Hazard - Nataly von Eschstruth - E-Book

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Nataly von Eschstruth

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Nataly von Eschstruth war eine deutsche Schriftstellerin und eine der populärsten und berühmtesten Erzählerinnen der Gründerzeit. Null Papier Verlag

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Nataly von Eschstruth

Hazard

Komplettausgabe beider Bände

Nataly von Eschstruth

Hazard

Komplettausgabe beider Bände

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-86-3

null-papier.de/488

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Ers­ter Band

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwei­ter Band

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

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Widmung

Frau Anna von Pon­cet Geb. von Rei­che in ver­eh­rungs­volls­ter Freund­schaft zu­ge­eig­net.

Na­ta­ly von Esch­struth Ber­lin, am 14. De­cem­ber 1887

»Denn sie ist klug, wenn ich mich drauf ver­ste­he, und schön ist sie, wenn nicht mein Auge trügt, und treu ist sie, so hat sie sich be­währt! Drum sei sie, wie sie ist, klug, schön und treu mir in be­stän­di­gem Ge­müt ver­wahrt.«

(Sha­ke­s­pea­re, Kauf­mann von Ve­ne­dig

Erster Band

Erstes Kapitel

»Ein Veil­chen auf der Wie­se stand, in sich ge­bückt und un­be­kannt: Es war ein her­zig Veil­chen!«

Ein köst­li­cher Sep­tem­ber­tag! – Der Him­mel spannt sich weit und fle­cken­los über die Ebe­ne in ei­nem wun­der­li­chen Far­ben­ge­misch von Grau und Blau, wel­ches trotz sei­ner Klar­heit aus­sieht, als zit­te­re ein ganz fei­ner Dunst­schlei­er dar­über hin. Nach dem Ho­ri­zon­te zu färbt sich der­sel­be gelb­lich. –

Über den Stop­pel­fel­dern schwir­ren die Ler­chen und Staa­re, schwankt hie und da noch eine nach­ge­wach­se­ne Korn­blu­me wie ein treu­es Stern­chen, wel­ches über dem Grab des Som­mers Wa­che hält. – Ein paar gel­be Lu­pi­ne­nä­cker zie­hen sich wie ein Tep­pich mit grell ab­ste­chen­dem Rand noch an dem fla­chen Hü­gel em­por, und seit­wärts lie­gen in grau­brau­nen Schwa­den die ge­mäh­ten Erb­sen, in de­ren star­rem Stroh es ge­heim­nis­voll ra­schelt, wenn ein ei­li­ges Feld­mäus­lein hin­durch huscht. – Der Wald, wel­cher sich jen­seits der Chaus­see mit kur­z­en Un­ter­bre­chun­gen hin­zieht, hat sich nur we­nig ge­färbt. Ein paar Ei­chen­wip­fel schau­en wie ge­bräun­te Ge­sich­ter über die jun­ge Tan­nen­scho­nung, und die Lin­den an der Fahr­stra­ße streu­en ver­ein­zel­te gel­be Blät­ter; zeit­wei­se ragt wohl auch ein Bir­ken­bäum­chen mit fal­bem Laub aus dem un­ver­än­dert tief­schat­ti­gen Bu­chen­grün.

Eine un­be­schreib­li­che, sonn­täg­lich fei­er­li­che Ruhe liegt über dem Land, über den klei­nen mo­ras­ti­gen Tei­chen, wel­che in häu­fi­ger Wie­der­kehr die Ein­tö­nig­keit der Wald­li­sié­re un­ter­bre­chen, über dem Dörf­chen, wel­ches sich fern­ab mit ro­ten Dä­chern und glo­cken­för­mi­gem Kirch­turm im Grü­nen ver­steckt, und über der Schaf­he­er­de, wel­che wie auf­ge­stell­tes Pup­pen­spiel­zeug auf bräun­li­cher Hude wei­det. – Die Chaus­see hebt sich mehr und mehr ei­nem Vor­werk ent­ge­gen, wel­ches auf mä­ßi­ger An­hö­he, wie ein freund­li­cher Wäch­ter sein Ge­biet über­schaut.

Huf­schlag er­klingt, – wie fer­ner Don­ner rollt es in flot­tes­tem Tem­po die Fahr­stra­ße ent­lang.

Ein Spitz­rei­ter in keckem Jockey­ko­stüm, mit der Co­car­de in den Far­ben des Groß­her­zog­tums an der Müt­ze und der kurz­stie­li­gen Fan­ta­sie-Peit­sche in der Hand, jagt auf schlan­kem Gold­fuchs drei Ho­fe­qui­pa­gen vor­an, wel­che in knap­pen Di­stan­zen, nur we­ni­ge leich­te Staub­wol­ken hin­ter sich zu­rück­las­send, dem Vor­werk ent­ge­gen sau­sen.

Vier über­aus reich ge­schirr­te Ros­se, vom Sat­tel aus ge­lenkt, schnau­fen vor dem ers­ten der Wa­gen, wel­cher Ihre Kö­nig­li­chen Ho­hei­ten die Groß­her­zo­gin Ru­dol­phi­ne Alex­an­drow­na und die Erb­groß­her­zo­gin Mar­ga­re­the in licht­grau­en Sei­den­plüsch­pols­tern auf­ge­nom­men hat.

Auf dem Rück­sitz ist der Ehren­da­me der Groß­her­zo­gin, Grä­fin Mo­lay, der vie­ler­sehn­te Platz an­ge­wie­sen wor­den, die­weil ihr Ge­mahl, der Kam­mer­herr, die nach­fol­gen­de Equi­pa­ge der bei­den Hof­da­men be­stie­gen hat.

Zu­letzt fährt die Hof­da­me der Erb­prin­zes­sin, Fräu­lein Fi­des Wolff von Spey­ern in Beglei­tung des Baron Oli­vi­er von Nenn­der­scheidt und des Rei­se­mar­schalls, Ex­cel­lenz von Wol­ter.

Hier ist die Un­ter­hal­tung am ani­mier­tes­ten. Ex­cel­lenz ist et­was schwer­hö­rig und be­stän­dig in zit­tern­der Angst, ein Wort des Ge­sprä­ches zu ver­lie­ren; mit halb­of­fe­nem Mund und dem stie­ren Aus­druck »geis­ti­ger« Gier, sitzt er vorn­über­ge­beugt, um dem »tol­len Jun­ker« die Wor­te von den Lip­pen zu le­sen.

Und Oli­vi­er trägt fast al­lein die Kos­ten der Un­ter­hal­tung, ob­wohl Fräu­lein von Spey­ern voll sel­te­ner Leb­haf­tig­keit die Fä­den des The­mas lenkt und aus­spinnt.

Ihr stol­zes, re­gel­mä­ßi­ges Ant­litz ver­schmäht es, einen Schlei­er zu tra­gen und der Wind­zug, wel­cher sich ver­geb­lich be­müht, die schwe­ren, schlicht in die Stirn ge­leg­ten Haar­wel­len zu zer­zau­sen, be­gnügt sich da­mit, das sonst et­was blei­che Ant­litz mit war­mem Rot zu über­hau­chen.

Es fällt Nenn­der­scheidt auf, wie treff­lich es ihr steht, wie die grau­en Au­gen plötz­lich einen Glanz ha­ben, den er zu­vor nicht an ih­nen ge­kannt. Er hat just von sei­ner Pas­si­on für sol­che Fahr­ten durch herbst­lich Land ge­spro­chen, von fei­nem Vor­satz, stets den Auf­ent­halt auf sei­nem Schloss zu neh­men, so­bald der Wind über die ers­ten Stop­peln weht, – na­tür­lich, wenn er erst ver­hei­ra­tet sei. – eine So­lo­par­tie auf dem Lan­de sei ent­setz­lich.

Und da­bei hat­te er Fräu­lein von Spey­ern so la­chend in die Au­gen ge­schaut, dass sie ih­ren Son­nen­schirm jäh ge­senkt hat­te, als blen­de sie ur­plötz­lich die Son­ne, de­ren Strah­len doch die Lin­den­bäu­me mit dich­tem Laub­dach ab­wehr­ten. –

»Bis Sie ein­mal hei­ra­ten, Herr von Nenn­der­scheidt, ha­ben Ihre Pas­sio­nen längst die Far­be ge­wech­selt; man sagt ja, der Ge­schmack än­dere sich alle sie­ben Jah­re.«

Oli­vi­er strich amü­sirt den blon­den Schnurr­bart. »Und zu ei­ner et­was frü­he­ren Hei­rat be­kom­me ich nicht Ihren Con­sens?«

Fi­des schüt­tel­te lä­chelnd den Kopf; ein wun­der­li­cher Aus­druck be­herrsch­te ihre Züge, halb Re­gen und halb Son­nen­schein.

»Die Ehe ist ein Ha­zard­spiel, Herr von Nenn­der­scheidt, bei wel­chem sämmt­li­che Kar­ten blind ge­zo­gen wer­den, denn wenn Sie selbst im güns­tigs­ten Fall wis­sen, ob Sie Herz oder Schel­len in der Hand ha­ben, der fei­ne glit­zern­de Schlei­er der Po­li­tur liegt doch dar­über aus­ge­brei­tet, wel­cher Ih­nen ver­birgt, ob sie die Hoff­nun­gen er­füllt, wel­che dar­auf ge­setzt sind. Sie sind nun ein un­ge­stü­mer und wa­ge­hal­si­ger Spie­ler. Baron; wenn Sie ver­lo­ren ha­ben, wer­fen Sie die Kar­ten un­ge­stüm auf den Tisch, zah­len Ihr Reu­geld und Sie sind frei wie zu­vor. In dem Ha­zard der Ehe aber heißt es aus­ge­hal­ten! – Die Par­thie, wel­che Sie dar­in be­gon­nen ha­ben, hat kein Ende, und die Kar­te, wel­che Sie ge­zo­gen, gleich viel, ob sie Glück oder Un­glück bringt, ist mit tau­send un­sicht­ba­ren Ket­ten an Ihr Schick­sal ge­schmie­det. Wür­den Sie je­mals die Ge­duld ha­ben, Ihr Le­ben lang Bank zu hal­ten, selbst wenn Ih­nen jede neue Ent­täu­schung sag­te, dass Sie ret­tungs­los – ver­spielt ha­ben?« –

Ex­cel­lenz Wol­ter nick­te mit of­fe­nem Mun­de Bei­fall, die jun­ge Dame aber da­bei an­star­rend, als däch­te er im tiefs­ten Her­zen: »Eine, die nicht an­gelt?! O ewi­ges mi­ra­cu­lum!!«

Oli­vi­er drück­te das Kinn auf den kost­ba­ren Knopf sei­nes klei­nen Spa­zier­stockes und blick­te Fräu­lein von Spey­ern lä­chelnd, mit leicht zu­sam­men ge­knif­fe­nen Au­gen an.

»Wie kann ein Mann ver­spie­len, der auf Cœur­da­me setzt!«

»Der wel­cher tat­säch­lich die Cœur­da­me ge­winnt, hat ein sel­te­nes Glück!« –

Die kla­re Stim­me der Hof­da­me klang et­was ver­schlei­ert, und die Son­ne, wel­che durch die jetzt wei­ter ste­hen­den Lin­den schi­en, mal­te das Mus­ter der nie­der­hän­gen­den Schirm­gui­pu­re wie zit­tern­de Schat­ten auf das erns­te Ant­litz. –

»Bin ich ein Pech­vo­gel? Vor der Schwel­le mei­nes Ah­nen­schlos­ses liegt ein Stein ein­ge­mau­ert, auf wel­chem un­se­re Vor­vä­ter der Sio­na op­fer­ten; Nie­mand ist er­kennt­li­cher für zar­te Rück­sich­ten als ge­stürz­te Grö­ßen, und ich den­ke mir, auch ver­trie­be­ne Gott­hei­ten füh­ren ein Ta­ge­buch, dar­in die Na­men ein­zel­ner Sterb­li­cher rot un­ter­stri­chen sind. Ist Sio­na aber mei­ne Freun­din, wie könn­te die Cœur­da­me mei­ne Fein­din sein?«

»Ein Schmet­ter­ling tau­melt glück­be­rauscht an den Kelch der Rose und liebt sie, weil er weiß, dass er je­den Au­gen­blick wie­der da­von flat­tern kann; näh­me sie ihm aber die Frei­heit und woll­te sie ihn fest­hal­ten, er wür­de ih­rer über­drüs­sig wer­den und um der Dor­nen wil­len auch die Blü­te has­sen!«

»Aber Gnä­digs­te, wel­che ein Pes­si­mis­mus!! Ein Schmet­ter­ling. Ja … aber zwi­schen ihm und mir lässt sich doch wohl kei­ne Par­al­le­le zie­hen?«

Fi­des muss­te la­chen. »Die sicht­ba­ren Flü­gel ge­hen Ih­nen ab, Herr von Nenn­der­scheidt, sonst wür­den Sie sich glei­chen wie ein Ei dem an­dern!«

