!« hat­te Lehr­bach oft mit dun­kel­rot echauf­fier­tem Kopf ge­ru­fen, »da stellt sich der Kerl hin, und singt – bah! Un­sinn, brüll­t sage ich! – ein paar sen­ti­men­ta­le Lie­der, und Müt­ter und Töch­ter ver­dre­hen die Au­gen und la­den ihn wo­mög­lich ganz en fa­mil­le zum Mu­si­zie­ren ein! – Eben­so mit Brocks­dorff, Reu­en­stein und Clod­wig! –Wa­rum? – weil sie Gei­ge und Cla­vier spie­len, aber wie?! – Schau­der­haft! – dass ich im­mer Leib­schmer­zen be­kom­me! – und trotz­dem trei­ben die Da­men einen förm­li­chen Cul­tus mit den Kerls, – im­mer Soiréen und Mu­sik! – wo un­ser ei­ner die Wand de­ko­riert und sich vor­kommt wie But­ter an der Son­ne!« –

Als Hat­ten­heim aus ei­nem schle­si­schen Ula­nen­re­gi­ment nach D. ver­setzt wur­de, nahm Lehr­bach den neu­en Vet­ter und Ka­me­ra­den so­fort un­ter den Arm und führ­te ihn län­ge­re Zeit spa­zie­ren. Da wur­de ein hoch­not­pein­li­ches Ver­hör über ihn ver­hängt:

»Sa­gen Sie mal, Ver­ehr­tes­ter, spie­len Sie Cla­vier – oder Gei­ge – oder sonst so eine Jam­mer­schach­tel?« frag­te er miss­trau­isch.

Hat­ten­heim schüt­tel­te er­staunt sein stroh­gel­bes Haupt. »Nein, lie­ber Vet­ter, nur Skat und Mei­ne Tan­te, Dei­ne Tan­te.«

»Fa­mos! sehr nett von Ih­nen – aber sin­gen, oder dich­ten Sie viel­leicht? – Ly­ri­sche Ver­se sind mir gräss­lich – ge­ra­de­zu gräss­lich, sage ich Ih­nen! Un­ser gu­ter Reu­en­stein dich­tet mit wü­ten­der Con­se­quenz! die ar­men Herr­schaf­ten, na­ment­lich Prin­zess Syl­vie, be­kom­men die­se Stief­kin­der Era­tos meuch­lings bei­ge­bracht – dut­zend­wei­se, und je­des un­ter an­de­rem Na­men, zum Bei­spiel So­net­t oder Bal­la­de oder Di­sti­chon – oder was sich der Kerl all’ für Na­men dazu aus­denkt – lä­cher­lich, auf Wort; er bla­miert sich nur da­mit! – Aber par­don – Sie dich­ten viel­leicht sel­ber?«

Ein fast ent­setz­ter Blick traf ihn aus den hell­blau­en Au­gen Rei­mars: »Nie! – nie! … Ich habe ab­so­lut kein Ge­schick dazu, ich bin über­haupt sehr stief­müt­ter­lich von der Na­tur be­dacht, ich be­sit­ze kein her­vor­ra­gen­des Ta­lent! aber ich lie­be und ver­eh­re die Kunst!«

»Na­tür­lich, ich auch, Vet­ter­chen – ich male – wie man sagt – so­gar ganz passa­bel! – Aber zum Kuckuck, das nützt mir doch nichts im Sa­lon! Man kann doch kei­ne Por­trai­tir-Aben­de ar­ran­gie­ren! Also k­ein Ta­lent? Hm … tut gar nichts, Hat­ten­heim­chen, es wäre ja fürch­ter­lich, wenn nur noch Ge­nies ge­bo­ren wür­den! A pro­pos – Sie sou­pie­ren heu­te Abend mit mir, selbst­ver­ständ­lich! – wer­den doch bei Ver­wand­ten kei­ne Um­stän­de ma­chen! Papa hat einen ex­cel­len­ten Wein­kel­ler – al­lons donc!« Noch einen Blick über des Vet­ters Ant­litz und Fi­gur, wel­che so gar nicht den Ein­druck ei­nes »schnei­di­gen Schwe­re­nö­ters« mach­ten, und in Lehr­bachs Her­zen ju­bel­te es: »Heu­re­ka! Dies ist mein Mann! Dies ist die Fo­lie für mich, wel­che ich brau­che, dies ist ein Freund, den Frau For­tu­na, mei­ne hohe Gön­ne­rin, spe­zi­ell für mich im lie­ben Schle­si­en ge­ba­cken hat!«

Und von Stun­d’ an nahm er den Vet­ter mit so viel – erst ge­küns­tel­ter, bald aber herz­li­cher Lie­bens­wür­dig­keit in Be­schlag, dass sich fast un­be­wusst für Bei­de ein re­ger Ver­kehr an­bahn­te, wel­cher bald eine fes­te und blei­ben­de Freund­schaft wur­de, de­ren treff­li­cher Ein­fluss na­ment­lich bei Lehr­bach sei­ne ed­len Früch­te trug. – Er lern­te in dem un­be­deu­ten­den, ge­sell­schaft­lich so völ­lig über­se­he­nen Freund einen Cha­rak­ter ken­nen, so gold­ge­treu und selbst­los, so wahr­haft rit­ter­lich und bie­der, dass er sei­ne Nähe nicht mehr aus Ego­is­mus, son­dern aus ver­eh­rungs­volls­ter Zu­nei­gung such­te. – Und Hat­ten­heim? Das herz­li­che Ent­ge­gen­kom­men des be­deu­tend jün­ge­ren Vet­ters tat dem schüch­ter­nen, und da­durch sehr ver­ein­sam­ten Man­ne wohl; man­cher­lei Win­ke be­treffs des Hofle­bens, der neu­en und un­ge­wohn­ten Ver­hält­nis­se, die eif­ri­ge Be­reit­wil­lig­keit, ihn bei ein­fluss­rei­chen und be­lieb­ten Fa­mi­li­en aufs bes­te ein­zu­füh­ren, ver­pflich­te­ten ihn und er­füll­ten ihn bei sei­ner so wie so schon sehr sen­si­be­len Na­tur mit un­be­grenz­ter Dank­bar­keit. – Dazu ge­sell­te sich eine tie­fe Be­wun­de­rung für den ge­fei­er­ten, viel um­wor­be­nen Mann, des­sen Schön­heit, und die glän­zen­de Be­ga­bung, die­sel­be im Voll­be­sitz ge­sell­schaft­li­cher Rou­ti­ne zur Gel­tung zu brin­gen, ihm das Ide­al ei­nes Ca­va­liers ver­wirk­lich­ten! Auch er­kann­te er in sei­ner großen Vor­lie­be für Al­les was Kunst heißt, das wirk­lich be­ach­tens­wer­te Ta­lent Gün­thers, wel­cher mit Leich­tig­keit den Pin­sel und Stift führ­te, und mit we­ni­gen Stri­chen ein so spre­chen­des Por­trait lie­fer­te, dass es selbst we­nig ge­üb­te Au­gen frap­pie­ren muss­te! – Aber Lehr­bach ver­nach­läs­sig­te sei­ne Stu­di­en, weil das »al­ber­ne Ge­kle­xe« ab­so­lut un­dank­bar und im Sa­lon ja au­ßer zur De­ko­ra­ti­on durch­aus un­brauch­bar sei! – Erst auf lan­ges, drin­gen­des Bit­ten Rei­mars ent­schloss er sich durch vor­züg­li­che Stun­den sein Ta­lent zur Vollen­dung zu rei­fen, und dank­te ihm nun man­chen Tri­umph, wel­chen er sich vor­her gar nicht hat­te träu­men las­sen. – Hat­ten ihm doch sei­ne Ca­ri­ca­tu­ren, wel­che er so keck und amüsant auf die Tanz­kar­ten krit­zel­te, den ers­ten Co­til­lo­nor­den der Prin­zess Syl­vie ein­ge­tra­gen! –

Weit ent­fernt, auch nur die min­des­te Con­cur­renz zu su­chen, freu­te sich Hat­ten­heims selbst­lo­se See­le in fast vä­ter­li­cher Lie­be der Er­fol­ge des Lieb­lings, strah­lend vor Stolz und Freu­de über die­sel­ben, als sei­en sie ihm und nicht Gün­ther ge­wor­den, und von rüh­ren­der Gut­mü­tig­keit, wenn der des­po­ti­sche Freund in über­mü­ti­ger Lau­ne den Pfeil des Wit­zes selbst auf ihn ab­schnell­te. –

Lehr­bach fühl­te sich un­sag­bar wohl da­bei. – »Sag’ mal, Di­cker, hast Du eine un­glück­li­che Lie­be, oder bist Du heim­lich ver­lobt, oder ohne Herz zur Welt ge­kom­men?« frag­te er einst am Mor­gen nach ei­nem Bal­le, als er an Hat­ten­heims Sei­te einen »Ka­ter­ritt« un­ter den Fens­tern des lin­ken Schloss­flü­gels mach­te, »ich bin noch nie im Le­ben ei­nem so stock­fi­schi­gen Kerl be­geg­net wie Dir! – Wa­rum tanzt Du nicht? Fürch­test Du ei­nem treff­lich ge­dei­hen­den Em­bon­point Ab­bruch zu tun, oder stu­dierst Du auf den Jung­ge­sel­len?«

