Der Weise vom Mont Aubert - Wolf-Dieter Storl - E-Book

Der Weise vom Mont Aubert E-Book

Wolf-Dieter Storl

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Beschreibung

Immer wieder taucht in Wolf-Dieter Storls Büchern eine mysteriöse Gestalt auf – Arthur Hermes. Um wen es sich dabei handelt, was er lehrte und welchen Einfluss er auf den Pflanzenweisen aus dem Allgäu hatte, erfährt man in diesem Buch. Storls Erinnerungen an seinen Lehrmeister führen in die Welt der Bauern, des traditionellen Landvolkes, dessen Wissen über den Umgang mit Tieren und Pflanzen uralt ist. Ihr Leben war geprägt von der unsichtbaren energetischen (ätherischen), seelischen und spirituellen Umwelt. Und in dieser Welt lebte der »Bauernphilosoph« Hermes. In den 1950er-Jahren vermochte er Bäuerinnen und Bauern von der biodynamischen Landwirtschaft zu überzeugen, auf die viele der heutigen Demeter-Betriebe zurückgehen. Dass es in der Schweiz gegenwärtig über 7000 Bio-Höfe gibt, ist zum Teil diesem fast vergessenen Pionier zu verdanken. Ein Buch über eine Zeit des Aufbruchs und eine herausragende Persönlichkeit, die für das Leben des berühmten Autors Storl prägend war.

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Wolf Dieter Storl

DER WEISEVOM MONT AUBERT

Erinnerungen an Arthur Hermes

Ein Leben im Einklang mit der Natur

INHALT

Vorwort

Der Druide

Ton kneten, Puppen nähen, mit Wasserfarben malen

Planeten im Kochtopf

Verführer der Jugend

Der archetypische Weihnachtsmann

Der Einsiedlerhof im Waadtland

Rosen und Flieder

Künstlerwerkstatt

Der kleine Bruder des Todes

Zeiträume und Planetenkräfte

Jeder Tag ein Götterreich

Essen im Jahreskreislauf

Im Frühling Leckeres aus Wiese, Wald und Acker

Nützliche »Unkräuter« aus dem Garten

Kulinarischer Jahreskreis

Pilze und Nachtschattengewächse

Brotgetreide

Schollentreue

Helfende Elementarwesen

Sonne und Mond, Feuer und Wasser

Salz

Die ganze Pflanze essen

Sonnen- und Mondenprozesse

Wärmequellen

Wasser

Am gemütlichen Esstisch

Gartenarbeit

Komposte, Gülle und Brennnesseljauche

Ameisen und andere Helfer

Nacktschnecken

Pflanzen sind zukünftige Menschen

Wetterbeobachtungen und Bodentests

Den eigenen Sinnen vertrauen

Zwiebelorakel in den Raunächten

Menschen sind fürs Wetter verantwortlich

Anzeigerpflanzen und kosmische Zeitimpulse

Alte Sorten erhalten

Tageslauf: Kaffeegespräche und Abendunterhaltung

Der Kaffee-Schamane

Wurzelkraft

Die Schädlichkeit des Duschens

Weintrinken

Männlein und Weiblein

Bauernränke und Rätsel

Was die Zukunft bringen wird

Politische Kommentare

Vorhersagen und Weissagungen

»Die Menschen werden am vollen Tisch verhungern«

Gesundheit

Die Gaben der Planeten

Himmelsleiter und Schamanenbaum

Schicksal und soziale Prägung

Lebensaufgaben und Dharma

Übungen

Haidfried

Kind der Heide

Schweizer Bauern machen Hermes ein Angebot

Wasserknappheit

Besuch in Dornach

Wo Licht, da Schatten

Bedingungslos verliebt

Ein Mann hat kein Karma mit seinen Kindern

Der Geist der Megalith-Zeit

Bedeutung des Namens Hermes

Rückkehr in die wirkliche Welt

Ein Emmentaler Bauernhof

Den Hof übernehmen

Alles verzehrt die Zeit

Nachwort

Danksagung

Literatur

»Manches Gute und Nützliche wird vom Sandwehen des Tages zugedeckt, kommt aber, wie Bernstein, doch wieder einmal zum Vorschein.«