»Das neh­me ich übel, – das ist ge­ra­de­zu eine In­ju­rie!«

»In wie fern? Kön­nen Sie ab­leug­nen, dass es gleich wie bei dem Schmet­ter­lin­ge Ihre Na­tur ist, im Son­nenglanz von Blu­me zu Blu­me zu flat­tern, voll lie­bens­wür­digs­ten Leicht­sin­nes nicht einen Au­gen­blick be­den­kend, ob Net­ze und Fal­len lau­ern, ob Sie sich bei über­mü­ti­gem Spiel den Hals bre­chen oder nicht?«

»Aha – un­ser The­ma!« – Oli­vi­er seufz­te voll Hu­mor auf: »Was habe ich denn schon wie­der pe­xirt, ge­stren­ge Her­rin, dass ich Vor­wür­fe ver­die­ne?! Über­mü­tig! … Du lie­ber Gott, wann war ich zu­letzt im Le­ben mal über­mü­tig!!«

»In die­sem Au­gen­blick!«

»Ah?« …

»Was ist die­se Fahrt von Ih­nen an­de­res als tolls­ter, ve­ri­ta­bels­ter Über­mut?«

Der Frei­herr lach­te schal­lend auf. »Wiß­be­gier­de ist es! ich bren­ne dar­auf, zu er­fah­ren, wie es in ei­nem al­ten Jung­fern­stift um’s Kaf­fee­stünd­chen aus­sieht! Hei­li­ge Dia­na, Dei­ne Jün­ge­rin­nen müs­sen des An­schau­ens wert sein, ver­die­nen es, dass ein jun­ger Ca­va­lier über Land fährt, um sich mit ei­ge­nen Au­gen an der un­end­li­chen Ko­mik zu er­göt­zen, wel­che man nei­disch hin­ter den Mau­ern von Hersa­brunn ver­steckt!«

»Da ha­ben wir’s! … Mo­kie­ren wol­len Sie sich, die Gei­ßel Ihres Spot­tes über den ar­men al­ten Da­men schwin­gen, wel­che sich aus der ab­scheu­li­chen Welt in die­ses stil­le Heim ge­flüch­tet! – Man braucht Sie ja bloß an­zu­se­hen, um so­fort die Mo­ti­ve Ih­rer Wiß­be­gier­de il­lus­triert zu ha­ben! Ich gebe gern zu, dass es für einen so hei­ter be­an­lag­ten Men­schen wie Sie einen au­ßer­or­dent­li­chen Reiz ha­ben muss –«

»Ka­ta­kom­ben zu be­su­chen!«

»Ab­scheu­lich!«

»Also kei­ne Ske­let­te? Ich habe nur ein ein­zi­ges Mal im Le­ben eine Stifts­da­me ge­se­hen, – die hat­te aber über­all, wo man sie an­sah, eine Lücke … brr … die­ses böse Ge­sicht! … als ob ich et­was dazu ge­konnt hät­te! … Bit­te, bit­te schnell et­was Zücker­chen, da­mit es wie­der gut Wet­ter gibt!« – Und Oli­vi­er zog has­tig eine Bon­bo­niè­re aus der Brust­ta­sche und of­fe­rier­te mit al­len Zei­chen töd­lichs­ter Angst und Hast, die­weil er sich vor in­ne­rem La­chen schüt­tel­te. »Eine Maro­ne, auf mei­nem Her­zen ge­rös­tet – pi­kant und emp­feh­lens­wert … ich hat­te sie ei­gent­lich für die­je­ni­ge Hersa­brun­ner Schö­ne be­stimmt, wel­che die we­nigs­ten Zäh­ne hat« – –

Ganz ei­gen­tüm­lich zuckt es um die Lip­pen der Hof­da­me, kämp­fend zwi­schen Un­wil­len und Hei­ter­keit; die Mie­ne ei­ner Mut­ter, die dem Lieb­ling zür­nen will und den­noch lä­cheln muss.

»Un­glaub­lich! Wol­len Sie mit die­sen kan­dier­ten Ka­ta­pul­ten Bre­sche in die Her­zen der An­ti­ken schleu­dern? Sie sind ein ge­fähr­li­cher Mensch, Herr von Nenn­der­scheidt, ein Ad­ler im Tau­ben­schwarm, vor wel­chem man war­nen muss! Hand auf­’s Herz, Baron, auf wel­che der Da­men ha­ben Sie es ab­ge­se­hen?«

»Wenn ich einen Spie­gel hier hät­te, wür­de ich sie Ih­nen so­fort zei­gen!«

Die schlan­ke, nicht all­zu klei­ne Hand der jun­gen Dame, wel­che sich seit­wärts auf den Wa­gen­schlag stütz­te, zuck­te leicht zu­sam­men. Lang­sam san­ken die Wim­pern über die kla­ren, erns­ten Au­gens­ter­ne.

»Dass Sie doch nie­mals ihr di­plo­ma­ti­sches Ta­lent ver­leug­nen kön­nen! Ein Geg­ner, wel­cher sel­ber die Waf­fe aus der Hand wirft, ist un­schäd­lich ge­macht.«

Ex­cel­lenz Wol­ter hat­te das Mo­no­cle ein­ge­klemmt und grüß­te huld­voll die klei­ne Schar Dör­f­ler, wel­che mit of­fe­nen Mäu­lern, tief re­spekt­voll am Wege Spa­lier bil­de­ten; nie­de­re Bau­ern­häus­chen säum­ten rechts und links die Stra­ße, und fern über die Wip­fel ei­nes aus­ge­dehn­ten Parks er­hob sich der wun­der­lich ge­form­te, schie­fer­ge­deck­te Turm des Stif­tes Hersa­brunn.

Oli­vi­er neig­te sich nä­her zu Fräu­lein von Spey­ern, dämpf­te die Stim­me und sag­te mit ei­nem sel­ten wei­chen und herz­li­chen Aus­druck: »Und warum müs­sen Sie stets das – Ver­rück­tes­te und Schlimms­te von mir glau­ben? – Wäre es nicht viel na­tür­li­cher, dass es mich um der Spa­zier­fahrt und nicht um des Be­su­ches wil­len nach Hersa­brunn ge­zo­gen? Wenn man zwei Stun­den lang eine Rose an der Brust tra­gen darf, nimmt man schließ­lich am Zie­le auch den Rui­nen-Epheu mit in den Kauf! Das Kind muss doch einen Na­men ha­ben, Fräu­lein Fi­des, und … für ge­wöhn­lich neh­men Sie mich ja nicht mit, wenn Sie über Land fah­ren!«

Die schwar­zen Spit­zen wog­ten über der Brust der Hof­da­me, und die rei­chen Schmelz­per­len glit­zer­ten und blitz­ten auf, als glü­he tief in­nen ein Feu­er, flam­mend und all­ge­wal­tig, das sei­ne Fun­ken em­por­sprüht, als wol­le es die en­gen Schran­ken durch­bre­chen.

Sie ant­wor­te­te nicht; als aber die Equi­pa­ge eine vier­tel Stun­de da­nach in dem ge­pflas­ter­ten Schloss­hof, vor dem Por­ta­le hielt, Oli­vi­er sich mit schnel­lem Sprun­ge aus dem Wa­gen schwang und, dem La­kai zu­vor­kom­mend, Fräu­lein von Spey­ern die Hand bot, da ging es wie ein leich­tes Be­ben durch ihre hohe Ge­stalt, und als sich Blick in Blick senk­te, da däuch­te es dem Frei­herrn, als sei plötz­lich das Eis ge­schmol­zen, wel­ches ihr grau­es Auge bis­her so kühl und stolz ver­schlei­ert.

Hersa­brunn ist ein ur­al­tes Sch­löss­chen; die Chro­ni­ken nen­nen die Mark­grä­fin Wil­hel­mi­ne Do­ro­thea, †1509, sei­ne Stif­te­rin.

Ur­sprüng­lich zum Witt­wen­sitz fürst­li­cher Ge­mah­lin­nen be­stimmt, wur­de es spä­ter Do­mä­ne, eine Zeit lang La­za­reth, Wai­sen­haus, wie­der Do­mä­ne und end­lich, als ein Ge­schenk des Groß­her­zogs, ein Stift für un­be­mit­tel­te, hoch­be­tag­te ad­li­ge Fräu­leins. – Die wei­ten Säle, die nie­de­ren, eng­ge­wölb­ten Cor­ri­do­re und schma­len Holz­stie­gen hat­ten schon man­cher­lei Le­ben und Wan­del an sich vor­über zie­hen se­hen. Zu­erst weh­ten die düs­tern Witt­wen­schlei­er, rausch­ten ver­bräm­te Bro­katschlep­pen und glit­ten un­hör­ba­re Höf­lings­soh­len, dann la­ger­ten hohe Ge­trei­de­schüt­ten auf ge­bräun­tem Par­quet, ra­schel­ten Rat­ten und Mäu­se im Boh­nen­stroh, und lärm­ten wie­der­um fröh­li­che Kin­der­scha­ren durch die lan­ge Flucht der Säle. – Jetzt end­lich herrsch­te von all’ dem ein bun­tes Ge­misch. Auf dem Stroh, un­ter al­ten Ah­nen­bil­dern brei­te­te sich die Obs­tern­te der Stifts­da­men aus; im wür­di­gen, lang­schlep­pen­den Or­nat schrit­ten et­li­che Fräu­leins, der Obe­rin nach­ei­fernd, fei­er­lich ein­her, die­weil der größ­te Teil ih­rer Ge­nos­sin­nen ein wun­der­sa­mes Il­lus­tra­ti­ons­werk längst ver­ges­se­ner Mo­den bil­de­te. –

An den grau­en Mau­ern des drei­gieb­li­gen Front­ge­bäu­des rank­ten Wein und Spa­lier­obst, und ein re­ben­umspon­ne­nes Holz­ge­län­de zog sich wie eine Art Lau­ben­gang vor dem schma­len Trot­toir her.

Ein ur­al­tes Brun­nen­häus­chen stand in­mit­ten des Ho­fes, ho­hes Gras wu­cher­te zwi­schen den Pflas­ter­stei­nen, und das Ra­sen-Ron­del, auf wel­chem klei­ne Bee­te mit As­tern und Ge­or­gi­nen prang­ten, sah aus wie ein Pelz, in wel­chem die Mot­ten ge­we­sen.

Sämmt­li­che Be­woh­ne­rin­nen des Stif­tes wa­ren vor dem Hau­se ver­sam­melt, die höchs­ten Herr­schaf­ten zu be­grü­ßen. Vornan stand die Obe­rin, eine mit­tel­große, un­ter­setz­te Frau­en­ge­stalt, wel­che das er­grau­te Haupt voll na­tür­li­cher Wür­de auf den Schul­tern trug und in je­der Ges­te und Mie­ne ihre Stel­lung auf das Vor­nehms­te re­prä­sen­tier­te.

Sie war die ein­zi­ge der Da­men, wel­che einen schwar­zen Kopf­putz, ähn­lich ei­nem ho­hen Crè­pe-Dia­dem, von wel­chem ein schwar­zer Schlei­er lang über den Rücken her­nie­der­fällt, trug; die Stift­stracht hat­te aus ei­ner Zeit frei­wil­li­ger Kran­ken­pfle­ge eine stei­fe wei­ße Lei­nen­hau­be bei­be­hal­ten, wel­che das Ant­litz gleich­wie mit ein paar Scheu­le­dern um­rahm­te, und wel­che aus­nahms­los von sämmt­li­chen Be­woh­ne­rin­nen Hersa­brunns zur Gala ge­tra­gen wur­de.

Gleich ei­ner Non­nen­schar, eine wie die an­de­re im schwarz­sei­de­nen Kleid mit dem großen gol­de­nen Wil­hel­mi­nen-Kreuz auf der Brust, ran­gier­ten die Stifts-Fräu­leins voll pein­li­cher Ge­nau­ig­keit nach Ti­tel und Rang hin­ter der Obe­rin eine der ori­gi­nells­ten Aus­le­sen vor­neh­mer al­ter Frau­en-Phy­sio­gno­mi­en.

Gera­de­zu frap­pie­rend wirk­te in­mit­ten die­ser gleich­mä­ßig ge­klei­de­ten Da­men die Er­schei­nung ei­ner ur­al­ten klei­nen Frau­en­ge­stalt, wel­che sich voll os­ten­si­be­ler Ei­gen­wil­lig­keit nicht ne­ben, son­dern so­gar vor die Obe­rin dräng­te.

Bunt wie ein Pa­pa­gei stach sie ge­gen die Ge­nos­sin­nen ab, so ei­gen­ar­tig und wun­der­lich, so un­sag­bar alt­mo­disch und doch in je­dem Zwirns­fa­den so echt und ori­gi­nell, als habe sich ei­nes je­ner Grä­ber hin­ter der Ka­pel­le ge­öff­net, um eine Toch­ter lang ver­sun­ke­ner Jah­re un­ver­än­dert an das Licht tre­ten zu las­sen.