»Keins von bei­den, Klei­ner, ich will Dir nur nicht in das Ge­he­ge kom­men!« Hat­ten­heim schmun­zel­te und hieb mit der Reit­ger­te ein dür­res Blatt von dem tief­hän­gen­den Kas­ta­ni­en­zweig. –

»Bêti­se! mit die­ser Aus­re­de las­se ich mich nicht ab­spei­sen – Hand aufs Herz, Reinz, schläg­t’s für kei­ne Ein­zi­ge?«

»Lei­der noch im­mer nicht! seit fünf Jah­ren su­che ich mein Ide­al und fin­de es nicht, bin wohl zur un­rech­ten Zeit auf die Welt ge­kom­men! Lat bee, ich ver­mis­se es nicht, und füge mich mei­nem Schick­sal –«

Lehr­bach fi­xier­te mit miss­traui­schem Sei­ten­blick das Ant­litz des Spre­chers, wel­ches sich plötz­lich mit ei­nem me­lan­cho­li­schen Auf­seuf­zen tief zur Brust neig­te. – »Hat­ten­heim, ich ver­lan­ge Of­fen­heit von Dir! ist es viel­leicht ein und die­sel­be, die wir –«

Lei­ses Auf­la­chen un­ter­brach ihn. – »Nein, auf Wort nicht, Vet­ter! Hier mei­ne Hand drauf, un­ser Ge­schmack ist sehr ver­schie­den! Ich bin seit mei­ner Ju­gend ein­sam, an kei­ne Wei­ber ge­wöhnt, dar­um ma­che ich viel­leicht un­mög­li­che An­for­de­run­gen an mei­ne Zu­künf­ti­ge! Noch aber bin ich Frei­herr, – frank und frei von je­der Nei­gung!« –

»Ich glau­be es Dir. Aber eins, Rei­mar, wenn Du je­mals glaubst die Rech­te ge­fun­den zu ha­ben« »So kom­me ich zu Dir, und fra­ge um Er­laub­nis, ob ich sie lie­ben darf!« – fiel der jun­ge Of­fi­zier hei­ter ins Wort, mit sicht­li­chem Er­göt­zen den Arg­wohn im Auge Lehr­bachs be­ob­ach­tend: »bis da­hin aber pas­sons la des­sus –«

Schwei­gend rit­ten bei­de Her­ren ne­ben ein­an­der. Die Huf­schlä­ge der Pfer­de ver­klan­gen im tie­fen San­de, sel­ten dass ei­nes der­sel­ben auf­schnau­fend die Mäh­ne schüt­tel­te, oder ein Sporn mit lei­sem Sil­ber­klang den Bü­gel streif­te; kei­ne Men­schen­see­le weit und breit, es war ein ein­sa­mer, lang­wei­li­ger Weg, wel­cher Schloss Lehr­bach und Groß-Stauf­fen ver­band.

Der Wald schnitt zur einen Sei­te ab und mach­te wo­gen­dem Ähren­fel­de Platz, wäh­rend die Chaus­see scharf um­bog und, von Ebe­re­schen­bäu­men ein­ge­fasst, sich mäh­lich in eine Wie­se­ne­be­ne senk­te, aus de­ren bu­schi­gem Hin­ter­grun­de rote Dä­cher und der graue, vier­e­cki­ge Schlos­sturm von Stauf­fen auf­rag­ten.

Hat­ten­heim hat­te in tie­fe Ge­dan­ken ver­lo­ren das Haupt ge­neigt und starr­te me­cha­nisch auf den glän­zen­den Na­cken sei­nes Brau­nen, als er sich plötz­lich fest am Arm ge­fasst fühl­te, und Gün­thers Stim­me ihm has­tig ins Ohr raun­te: »Stop Reinz!«

Der Ge­nann­te zuck­te em­por und blick­te sei­nen Ge­fähr­ten über­rascht an; ehe er aber die Lip­pen zu ei­ner Fra­ge öff­nen konn­te, fuhr Lehr­bach flüs­ternd fort: »Pst, ein rei­zen­des Bild, Di­cker, eine fa­mo­se Idyl­le!«

Hat­ten­heim straff­te die Zü­gel und folg­te mit dem Bli­cke dem Fin­ger des Ka­me­ra­den, wel­cher sich auf den Stra­ßen­rain, dicht vor ih­nen, rich­te­te.

Dort gras­te in fried­li­cher Ein­tracht eine Gän­se­he­er­de zwi­schen Klee und Bunt­blüm­lein im hell­glän­zen­den Son­nen­lich­te, wäh­rend et­was ab­seits auf ei­nem Heu­hau­fen ihre Hü­te­rin den gold­blon­den Kopf in die Hand stütz­te und durch den In­halt ei­nes klei­nen Bu­ches so ge­fes­selt schi­en, dass sie das Na­hen der Frem­den nicht be­merkt hat­te. Das rei­zen­de Pro­fil war den Rei­tern zu­ge­wandt und hob sich in wei­chen, rei­nen Li­ni­en von dem schat­ti­gen Hin­ter­grun­de ab.

»Fa­mo­ses Idyll!« flüs­ter­te Lehr­bach, ohne den Blick von dem blon­den Mäd­chen­kopf zu wen­den, »eine länd­li­che Stu­die, wie sie gar nicht bes­ser zu fin­den ist! Habe ja Prin­zess Syl­vie et­li­che Be­wei­se mei­nes Flei­ßes ver­spro­chen, Land und Leu­te aus Lehr­bach, die klei­ne Ho­heit hat merk­wür­di­ges In­ter­es­se da­für! Don­ner­wet­ter, welch sü­ßes Ge­sicht­chen! Gän­se­lie­sel soll den Rei­gen er­öff­nen Hat­ten­heim, mil­le dia­bles! Hast Du je­mals solch ein rei­zen­des Mo­dell ge­se­hen?«

Lehr­bach zog eif­rig sein ele­gan­tes Skiz­zen­buch aus der Brust­ta­sche und warf einen schnell­prü­fen­den Blick auf die Blei­stift­spit­ze: »Hal­te, bit­te, mal den Gaul so lan­ge, Di­cker, ich will mich schnell et­was nä­her pür­schen, ehe mei­ne länd­li­che Schö­ne ihre Ka­te­chis­mus­stu­di­en be­en­det hat – lernt ge­wiss die sie­ben Bit­ten für den Herrn Pfar­rer …« Und der jun­ge Of­fi­zier schwang sich so laut­los wie mög­lich aus dem Sat­tel, warf Hat­ten­heim die Zü­gel zu und schlich be­hut­sam in dem wei­chen San­de nä­her, bis zu dem nächs­ten Stein­hau­fen, auf wel­chen er sich, al­ler­dings nicht ohne Über­win­dung, nie­der­setz­te und, das Buch auf den Kni­en, eif­rig zu zeich­nen be­gann.

Sein ah­nungs­lo­ses Mo­dell ver­hielt sich meis­ter­lich ru­hig, das Um­schla­gen der Sei­ten ge­sch­ah schnell und ohne die Stel­lung zu ver­än­dern, und wenn sich die klei­ne Hand hie und da reg­te, um die vor­fal­len­den Löck­chen aus der Stirn zu strei­chen, so hin­der­te das den jun­gen Künst­ler kei­nes­wegs, ein al­ler­liebst ähn­li­ches, wenn auch ein klein we­nig ka­ri­kier­tes Por­trät zu lie­fern, denn der viel­fach ge­flick­te Sack, wel­cher ihre Fi­gur ein­hüll­te, und die plum­pen Nä­gel­schu­he tra­ten in hu­mo­ris­ti­scher Treue her­vor, auch et­li­che der ge­fie­der­ten Un­tert­ha­nen grup­pier­ten sich in scherz­haf­tes­ten Po­sen um die jun­ge Ge­bie­te­rin!

Mit amü­sier­tes­tem Lä­cheln sah Gün­ther schon nach kur­z­er Zeit auf die vollen­de­te Zeich­nung her­nie­der, schrieb mit kräf­ti­gen Zü­gen: »Gän­se­lie­sel« und das Da­tum dar­un­ter und ver­glich als­dann Ori­gi­nal und Ko­pie noch ein­mal mit prü­fen­dem Blick. »Wie scha­de, dass sie die Au­gen nie­der­schlägt!« dach­te er, »es geht da­durch viel Schö­nes ver­lo­ren! Schö­nes? na­tür­lich, in solch al­ler­liebs­tes Ge­sicht ge­hö­ren ein paar Mus­ter­au­gen, groß – la­chend – na­tür­lich blau, nach dem Blond­kopf zu schlie­ßen! – Teu­fel noch eins, wenn die klei­ne Hexe doch ein­mal auf­se­hen woll­te!«

Aber »Gän­se­lie­sel« sah nicht auf, und der jun­ge Of­fi­zier er­hob sich, schritt laut­los, wie er ge­kom­men, zu dem Pfer­de zu­rück und reich­te Hat­ten­heim die Skiz­ze em­por.