Johann Wolfgang von Goethe

VORWORT

Den »Bauernphilosophen« Arthur Hermes habe ich in meinen Büchern immer wieder mal erwähnt. Im Leben hat man mehrere Lehrmeister oder Gurus, die man verehrt und die einem das Rüstzeug geben, das man für das Leben braucht. Arthur Hermes war für mich einer von ihnen. Oft wurde ich gefragt, ob ich etwas mehr über diesen »alten Weisen«, der im Schweizer Jura lebte, erzählen könne. Die Naturverbundenheit dieses Landmenschen, der beispielsweise mit seinen Kühen telepathisch kommunizieren konnte, beeindruckte mich. Das war etwas anderes als die seelisch kalte, »objektive« Herangehensweise der experimentalen Wissenschaft, die mir in der Schule und an der Universität begegnet war. Über sein bewegtes Leben und seine Einsichten – die er oft in ein anthroposophisches Vokabular kleidete – will ich hier erzählen.

Die Welt, aus der Arthur Hermes kam und in der er lebte, ist dem modernen, urbanen, vielgereisten, digitalisierten Zeitgenossen weitgehend fremd. Oft fremder als manche exotische Kultur, in die er heutzutage in den Urlaub düst. Es ist die Welt der Bauern, des traditionellen Landvolkes, das mit der Erdscholle verwachsen ist und dessen Wissen über den Umgang mit den Haustieren und den Ackerpflanzen anspruchsvoller ist, als manch einer es sich vorstellt. Die Wurzeln des bäuerlichen Könnens liegen tief. Sie haben sich über die Jahrtausende hinweg, seit der indigenen europäischen Megalithkultur entwickelt. Von Generation zu Generation wurde weitervermittelt, wie man den Boden pflügt, wie man sät, erntet und Viehzucht betreibt. Diese Dinge sind nicht so einfach, wie es sich manch idealistischer Städter vorstellt, der aufs Land zieht und sein Leben mit alternativer Landwirtschaft bestreiten will. Von wegen »dumme Bauern«! Wer kann heute noch eine Kuh von Hand melken, mit einem Ross den Acker pflügen, die Sense führen und gar deren Blatt dengeln?

Das Leben der Bauern war nicht nur praktisches, handwerkliches Können, sondern es war eingebunden in ein Verständnis und Erkennen der unsichtbaren energetischen (ätherischen), seelischen und spirituellen Umwelt, die wiederum in Bildern und Imaginationen gefasst wurde, die sich auf keltisch-germanisch-heidnische sowie christliche Vorstellungen zurückverfolgen lassen. Das Wissen, wie man mit den Wesen der unsichtbaren Welt – den Zwergen, Naturgeistern, Alben, Waldteufeln, Elfen – umzugehen hatte, war wichtiger Bestandteil dieses bäuerlichen Lebens.