Ein ganz, ganz en­ges, gras­grü­nes Sei­den­kleid, in wel­ches köst­li­che, durch die Zeit et­was ge­bleich­te Bou­quets ein­ge­stickt wa­ren, schloss sich wie ein Fu­ne­ral um die klei­ne, zu­sam­men­ge­schrumpf­te Fi­gur in kur­z­er Tail­le, hoch un­ter der Brust durch einen rosa At­las­gür­tel mit auf­stei­gen­der Sch­nep­pe ge­schlos­sen.

Eine di­cke, et­was chif­fo­nier­te Tol­le schloss den Rock über dem Knö­chel und gab einen Fuß frei, wel­cher in ha­cken­lo­sem, grü­nen At­las­schuh mit Kreuz­bän­dern ko­kett den sei­de­nen, ehe­mals rosa ge­we­se­nen Strumpf zeig­te.

Der Hals war trotz der vor­ge­schrit­te­nen Jah­res­zeit tief ent­blö­ßt und nur ge­schmückt mit ei­nem schma­len, schwar­zen Sam­met­band, an wel­chem sich ein Pas­tell­bild­chen – einen Of­fi­zier mit ge­pu­der­ter Per­rücke dar­stel­lend, von Bril­lan­ten um­rahmt, wieg­te.

Gelb und ent­setz­lich dürr war der Hals, eben­so fleisch­los und ver­dorrt wie die Ärm­chen, wel­che aus den di­cken Puff­är­meln her­vor­sta­chen und viel­fach ge­flick­te Fi­let­hand­schu­he tru­gen. Ein flor­ar­ti­ger Shawl lag nie­der­ge­glit­ten über den El­len­bo­gen, und ein dick­ge­füll­ter, grell­bun­ter Pom­pa­dour schau­kel­te sich an dem Hand­ge­lenk.

Ein ganz un­de­fi­nir­ba­res Cha­os von Blu­men, Fe­dern und Band­schlei­fen aber ba­lan­cier­te auf dem Kopf, wel­chen ohne jeg­li­che An­stren­gung von Dis­kre­ti­on eine sehr fuch­sig ge­wor­de­ne Per­rücke be­deck­te.

Sil­ber­wei­ße Haar­strähn­chen hat­ten sich na­se­weis un­ter den Lo­cken­rin­geln auf die Stirn her­vor ge­stoh­len, und die grell­ro­ten, ab­ge­zir­kel­ten Fle­cken auf den Ba­cken­kno­chen wa­ren nun und nim­mer­mehr auf na­tür­li­chem Wege da­hin ge­kom­men.

Die klei­ne Dame hat­te kei­nen Zahn mehr im Mun­de, nicht ein fal­ten­lo­ses Fleck­chen mehr im Ge­sicht, des­sen scharf vor­sprin­gen­des Näs­chen ihm einen ei­gen­tüm­lich, vo­gel­ar­ti­gen Aus­druck gab; aber die klei­nen, ste­chen­den Schwarz­äug­lein flim­mer­ten und blitz­ten wie zwei Stern­lein un­ter den wei­ßen Brau­en, und in dem gan­zen, win­zi­gen Fi­gür­chen lag eine solch’ queck­sil­be­ri­ge und ju­gend­li­che Be­hän­dig­keit, dass man voll­stän­dig an dem Exem­pel irre wur­de –: »wie alt mag die wohl sein!«

Die Groß­her­zo­gin war Pro­tec­to­rin des Stif­tes und küm­mer­te sich voll lie­bens­wür­digs­ten In­ter­es­ses um all’ die klei­nen Lei­den und Freu­den, wel­che sich hin­ter sei­nen grau­en Mau­ern ab­spiel­ten. – All­jähr­lich am Ge­denk­ta­ge der Ein­wei­hung be­gab sich die hohe Frau per­sön­lich nach Hersa­brunn, um un­ter den drei his­to­ri­schen Lin­den den Kaf­fee bei den al­ten Fräu­leins zu trin­ken.

Ehe die Obe­rin dem ho­hen Be­such re­spekt­vollst ent­ge­gen tre­ten konn­te, hat­te sich die wun­der­li­che klei­ne Per­son im grü­nen Klei­de be­reits auf das Gra­zi­öses­te wip­pend und kni­xend vor­ge­drängt, streck­te Ru­dol­phi­ne Alex­an­drow­na bei­de Hän­de ent­ge­gen und über­flu­te­te sie mit ei­nem Schwall kaum ver­ständ­li­cher Wor­te: »Grü­ße Sie Gott, all­er­gnä­digs­te Her­rin! – sehr wohl – sehr wohl zur Stel­le! freut mich, freut mich bit­te al­ler­schöns­tens nä­her zu tre­ten, nä­her zu tre­ten; der Kaf­fee wird am Ende sonst kalt, am Ende kalt, und dann schmeckt er nicht, wis­sen Sie, lie­be gnä­di­ge Frau! ja, ja, schmeckt nicht! … Se­hen aber recht wohl aus, – recht wohl, und ein net­tes Män­tel­chen … ge­wiss recht teu­er ge­we­sen, ei ja, recht teu­er ge­we­sen … auch gu­tes Stöff­chen da­für … freut mich, freut mich! … bit­te al­ler­schöns­tens, hübsch nä­her zu tre­ten –«

Die Obe­rin wur­de dun­kel­rot und blick­te mit wahr­haft ver­zwei­fel­tem Blick auf die­se mehr wie ei­gen­tüm­li­che Grup­pe; die Groß­her­zo­gin aber lä­chel­te in ih­rer so un­end­lich gü­ti­gen Wei­se, ließ freund­lich ihre Hän­de drücken und sag­te, die klei­ne Dame wie eine gute Be­kann­te grü­ßend: »Gu­ten Tag, mei­ne lie­be Frau von Kör­be­ritz, wie­der frisch und mun­ter, wie im ver­gan­ge­nen Jahr! So­gar ganz ju­gend­lich im de­colle­tier­ten Kleid – wer­den Sie sich nicht er­käl­ten?«

»Er­käl­ten hi­hi­hi! … nein, mei­ne Lie­be … Ju­gend hat ja war­mes Blut … sehr war­mes Blut … und Sie wis­sen, dass ich erst viel viel spä­ter wie all’ die­se Da­men ge­bo­ren bin … ja wohl ge­bo­ren bin, wenn die nei­di­schen Schlan­gen mir auch zum Är­ger be­haup­ten wol­len, ich sei mit Ans­bach und Bai­reuth der­ma­len schon an Preu­ßen ab­ge­tre­ten … hihi … lau­ter Neid … sind bos­haf­te Krö­ten, die Däm­chen da … ja wohl, bos­haf­te Krö­ten! … emp­feh­le mich Ih­nen, mei­ne an­de­ren Herr­schaf­ten –« und Frau von Kör­be­ritz wand­te sich kni­xend, ohne je­den Über­gang an das Ge­fol­ge der Groß­her­zo­gin und klopf­te Prin­zes­sin Mar­ga­re­tha mit dem Fä­cher zärt­lich-gra­zi­ös die Wan­ge. »Das lie­be Schwie­ger­töch­ter­chen, nicht wahr? … freut mich un­ge­mein, ganz un­ge­mein …, habe schon viel von Ih­nen ge­hört … sehr viel … wie geht es denn dem schö­nen Gat­ten und den Kin­der­chen? … ganz recht, den Kin­der­chen … nicht viel Pflau­men es­sen las­sen … böse Zeit jetzt – so eine jun­ge Mut­ter ist ja uner fah­ren, na­tür­lich un­er­fah­ren … und dann ist’s Mal­heur da!… Und Sie da?… Wer sind Sie denn? aha, kann mir schon den­ken, mit zwei hun­dert Ta­lern Ge­halt und frei­er Sta­ti­on … be­kam ich auch als Hof­da­me … kürz­lich noch … ich bin ja noch in den bes­ten Jah­ren und nur we­gen Ma­rie-Lui­schen hier … we­gen Ma­rie-Lui­schen, wis­sen Sie … Wo ist denn das Kind? … nicht hier? … oh! oh! … Lui­schen! … Lui­schen!« … und Frau von Kör­be­ritz wand­te ih­ren Gäs­ten jäh­lings den Rücken und flat­ter­te wie ein Back­fisch­chen die Trep­pe em­por.

Fi­des warf einen Blick nach Nenn­der­scheidt. Der tol­le Jun­ker stand re­gungs­los, – starr, – ver­sun­ken im Schau­en. Sein gan­zes Ge­sicht strahl­te Ver­gnü­gen, aus weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen folg­te sein Blick der när­ri­schen klei­nen Per­son, de­ren rosa Schär­pen­bän­der noch von dem Haus­flur her zu­rück leuch­te­ten.

Dann wand­te er sich has­tig zu Fräu­lein von Spey­ern. – »Also das war die er­ge­be­ne Kör­be­ritz«, ju­bel­te er, ohne die Stim­me zu dämp­fen, »ist ja ein gött­li­cher Spaß! In die Alte ver­lie­be ich mich, die muss mit in die Re­si­denz – die muss ich mir ma­len las­sen, so et­was fin­det sich ja gar nicht zum zwei­ten Mal!«

»Wa­rum nen­nen Sie das arme, kin­di­sche Ge­schöpf er­ge­be­ne Kör­be­ritz?«

»Na das ist doch die, wel­che ihre Brie­fe an Kö­nig­li­che Ho­heit nie an­ders un­ter­zeich­net als wie: ›Mit schöns­tem Gruß Ihre er­ge­be­ne Kör­be­ritz!‹ weil sie be­haup­tet, sie sei kei­nem Men­schen un­tert­hä­nig, sie be­zah­le im Stift und habe kei­nem Men­schen et­was zu dan­ken …«

Fi­des lä­chel­te. »Wie gut Sie un­ter­rich­tet sind! Wo­her stam­men die­se Kennt­nis­se?«

Oli­vi­er zuck­te die Ach­seln: »Ein Mann, der auf Frei­ers Fü­ßen geht, muss sich doch un­ter den Schö­nen des Lan­des um­schau­en! Hal­ten Sie mir den Dau­men, dass mich der necki­sche klei­ne Grün­specht nicht heim­schickt. – Mit Ans­bach und Bai­reuth annec­tiert … Hei­li­ge Un­ver­wüst­lich­keit – das sind ja bald hun­dert Jah­re!!« – – –

Un­ter den mäch­ti­gen weit­ver­zweig­ten Par­klin­den wa­ren drei Ta­feln ge­deckt, an wel­chen die Ho­hen Herr­schaf­ten Platz ge­nom­men hat­ten. Die La­kai­en tru­gen in weiß ge­floch­te­nen Kör­ben das Ge­bäck her­zu, wel­ches die Groß­her­zo­gin all­jähr­lich zur Fei­er des Ta­ges mit­zu­brin­gen pfleg­te, und wel­ches von gar Vie­len der al­ten Fräu­leins mit ent­zück­tem Schmun­zeln auf Güte und Quan­ti­tät ein­ge­hendst ge­prüft wur­de.

Als man sich be­reits nie­der­ge­setzt hat­te, tauch­te zwi­schen den Ge­bü­schen aber­mals die far­bi­ge Ge­stalt der Frau von Kör­be­ritz auf. Sie führ­te, resp. zog ein jun­ges Mäd­chen eben­falls in das Or­nat der Stifts­da­men ge­klei­det, nach sich.

An­ge­sichts der Ge­sell­schaft sank das Köpf­chen in der un­för­mi­gen Hau­be wie ge­bro­chen auf die Brust, wil­len­los ließ sie sich di­ri­gie­ren, und die Hand, wel­che einen schlicht ge­bun­de­nen Strauß Herbst­blu­men trug, zit­ter­te er­sicht­lich. »Aber Lui­schen … klei­nes Gäns­chen Du … willst Du so­fort der All­er­gnä­digs­ten Dei­ne Auf­war­tung ma­chen, ja, ja, Auf­war­tung ma­chen! Habe doch bei Gott nicht um­sonst mei­ne schö­nen As­tern ge­schnit­ten, – ja wohl ja, As­tern, – au­gen­blick­lich wirst Du sie ge­ben, Lui­schen!« … und Frau von Kör­be­ritz zerr­te ihr Schlachtop­fer ne­ben den Ses­sel Ru­dol­phi­ne Alex­an­drow­na’s und fuhr, be­hän­de sich wie­gend und wip­pend wie ein Bach­stelz­chen, fort: »Dies ist näm­lich Ma­rie-Lui­schen, mei­ne Groß­nich­te, lie­be Se­re­nis­si­ma, ein al­ler­liebs­tes jun­ges Mäd­chen … ja­wohl, sehr jun­ges Mäd­chen, wel­chem die an­dern al­ten Gift­spin­nen, wie ge­sagt Gift­spin­nen, Angst vor Ih­nen mach­ten … woll­ten uns alle Bei­de raus­bei­ßen, weil wir die Jüngs­ten sind! … haha … of­fen­bar die Jüngs­ten! Die Blu­men sind von mir, wohl­ver­stan­den, Lui­schen darf sie nur über­rei­chen!« Mit tie­fem, fei­er­li­chem Knix sank die über­schlan­ke, noch sehr kind­lich ecki­ge Ge­stalt Ma­rie-Lui­ses in sich zu­sam­men; glü­hen­des Rot färb­te das schma­le Ge­sicht­chen, wel­ches sich noch tiefer hin­ter den Hau­ben­klap­pen zu ver­ste­cken schi­en.