»Die hät­ten wir!« lach­te er lei­se. »Eine Ent­füh­rung so heim­lich, dass selbst die Haupt­per­son kei­ne Ah­nung da­von hat! – Nun? ›Zur Kri­tik, mei­ne Her­ren!‹ ich war­te auf Dein un­maß­geb­li­ches Ur­teil, lie­ber Di­cker!« Mit ei­nem Blick, in wel­chem Über­mut und eine klei­ne Do­sis Selbst­zu­frie­den­heit um den Vor­rang strit­ten, blick­te er zu dem Freun­de auf und lehn­te sich, sei­ne Ant­wort er­war­tend und die Zü­gel in der Hand, ge­gen sei­nen Gold­fuchs zu­rück.

Lan­ge, fast un­ge­wöhn­lich ernst blick­te Hat­ten­heim auf das klei­ne Bild in sei­ner Hand her­nie­der. Ein ver­glei­chen­der Blick flog nach der Le­se­rin im Heu hin­über, um sich als­dann aber­mals auf die Zeich­nung zu sen­ken, wäh­rend ein mil­des, war­mes Lä­cheln sei­ne Züge ver­klär­te.

»Mi­ra­bi­le visu!« mur­mel­te er und nick­te ein paar Mal sin­nend vor sich hin. »Ein her­zi­ges Ge­sicht und eine vor­treff­li­che Zeich­nung. Es kommt mir vor, als sei Dir lan­ge nicht eine solch frap­pan­te Ähn­lich­keit ge­lun­gen, und doch sin­d’s nur we­ni­ge Stri­che, und ge­senk­te Au­gen! – Dan­ke Dir, Gün­ther, Du bist ein gan­zer Kerl!« – und er warf noch einen Blick auf das Pa­pier und reich­te Lehr­bach das Skiz­zen­buch zu­rück. Die­ser klapp­te es zu und schob es in die Brust­ta­sche.

»Ja, lei­der ge­senk­te Au­gen!« sag­te er, sich elas­tisch in den Sat­tel schwin­gend. »Aber nur auf dem Pa­pier, in Wahr­heit soll sie uns so­fort den blau­en Him­mel ih­rer See­le ent­schlei­ern! Hübsch ge­sagt, was? ist auch nicht von mir! – Vor­wärts jetzt, a­vanç­ons!« und ein leich­ter Zun­gen­schlag ließ den Fuchs von Neu­em aus­grei­fen.

Hat­ten­heim folg­te fast me­cha­nisch, um Hal­ses­län­ge hin­ter dem Ka­me­ra­den zu­rück­blei­bend, wel­cher dicht am Chaus­seerain in be­schleu­nig­tem Tem­po sei­nem Mo­dell ent­ge­gen eil­te. Im­mer noch klan­gen die Hufe ge­dämpft im San­de, Lehr­bach zog die Korn­blu­me aus dem Knopf­loch und warf sie mit ge­schick­tem Schwung nach dem Bu­che der so au­ßer­or­dent­lich ver­tief­ten Le­se­rin, wel­che je­doch in dem­sel­ben Au­gen­blick schon em­por­schrak und mit zwei großen, dun­kelblau­en Au­gen fast ent­setzt auf die Rei­ter starr­te.

»Nun, klei­ne Hai­de­ro­se, so ganz und gar ver­tieft?« lach­te der schö­ne Mann, sein Roß pa­rie­rend, »welch ein in­ter­essan­tes Buch ha­ben wir denn da vor?« Dunkle Blut­wel­len er­gos­sen sich über das Ge­sicht Jo­se­phi­nens, sie schlug er­schro­cken den Goe­the zu und rich­te­te sich mit schnel­lem Ruck em­por. Mo­men­tan ruh­te Auge in Auge, dann wie­der­hol­te sie plötz­lich mit stau­nen­der Freu­de: »Hai­de­ro­se?« und ehe nur Lehr­bach ihr selt­sa­mes Be­neh­men deu­ten konn­te, blät­ter­ten auch schon ihre Fin­ger in fast zit­tern­der Hast von Neu­em in dem Bu­che.

Gün­ther blick­te Hat­ten­heim la­chend an. »So naiv, dass sie selbst die bo­ta­ni­sche Elo­ge nicht be­greift!« und sich aber­mals zu Jo­se­phi­ne wen­dend, fuhr er fort: »Par­don, mein schö­nes Kind! ich bit­te noch einen Au­gen­blick die Lec­tü­re zu un­ter­bre­chen und mir eine Fra­ge zu be­ant­wor­ten!«

Aber Gän­se­lie­sel schi­en sei­ne Wor­te nicht zu hö­ren, ihr Auge starr­te auf das Buch. »Ganz recht!« rang es sich wie in lau­tem Selbst­ge­spräch von ih­ren Lip­pen: »Rös­lein auf der Hai­den!« und sie ließ das Buch sin­ken, blick­te mit dun­keln, glän­zen­den Au­gen zu ihm auf und dach­te im Her­zen: Also Der ist Dein Glück!

Lehr­bachs schar­fer Blick fiel auf das Buch. Er sah ge­druck­te Ver­se und ein vier­blätt­ri­ges, fri­sches Klee­blatt, wel­ches zwi­schen den Blät­tern lag.

»Aha! Ge­dich­te?« rief er, die Hand nach dem Goe­the aus­stre­ckend, »darf man wohl se­hen, welch ein glück­li­cher Meis­ter hier mit Haut und Haar ver­schlun­gen wird?«

Wie ge­bannt hing Jo­se­phi­nens Blick an sei­nen la­chen­den Zü­gen, hei­ßes Rot brann­te auf ih­ren Wan­gen, und fast me­cha­nisch reich­te sie das Buch em­por.

»Goe­the? grâ­ce à Dieu!« die schlan­ke Fi­gur des Gra­fen bog sich zu Hat­ten­heim zu­rück: »Di­cker! ich tue der Ge­gend hier Ab­bit­te da­für, dass ich sie eine Wild­nis ge­nannt habe! Mehr Kul­tur als die Klas­si­ker auf der Gän­se­wie­se kann man doch bei Gott! nicht ver­lan­gen!« Und sich zu Jo­se­phi­ne zu­rück­wen­dend, sag­te er mit lan­gem Blick in ihre Au­gen: »Ein Vier­blatt? frisch ge­bro­chen! wis­sen Sie auch, klei­ne Schön­heit, dass dies Glück be­deu­tet?« Fräu­lein Wet­ter von Stauf­fen­berg nick­te eif­rig. »Es ist ja schon ein­ge­trof­fen!« lach­te sie voll rei­zen­der Nai­ve­tät.

»So? und in­wie­fern, wenn man fra­gen darf?«

»Nun – Sie ka­men des Wegs und nann­ten mich ja Hai­de­röschen!« ent­geg­ne­te sie treu­her­zig.

»Und das ist ein Glück?« Lehr­bachs flam­men­des Auge ließ das jun­ge Mäd­chen plötz­lich ver­wirrt die Wim­pern sen­ken, sie such­te stot­ternd nach ei­ner Ant­wort, aber der Rei­ter fuhr mit ei­nem aber­ma­li­gen Blick in das Ge­dicht­buch lei­ser fort: »Sah ein Knab’ ein Rös­lein stehn, Rös­lein auf der Hai­den! Wie nun, wenn die­ses Ge­dicht zur Wahr­heit ge­wor­den wäre, wenn der Knab’ – und der bin ich! – das mor­gen­schö­ne Rös­lein wirk­lich mit tau­send Freu­den an­sä­he?« Ein un­be­schreib­li­cher Blick traf ihn aus den kla­ren Kin­derau­gen, la­chen­des Ent­zücken, Ver­le­gen­heit und süße Scheu wa­ren sein Ge­misch.

»Wer sind Sie denn? und was wol­len Sie hier bei uns?« frag­ten die ro­ten Lip­pen, ohne nä­her auf sei­ne Fra­ge ein­zu­ge­hen.

»Mei­nen Mut be­wei­sen, dass ich mich nicht vor Ro­sen­dor­nen fürch­te!« lä­chel­te er, ge­ra­de im Be­griff, noch einen Schritt nä­her zu rei­ten. In dem­sel­ben Au­gen­blick aber klang es laut und ju­belnd über die Wie­se: »Frö­len Jo­se­phi­ning! dar bin ik tor­ück!« und als er er­staunt auf­blick­te, sah er ein schlan­kes, ärm­lich ge­klei­de­tes Bau­ern­mäd­chen quer­feld­ein durch den Kar­tof­fela­cker lau­fen, um mit we­ni­gen Schrit­ten ne­ben den Rei­tern und Jo­se­phi­nen zu ste­hen.

»Gnä’ Frö­len, se sull gliek ba­ben kom­m’!« rief Bär­bel atem­los, fass­te schnell die Hand der Baro­nes­se und küss­te sie voll dank­ba­rer In­nig­keit: »Ik dank’ ok, dass se upp de Gös ach­te passt heb­ben, un’ min Mud­ding ok, se is bet­ter, un’ min lütt Brau­der war­t’ se!«

Lehr­bach und Hat­ten­heim wech­sel­ten einen Blick maß­lo­sen Er­stau­nens. »Gnä­di­ges Fräu­lein?« wie­der­hol­te Lehr­bach, den Hut ab­zie­hend, »ich bit­te tau­send­mal um Par­don, ich ahn­te wirk­lich nicht – –«

»Dass hier zu Lan­de die ad­li­gen Da­men Gän­se hü­ten?« lach­te Jo­se­phi­ne über­mü­tig auf: »Das ist auch drol­lig, nicht wahr?« und die Händ­chen in un­ver­hoh­le­nem Ver­gnü­gen zu­sam­menschla­gend, fuhr sie hei­ter fort: »Ich merk­te ja gleich, dass Sie mich mit Bär­bel ver­wech­sel­ten, weil Sie gar kei­nen Re­spekt vor mir hat­ten! Haha! was für ein ko­mi­sches Ge­sicht Sie ma­chen! ich könn­te mich tot­la­chen über Sie!« Und Jo­se­phi­ne zeig­te mit so viel schel­mi­scher Bos­heit ihre Per­l­zähn­chen, als wol­le sie wirk­lich mit dem Tot­la­chen Ernst ma­chen!