Obwohl es zeitlich gar nicht so lange her ist, ist die bäuerliche Lebensweise für uns moderne Menschen recht fern und schwindet rapide aus unserem Bewusstsein. Zurzeit erleben wir ein Bauernsterben. In der Schweiz wurden in den letzten zehn Jahren jährlich eintausend Höfe dichtgemacht; das sind drei pro Tag. In Deutschland gab es 1950 anderthalb Millionen bäuerliche Betriebe, heute sind es noch 260 000. In den USA gab es in den Fünfzigerjahren noch sieben Millionen Familienfarms; nur 250 000 sind übriggeblieben, davon entweder riesige, managergeführte Agrargroßbetriebe oder kleine Wochenend-Farms. Als Junge konnte ich erleben, wie im ländlichen Ohio, wo ich aufwuchs, eine Farm nach der anderen verlassen wurde; die einst stattlichen Höfe verfielen oder wurden abgerissen. Get big or get out (»Vergrößert euch oder verschwindet«) war die Botschaft des US-Landwirtschaftsministeriums an die Farmer. Heute kaufen internationale Großkonzerne, »Heuschrecken« (internationale Finanzinvestoren) und Länder wie China und Saudi-Arabien weltweit Millionen von Hektar Ackerflächen. Nur als Beispiele: Drei internationale Konzerne – Cargill, DuPont und Monsanto – besitzen inzwischen die Hälfte der fruchtbaren Schwarzböden-Ackerflächen der Ukraine; im Jahr 2015 kaufte China eine halbe Million Hektar Bauernland in Norddeutschland. Und Bill Gates, der groß ins Geschäft der Saatgutproduktion, genetisch veränderten Pflanzen und Tiere sowie synthetischen Lebensmittel eingestiegen ist, ist inzwischen der größte Eigentümer von Farmland in den USA; er besitzt rund 100 000 Hektar (242 000 Acres). Solche Flächen werden selbstverständlich nicht nachhaltig, biologisch bewirtschaftet. Immer öfter sind computergesteuerte Roboter die Landarbeiter. Man spricht auch von »vertikalem Farming« in Hallen, die wie städtische Autoparkanlagen übereinandergestapelt sind und wo genetisch »verbesserte« Nutzpflanzen unter künstlichem Licht und in ausgeklügelten Nährlösungen aufgezogen werden – ohne Verbindung zur Sonne und ohne Erde.

Der Autor beim Menhir, unter dem Arthur Hermes bestattet wurde.

Man mag dazu stehen, wie man will: Manche sehen darin den Fortschritt, einen Reset, der uns in ein goldenes Zeitalter führen wird. Andere dagegen erkennen in diesen Entwicklungen eine Gefahr für die Menschen und die Natur.

Auf jeden Fall lebte Arthur Hermes, der »alte Weise« vom Waadtländer Jura, in der altüberlieferten bäuerlichen Welt, die heute immer mehr in Vergessenheit gerät. Er verkörperte diese geradezu. Er stemmte sich zeitlebens gegen das, was er auf die Menschheit und auf die Natur zukommen sah. Er setzte sich für eine naturfreundliche, biologische Landwirtschaft ein.

Wegen seines tiefgründigen bäuerlichen Wissens luden ihn Schweizer Bauern zu sich ein. Und da er Praktiker und nicht nur Theoretiker war, vermochte er alteingesessene Hofbesitzer von der biodynamischen Landwirtschaft zu überzeugen. Um die sechzig Bauern und Bäuerinnen folgten damals in den Fünfzigerjahren seinen Lehren; viele der heutigen Demeter-Betriebe gehen darauf zurück. Inzwischen gibt es der Schweiz 6400 Bauernhöfe, die biologisch wirtschaften – nicht unbedingt alle biodynamisch –, und es werden immer mehr. Diese Entwicklung ist zum Teil dem fast vergessenen Pionier Arthur Hermes zu verdanken. In diesem Buch wollen wir in seine Welt eintauchen.

»Eine Idee ist erst gut, die sich in der Praxis bewährt.«

Arthur Hermes

DER DRUIDE

Im Winter 1972/73 bin ich dem alten »Druiden« namens Arthur Hermes zum ersten Mal begegnet. Ich war damals ein als Gärtner getarnter ethnologischer Feldforscher, der seine Untersuchungen in einer Dorfgemeinschaft im Rhone-Tal südlich von Genf machte. Es war kein herkömmliches Welschschweizer Dorf, sondern eine ländliche Siedlung, in der man versuchte, mit geistig Behinderten in Einzelhaushalten jeweils wie eine Familie zusammenzuleben, dabei das Handwerk zu pflegen und einer naturfreundlichen, biodynamischen Landwirtschaft nachzugehen. Kleine Kommunen und Sekten waren damals mein akademisches Interessensgebiet. Deswegen war ich da. Bald jedoch hatte mich die Arbeit in der Natur, mit den Pflanzen und Tieren dermaßen begeistert, dass ich mich immer seltener auf den Weg zur Universität Bern machte und erst zweieinhalb Jahre später wieder das Dorf verließ.