Die fürst­li­chen Da­men wand­ten sich mit lie­bens­wür­digs­ten Wor­ten an die so wun­der­lich Prä­sen­tier­te; Frau von Kör­be­ritz klemm­te sich un­ge­niert einen Stuhl zwi­schen die Obe­rin und die Groß­her­zo­gin und sorg­te auf das Leb­haf­tes­te für Un­ter­hal­tung.

Ma­rie-Lui­se aber trat auf den Wink ei­ner Stifts dame an den Ne­ben­tisch und be­tei­lig­te sich dar­an, die Kaf­fee­tas­sen auf­zu­tra­gen.

Mit den ver­schie­dens­ten Bli­cken war die ori­gi­nel­le Sze­ne be­ob­ach­tet wor­den. Et­li­che der al­ten Fräu­leins schie­nen Gift und Gal­le über die un­ver­fro­re­ne Dreis­tig­keit der »Kör­be­rit­zen«, an­de­re lach­ten und amü­sier­ten sich in nach­sich­tigs­ter Wei­se.

Oli­vi­er wand­te sich an sei­ne Nach­ba­rin, ein äu­ßerst an­ge­neh­mes und wür­de­vol­les Fräu­lein von Boh­len und bat um den Com­men­tar zu die­ser wun­der­li­chen Er­schei­nung.

»Frau von Kör­be­ritz ist die ein­zi­ge ver­hei­ra­te­te Dame des Stif­tes«, er­hielt er zur Ant­wort, »wel­che durch be­son­de­re Für­spra­che der hoch­se­li­gen Groß­her­zo­gin Mut­ter bei uns auf­ge­nom­men wur­de, da sie kei­ner­lei Fa­mi­li­enan­halt mehr auf der Welt hat. Sie ist durch und durch Ori­gi­nal und lebt so zu sa­gen mit uns in ewi­ger Feh­de, weil et­li­che gril­len­haf­te und ner­vö­se Ge­nos­sin­nen ihr öf­ters Op­po­si­ti­on ma­chen.« –

»Und wer ist Lui­schen?« –

»Ihre Groß­nich­te, Ma­rie-Lui­se, Grä­fin Herff. Ein höchst be­kla­gens­wer­tes klei­nes We­sen, wel­ches völ­lig al­lein auf der Welt steht und dar­um, eben­falls aus­nahms­wei­se, bei der ein­zi­gen An­ver­wand­ten hier im Stif­te Auf­nah­me fand.« –

Oli­vi­er schau­te mit­lei­dig nach der Ge­nann­ten hin­über, wel­che voll pein­lichs­ter Ver­le­gen­heit, herz­lich un­ge­schickt ih­res Am­tes wal­te­te. So­eben schritt sie aber­mals um die Ta­fel, ge­leer­te Tas­sen ab­zu­neh­men.

Sie schi­en den Blick zu füh­len, schau­te jäh em­por und starr­te ihn an. Die Be­trof­fen­heit gab ihr et­was Lä­cher­li­ches und ver­zog das ha­ge­re Ge­sicht­chen in un­schö­ner Wei­se. Oli­vi­er nick­te ihr zu und hob sei­ne Tas­se.

Wie­der flamm­te es über ihre Stirn, wie ein schma­ler dun­kel­ro­ter Strich hob sich das Ant­litz aus den Lei­nen­tol­len. Schnell kam sie her­zu, stol­per­te über eine Wur­zel und stieß einen La­kai an; dann end­lich stand sie hin­ter ihm, streck­te den Arm aus und nahm die Kaf­fee­scha­le. Eine rote, ver­ar­bei­te­te Hand tauch­te an sehr ma­ge­rem Arm aus dem wei­ten Är­mel.

Oli­vi­er wand­te sich la­chend zu­rück. »Nicht zu voll schän­ken, Fräu­lein Lui­schen, ich trin­ke die­se zwei­te Auf­la­ge nur noch Ih­nen zu Ehren!« Wie­der starr­ten ihn die großen, dun­keln Au­gen einen Au­gen­blick an, dann schrak sie zu­rück wie ein scheu­es Reh und eil­te da­von.

»Sie ist wohl sehr schüch­tern?« frag­te Nenn­der­scheidt sei­ne Nach­ba­rin.

»Mehr wie das! Wie soll es auch an­ders sein? Das arme klei­ne Ding sieht ja au­ßer uns fast nie ein frem­des Ge­sicht.« –

»Wird sie stets hier blei­ben?« –

»Da­vor möge sie Gott be­wah­ren!« Fräu­lein von Boh­len seufz­te lei­se auf, »ich habe die Klei­ne lieb und wün­sche ihr ein freund­li­che­res Ge­schick. – Gott aber weiß al­lein, wie das zu be­werk­stel­li­gen sei!« –

»Hat sie Geld?« –

»So gut wie nichts.« –

»Hm … und son­der­lich hübsch scheint sie auch nicht zu sein; nun kommt Zeit, kommt Rat.«

Der Frei­herr brach ab und wand­te sich che­va­le­resk zu­rück, um sich vor der zu­rück­keh­ren­den jun­gen Dame zu er­he­ben und die Tas­se in Empfang zu neh­men. Ma­rie-Lui­se aber hat­te das nicht vor­aus­ge­se­hen, sie war has­tig her­zu­ge­tre­ten und prall­te ge­gen sei­nen Arm.

Der hei­ße Kaf­fee floss über und ver­brüh­te ihre Hand; ohne zu zu­cken, setz­te sie die Tas­se nie­der. Oli­vi­er aber stieß einen lei­sen Laut des Schre­ckens aus, riss sein duf­ten­des Ta­schen­tuch aus der Brust­ta­sche und er­fass­te die Rech­te der Com­tes­se, um die ver­letz­ten Fin­ger zu trock­nen. Sie wich zu­rück. Fast ent­setzt barg sie die Hand auf dem Rücken; aber­mals schlu­gen sich die dunklen Wim­pern em­por. – Dann schüt­tel­te sie so hef­tig den Kopf, dass die wei­ße Hau­be ihr um die Wan­gen schlug, und das sah wie­der un­end­lich ko­misch aus.

»Sie ha­ben sich ver­brannt, Fräu­lein Lui­schen! es gibt wo­mög­lich Bla­sen!!« – Sei­ne Stim­me klang, als sprä­che er zu ei­nem Kin­de. Sie lä­chel­te, wur­de ab­wech­selnd blass und rot. »Es tut nicht weh!« – Sehr lei­se sag­te sie es, und der Aus­druck ih­res Ge­sicht­chens hat­te in fei­ner sanf­ten, ge­dul­di­gen Lieb­lich­keit et­was Rüh­ren­des. Dann war sie fort­ge­huscht.

Als man spä­ter eine Tour durch den Park ge­macht hat­te und durch die An­la­gen zu­rück kam, räum­te Ma­rie-Lui­se in Ge­mein­schaft mit ei­ner al­ten Magd den Kaf­fee­tisch ab.

Mit ei­nem Ta­blett voll Tas­sen kam sie dem Frei­herrn und Fräu­lein von Spey­ern ent­ge­gen. – Oli­vi­er war sehr ani­miert, klemm­te den Knei­fer auf die Nase und trat der jun­gen Dame in den Weg.

»Nun Com­teß­chen, wie geht es den Fin­gern? Darf ich mir die Pa­ti­en­ten ein­mal be­trach­ten, ob es not­wen­dig ist, dass ich Ma­rie-Lui­schen mit in die Re­si­denz zu dem Herrn Doc­tor neh­me?« –

Wie­der die­ses stum­me, angst­vol­le An­star­ren und Er­glü­hen. Die Tas­sen klirr­ten lei­se auf, der Kopf sank jäh­lings nie­der und, mit has­ti­gem Schritt seit­wärts auf den Ra­sen aus­wei­chend, floh sie an ihm vor­über.

Nenn­der­scheidt sah ihr la­chend nach. –

Ma­rie-Lui­se aber blieb ver­schwun­den. –

Zweites Kapitel

Freut auch des Le­bens, So lang noch das Lämp­chen glüht!

(Volks­lied.)

Nach Son­nen­un­ter­gang war es kühl ge­wor­den; Frau von Kör­be­ritz hat­te in Fol­ge des­sen eine sehr schä­bi­ge, un­för­mig wei­te Pelz­ja­cke über ihr grün­sei­de­nes Kleid ge­zo­gen, und zwei Stück­chen Ku­chen in Zei­tungs­pa­pier ge­wi­ckelt, wel­che die Erb­groß­her­zo­gin den Kin­der­chen zu Hau­se von Tan­te Kör­be­ritz mit­brin­gen soll­te. »Ich habe eine Tüte ge­macht, klei­nes Frau­chen, und die­sel­be rings­her­um zu­ge­näht, ja­wohl, zu­ge­näht!« flüs­ter­te sie der Prin­zes­sin zu, »falls die Hof­da­me den Ku­chen tra­gen muss, wohl­ver­stan­den! Na­schen ja alle wie die Kat­zen, die Hof­da­men, weiß das, weiß das noch aus Er­fah­rung!« – und ihre schar­fen Äug­lein flin­ker­ten feind­se­lig zu Fräu­lein von Spey­ern hin­über. –

Die­weil die Wa­gen be­stellt wur­den, nahm sie die »All­er­gnä­digs­te« noch ein­mal ge­heim­nis­voll bei Sei­te und er­schöpf­te sich in Auf­trä­gen, wel­che sie der Groß her­zo­gin zur gü­ti­gen Be­sor­gung mit in die Re­si­denz gab. –

Mit au­ßer­or­dent­li­cher Huld und Güte ließ die hohe Frau den Wir­bel­wind von Wor­ten über sich hin­stür­men, wink­te der schier ver­zwei­feln­den Obe­rin lä­chelnd ab und ver­sprach der Frau Ritt­meis­ter, Al­les zur vol­len Zufrie­den­heit zu er­le­di­gen. –

Da­rauf be­stie­gen die Herr­schaf­ten die Wa­gen.

»Also ja nicht ver­ges­sen, bei dem Schus­ter tüch­tig zu han­deln!« – schärf­te die Kör­be­ritz den Da­men noch ein­mal mit wich­tig er­ho­be­nem Fin­ger ein, und dann ver­miss­te sie plötz­lich Lui­schen, – das dum­me klei­ne Lui­schen, wel­ches sich mal wie­der in ir­gend einen Win­kel ver­kro­chen hat. – Laut ru­fend und ges­ti­ku­lie­rend, flat­ter­te sie da­von, und der Strick­beu­tel tanz­te in hef­ti­gen Schwin­gun­gen ne­ben­her, und die Blu­men und Fe­dern der Dor­meu­se schwank­ten vorn­über. – – »Ein Kö­nig­reich für einen Ma­ler!« seufz­te Baron Nenn­der­scheidt mit lust­blit­zen­den Au­gen!

Die Ros­se grif­fen aus, und die star­ren Gras­hal­me zwi­schen dem Hof­pflas­ter beug­ten sich un­ter die zer­mal­men­den Rä­der. Oli­vi­er’s Blick aber flog noch ein­mal über die Schloss­front, und er schwang grü­ßend den Hut nach den al­ten Da­men zu­rück und schied so un­gern von Hersa­brunn wie ein Kind, wel­ches man mit­ten aus dem schöns­ten Spie­le reißt.

Als er nach den wun­der­lich ver­schnör­kel­ten Gie­beln und Er­ker­chen em­por­schau­te, da däuch­te es ihm, als schim­me­re hin­ter ei­ner Dach­lu­ke die un­för­mi­ge Hau­be Ma­rie-Lui­sens … er lach­te laut auf und nick­te zu ihr em­por.

Klir­rend schlug dro­ben das Fens­ter zu – und die Equi­pa­ge saus­te scharf um die Ecke, in die lau­bi­ge Lin­den­al­lee hin­ein.

Fräu­lein von Spey­ern war nach­denk­lich und schweig­sam, Ex­cel­lenz Wol­ter et­was un­ge­hal­ten über den »nie­der­träch­ti­gen Kaf­fee, wel­cher si­cher­lich nichts in den Weg ge­legt hät­te, wenn man auf dem tiefs­ten Grund der Tas­se Tri­chi­nen und Ba­cil­len mit großer Klar­heit hät­ten er­ken­nen wol­len; au­ßer­dem dro­he es jetzt noch zu al­lem Über­fluss mit Re­gen – und der Abend sei sehr kühl ge­wor­den« – und der alte Herr schlug vor sitt­li­cher Ent­rüs­tung den Rock­kra­gen em­por und wi­ckel­te die ge­ti­ger­te De­cke fes­ter um die Kniee.