»Sie se­hen mich al­ler­dings au­ßer­or­dent­lich stupéfait, mei­ne Gnä­digs­te«, rief Lehr­bach, sich schnell in sei­ne ei­gen­tüm­li­che Si­tua­ti­on fin­dend und ihr, gleich wie die jun­ge Dame, die hu­mo­ris­ti­sche Sei­te ab­ge­win­nend: »Auf solch al­ler­liebs­te Ka­pri­cen war ich al­ler­dings nicht vor­be­rei­tet, und trotz­dem ich mich jetzt un­barm­her­zig von Ih­nen aus­la­chen las­sen muss, so be­kla­ge ich den­noch kei­nen Au­gen­blick die­se klei­ne My­sti­fi­ka­ti­on, wel­che mir das Ver­gnü­gen Ih­rer Be­kannt­schaft schon et­was frü­her, wie er­war­tet, ver­schaff­te. Ge­stat­ten Sie, mei­ne Gnä­digs­te, dass ich Ih­nen mei­nen Freund, Lieu­ten­ant von Hat­ten­heim vor­stel­le« – und mit ei­nem aber­ma­li­gen, noch tiefe­ren Nei­gen sei­nes Hu­tes füg­te er lang­sa­mer hin­zu: »Ich habe den Vor­zug, Ihr Guts­nach­bar zu sein, Graf Lehr­bach!«

Jo­se­phi­ne hat­te sich em­por ge­rich­tet und stand bei­den Her­ren ge­gen­über. Bär­bels Re­gen­sack hielt sie noch im­mer gleich fal­ten­rei­chem Pe­plum um ihr Un­ter­kleid ge­schla­gen, das blon­de Haar hing in halb ge­lös­ten Flech­ten, reich­lich mit Heu­hal­men durch­zo­gen, über den Rücken, und die Wei­den­ru­te in der Hand ver­voll­komm­ne­te den ori­gi­nel­len Ein­druck ih­rer Er­schei­nung, wel­che jetzt al­les Ver­säum­te mit fei­er­lich tie­fem Kom­pli­ment wie­der gut ma­chen woll­te. Zum ers­ten Mal traf ihr Auge Hat­ten­heim, wel­cher sich schnell und et­was lin­kisch ver­neig­te, aber es war nur ein flüch­ti­ger, gleich­gül­ti­ger Blick, wel­cher das flachs­gel­be Haupt streif­te, dann zog ein ro­si­ges Lä­cheln über ihr rei­zen­des Ge­sicht­chen, und sich aber­mals an Lehr­bach wen­dend, klang es wie lei­ser Ju­bel zu ihm auf: »Sie sind un­ser Nach­bar? Sie woh­nen jetzt in Lehr­bach? O wie präch­tig ist das, und wie freue ich mich dar­über. Es war so ein­sam bei uns, alle Gü­ter rings­um ver­pach­tet, es kam mir oft recht lang­wei­lig vor, ob­wohl ich’s nie an­ders ge­wohnt war! Aber nun wird es bes­ser, nun kom­men Sie öf­ters zu uns, nicht wahr?« Sie reich­te ihm in her­zi­ger Un­be­fan­gen­heit die klei­ne Hand ent­ge­gen, wel­che Gün­ther has­tig um­schloss, sein Blick fiel dar­auf nie­der, auf die braun­ge­brann­ten, arg ver­wil­der­ten klei­nen Fin­ger, wel­che sich dop­pelt grell ge­gen das zar­te Perl­grau fei­ner Hand­schu­he ab­zeich­ne­ten; ein Lä­cheln husch­te um sei­ne Lip­pen.

»So bald und so oft wie Sie uns ge­stat­ten, mein gnä­di­ges Fräu­lein!« ent­geg­ne­te er ga­lant, mit ei­nem aber­ma­li­gen, lan­gen Blick in ihre Au­gen, »›war so jung und mor­gen­schön, lief er schnell, es nah zu sehn.‹ Sie dür­fen ja nicht ver­ges­sen, dass Sie das Hai­de­rös­lein sind und von mir, dem ›wil­den‹ Kna­ben, am Wege ge­fun­den wur­den!«

Jo­se­phi­ne nick­te strah­len­den Au­ges, aber durch­aus harm­los mit dem schlan­ken Köpf­chen: »Ja, ich wuss­te es, dass mein Klee­blatt Glück brin­gen muss­te!« rief sie in schmei­chel­haf­tes­ter Auf­rich­tig­keit – »und ich wer­de auch Pfar­rers Frie­del nie mehr ver­spot­ten, wenn – –«

Bär­bel zupf­te sie un­ru­hig am Klei­de: »Gnä’ Frö­len, se sul­len jo glieck ba­ben kom­m’, seggt de gnä’ Fru, se sul­len im Gaar­den Sti­ckel­bee­ren plu­cken!«

Aber­mals zuck­te es um Lehr­bach’s Mund­win­kel wie müh­sam ver­hal­te­nes La­chen. »Wir hal­ten Sie auf, mei­ne Gnä­digs­te!« sag­te er, »und ent­zie­hen Sie Ihren häus­li­chen Pf­lich­ten! Ge­stat­ten Sie, dass mir uns mor­gen bei Ihren ver­ehr­ten El­tern die Er­laub­nis ho­len, recht häu­fi­ge Gäs­te in Groß-Stauf­fen zu sein, und um den Vor­zug bit­ten, auch Lehr­bach auf den Empfang sei­ner ver­ehr­ten Nach­barn vor­be­rei­ten zu dür­fen?«

Jo­se­phi­ne stimm­te eif­rig zu: »Ja, kom­men Sie mor­gen! und recht früh – und dann recht lan­ge da­blei­ben – ich will’s On­kel und Tan­te gleich sa­gen« und sie un­ter­brach sich plötz­lich, und leg­te den Fin­ger an die Lip­pen: »Halt! da will ich Ih­nen gleich einen schlau­en Rat ge­ben!« sag­te sie ge­heim­nis­voll. »Wenn Sie wol­len, dass On­kel Bernd Ih­nen recht gut sein soll, dann müs­sen Sie sehr viel von un­serm lie­ben Kai­ser spre­chen, dann er­zählt er Ih­nen gleich sei­ne Lieb­lings­ge­schich­ten, und Tan­te Re­na­te, wenn sie der nicht die Pu­ten im Hof ja­gen, wird die auch schon nett sein.«

Jetzt lach­te Lehr­bach sein vol­les, über­mü­ti­ges La­chen. »Un­be­sorgt, gnä­digs­tes Fräu­lein, die Pu­ten und Tan­te Re­na­te sol­len sich nicht in der Fried­fer­tig­keit zwei­er Husa­ren ge­täuscht ha­ben! ich dan­ke Ih­nen herz­lich für den vor­treff­li­chen Rat und küs­se Ihre klei­ne Hand da­für! Also auf Wie­der­se­hen, und hier das Buch mit all dem Glück, wel­ches es in sei­nen Blät­tern birgt: Sah ein Knab’ ein Rös­lein stehn, Rös­lein auf der Hai­den!« und mit sei­nem dunklen Zau­ber­blick neig­te er sich tief her­nie­der, leg­te »Goe­thes Ge­dich­te« in die Hand des Gän­se­lie­sels zu­rück und schwenk­te grü­ßend den Hut. »A re­voir!« Und der Gold­fuchs bäum­te hoch auf, schwenk­te kurz­um und trug sei­nen Rei­ter in schlan­kem Trab die Chaus­see zu­rück. Auch Hat­ten­heim hat­te ge­grüßt, aber Jo­se­phi­ne be­saß nur zwei Au­gen, und de­ren Blick hing wie ge­bannt an dem »wil­den Kna­ben«, wel­cher schön und rit­ter­lich wie Sanct Ge­org, der hei­li­ge Strei­ter da­hin spreng­te; so warf er ohne Dank und Ge­gen­gruß, mit ei­nem lei­sen, me­lan­cho­li­schen Zu­cken um die vol­len Lip­pen, auch sein Roß her­um und folg­te dem Freun­de.

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Zweites Kapitel.

»Wie neu seid ihr in die­ser al­ten Welt!«        

Kö­nig Jo­hann.   III. Auf. 4. Sc.