Baron Nenn­der­scheidt trug fast al­lein die Kos­ten der Un­ter­hal­tung. Er war im Ge­gen­satz zu sei­nen Rei­se­ge­fähr­ten äu­ßerst ani­miert, dreh­te den blon­den Schnurr­bart in die kühns­ten Faç­ons, schob den Hut sei­ner An­ge­wohn­heit ge­mäß in den Na­cken und ver­si­cher­te, dass er sich ganz fa­mos amü­sirt habe. Selbst dem Kaf­fee habe er all sei­ne Schlech­tig­keit ver­zie­hen und sei im Stan­de, noch einen Ei­mer voll von die­sem Gift ein­zu­neh­men, wenn er zum Loh­ne da­für in Hersa­brunn den Geist auf­ge­ben dür­fe! – Und er er­zähl­te in sei­ner über­mü­ti­gen, aber nie­mals bos­haf­ten Wei­se all die klei­nen, scherz­haf­ten Sze­nen, wel­che sich zwi­schen ihm und der er­ge­be­nen Kör­be­ritz, so­wie ei­ni­gen an­de­ren Ori­gi­na­len ab­ge­spielt hat­ten. Der klei­nen Grä­fin Herff ge­dach­te er mit herz­lichs­tem Be­dau­ern, gleich ei­nes Vö­gel­chens, wel­chem man gern die Türe des Kä­figs öff­nen möch­te.

Fi­des blick­te ihm sin­nend in das Ant­litz; die schnell zu­neh­men­de Däm­me­rung mal­te tiefe­re Schat­ten um ihre Au­gen und ließ sie noch erns­ter denn sonst er­schei­nen. »Sie be­kla­gen die Klei­ne, Herr von Nenn­der­scheidt, und wis­sen doch gar nicht, ob sie in der Tat be­kla­gens­wert ist. Wohl dem, wel­cher die Welt mit ih­ren spär­li­chen Blü­ten und ih­ren wu­chern­den Nes­seln und Dor­nen nicht kennt; er weiß es sel­ber nicht, wie viel bit­te­re Ent­täu­schung, Qual und Auf­re­gung ihm er­spart bleibt. – So lan­ge Ma­rie-Lui­se hin­ter den Mau­ern von Hersa­brunn lebt, in die­sem stil­len, woh­li­gen Frie­den, ein­sam und ohne rau­schen­de Le­bens­luft, aber auch ohne die Fie­ber­schau­er von Lie­be und Hass, so lan­ge wer­de ich sie nicht be­dau­ern, son­dern sie viel­mehr be­nei­den. Wenn aber das Git­ter sich öff­net, und das un­er­fah­re­ne, ver­wais­te Vö­gel­chen in die Welt hin­aus ge­trie­ben wird, in das April­wet­ter von Re­gen, Schnee und Son­nen­schein, das jun­ge See­len wie ein Wir­bel­wind er­fasst, – dann wer­de ich Ma­rie-Lui­se von Grund mei­nes Her­zens be­kla­gen, denn dann wird sie sol­chen Mit­leids be­dür­fen.«

Oli­vi­er fal­te­te die Hän­de und mach­te die from­me Mie­ne, mit wel­cher er den fei­er­lich erns­ten Ton der Hof­da­me mit Vor­lie­be per­si­flier­te. Dann lach­te er lus­tig auf. »Gott sei Lob und Dank, dass es nicht vie­le jun­ge Da­men gibt, wel­che Ihren mehr wie ein­sied­le­ri­schen Ge­schmack tei­len, sonst könn­ten wir vom star­ken Ge­schlecht wohl schließ­lich mit Ho­nig­ku­chen­frau­en für­lieb neh­men! Apro­pos … Ho­nig­ku­chen! Das er­in­nert mich ja wie­der an den Kaf­fee­tisch von heu­te Nach­mit­tag! Als die La­kai­en die Wa­gen­la­dun­gen von Sü­ßig­kei­ten aus­pack­ten, da rie­sel­te es mir kalt über den Rücken, und ich dach­te, – ›von dem Ku­chen knup­pern die al­ten Fräu­leins bis zum nächs­ten Os­ter­fest!‹ – Aber pros­te Mahl­zeit! Ha­ben Sie ge­se­hen, wie die alte Gar­de we­der starb, noch sich übergab« – –

»Hm … hm …, e r­gab! lie­ber Baron!« – hüs­tel­te Ex­cel­lenz Wol­ter mit freund­li­chem Grin­sen.

»Wie Sie be­feh­len, Ge­strengs­ter. – Also man leg­te die Lan­ze ein und stürm­te die Schan­zen von Bis­quit und Blät­ter­teig, und da die­sel­ben sol­cher Kampf­be­gier nicht wi­der­ste­hen konn­ten, ver­fuhr das Ama­zo­nen­corps mit ih­nen, wie wei­land der grau­sa­me Sci­pio mit Kar­tha­go. – es blieb nichts – auch gar nichts üb­rig!« – –

Nenn­der­scheidt hat­te sei­nen Wil­len er­reicht, – Ex­cel­lenz Wol­ter warf das lau­schend vor­ge­streck­te Haupt mit krä­hen­dem Auf­la­chen zu­rück, und durch die Lip­pen der Hof­da­me leuch­te­ten die wei­ßen, gleich­mä­ßi­gen Zäh­ne. Tie­fer und tiefer san­ken die Schat­ten, und die Stim­mung des Frei­herrn ward im­mer ani­mier­ter, und der Plan, wel­chen er für einen nächs­ten Be­such in Hersa­brunn ent­warf, im­mer aben­teu­er­li­cher und tol­ler. Wie un­för­mi­ge Rie­sen­ge­bil­de tanz­ten die Bäu­me des Wald­ran­des zur Sei­te vor­über. Ne­bel stie­gen über den mo­ras­ti­gen Wie­sen em­por, und fern­ab in ei­nem Dörf­chen blitz­ten die ers­ten Licht­fun­ken auf. – Ein klei­ner Fluss schlän­gel­te sich un­ter tief­hän­gen­den Ge­bü­schen durch das fla­che Land und ward an der Chaus­see durch eine schma­le Brücke über­spannt. Wei­den­stümp­fe stan­den rechts und links der wei­ßen Eck­stei­ne und streck­ten ein­an­der die tro­ckenen Äste zu, wie wun­der­li­che Spuk­ge­stal­ten, wel­che sich mit we­hen­dem Haar zum Tan­ze um­schlin­gen woll­ten.

La­chen und lau­ter Ge­sang schall­te von jen­seits der Brücke her­über. Ein leich­tes Korb­wä­gel­chen, mit ei­nem Schim­mel be­spannt, roll­te in flot­tem Tem­po her­zu und er­reich­te die Brücke eher wie die Ho­fe­qui­pa­ge. Der Kut­scher der­sel­ben riss die Zü­gel an und hielt war­tend zur Sei­te, da die Pas­sa­ge zu schmal war, um zwei Ge­fähr­ten Raum zu ge­ben. – Nenn­der­scheidt rich­te­te sich em­por und schau­te vol­ler Sym­pa­thie nach dem, lang­sam über die Holz­boh­len stol­pern­den Wa­gen, wel­cher so lus­ti­ge In­sas­sen be­her­berg­te. Dorf­mu­si­kan­ten! – Fi­de­le Ker­le mit schief­ge­setz­tem Filz und fa­den­schei­ni­ger Jop­pe, mit Pau­ke und Horn, Cla­ri­net­te und Tri­an­gel, und ei­nem men­schen­feind­lich kläf­fen­den Spitz auf dem Kut­scher­bock, wel­cher wäh­rend der Con­cert­rei­se durch die Dör­fer der Ein­zi­ge ist, der nicht mit an der großen Schnaps­fla­sche par­ti­ci­pirt! Mit ei­nem schnel­len Blick hat der »tol­le Jun­ker« die Si­tua­ti­on über­schaut und er­fasst. – Sei­ne Ge­dan­ken und Ide­en zu­cken ihm blitz­ar­tig durch den Kopf und wer­den eben­so flink und ohne Über­le­gen aus­ge­führt.

»Heda! Jun­gens, wo­hin?« –

Der Hor­nist nimmt has­tig die Pfei­fe aus dem Mund. »Nach Obern­wies hin­ter Hersa­brunn, Ew. Gna­den!«

»Halt! – ich will mit!« – Und ehe nur der über­rasch­te Jün­ger Eu­ter­pes sein Schim­mel­chen an­hal­ten kann, und der groß­her­zog­li­che Kut­scher höch­lichst über­rascht sein Ge­sicht mit dem eng­li­schen Bart um­wen­det, stößt Oli­vi­er auch schon den Wa­gen­schlag auf und springt zur Erde. – »Adieu, mei­ne Herr­schaf­ten! – ich muss der Kör­be­rit­zen ein Ständ­chen brin­gen! Bit­te, schi­cken Sie mir mor­gen mei­nen Wa­gen nach Hersa­brunn her­aus! … Ser­vus!!« – und ehe nur Wol­ter oder Fi­des ein Wort er­wi­dern kön­nen, schwingt sich der Reichs­frei­herr von Nenn­der­scheidt be­reits auf das Rad des Korb­wä­gel­chens und ver­drängt das wü­tend kei­fen­de Spitz­le von sei­nem an­ge­stamm­ten Platz ne­ben dem kut­schie­ren­den Herrn.

»Jun­gens – Ihr müsst mir in Hersa­brunn eins auf­bla­sen! – Je schö­ne­re Lie­bes­lie­der Ihr könnt, de­sto bes­ser be­zah­le ich sie Euch! – Und nun los! macht mal Feu­er hin­ter Euer blei­ches Roß, dass wir die Vö­gel nicht schon im Nes­te fin­den, wenn wir kom­men!« –

Ju­beln­des Hal­loh – – die Trom­pe­ten an den Mund und einen schmet­tern­den, un­de­fi­nir­ba­ren Tusch! – der Kut­scher hieb wie be­ses­sen auf das Schim­mel­chen, und hei­da ging es mit knat­tern­den Hu­fen zu­rück nach Hersa­brunn. Die groß­her­zog­li­chen Ho­fla­kai­en sa­ßen rück­wärts, mit weitof­fe­nen Mäu­lern und starr­ten dem Korb­wä­gel­chen nach wie ei­ner Vi­si­on. Ex­cel­lenz Wol­ter aber schlug höch­lichst al­te­riert die Hän­de zu­sam­men und hob sie wie be­schwö­rend ge­gen Fi­des: – »Nun bit­te ich Sie um Him­mels Wil­len, mei­ne Gnä­digs­te, was sa­gen Sie da­zu?! In Nacht und Ne­bel mit dem ge­wöhn­lichs­ten Mu­si­kan­ten­volk hin­aus! Ein Ständ­chen in Hersa­brunn un­ter dem Fens­ter der Ritt­meis­te­rin! – Ist es zu glau­ben … über­haupt aus­zu­den­ken? – Grâ­ce à Dieu – wie wird sich un­se­re gute Re­si­denz wie­der über sol­che Toll­heit die Mäu­ler« … Ex­cel­lenz muss­te sich lei­der in der Hälf­te der Rede un­ter­bre­chen, denn er hat­te zu hit­zig ge­spro­chen und fuhr has­tig mit dem fei­nen Bat­tist­tuch nach dem Mun­de, um die auf­klap­pen­den Zäh­ne wie­der fest­zu­drücken. Eine fei­ne Fal­te lag zwi­schen den Au­gen­brau­en der Hof­da­me. »Zu­fah­ren, Ja­mes!« be­fahl sie in ih­rer ru­hi­gen und erns­ten Wei­se – und füg­te, zu dem al­ten Rei­se­mar­schall ge­wandt, mit lei­se­rer Stim­me hin­zu: »Sind Sie tat­säch­lich über die­sen Scherz er­staunt, Ex­cel­lenz? – Bei mir ist es um­ge­kehrt der Fall, ich bin auf­’s Höchs­te über­rascht, wenn ein Tag ver­geht, an wel­chem man nicht über einen aus­ge­las­se­nen Streich des Herrn von Nenn­der­scheidt zu la­chen hat!«

»Sehr wahr, mei­ne Gnä­di­ge … ha­ha­ha! … sehr wahr! warum hie­ße er sonst auch der tol­le Jun­ker?« –

Fi­des at­me­te tief auf und biss die Zäh­ne zu­sam­men. »Nicht durch ei­ge­nes Ver­dienst heißt er so, Ex­cel­lenz, – wenn aber ein De­mant in Blech ge­fasst wird, so ver­liert er sei­nen ech­ten Glanz und wird um die­ser ge­mei­nen Um­ge­bung wil­len von der Welt für einen Kie­sel an­ge­se­hen!«

Das Kinn des al­ten Höf­lings klapp­te auf­’s Höchs­te ver­blüfft auf den Rock­kra­gen her­nie­der. »Ah … Sie glau­ben die Ge­sell­schaft je­nes, je­nes an­de­ren Son­der­lings … des Gra­fen Go­seck wir­ke schäd­lich auf den jun­gen Mann ein?!«

»Ja! – Nenn­der­scheidt ist ein bra­ver Mensch, ein gold­ge­treu­es Herz«, – nick­te Fräu­lein von Spey­ern her­be, – »aber Graf Go­seck kne­tet die­ses Gold zwi­schen den Hän­den und zer­setzt es künst­lich mit all’ je­nen Schla­cken, wel­chen das ge­schmack­ver­derb­te Pub­li­kum als Ori­gi­na­li­tät und amüsan­ter Toll­heit ap­plau­diert!«

Ei­ner solch klar aus­ge­spro­che­nen An­sicht war Ex­cel­lenz Wol­ter bis jetzt noch nie be­geg­net, und da er es sich sein Le­ben­lang zum Prin­cip ge­macht: nie­mals eine ganz di­rek­te Mei­nung zu ha­ben, ge­schwei­ge sie aus­zu­spre­chen, so be­schränk­te er sich auch jetzt dar­auf, ein un­de­fi­nir­ba­res Ge­misch von Zu­stim­mung und Zwei­fel zu hüs­teln und hin­ter vor­ge­hal­te­nem Ta­schen­tuch sehr ver­bind­lich sein: »Ah, wahr­haf­tig … ganz char­mant, ganz char­mant!« zu lä­cheln. Der Wind pfiff scharf übers Feld und schnitt die Un­ter­hal­tung ab; – Fi­des aber wand­te das Haupt zur Sei­te mit ei­nem Ge­sichts­aus­druck, wie Je­mand, der sich plötz­lich er­in­nert, dass es Ver­schwen­dung ist, Kör­ner zu bie­ten, wo man nur lee­re Spreu ver­langt.