Die Sonn­tags­son­ne strahl­te über Schloss Stauf­fen. »Schloss« Stauf­fen? Man nann­te es so, hör­te es so nen­nen und dach­te nicht wei­ter dar­über nach, in­wie­weit der stol­ze Ti­tel mit dem ein­fa­chen Trä­ger in Ein­klang stand; wenn man aber von der west­li­chen Park­sei­te die hohe, graue Mau­er vor sich sah, de­ren Gie­bel sich so al­ters­schwach vorn­über neig­te, dann muss­te es Ei­nem un­will­kür­lich vor­kom­men, als sen­ke Schloss Stauf­fen tief be­schämt sein runz­li­ches An­ge­sicht, in ge­rech­ter Be­schei­den­heit und An­spruchs­lo­sig­keit auf die wohl­tö­nen­de Elo­ge des Volks­mun­des. Durch ein ho­hes, ge­wölb­tes Stein­tor be­trat man den vier­e­cki­gen, stel­len­wei­se ge­pflas­ter­ten Hof, auf wel­chen die Front des Schlos­ses seit lan­gen, lan­gen Jah­ren schon mit dem­sel­ben de­pri­mier­ten, Grau in Grau spie­len­den An­ge­sicht her­nie­der schau­te, gries­gräm­lich und mit hoh­len Fens­ter­au­gen, wie ein al­ter Mann, wel­chem der vier­e­cki­ge, kur­ze und mas­siv plum­pe Turm mit dem grün­lich schil­lern­den Knauf wie eine Mor­gen­müt­ze schief aufs Ohr ge­drückt war. Bog man aber in den schma­len Weg zum Ge­mü­se­gar­ten ein, vor­bei an der stei­ner­nen Auf­trep­pe, über wel­cher das viel­fach ab­ge­brö­ckel­te Wap­pen De­rer von Wet­ter prang­te, durch eine klei­ne, grü­ne Lat­ten­tür, über­han­gen von üp­pig trei­ben­den Geis­blat­tran­ken, und blick­te sich den Schloss­bau von die­ser Sei­te an, so ge­wann er ur­plötz­lich ein gänz­lich ver­än­der­tes An­se­hen. Der grau­köp­fi­ge Alte ver­wan­del­te sich in ein Ro­co­co­fräu­lein, wel­ches das weit vor­sprin­gen­de Dach mit lus­tig ni­cken­den Gras­bü­scheln und den gur­ren­den Tau­ben da­zwi­schen gleich ei­nem cha­peau à la jar­di­nière auf das staub­ge­pu­der­te Haupt ge­drückt hat­te. Eine rund vor­sprin­gen­de Stein­ter­ras­se bläh­te sich gleich dem Reif­rock, und die enge Ga­le­rie, wel­che sich ihr an bei­den Sei­ten an­schloss, von wurm­sti­chi­gen Holz­p­fäh­len ge­stützt, mach­te den Ein­druck von spit­zen Stö­ckel­schu­hen, auf wel­chen De­moi­sel­le ein­her­stelz­te. Zwar zo­gen sich auch durch ihr Ant­litz zahl­lo­se Fal­ten und Schmar­ren, und die brei­te dun­kel ver­han­ge­ne Ter­ras­sen­tür lä­chel­te gleich zahn­lo­sem Mun­de dar­in, aber den­noch hing hie und da eine ein­zel­ne Ja­lou­sie gleich ei­nem necki­schen Schön­heits­pfläs­ter­chen schief in den ros­ti­gen An­geln, und gleich­sam, als sol­le eine chif­fon­nier­te Robe durch bil­li­ge Hilfs­mit­tel auf­ge­frischt wer­den, schlan­gen sich Epheu und wil­der Wein in ver­schwen­de­ri­scher Pracht, oft so­gar ko­kett bis un­ter das Dach em­por ge­zo­gen, um und über die al­ters­schwa­chen Mau­ern. Da nis­te­te und zwit­scher­te es im lau­schi­gen Ge­zweig, Klet­ter­rös­lein hat­ten sich ver­stoh­len in das Gerank ge­mischt und streu­ten im ho­hen Som­mer den fri­schen Blü­ten­schnee auf den gra­si­gen Weg, ja, hier konn­te man Stauf­fen ein Schlöß­lein nen­nen, aber ein schla­fen­des, idyl­li­sches Traum­ge­bild, wie es Frau Fama um das La­ger ih­res Dorn­rös­chens ge­baut hat.

Poe­sie und Pro­sa streif­ten hier hart an ein­an­der, der ma­le­ri­sche­s­te Teil des Ge­bäu­des schau­te auf den Ge­mü­se­gar­ten her­nie­der, auf Kohl­köp­fe, Sup­pen­grün und schwa­dro­nie­ren­de Mäg­de, und wie traut auch die Ro­sen um den heim­li­chen Al­tan schmei­chel­ten, es kam Kei­ner, ih­ren sü­ßen Duft zu trin­ken, Kei­ner, in ih­rem däm­mern­den Frie­den zu träu­men und ih­ren Kelch zu won­ni­gem, kur­z­em Glück zu bre­chen, sie blüh­ten ein­sam und ver­ge­bens, bis der Herbst­wind kam und ihre Blü­ten in den Staub weh­te.

Al­les war prak­tisch in Stauf­fen, zu prak­tisch oft, zum ge­rech­ten Er­stau­nen der In­spec­to­ren und nach­bar­li­chen Ver­wal­ter, wel­che sich nicht viel von den land­wirt­schaft­li­chen Kennt­nis­sen des al­ten Ritt­meis­ters von Wet­ter ver­spro­chen hat­ten. Als näm­lich der Frei­herr Bodo Wet­ter von Stauf­fen­berg, ein vor­züg­li­cher Öko­nom, durch einen Sturz vom Pfer­de den Tod fand und sein kaum zwei­jäh­ri­ges Töch­ter­chen Jo­se­phi­ne ver­waist in dem al­ten Schloss, in­mit­ten ei­nes au­ßer­ordeut­li­chen Land­be­sit­zes, zu­rück ließ – sei­ne Ge­mah­lin war ein hal­b­es Jahr vor ihm in den küh­len Frie­den der Fa­mi­li­en­gruft ge­bet­tet wor­den – da roll­te am Vor­ta­ge der Be­er­di­gung eine alte Glas­kut­sche in den Schloss­hof, aus wel­cher ein rüs­ti­ger Mi­li­tär und eine statt­li­che Dame stie­gen, um als neue Her­ren und Ge­bie­ter in Stauf­fen ein­zu­zie­hen. Das war der jün­ge­re Bru­der des ver­stor­be­nen Frei­herrn, Carl Bernd von Stauf­fen, der nun­meh­ri­ge Vor­mund der klei­nen Wai­se, wel­che von ihm und sei­ner Gat­tin mit herz­li­cher Lie­be auf­ge­nom­men wur­de. War ih­nen doch das ein­zi­ge, gleich­al­te­ri­ge Töch­ter­lein durch den Tod ent­ris­sen.

Ritt­meis­ter Bernd hat­te, durch den jä­hen Um­schwung der Ver­hält­nis­se ge­nö­tigt, sei­nen Sä­bel, wel­chen er zwei Feld­zü­ge hin­durch in Ruhm und Ehren ge­tra­gen hat­te, sei­nem Lan­des­fürs­ten mit schwe­rem Her­zen zu­rück­er­stat­tet, be­kam als letz­tes Zei­chen her­zog­li­cher Huld und Gna­de das Bänd­lein des H.’schen Haus­or­dens in das Knopf­loch ge­knüpft und sag­te dem bun­ten, leicht­le­bi­gen Ge­trei­be der Re­si­denz für im­mer­dar Le­be­wohl, um sich in die Ein­sam­keit sei­ner Gü­ter zu be­gra­ben. Die far­bi­ge Sol­da­ten­müt­ze auf dem Kopf, durch­schritt er sein neu­es Reich, hat­te von nichts eine Ah­nung und für nichts die aus­rei­chen­den Kennt­nis­se, nahm die gan­ze »don­ner­wet­ter­sche Ge­schich­te« mi­li­tä­risch, al­te­rier­te sich in ho­hem Gra­de über die ver­bum­mel­te Hal­tung sei­ner Ar­beits­kräf­te, trug sich lan­ge Zeit mit der Idee, im Hof Re­veil­le und Re­trai­te bla­sen zu las­sen, und hat­te auf alle Vor­schlä­ge sei­nes In­spec­tors nur ein gut­mü­tig ein­ver­stan­de­nes: »Na na­tür­lich, im­mer schlank weg!« Kühe und Scha­fe ver­stan­den es ab­so­lut nicht, sich bei ihm ein­zu­schmei­cheln, er nann­te sie höchst weg­wer­fend die »Mistre­mon­ten« und fand sie durch­aus über­flüs­sig; de­sto os­ten­si­bler be­vor­zug­te er die Pfer­de und Hun­de, leg­te mit viel Ge­schick und Pas­si­on ein klei­nes Ge­stüt an und teil­te nun sei­ne Zeit zwi­schen den Kop­peln und Wal­dun­gen, welch letz­te­re er als pas­sio­nier­ter Jä­ger durch­pirsch­te. Da war es kein Wun­der, wenn Nach­bar­schaft und Guts­ver­wal­tung et­was be­denk­lich drein­schau­ten und Stauf­fen mit pro­phe­ti­schem Blick be­reits in den Wen­de­punkt des Kreb­ses ver­setz­ten. Aber sie hat­ten sich ge­irrt! Als in den ers­ten Ta­gen man­nig­fa­che Ent­schei­dun­gen und Gut­ach­ten an den Frei­herrn her­an­tra­ten, und die Leu­te die Be­feh­le des neu­en Ge­bie­ters ein­ho­len woll­ten, da ge­sch­ah es wohl re­gel­mä­ßig, dass der Ritt­meis­ter die Sa­che eine Zeit lang mit mar­tia­lisch erns­tem Aus­sehn über­leg­te, den Bart zwir­bel­te und schließ­lich die Hand wuch­tig auf des Fra­ge­stel­lers Schul­ter leg­te, mit den Wor­ten: »Wis­sen Sie was, mein Gu­ter? Ge­hen Sie mal zu mei­ner Frau! Der habe ich schon Al­les aus­ein­an­der­ge­setzt, wie ich das Ding ha­ben will, ich bin mo­men­tan sehr be­schäf­tigt, kann mich im Au­gen­blick durch­aus nicht dar­auf be­sin­nen, aber mei­ne Frau weiß es ganz ge­nau, die ist ja auf dem Lan­de auf­ge­wach­sen!« Und Herr von Wet­ter blies ein paar sehr re­spektein­flö­ßen­de Dampf­wol­ken aus sei­ner Jagd­pfei­fe und schritt has­tig wei­ter. Wenn die Leu­te aber zur gnä­di­gen Frau ka­men und sa­hen die hohe, mar­ki­ge Ge­stalt mit den kur­z­en, re­so­lu­ten Be­we­gun­gen, den klu­gen Grau­au­gen und den ener­gisch ge­schweif­ten Lip­pen, dann wuss­ten sie ganz ge­nau, wer der zu­künf­ti­ge Herr und Ge­bie­ter auf Stauf­fen war. Mit sehr ari­sto­kra­ti­schen klei­nen Hän­den fass­te Frau Re­na­te von Wet­ter, ge­bo­re­ne Grä­fin Mal­witz, die Zü­gel der Ver­wal­tung, um sie in ei­ser­ner Kon­se­quenz, klug und um­sich­tig, prak­tisch und spar­sam, wie ein weib­li­cher Feld­herr in Haus und Hof, Flur und Feld zu füh­ren.

In tiefs­ter Ein­sam­keit zo­gen die Jah­re da­hin, ver­wisch­ten mehr und mehr jede Spur ver­gan­ge­nen hö­fi­schen Le­bens, streif­ten all­mäh­lig die Glacée­hand­schu­he von den Fin­gern des al­tern­den Ehe­paa­res und streu­ten den fei­nen Aschen­re­gen nüch­t­erns­ter Pro­sa über Schloss und Be­woh­ner, wel­cher er­bar­mungs­los die zar­ten Blü­ten der Ele­ganz er­stick­te und dem Zeit­geist in lan­des­üb­li­cher Re­ni­tenz Tür und Tor ver­sperr­te. Nur mög­lichst prak­tisch, mög­lichst spar­sam, um für Jo­se­phin­chen Zins auf Zins zu le­gen, um der­einst sich selbst mit stol­zer Ge­nug­tu­ung sa­gen zu kön­nen: »Wir sind gute Wirt­schaf­ter ge­we­sen und ha­ben das Dei­ne er­hal­ten und ver­mehrt!« So schwand ein­för­mig Tag um Tag, zog un­be­merkt die Sil­ber­fä­den durch Tan­te Re­na­tens Schei­tel, gleich dem Reif, wel­cher wel­ken­de Blu­men trifft, und streif­te mit ro­si­gem Kus­se die Stirn Jo­se­phi­nens, wie der Früh­ling, wenn er Knos­pen zur Blü­te weckt. Lieb­lich wie die Blu­me der Hai­de wuchs das jun­ge Mäd­chen em­por, der bra­ve Dorf­pfar­rer und die alte Gou­ver­nan­te, de­ren Treue grö­ßer war als die Schul­weis­heit, wel­che sich auch bei ihr von gar Man­chem nichts träu­men ließ, lei­te­ten ih­ren Un­ter­richt, bei wel­chem On­kel Bernd oft­mals über die Schwel­le stol­per­te mit eif­rig blin­zeln­dem: »Du, Phi­ne! Kom­m’ flink mit, un­ten am Teu­fels­kes­sel hat der Förs­ter einen neu­en Fuchs­bau ent­deckt, kannst Dir mal die rote Ba­ga­ge zur Kri­tik be­or­dern!« oder: »Du, Phi­ne, die Foh­len sind aus­ge­bro­chen, setz’ Dich mal auf Dei­nen Brau­nen und hilf trei­ben!« Dann zog wohl Ma­de­moi­sel­le er­schro­cken die Bril­le von der Stirn auf die Nase nie­der, mach­te Au­gen und Mund gleich weit auf und rief schmerz­lich: »Mais non!« Aber es hör­te Nie­mand mehr, vier Nä­gel­schu­he pol­ter­ten die Trep­pe hin­ab.

So war Fräu­lein von Wet­ter sieb­zehn Jah­re alt ge­wor­den, Kind an Herz und See­le, Kind an Wol­len und Wün­schen, die ver­zau­ber­te Mär­chen­blü­te der Ein­sam­keit, zu wel­cher erst der rech­te Kö­nigs­sohn kom­men muss­te, um des Kel­ches tie­fe Pracht aus träu­men­der Knos­pe zu küs­sen.

Die Sonn­tags­son­ne über Stauf­fen! Da stand sie am tief­blau­en Him­mel, lug­te schräg durch die dicht­lau­bi­gen Kas­ta­ni­en­wip­fel auf den Schloss­hof und lach­te das neu­gie­ri­ge klei­ne Fräu­lein aus, wel­ches be­reits seit zwei Stun­den in ganz kur­z­en In­ter­val­len die hohe Stein­trep­pe hin­ab an das Hof­tor lief, um die Ebe­re­schen­al­lee ent­lang zu spä­hen, dann aber mit un­ge­dul­di­gem Ge­sicht­chen an das Sou­ter­rain­fens­ter zu ei­len und zu ru­fen: »Noch kei­nen Kaf­fee aus­gie­ßen, Han­ne! sie kom­men noch im­mer nicht!« »Sie!?« Wuss­te denn Han­ne, die hohe, dür­re, rüh­ri­ge Kü­chen­magd über­haupt, wer da­mit ge­meint war? Ge­wiss, ganz Stauf­fen wuss­te es, denn au­ßer zum Neu­jahrs­tag kehr­te seit Jah­ren kein frem­des We­sen im Schlos­se ein, und da­mit war auch Jo­se­phi­nens eif­ri­ges Züng­lein ge­recht­fer­tigt.

»I, wo werd’ ich denn!« schüt­tel­te Han­ne den rot­blon­den Kopf, »die gnäd’­ge Frau macht’n heut selbst, so­gar mit ’nem neu­en Kaf­fee­beu­tel, da­mit der alte Ge­schmack uns nicht die neue Sor­te verdirbt, ’s gibt heu­te von dem bes­sern, Sie wis­sen ja, Fräu­lein Phin­chen, den Neu­jahrs­ja­va, das hal­be Pfund zu 80 Pfen­nig.« Das gnä­di­ge Fräu­lein nick­te sehr zu­frie­den. »Na­tür­lich, es kommt ja Be­such, und was für wel­cher! Auch die gu­ten Tas­sen hat die Tan­te raus­ge­tan!«

»Und Ku­chen ge­ba­cken, wie zu ho­hen Fes­ten!« nick­te Han­ne an­er­ken­nend, mit dem Dau­men über die Schul­ter zu­rück nach der Spei­se­kam­mer­tür deu­tend, »so­gar mit Krü­meln drauf, wie vor sie­ben Jah­ren, als der Ma­nö­ver­oberst hier war, du lie­ber Gott ja, da­mals ging’s auch splen­did hier zu, so­gar schon zum Früh­stück Wein auf dem Ti­sche, ge­schwei­ge denn zum Es­sen, wo es zu glei­cher Zeit Fi­sche und Pu­ten­bra­ten zu ei­nem Mit­tag gab!«

Jo­se­phi­ne seufz­te mit strah­len­den Au­gen: »Ach, wenn wir’s auch jetzt mal so schön ma­chen dürf­ten, Han­ne, was meinst Du, ob’s die Tan­te tut?« und das Köpf­chen neu­gie­rig durch­’s Fens­ter ste­ckend, flüs­ter­te sie eif­rig: »Zeig’ mal den Ku­chen, wie groß er ist!«

»I du lie­ber Gott, wie kann ich denn?« schüt­tel­te Han­ne re­si­gniert, »die gnäd’­ge Frau hat doch den Schlüs­sel in der Ta­sche!«

»Ach so – na, er wird schon rei­chen! – wie viel Eier –«

»Phi­ne! Schwatz­lie­se! Wo steckst Du denn wie­der?« klang eine tief ge­färb­te Frau­en­stim­me aus dem Fens­ter der ers­ten Eta­ge nie­der; Tan­te Re­na­tes grau­es Haupt, auf wel­chem die sta­ti­öse Sonn­tags­hau­be mit den brei­ten lila Bän­dern schwank­te, er­schi­en in dem grau stei­ner­nen Rah­men und späh­te mit Fal­ken­au­gen hin­ab.