Still und fried­lich lag Hersa­brunn im Schat­ten sei­ner ho­hen Lin­den und Kas­ta­ni­en­bäu­me. – Die Fens­ter­rei­he des ers­ten Stockes war dun­kel, nur der Ess­saal im Par­terre, wo­selbst die al­ten Da­men nach Tisch noch ein Stünd­chen zu­sam­men blie­ben, schick­te durch drei hel­le Fens­ter freund­lich ein­la­den­den Gruß in das Dun­kel der Nacht hin­aus. – Um das Ron­del auf dem frei­en Platz vor dem Schloss schlich eine wei­ße Kat­ze, und von dem Kies­weg her­über tön­te ein schlur­ren­der Schritt, pink­te es zwei, drei Mal und sprüh­te dann ein paar Fun­ken … Der alte Gärt­ner Con­rad, wel­cher sich auf dem Weg in sein Nacht­quar­tier ein Pfeif­chen leis­te­te. – Dann klapp­te eine Tür … und aus dem Sou­ter­rain er­schall­te eine hohe Fis­tel­stim­me, wel­che un­end­lich kläg­lich das Lied von dem »Tan­ne­baum – o Tan­ne­baum« – in nicht im­mer zu­tref­fen­der Me­lo­die an­stimm­te. – Zwi­schen­durch ras­sel­ten ein paar Tel­ler … quietsch­te ein er­sicht­lich schlecht be­han­del­tes Hünd­chen auf, – pol­ter­te und nies­te es und ver­si­cher­te zum Schlus­se doch wie­der: »O Tan­ne­baum – o Tan­ne­baum, wie grün sind dei­ne Blät­ter!« – Heim­lich, vor­sich­tig ein­her­schlei­chend, wie die Die­be in der Nacht, tauch­ten im Däm­mer­schein des Schloss­plat­zes ein paar schwar­ze Ge­stal­ten auf, flüs­ter­ten und ges­ti­ku­lier­ten und drück­ten sich be­hut­sam in den Schat­ten des Hau­ses, um sich auf lei­sen Soh­len an der Mau­er ent­lang bis zu dem Ra­sen­stück vor der Mit­tel­front zu pür­schen. Dann wur­de ein Kreis ge­bil­det … blan­ke Mu­sik­in­stru­men­te er­glänz­ten, und der Frei­herr von Nenn­der­scheidt trat la­chend zwi­schen sei­ne Künst­ler und flüs­ter­te: »Für’s Ers­te also einen recht rüh­ren­den Stoß­seuf­zer, viel­leicht ›Du, Du liegst mir im Her­zen …‹ oder ›Hät­t’ ich ein rot­sei­de­nes Bänd­chen, dann bän­d’ ich’s Chris­tin­chen um’s Händ­chen!‹ – Man los­ge­schos­sen! – Ich wer­de zur Be­kräf­ti­gung mit auf das Kalb­fell pau­ken! – Ach­tung! … ›Du … Du liegst mir‹ … und einen Tusch vor­aus! Eins, zwei, drei …«

»Bum! – Tschin­dera­da­da! … Bum!« – –

Ein gel­len­der Schre­ckens­schrei in der Kü­che des Sou­ter­rains. – der »Tan­nen­baum« ver­stummt, es klirrt und schrillt … und dro­ben in dem Ess­saal fin­det die Angst ein Echo; – – sein jüng­fer­li­ches Auf­schrei­en, lau­tes Ge­läch­ter – Stüh­le wer­den um­ge­ris­sen, und Kopf an Kopf drän­gen sich die schwar­zen Schat­ten an die Fens­ter. Welch’ ein ver­än­der­tes Bild von Hersa­brunn! Drau­ßen er­klingt im fröh­li­chen Pol­ka­tac­te das Lied der sehn­suchts­vol­len Lie­be, in des­sen rüh­ren­de Klän­ge in re­gel­mä­ßi­gen In­ter­val­len von zwei Mi­nu­ten ein al­tes Rei­ter­si­gnal schmet­tert; die ein­zi­ge Kunst­leis­tung des Trom­pe­ters, wel­che je­doch in jeg­li­ches Lied hin­ein­passt, und wel­che in jeg­li­chem Stück, sei es nun »Üb im­mer Treu und Red­lich­keit – ta­te­ra­ta!« – oder »In ei­nem küh­len Grun­de, da geht ein Müh­len­rad – ta­te­ra­ta – mein Lieb­chen ist ge­stor­ben, das dort ge­woh­net hat – ta­te­ra­ta!« gleich große Ef­fek­te er­zielt. – Zwi­schen­durch aber wü­tet die Pau­ke und macht einen Spek­ta­kel, als sol­le dem Da­men­stif­te Hersa­brunn das Bom­bar­de­ment von Straß­burg mög­lichst na­tur­ge­treu vor die See­le ge­führt wer­den. Ein Ständ­chen. – Abends neun Uhr ein Ständ­chen! – Sol­chen Eve­ne­ments kön­nen sich selbst die Äl­tes­ten von Hersa­brunn nicht aus den An­na­len des Stif­tes er­in­nern, und dar­um wirkt die­se Über­ra­schung ähn­lich wie Feu­er­all­arm, – es geht für ein paar Au­gen­bli­cke Al­les drun­ter und drü­ber.

Man reißt die Fens­ter auf – man ruft, lacht – schreit, – und er­hält als ein­zi­ge Ant­wort von ei­ner joh­len­den An­zahl Män­ner­stim­men die ge­sun­ge­ne Ver­si­che­rung:

»Du, du liegst mir im Her­zen, Du, du liegst mir im Sinn.« –

Mit schlot­tern­den Bei­nen kommt der alte Con­rad, be­reits in hal­ber Nacht­toi­let­te in Hemds­är­meln, mit ei­ner Strumpf­kap­pe auf dem kah­len Kopf aus sei­nem Gärt­ner­stüb­chen ge­stol­pert und be­leuch­tet die nächt­li­che Sze­ne durch die hoch­ge­hal­te­ne Stall­la­ter­ne. – Sein Ge­sicht mit den zahl­lo­sen Run­zeln und Fält­chen schnei­det die wun­der­lichs­ten Gri­mas­sen, ähn­lich ei­nem Stot­tern­den, der re­den will und nicht kann, und die lin­ke Hand um­klam­mert die Ta­baks­pfei­fe, an wel­cher der Alte in sei­nem ers­ten To­des­schreck, da der Pau­ken­tusch ihm meuch­lings durch alle Glie­der fuhr, das Knöpf­chen ab­ge­bis­sen hat. –

Angst­voll si­chernd, mit vor­ge­streck­tem Kopf, er­scheint die stäm­mi­ge Fi­gur der dral­len Kü­chen­magd Dör­te hin­ter der halb­of­fe­nen Sou­ter­rain­tü­re, so all­mäh­lich nur in ih­rer vol­len Run­dung auf­tau­chend wie der lie­be, gute Mond, wel­cher sich drü­ben, hin­ter den Baum­wip­feln sei­ne Bahn durch zie­hen­des Ge­wölk bricht. – Bei­de Hän­de drückt sie ge­gen den Ma­gen, als füh­le sie die Wir­kung der großen Pau­ke noch im­mer dar­in­nen nach­zit­tern. –

Die Freitrep­pe her­ab aber stür­men die mun­ters­ten und »ju­gend­lichs­ten« der Stifts­da­men. Baro­nes­se Rö­schen mit dem Ba­by­kopf vorn­weg, als zwei­te hin­ter ihr das für ge­wöhn­lich sen­ti­men­tal be­an­lag­te Fräu­lein Frie­de­ri­ka von Geu­der­heim, wel­che je­doch der Poe­sie we­gen be­an­sprucht, dass sie »Eri­ka« ge­nannt wird.–

Letz­te­re hat in der Hast das klei­ne Cor­ri­dor­lämp­chen er­grif­fen und fährt je­dem der Mu­si­kan­ten da­mit be­leuch­tend un­ter die Nase, – plötz­lich ein ju­beln­der Auf­schrei – »Mon­sier le ba­ron! … le ba­ron de Nenn­der­scheidt!!« – und Rö­schen schreit mit, und je nach­dem es die al­ten Bei­ne er­lau­ben, eilt es die Trep­pe her­ab und um­ringt in höchs­ter Fröh­lich­keit den Ständ­chen­brin­ger, wel­cher rit­ter­lichst den Pau­ken­schlä­gel prä­sen­tiert und dann mit weit aus­ge­brei­te­ten Ar­men und Sten­tor­stim­me wie­der­holt: »Wisst nicht, wie gut ich Euch bin!« –

Die Frau Ritt­meis­ter von Kör­be­ritz, wel­che sich nicht so­fort Ge­hör ver­schaf­fen kann und die Ge­duld ver­liert, er­fasst den Frei­herrn von rück­wärts bei den Rock­schö­ßen und zieht, was nur das Zeug und Fut­ter hal­ten will. –

»Sie! … Sie! … jun­ger Mann … müs­sen wir etwa die Ker­le hier be­zah­len? Be­zah­len, fra­ge ich? I, da soll­te doch gleich! ei da woll­te ich Sie doch gleich!« … und in höchs­ter Al­te­ra­ti­on lässt sie Herrn von Nenn­der­scheidt, wel­cher fest steht wie ein Baum und sich nur ganz ver­wun­dert nach der Ur­sa­che sei­ner äch­zen­den Rock­näh­te um­schaut, fah­ren und hält laut auf­schrei­end bei­de Hän­de vor die Ohren. Der Trom­pe­ter hat­te näm­lich, dicht ne­ben ihr ste­hend, mit vol­ler Kraft­auf­wen­dung sei­ne Fan­fa­re los­ge­schmet­tert, und das nicht etwa aus Ran­cu­ne ge­gen zar­te Ner­ven, son­dern le­dig­lich aus Pf­licht­ge­fühl, – die zwei Mi­nu­ten Pau­se wa­ren um. –

Oli­vi­er er­kann­te mit Ent­zücken sei­ne Freun­din Kör­be­ritz, tat noch einen letz­ten Schlag auf die Pau­ke und streck­te der Frau Ritt­meis­ter als­dann bei­de Hän­de ent­ge­gen. Nach­dem er ihr auf Ehren­wort ver­si­chert hat­te, dass er als ga­lan­ter Ca­va­lier ganz selbst­ver­ständ­lich alle Kos­ten die­ses Ständ­chens al­lein tra­ge, hat­te er auch die Ge­nug­tu­ung, dass sie huld­vollst in die­se bei­den Hän­de ein­schlug und ihn einen »ganz char­man­ten klei­nen Schelm« nann­te. –