»Hier! ich bin am Kü­chen­fens­ter bei Han­ne! Was soll ich denn?« ant­wor­te­te die Ge­ru­fe­ne mit über­mü­ti­ger Schwen­kung in den Son­nen­schein tan­zend und so tief kni­xend, dass die steif­ge­stärk­ten wei­ßen Klei­der­rö­cke auf dem Pflas­ter rausch­ten.

»Af­fen­schwanz! Stipp doch nicht mit dem fri­schen Kleid in den Staub! … Um­ge­dreht! … Wahr­haf­tig, da hat die wil­de Hexe schon wie­der auf der Mau­er ge­ses­sen, Al­les glatt ge­drückt und Hal­me an der Schär­pe! – Na, mir ist’s ja egal, wie Du aus­siehst, wenn die frem­den Leu­te kom­men, aber wun­dern wer­den sie sich, dass ein Mäd­chen sei­nen bes­ten Staat so zu­rich­tet!«

Jo­se­phi­ne schüt­tel­te sich wie ein Pu­del. »Ein paar Heu­hal­me, die ein Wa­gen im Vor­über­fah­ren ab­ge­streift hat!« rief sie leicht­sin­nig, die tro­ckenen Ver­rä­ter ge­ring­schät­zend hin­zei­gend, »Fle­cke hat’s ja gar nicht ge­ge­ben! – Tant­chen!?«

»Was denn?«

»Wirf mir doch, bit­te, mal den Spei­se­kam­mer­schlüs­sel her­un­ter!« schmei­chel­ten die ro­ten Lip­pen.

»Pap­per­la­pap! Das hie­ße den Bock zum Gärt­ner set­zen! Schnell her­aus­ge­kom­men, Mam­sell­chen, hilf mir die Über­zü­ge von den Mö­beln neh­men!«

»Über­zü­ge? – Wo denn?« wun­der­te sich Fräu­lein von Wet­ter mit großen Au­gen.

»Na, in den gu­ten Stu­ben, Dumm­kopf! ich muss sie doch für die Gäs­te auf­schlie­ßen!« – Und Tan­te Re­na­tes Kopf zog sich zu­rück und ließ der wei­ßen Mull­gar­di­ne freie Bahn, wel­che sich hoch auf­blä­hend der sel­te­nen Frei­heit er­freu­te.

Mit glü­hen­den Wan­gen stürm­te Jo­se­phi­ne die Trep­pe em­por, be­grüßt von ei­ner ener­gi­schen Zug­luft, wel­che den Ge­ruch frisch ge­scheu­er­ter Die­len auf feuch­ten Schwin­gen mit sich trug. Der wei­te, saalar­ti­ge Kor­ri­dor der ers­ten Eta­ge knirsch­te un­ter fein ge­streu­tem wei­ßen Sand, die Tü­ren, wel­che dar­auf mün­de­ten und wel­che Jo­se­phi­ne nur ge­heim­nis­voll ver­schlos­sen kann­te, stan­den sperran­gel­weit of­fen, und in der vor­ders­ten er­schi­en just Tan­te Re­na­te, eine ge­wal­ti­ge lei­ne­ne Schür­ze über das graus­ei­de­ne Kleid ge­bun­den, des­sen oeils de paon weh­mü­tig auf einen schö­nen, lang ent­schwun­de­nen Ge­schmack zu­rück­schiel­ten! In der Hand hielt sie den Fe­der­be­sen und eine sehr zier­li­che, bunt­ge­mal­te Por­zel­lan­fi­gur, aber sie klemm­te den ers­te­ren un­ter den Arm, blies die ge­röte­ten Wan­gen auf, wie die En­ge­lein, wel­che dem Sturm vor­an­flie­gen, und pus­te­te un­barm­her­zig auf das zar­te Fräu­lein los.

»Man soll­te es gar nicht glau­ben, was das für Staub­fän­ger sind!« groll­te sie dem jun­gen Mäd­chen ent­ge­gen, »Jahr aus Jahr ein alle Fens­ter­lä­den ge­schlos­sen, und da­bei lieg­t’s wie ein grau­er Schlei­er über al­len Sa­chen, – Gott sei Dank, dass die Mö­bel ver­wahrt ge­we­sen sind, sonst könn­ten wir am Ende den Mot­ten Pros­te Mahl­zeit wün­schen!« Und sie wand­te sich nach dem Zim­mer zu­rück und sag­te kurz: »Fass’ mal mit zu, dass mir den Kat­tun ab­ziehn!«

Mit großen Au­gen schau­te sich Jo­se­phi­ne um, schritt auf den Ze­hen der Tan­te nach und hus­te­te krampf­haft auf; ein scharf beit­zen­der Ge­ruch drang ihr ent­ge­gen und nö­tig­te sie, der Tan­te letz­te Wor­te eif­rig zu be­nie­sen.

»Riecht’s im­mer noch nach Kam­pher und Pfef­fer hier?« frag­te die Freifrau er­staunt, »ich habe ja schon die gan­ze Zeit die Fens­ter auf­ge­sperrt und emp­fin­de gar nichts mehr, oder ob ich’s jetzt nur ge­wohnt bin?« füg­te sie im Selbst­ge­spräch hin­zu, trat an das hoch­bei­ni­ge So­pha und be­gann, et­li­che Band­schlei­fen an der Leh­ne auf­zu­zie­hen.

Jo­se­phi­ne blick­te sich sprach­los um. Die Erin­ne­rung aus der Ma­nö­ver­zeit er­wach­te in ihr, wo die­se küh­len, däm­me­ri­gen Zim­mer mit den wun­der­li­chen Mö­beln, den großen Öl­bil­dern an der Wand, de­ren erns­te Ge­sich­ter un­ter wei­ßen Per­rücken und Fe­der­hü­ten so ge­spens­tisch auf sie nie­der­blick­ten, wo all’ die­se frem­den, bun­ten Kost­bar­kei­ten wie ein Traum an ihr vor­über­ge­zo­gen wa­ren. Dann hat­te Tan­te Re­na­te die braun­ge­schnitz­ten Tü­ren wie­der ab­ge­schlos­sen, und die ers­te Eta­ge lag öde und gra­bes­ru­hig im al­ten Schla­fe, kein Mensch dach­te auch nur dar­an, jene Zim­mer zu be­tre­ten, wel­che von Nie­mand ver­misst und von Nie­mand er­wähnt wur­den. Heu­te aber flu­te­te der Son­nen­schein durch die ge­öff­ne­ten Schei­ben, de­ren letz­te so­eben noch von dem Haus­mäd­chen die blin­den Äug­lein ge­putzt be­kam, die schwe­ren, grün­sei­de­nen Da­mast­vor­hän­ge mit den ab­ge­blass­ten Sei­den­fran­zen knis­ter­ten ent­rüs­tet un­ter der Berüh­rung des un­ge­wohn­ten Luft­zu­ges, und die dick­köp­fi­gen Chi­ne­sen aus gold­grun­di­gem Ofen­schirm blick­ten so dumm und ver­schla­fen drein, als blen­de sie die plötz­li­che Hel­le. Aus ho­hem Glas­schrank lock­te es mit tau­send Wun­dern! Al­ler­liebs­te Nip­pes, ge­mal­tes Por­zel­lan und ein­ge­leg­te Perl­mut­ter­käs­t­chen, da­zwi­schen große, fremd­län­di­sche Mu­scheln und Koral­len­zwei­ge, wer kann’s mit ei­nem Bli­cke über­schaun!

»Na Phi­ne, wird’s bald?!« er­in­ner­te Tan­te Re­na­te, »die Leu­te kön­nen ja je­den Au­gen­blick schon kom­men.«

Fräu­lein von Wet­ter wand­te sich has­tig zu­rück und blick­te fast er­schro­cken auf die Hän­de der Spre­che­rin, wel­che den präch­ti­gen, blau­blu­mi­gen Kat­tun von dem So­pha streif­ten, – du lie­ber Gott! Da war ja die schöns­te, grü­ne Sei­de dar­un­ter, eben­so wie die Vor­hän­ge! Das hat­te sie sich al­ler­dings nicht träu­men las­sen! Fie­bernd in freu­di­ger Hast half sie auch den steifleh­ni­gen Ses­seln ihr Män­tel­chen aus­zie­hen, blick­te tief auf­at­mend über die sel­te­ne Pracht, husch­te hin und her, rieb die Tisch­plat­ten und Kom­mo­den ab, bat das herz­al­ler­liebs­te Tant­chen him­mel­hoch, doch auch den häss­li­chen Müll­sack von dem Kron­leuch­ter zu neh­men, und schlang end­lich die Arme ju­belnd um den Na­cken der Freifrau. »Aber eins musst Du mir ver­spre­chen, Tan­ting, Pas­tors müs­sen es auch se­hen!« Frau von Wet­ter mur­mel­te et­was von Kin­de­rei und Af­fig­keit, aber sie schmun­zel­te da­bei, warf einen schnel­len Blick rund­um und schob das Pfle­ge­töch­ter­chen zur Türe hin­aus. »Marsch jetzt, da­mit der Par­quet­bo­den nicht un­nö­tig ver­tram­pelt wird!«