Im Tri­umph wur­de der spä­te Be­such in das Schloss ge­führt und die Obe­rin emp­fing ihn auf der Schwel­le und ge­stat­te­te voll freund­li­chen Erns­tes, dass Nenn­der­scheidt ihre Hand re­spekt­voll an die Lip­pen zog. Sie dank­te mit hei­te­rem Lä­cheln für die lie­bens­wür­di­ge Auf­merk­sam­keit, wel­che sie sämmt­lich in ho­hem Gra­de über­rascht habe; aus die­sem Grun­de möge er die all­ge­mei­ne Con­fu­si­on und Auf­re­gung freund­lichst ent­schul­di­gen. Als­dann gab sie Auf­trag, die Mu­si­kan­ten in die große Vor­hal­le zu ru­fen, und be­gab sich per­sön­lich in die Kü­che hin­ab, um der Dör­te die Zuta­ten zu ei­nem kräf­ti­gen Eier­bier ein­zu­hän­di­gen. Nenn­der­scheidt aber be­fahl sei­nen Künst­lern, ihr Bes­tes zu leis­ten, und ver­si­cher­te als­dann der höch­lichst ani­mier­ten Da­men­schar, heu­te müs­se noch ein ganz sty­l­vol­ler Wal­zer ge­tanzt wer­den. – eher wür­de er das Feld nicht räu­men. Als er sich um­schau­te, sah er eine schlan­ke Mäd­chen­ge­stalt schüch­tern an der Türe ste­hen. Er kniff die Au­gen zu­sam­men und trat einen Schritt nä­her. Es war Ma­rie-Lui­se. Sie hat­te das schwar­ze Staats­kleid ab­ge­legt und ein sehr schlich­tes grau­es »Non­nen­ge­wand« an­ge­zo­gen, wel­ches ihr aber, trotz sei­ner tala­r­ar­ti­gen Façon ein bes­se­res An­se­hen gab; auch die wei­ße Hau­be hat­te sie wie­der sorg­lich in die Ko­mo­de ge­bet­tet, und zum ers­ten Mal sah er das schma­le, zar­te Ge­sicht­chen, um wel­ches sich das Haar glatt­ge­schei­telt, aber in un­end­lich alt­mo­di­scher Fri­sur leg­te. Er nick­te ihr fröh­lich zu und reich­te ihr die Hand: »Na, Fräu­lein Lui­schen, sind Sie zu­frie­den mit mir?« –

Mit ei­nem ganz ei­gen­ar­tig war­mem Auf­leuch­ten blick­ten die dunklen Au­gen zu ihm em­por: »Ich habe Mu­sik so sehr gern!« sag­te sie lei­se. –

»Das freut mich! – freut mich weiß Gott von Her­zen! Se­hen Sie, Com­teß­chen, es gibt fak­tisch kei­nen grö­ßern Spaß für mich, als wenn ich Je­mand eine Freu­de ma­chen will, und die Leu­te ha­ben dann auch wirk­lich ihr Ver­gnü­gen dar­an! – Also nun mal fröh­lich und gu­ter Din­ge sein! Sie sol­len heu­te sämmt­lich ver­ges­sen, dass Hersa­brunn das lang­wei­ligs­te Nest im gan­zen Deut­schen Rei­che ist!« Das jun­ge Mäd­chen blick­te zu ihm auf, wie ver­klärt. Oli­vi­er sah es ihr an, dass sie mit sich kämpf­te, ihm ein paar Wor­te zu er­wi­dern, – plötz­lich aber stieg glü­hen­de Röte in ihr Ge­sicht­chen, sie neig­te wie jäh er­schro­cken das Haupt und trat dann, wie er­löst aus quä­len­der Si­tua­ti­on, has­tig der Obe­rin ent­ge­gen, wel­che mit ei­nem Ta­fel­tuch auf dem Arme in den Saal trat. – Die Da­men um­ring­ten ih­ren so köst­lich amüsan­ten Gast mit tau­send ju­beln­den Fra­gen und Zu­ru­fen, und die­weil Hersa­brunn vor Über­mut und Glück­se­lig­keit schier auf den Kopf ge­stellt wur­de, wal­te­te Ma­rie-Lui­se still und be­schei­den an dem Tisch, stell­te Glä­ser auf und füll­te sie mit dem duf­ten­den Wür­ze­bier. – Ihr Blick flog wohl öf­ters zu dem blon­den Mann, mit dem lus­ti­gen Ge­sicht und der schö­nen, vor­neh­men Ge­stalt her­über, sie dank­te ihm auch hei­ßer­glü­hend, da er mit sei­nem Gla­se zu ihr trat, um an­zu­sto­ßen; als aber Tisch und Stüh­le bei Sei­te ge­scho­ben wur­den, um »Bahn frei!« für’s Tan­zen zu schaf­fen, da ver­steck­te sie sich schüch­tern hin­ter der Obe­rin, wel­che kopf­schüt­telnd, aber mit nach­sich­ti­gem Lä­cheln dem fröh­li­chen Trei­ben zu­sah. Das En­ga­ge­ment Nenn­der­scheid­t’s zur »Er­öff­nungs-Po­lo­nai­se« lehn­te die­se dank­bar ab und sah es sel­ber mit in­ni­gem Er­göt­zen an, wie die »er­ge­be­ne Kör­be­ritz« tri­um­phie­rend den ein­zi­gen Tän­zer be­schlag­nahm­te. Die Mu­sik spiel­te: »Und als der Groß­va­ter die Groß­mut­ter nahm«, und in über­mü­ti­ger Wei­se die gute, alte Sit­te per­si­flie­rend, tän­zel­te der Frei­herr in gra­zi­ösen Pas vor dem sich sehr ge­räusch­voll ord­nen­den Zug der Da­men her. Die Frau Ritt­meis­te­rin, wel­che noch in der vol­len Gala des Nach­mit­tags prang­te, leg­te die Pelz­ja­cke ab und trip­pel­te voll fie­bern­der Auf­re­gung ne­ben dem rie­sen­haf­ten Tän­zer ein­her, an des­sen Arme sie wie ein ver­lo­re­ner Pom­pa­dour hing. Sie er­klär­te aber mit bos­haf­ter Scha­den­freu­de, dass sie ent­schie­den die Jüngs­te und Schöns­te von Al­len sei, und dass er ihr nur ge­trost den Hof ma­chen möge; sie ge­ni­re sich ab­so­lut nicht um die an­dern, nei­di­schen Gift­spin­nen! –

Aufs Zier­lichs­te wip­pend und hüp­fend, schlän­gel­te sich die Po­lo­nai­se durch den Saal, und die Obe­rin sag­te lei­se zu Ma­rie-Lui­se: »Ein ganz ab­son­der­li­cher Mensch, die­ser Herr von Nenn­der­scheidt. – an­fäng­lich hat­te ich den Soupçon, er wol­le sich über mei­ne gute, alte He­er­de lus­tig ma­chen, wenn man aber in sei­ne ehr­li­chen, blau­en Au­gen sieht, die vor Freu­de und Spaß wahr­haft Fun­ken blit­zen, dann weiß man, dass er tat­säch­lich nichts An­de­res bezweckt, als Ver­gnü­gen zu be­rei­ten und mit fröh­li­chen Men­schen fröh­lich zu sein!«

Ma­rie-Lui­se nick­te has­tig. »Ich glau­be, dass er ein sehr bra­ver Mensch ist!« –

Mit strah­len­den Au­gen schau­te sie dem Tan­ze zu, bis sie be­merk­te, dass Oli­vi­er’s Blick sie such­te, und dass er auf sie zu­schrei­ten woll­te, sie zu ei­nem Wal­zer zu en­ga­gie­ren. – Da gings wie ein Zit­tern durch ihre Glie­der, und sie stürm­te da­von, sich vor ihm zu ver­ste­cken. – Auf lei­sen Soh­len ent­floh sie durch den Cor­ri­dor, die Trep­pe hin­ab in das Sou­ter­rain. An der of­fe­nen Kü­chen­tür blieb sie über­rascht ste­hen und schau­te auf das när­ri­sche Bild, wel­ches sich ihr dar­bot. – Dör­te hat­te eine wei­ße Schür­ze vor­ge­bun­den und schwang sich in dröh­nen­den Holz­schu­hen mit dem al­ten Con­rad im Tan­ze! – Dem war das Eier­bier in den grau­en Kopf ge­stie­gen. Er hat­te die Strumpf­kap­pe ver­we­gen auf dem lin­ken Ohr und sprang laut jauch­zend mit stei­fen Bei­nen und in wun­der­sam gro­tes­ker Wei­se um die di­cke Dör­te, wel­che sich wie ein Krei­sel um die ei­ge­ne Ach­se dreh­te. Im Kes­sel aber bro­del­te es und schoss schäu­mend über – – und die Trom­pe­te schmet­ter­te, und die Flö­ten klan­gen: »Freut Euch des Le­bens, so lang noch das Lämp­chen glüht!«

Drittes Kapitel

Wenn’s ir­gend auf dem Er­den­rund Ein un­ent­weih­tes Plätz­chen gibt, So ist’s ein jun­ges Men­schen­herz, Das fromm zum ers­ten Male liebt.

Gei­bel

In dem Ess­saal hat­ten die Rund­tän­ze nicht so recht zur Per­fek­ti­on kom­men kön­nen. Die meis­ten Da­men klag­ten über arge Hit­ze, über Schwin­del und Herz­klop­fen und wa­ren durch­aus nicht da­mit ein­ver­stan­den, dass ihre jüngs­ten Ge­fähr­tin­nen Rö­schen und Eri­ka sich ganz al­lein in schmach­ten­dem Wal­zer mit dem cher ba­ron wie­gen soll­ten. Es wur­den un­un­ter­bro­che­ne Po­lo­nai­sen auf­ge­führt, und auf den et­was ei­gen­sin­ni­gen Wunsch der Frau von Kör­be­ritz so­gar ein Me­nuet pro­birt. – Die Mei­nun­gen wur­den im­mer ver­schie­den­ar­ti­ger und die Span­nung zwi­schen ein­zel­nen Fräu­leins im­mer grö­ßer, bis Nenn­der­scheidt schließ­lich zu all­ge­mei­nem Bei­fall einen sanf­ten »schwar­zen Pe­ter« zur Ab­küh­lung vor­schlug. – Er hat­te ver­schie­dent­lich nach Ma­rie-Lui­se ge­fragt und zur Ant­wort er­hal­ten: Das »Kind« sei ge­wiss schon zu Bett ge­gan­gen, – mor­gen sol­le der klei­ne See ge­fischt wer­den, und da müs­se sie sehr früh her­aus, um die Obe­rin in den ers­ten bei­den Stun­den, wo die­sel­be nicht im Hau­se ab­kömm­lich sei, zu ver­tre­ten. –

Trotz­dem trat Grä­fin Herff nach ei­ni­ger Zeit wie­der in das Zim­mer, um, auf den Stuhl der Ritt­meis­te­rin ge­lehnt, dem Spiel mit leb­haf­tes­tem In­ter­es­se zu­zu­schau­en. Oli­vi­er be­merk­te, dass sie ihm jetzt frei­er in das Auge schaue, wie zu­vor, und voll lie­bens­wür­di­ger Auf­merk­sam­keit als Wir­tin am Ti­sche wal­te­te. Es schi­en ganz selbst­ver­ständ­lich, dass sie fast sämmt­li­che Da­men be­dien­te, dass sie her­zu­hol­te, was fehl­te, und fort­räum­te, was über­flüs­sig war. – Still und be­schei­den, grau und laut­los wie ein Schat­ten ging sie ab und zu, und da Oli­vi­er ihre Hand, wel­che ihm aber­mals das Glas füll­te, fest­hielt, um nach­zu­se­hen, ob der Kaf­fee wirk­lich Brand­fle­cke hin­ter­las­sen habe, da lach­te sie ihm zum ers­ten Male fast schel­misch ent­ge­gen. – Ihr Blick aber leuch­te­te auf in un­end­li­cher Dank­bar­keit, – war sie es doch so gar nicht ge­wohnt, dass eine Men­schen­see­le An­teil dar­an nahm, ob sie Schmer­zen litt oder nicht, dass man sich da­für in­ter­es­sier­te, ob es ihr gut oder schlecht gehe, die Obe­rin aus­ge­nom­men, wel­che ja für sie sorg­te wie eine Mut­ter. Aber die hat­te zu viel zu tun, um alle klei­nen Mi­se­ren be­ob­ach­ten zu kön­nen, und Ma­rie-Lui­se klag­te nie. Un­ter schal­len­dem Ju­bel be­kam Fräu­lein Rö­schen einen Schnurr­bart ge­malt, und glei­cher­zeit öff­ne­te die alte Turm­uhr den Mund und rief der un­so­li­den Ge­sell­schaft drun­ten im Schlos­se zu, dass es über all dem Lärm und Spek­ta­kel be­reits Mit­ter­nacht ge­wor­den sei. –

Die Ge­wohn­heit ist eine un­er­bitt­li­che Ty­ran­nin. So herr­lich sich die al­ten Da­men auch amü­sier­ten, so sau­er wur­de es ih­nen schließ­lich doch, das Gäh­nen zu un­ter­drücken, und Oli­vi­er hat­te den heim­lich bit­ten­den Wink der Obe­rin schließ­lich ver­stan­den und die Mu­si­kan­ten ent­las­sen. – Noch einen schmet­tern­den Tusch und joh­len­des »Vi­vat hoch!« – und dann stol­per­ten sie über den Kies­platz nach dem Wä­gel­chen zu­rück. Der Spitz kläff­te ih­nen ent­ge­gen, und das Schim­mel­chen ward los­ge­bun­den und setz­te sich re­si­gniert in Trapp, – lan­ge noch hall­ten sei­ne Ei­sen von der gra­bes­s­til­len, har­ten Land­stra­ße zu­rück. –

Auch Oli­vi­er ver­ab­schie­de­te sich. »Apro­pos … wo liegt denn ei­gent­lich das Dorf, und wie heißt die Schen­ke, in wel­cher ich über­nach­ten kann?« frag­te er zu gu­ter Letzt, als die Dan­ke­ser­güs­se und Le­be­wohls et­was er­mat­te­ter über ihn her­stürm­ten. »Dorf? … Schen­ke?« – Al­les horch­te hoch auf, und die Obe­rin trat ganz be­trof­fen einen Schritt nä­her und frag­te: »Sie ha­ben doch hof­fent­lich Ihre Equi­pa­ge her­be­stellt. Herr von Nenn­der­scheidt?«

»Na­tür­lich – für Mor­gen Mit­tag. Ich fin­de es ganz amüsant, mal in ei­nem Bau­ern­bet­te zu kam­pie­ren, und wenn nicht ge­ra­de die Groß­mut­ter vor zwei Stun­den an den schwar­zen Po­cken in dem­sel­ben ge­stor­ben ist, dann ge­den­ke ich sehr sanft dar­in zu ru­hen!«

»Aber um Got­tes Wil­len … es exis­tiert we­der Dorf noch Gast­haus auf eine Stun­de Um­kreis, Herr Baron!« schlug die Stifts­vor­ste­he­rin wahr­haft ent­setzt die Hän­de zu­sam­men. »Hersa­brunn liegt ja völ­lig iso­liert, und das nächs­te Vor­werk selbst kann erst in halb­stün­di­gem Marsch er­reicht wer­den!«

»Hei­li­ges Neun­don­ner­wet­ter!!« – Oli­vi­er stemm­te die Hän­de in die Sei­ten und bog sich in schal­len­dem Ge­läch­ter –: »Na, dann kann die Sa­che ja noch ganz spaß­haft wer­den! Vi­el­leicht ha­ben Sie die Güte, mir einen Strick zu lei­hen, gnä­digs­te Frau, da­mit ich mich bis mor­gen früh am Gar­de­ro­be­hal­ter auf­hän­gen kann?!« –

Stür­mi­sche Auf­re­gung; selbst die schläf­rigs­ten Da­men wur­den wie­der voll­stän­dig mun­ter.