Auf der Trep­pe kam ih­nen On­kel Bernd mit qual­men­der Pfei­fe ent­ge­gen. »Ei, du lie­ber Gott! Bleibst Du mir wohl mit dem Schorn­stein aus den gu­ten Stu­ben, Ol­ling!« klang ihm Tan­te Re­na­tes Stim­me wie Trom­pe­ten­ge­schmet­ter ent­ge­gen, »da soll­te die grü­ne Sei­de bald die Bleich­sucht krie­gen! Rechtsum kehrt, Männ­chen, geh’ heu­te mal in den Gar­ten, wenn Du paf­fen willst!«

»Aber Re­nat­chen, ist denn rein der Deu­wel los … Him­mel Ba­tail­le! Mot­ten­kom­mis­si­on in der ers­ten Eta­ge!«

»Phi­ne, geh’ mal in die Ess­stu­be un­ten und stell’ den Zu­cker auf den Tisch, da ist der Schlüs­sel!«

Tan­te Re­na­te war­te­te, bis das wei­ße Kleid um die Trep­pen­bie­gung ge­rauscht war, dann neig­te sie sich dicht zu dem Ohr des Gat­ten, wel­cher zwei Stu­fen tiefer stand, und flüs­ter­te ernst­haft: »’s ist um des Kin­des Wil­len, Bernd. Der Graf Lehr­bach hat einen hei­rats­fä­hi­gen Sohn, und un­se­re Phi­ne wird im Oc­to­ber acht­zehn Jah­re alt, ver­stan­den?«

On­kel Bernd schob sei­ne wet­ter­far­bi­ge Husa­ren­müt­ze mit ge­dehn­tem »Hum, Hum« von dem rech­ten Ohr auf das lin­ke und sag­te weh­mü­tig: »Meinst Du, Alte? Ist un­ser Nest­putch wahr­haf­tig schon flüg­ge ge­wor­den? Wie die Zeit ver­geht, hab’s gar nicht ge­merkt, dass mir die klei­ne Hexe über den Kopf ge­wach­sen ist; na, in Got­tes Na­men, Re­nat­chen, wenn’s auch recht leer bei uns wer­den wird, die Re­kru­ten schwär­men aus, und der Land­sturm bleibt am Herd hocken«, und On­kel Bernd seufz­te tief auf, klopf­te sei­ner Frau weh­mü­tig auf den Rücken und stol­per­te has­tig die Trep­pe her­un­ter.

»Al­ter­chen!« rie­f’s noch ein­mal von oben.

»Was denn, Mut­ter­chen?«

»Zieh erst rei­ne Man­schet­ten an, eh’ der Be­such kommt, ich habe sie Dir schon raus­ge­legt!«

»Na­tür­lich! Im­mer schlank weg!« nick­te der Ritt­meis­ter zer­streut, tipp­te mit dem Fin­ger in den kal­ten Pfei­fen­kopf und mur­mel­te: »Ist mir die Phi­ne doch wahr­haf­tig in den To­bak ge­fah­ren, vor lau­ter Schreck schmeck­t’s nicht mehr!« – – – – – –

Die Chaus­see ent­lang roll­te leicht und ele­gant auf Gum­mi­rä­dern ein Ge­fährt. Das ge­mal­te Wap­pen auf dem Wa­gen­schlag, licht­graue At­las­pols­ter und reich gal­lo­nier­te Die­ner­schaft auf ho­hem Kut­scher­bock bil­de­ten die ari­sto­kra­ti­sche Phy­sio­gno­mie der gräf­li­chen Equi­pa­ge, wel­che Ex­cel­lenz der Be­quem­lich­keit hal­ber selbst mit auf Rei­sen führ­te. Denn Land­we­ge sind ein hor­reur für an­ge­grif­fe­ne Ner­ven, und Ex­cel­lenz be­durf­te sorg­fäl­tigs­ter Pfle­ge, soll­te er wirk­lich einen wohl­tu­en­den Er­folg des knap­pen Ur­laubs in all’ den Ak­ten­staub heim­brin­gen.

Tief zu­rück­ge­lehnt in die schwel­len­den Kis­sen streif­te er mit nach­denk­li­chem Blick die vor­über­tan­zen­den Wal­dun­gen und Fel­der. Der leich­te Luft­zug spiel­te um das er­grau­te Haupt, un­fä­hig, auch nur ei­nes der pe­ni­bel ge­kräu­sel­ten und fri­sier­ten Löck­chen zu he­ben, wel­che, un­ter grau­em Cy­lin­der her­vor­quel­lend, die ein­ge­sun­ke­nen Schlä­fen um­rahm­ten. Schmal und bleich war das Ant­litz, bart­los und scharf ge­schnit­ten; ein mü­der Zug la­ger­te um die Lip­pen und senk­te zwei schlaf­fe Fal­ten in die Wan­gen, – vor­nehm und re­ser­virt fie­len die Au­gen­li­der un­ter tief dun­keln Brau­en bis fast über die Hälf­te der Pu­pil­le und ga­ben da­her dem Ge­sicht et­was Ver­schlei­er­tes, Mü­des, ohne je­doch den Blick zu dämp­fen, wel­cher oft has­tig, blit­zend und schnell die Wim­pern durch­brach. Die lin­ke Hand war mit ta­del­lo­sem Hand­schuh be­klei­det und in den halb­ge­öff­ne­ten Rock ge­scho­ben; die rech­te lag farb­los und ma­ger, die sei­de­ne Pols­ter­quas­te dre­hend, auf dem Wa­gen­schlag.

Ex­cel­lenz ge­gen­über sa­ßen Job Gün­ther und Hat­ten­heim, bei­de in Zi­vil, – der jun­ge Graf mit os­ten­si­bel ge­wähl­ter Hai­de­ro­se im Knopf­loch.

»Voilà papa! Das Ter­rain un­se­res Aben­teu­ers!« rief er so­eben, sich leb­haft zur Sei­te nei­gend. »Hier, auf die­sem Heu­hau­fen thron­te Gän­se­lie­sel mit der sie­ben­punk­ti­gen Kro­ne auf dem Haupt und re­gier­te mit as­si­stan­ce des Herrn von Goe­the ihre ca­pi­to­li­ni­schen Un­tert­ha­nen!«

Der Mi­nis­ter lä­chel­te und folg­te mit dem Blick der Rich­tung, wel­che ihm Gün­thers Hand an­ge­ge­ben.

»Sehr ori­gi­nell!« sag­te er mit lei­ser, et­was be­deck­ter Stim­me, »ein Zu­fall, wel­chem Du ent­schie­den eine Dei­ner rei­zends­ten Skiz­zen ver­dankst! Ich freue mich dar­auf, das Ori­gi­nal ken­nen zu ler­nen, – Na­tür­lich­keit tut wohl!«

»Wie ein Schluck Quell­was­ser! – bi­en à pro­pos bei sehr viel Durst ge­bo­ten, cher pèe­re, für die Dau­er wür­de man sich min­des­tens einen pi­kan­ten Trop­fen Co­gnac hin­ein­seh­nen!«

Ein vor­wurfs­vol­ler, fast emp­find­li­cher Blick Hat­ten­heims traf den schö­nen Spre­cher: »Wie un­dank­bar, Gün­ther! Ganz wie der wil­de Knab’, der ein Rös­lein bricht, sich kur­ze Zeit den Hut da­mit schmückt und es über­drüs­sig bei Sei­te wirft! Ich däch­te, wen Hai­de­rös­lein mit so her­zi­gen Au­gen an­ge­schaut hat wie Dich, der hät­te nicht den Mut, aus Ei­tel­keit die son­ni­ge Blü­te zu kni­cken!«

»Sehr recht, lie­ber Rei­mar!« nick­te Ex­cel­lenz nach­denk­lich, Gün­ther aber lach­te hell auf, leg­te die Hand klat­schend auf die Schul­ter des Freun­des und rief amü­sirt:

»Beim grau­si­gen Fe­ge­feu­er, Di­cker, Du scheinst mich ja in dem fürch­ter­li­chen Ver­dacht zu ha­ben, ich woll­te Gän­se­lie­sel den Hof ma­chen? – Mort de ma vie – ich will’s näm­lich auch! – aber nicht ernst­haft, – wer­de ihr nicht ein­mal die Hand küs­sen, denn dazu hat mir die­sel­be mit Hin­ten­an­set­zung al­ler Ei­tel­keit schon zu viel Sti­ckel­beer’n in ’Gaar­den ’pluckt! – und ihr Herz­chen? Neh­men tue ich es mir fak­tisch nicht, Di­cker, und wenn sie es mir un­auf­ge­for­dert schen­ken soll­te!« – Lehr­bach zuck­te die Ach­seln und warf keck den lo­cki­gen Kopf zu­rück: »Ob ich Dich lie­be, was geht’s Dich an? Gönnt doch der Klei­nen das bi­schen Poe­sie ei­ner un­glück­li­chen Lie­be! Was soll sie denn sonst in ihr Ta­ge­buch schrei­ben? Wie Du mir, so ich Dir! Sie lie­fer­te mir eine gute Skiz­ze, und ich re­van­chi­re mich und ver­hel­fe ihr zu der Quint­es­senz jeg­li­chen Frau­en­da­seins, zu ei­nem Ju­gendtraum!«

Hat­ten­heims fri­sches Ge­sicht schi­en blei­cher als sonst.

»Scherz’ nicht so grau­sam, Gün­ther, Du ver­lei­dest mir die Fahrt!« ent­geg­ne­te er ge­presst.