»Sie müs­sen hier lo­gie­ren! … selbst­ver­ständ­lich! Sie kön­nen doch un­mög­lich in Nacht und Ne­bel hin­aus! – Ach und die Mu­si­kan­ten sind auch schon ab­ge­fah­ren! – Aber wo­hin mit ihm? Frau Obe­rin! … teu­ers­te Frau Obe­rin, wo quar­tie­ren wir den Baron ein?« –

Wie ein Ha­gel­schau­er her­nie­der­pras­selt, schwirr­ten die Stim­men, sich über­schrei­end in al­len Klang­fär­bun­gen durch­ein­an­der, und Nenn­der­scheidt stand und über­schau­te die er­reg­te Sze­ne, wie Ei­ner, wel­cher voll Über­mut in einen Amei­sen­hau­fen sticht und sich des Wirr­warrs freut, wel­chen er an­ge­rich­tet. Die Obe­rin sah un­ter all den la­chen­den Ge­sich­tern merk­wür­dig ernst aus. Se­kun­den­lang grub sich eine fei­ne Fal­te zwi­schen ihre Au­gen­brau­en, dann hob sie ent­schlos­sen den Kopf: »Ich sehe kei­ne an­de­re Mög­lich­keit, Herrn von Nenn­der­scheidt un­ter Dach und Fach zu brin­gen, als die, ihn hier zu be­hal­ten. In dem Schlos­se sel­ber je­doch kann und darf ich kei­nen Gast auf­neh­men und muss da­her sehr um Ver­zei­hung bit­ten, wenn mein Un­ter­schlupf et­was pri­mi­ti­ver Na­tur sein wird. – Das Gärt­ner­stüb­chen ist groß ge­nug, um noch ein Bett stel­len zu kön­nen, und der alte Con­rad muss wohl oder übel als Stu­ben­ka­me­rad mit in den Kauf ge­nom­men wer­den –.«

»Aber Frau Obe­rin –.« rümpf­te Fräu­lein von Geu­der­heim die Nase … »Das ist ja eine ent­setz­li­che Zu­mu­tung … wie kann Herr von Nenn­der­scheidt in sol­cher Ge­sell­schaft und in solch ei­ner Be­dien­ten­stu­be exis­tie­ren!!« –

»Ja wis­sen Sie bes­sern Rat, Eri­ka?« Die Obe­rin zuck­te die Ach­seln. –

Lau­te De­bat­te, die ver­we­gens­ten Vor­schlä­ge. Oli­vi­er fin­det die Idee mit der Gärt­ner­stu­be ganz ko­los­sal amüsant. –

Ma­rie-Lui­se be­rührt lei­se den Arm der Obe­rin. »Wir könn­ten ja Herrn von Nenn­der­scheidt in der al­ten Ke­gel­bahn un­ter­brin­gen« – flüs­tert sie. »Staub und Spinn­we­ben gib­t’s al­ler­dings ge­nug, aber er hat doch einen Raum für sich al­lein!«

Ju­beln­des Ge­läch­ter. »Vor­treff­lich! … aus­ge­zeich­net! in die alte Ke­gel­bahn! Die ist ja ganz nah hier im Gar­ten und nur we­ni­ge Schrit­te von der Gärt­ner­stu­be ent­fernt, – im Not­fall kön­nen Sie Con­rad ru­fen, falls Sie et­was wün­schen soll­ten!« –

Oli­vi­er ist ent­zückt und ver­si­chert, dass ein Nacht­quar­tier in der Ke­gel­bahn zu sei­nen ori­gi­nells­ten Me­moi­ren zäh­len wer­de! –

»Aber fürch­ten Sie sich auch nicht? Die Türe schließt näm­lich kaum noch in den Pfos­ten, ge­schwei­ge in Schloss und Rie­gel!« haucht Fräu­lein Rö­schen so naiv wie mög­lich, macht angst­voll große Au­gen und legt den Fin­ger an den Mund.

Der Frei­herr zieht mit düs­te­rer Ban­di­ten­mi­mik ein Juch­te­ne­tui aus der Brust­ta­sche, öff­net es und nimmt einen Re­vol­ver her­aus. – »Ist nichts auch mein, als Büch­se, Schwert und Roß, sind die Mäd­chen doch stets dem Jä­ger hold!« – singt er, die­weil die Da­men laut schrei­end beim An­blick der Waf­fe aus­ein­an­der­stie­ben. »Das Nacht­la­ger von Gra­na­da – Hersa­brunn, mei­ne Gnä­digs­ten, wer weiß, was für Kämp­fe ich noch zu be­ste­hen habe!«

Die Obe­rin, Ma­rie-Lui­se und Dör­te be­ge­ben sich in die Ke­gel­bahn, so gut es geht, ein La­ger her­zu­rich­ten. – Con­rad leuch­tet mit der La­ter­ne. Alt und bau­fäl­lig ist der lan­ge Jah­re un­be­nutzt ste­hen­de Raum. Mör­tel und Kalk sind von den Wän­den ge­fal­len, in den Ecken la­gern Blu­men­töp­fe, auf­ge­schüt­te­te Gar­ten­er­de, Sä­me­rei­en und Gerä­te. – Die Fens­ter­schei­ben sind blind und zer­bro­chen, teil­wei­se ver­klebt. Dör­te ver­sucht mit ge­wal­ti­gem Be­sen et­was Ord­nung und Sau­ber­keit zu schaf­fen, schlürft in den Holz­schu­hen laut la­chend und schwa­dro­nie­rend über die mor­schen Die­len und jagt ein paar alte Ke­gel­ku­geln die Bahn hin­ab. Wie Donn­er­rol­len kling­t’s. Con­rad und Ma­rie-Lui­se rich­ten die ei­ser­ne Bett­stel­le auf, und da der Alte in Eier­bier se­li­ger Stim­mung mehr dazu neigt, mit Dör­te Ke­gel zu schie­ben, so lässt Grä­fin Herff ihn lä­chelnd ge­wäh­ren und brei­tet still und be­hän­de die wei­ßen Lin­nen über die Kis­sen. – Es ist ja heu­te Al­les au­ßer Rand und Band in Hersa­brunn, – mö­gen die bei­den Al­ten da auch ihr Späß­chen ha­ben und mit krä­hen­dem Ge­läch­ter Ju­pi­ter, dem Donner­gott ins Hand­werk pfu­schen. End­lich ist das im­pro­vi­sier­te Lo­gir­zim­mer her­ge­rich­tet, und Dör­te schlägt die Hän­de zu­sam­men über das pfif­fi­ge Kom­teß­chen, wel­ches in al­ler Eile so­gar Vor­hän­ge aus zwei wei­ßen Schür­zen vor das Fens­ter ge­hängt hat. –

Im Tri­umph wird Nenn­der­scheidt von der gan­zen Ge­sell­schaft bis zur Türe der al­ten »Bur­grui­ne« ge­lei­tet und als Prinz-Re­gent aus dem zahn­lo­sen Mun­de der Frau von Kör­be­ritz an­de­kla­miert. »Und ein ru­hi­ges Ge­wis­sen – ist ein sanf­tes Ru­he­kis­sen –.«

Es dau­ert lang, bis er alle Hän­de zum Gute-Nacht ge­schüt­telt, bis sich der Tu­mult ge­legt und die höch­lichst ani­mier­te Da­men­schar sich rück­wärts kon­zen­triert. –

End­lich wird’s still über Hersa­brunn. Die Lich­ter ver­lö­schen, – groß und glän­zend schwebt der Mond über den dunklen Lin­den­wip­feln.

Plötz­lich … horch … ein Schuss! … und aber­mals ei­ner, – schau­er­lich krachts durch die ein­sa­me Nacht.

Von Neu­em Auf­re­gung und lau­ter Lärm im Schloss. Die Lich­ter fla­ckern wie­der auf. – Tü­ren schla­gen – in den wun­der­lichs­ten Ko­stü­men, gleich Ge­s­pens­tern der Nacht lau­fen die Da­men auf den Cor­ri­do­ren zu­sam­men, angst­voll fra­gend, ver­mu­tend, – schrei­end. – An die Hau­stü­re klopft es. – Al­les stürmt an die Fens­ter. –

»Ich bin’s, gnä­di­ge Fräu­leins … der Con­rad!«

»All­mäch­ti­ger Gott … was ist ge­sche­hen? ein Un­glück? ein Mord?« – ze­tert es von oben.

»Nee, nee. – gar nischt der­glei­chen!« trös­tet es von un­ten, die­weil Mond und La­ter­ne die ge­spens­ti­sche Er­schei­nung des Nacht­wan­deln­den gar grau­sig matt be­leuch­ten, »ich dach­te ja och zu­erscht, es müss­te sich Ee­ner in Blu­te wäl­zen, aber wie ich dann Kou­ra­ge krieg­te und beim Baro­ne an­poch­te, da rief er mir zu –: Ist Al­les in schöns­ter Ord­nung, Al­ter, – ich schie­ße bloß das Licht aus und tref­fe es ver­damm­ter Wei­se nicht!« –

»Das Licht aus­schie­ßen?!« …

»Ja, gnä­di­ge Fräu­leins! Ich habe so ’was och mein Le­ben­lang noch nicht ge­se­hen! Wie ich die Türe so ein bi­schen öff­ne und her­ein schie­le, da sit­zen der Herr Baron auf­recht im Bet­te und zielt nach dem Lich­te, wel­ches ganz un­ten in der Ke­gel­bahn steht, und glei­cher­zeit geht es wie­der – bumm – und … dun­kel ist’s: – ›Ha­ha­ha! … jetzt hat die Schnup­pe dran glau­ben müs­sen!‹ lacht der Jun­ker, und dann sagt er sehr freund­lich: ›Na gute Nacht, Zip­pel­kap­pen­mus­jö! leg’ Er sich auf­’s Ohr, und träu­me Er von Ham­mels­würs­ten!‹ – ›Schön Dank, Gnä­di­ger Herr‹ – ant­wor­te ich. ›wün­sche wohl zu ru­hen!‹ und dann troll­te ich mich schnell hier­her, um den Da­men zu sa­gen, dass Sie sich man ja nich ängs­ti­gen sol­len, von we­gen das Ge­schie­ße!« –

Lau­tes Ge­läch­ter; – die wei­ßen Nacht­hau­ben in den Fens­tern ver­schwin­den, und Con­rad schlurft auf sei­nen Filz­pan­tof­feln, so schnell ihn die krum­men Kniee tra­gen, über den Kies­weg zu­rück. –

Dann ist und bleibt es still in Hersa­brunn. Der Nacht­wind streicht um Turm und Gie­bel, und die al­ten Lin­den schüt­teln sin­nend das Haupt, – – wie lang ist’s her, dass solch lus­tig Le­ben hier pul­sirt, dass die Sporns­tie­feln ei­nes flot­ten Jun­kers das Moos auf den Trep­pen­stu­fen zer­tre­ten? … wie ein Traum aus fer­nen, fer­nen Ta­gen, da noch der Hof­staat der Mark­grä­fin­nen auf Stö­ckel­schu­hen hier ein­her­ge­stelzt, zieht es durch die lau­bi­gen Wip­fel.