Wie jedes Jahr hatten wir in den Werkstätten, auf dem Bauernhof und im großen Gemüsegarten mit unseren »anders begabten« Dorfbewohnern schwer gearbeitet. Nun an den Weihnachtstagen – »wenn sich die Himmelskräfte mit der Erde vereinen« und, wie man einst glaubte, das Jahresrad zwölf Tage lang stillsteht – wollten wir die heilige Weihezeit würdig feiern und nur das Allernotwendigste machen, wie eben das Vieh füttern, die Kühe melken und striegeln, ausmisten, und uns ansonsten der Muse hingeben. Die Frage war, wie? Unser Bauer, der Christoff, schlug vor, einen über achtzigjährigen »alten Weisen« namens Arthur Hermes in unsere Dorfgemeinschaft, Village Aigues-Vertes, einzuladen. Der Alte, der im Waadtland, hoch oben im Jura-Gebirge auf einer Waldlichtung einen kleinen Einödhof betrieb, sollte Kurse in Heilkunde, gesundem Kochen, Tonmodellieren, Puppennähen, Schnitzen, Malen und ähnlichem Handwerk auf anthroposophischer Basis anbieten. Das klang gut, ja, das würden wir machen!

Ich war ganz gespannt auf den Besuch. Wahrscheinlich war es ein asthenisches Männlein mit Baskenmütze, gepflegter Sprache und einem Gesicht geprägt von der täglichen Meditation vor dem Bild des Meisters, des Herrn Doktor Rudolf Steiner, dessen Schrifttum er sich sicherlich über die Jahre hinweg verinnerlicht hatte. Solchen lieben Menschen begegnet man ja immer wieder, etwa wenn man das Speisehaus in Dornach besucht oder an einer Tagung am selben Ort teilnimmt.

Es stellte sich heraus, dass meine Vorstellung völlig daneben war. Der Mann, den wir am Bahnhof abholten, war groß und kräftig, eher wie ein Mensch gewordener Bär. Er trug einen weiten Mantel, darunter einen verschlissenen knallroten Wollpullover. Ein abgegriffener Schlapphut bedeckte eine wallende weiße Künstlermähne, und unter den buschigen Augenbrauen blitzten blaue Augen hervor, die einen starken Willen verrieten. Unter dem linken Arm klemmte eine mit obskuren handschriftlichen Notizen gefüllte, abgewetzte Aktenmappe. Und als man ihm die Hand zum Gruß gab, war es, als stecke man sie in einen warmen Ofen. Für mich hatte dieser Hermes, der denselben Namen trug wie der Götterschamane und Grenzgänger der griechischen Mythologie, etwas Numinoses an sich, auch etwas von dem Wanderer Wotan. Der Archetypus des mächtigen Donnergottes Donar schien auch in ihm zu leben. Er hätte ebenfalls ein Druide sein können, der sich in seiner Inkarnation um zwei- oder dreitausend Jahre verfehlt hatte.

Gärtnerhaus in Aigues-Vertes.

Berner Biobauer.

Er aß mit uns im Gärtnerhaus und lachte, als er sah, wie Manfred und Hilde – das waren der Gärtnermeister und seine Frau – die Zutaten des Essens penibel mit einer Waage genau auf das Gramm auswogen und sich ohne Nährwerttabelle kaum an den Tisch wagten.

»Man muss auch den natürlichen Instinkten ihre Rechte lassen«, schmunzelte der Alte.

Bald nähten wir Puppen, modellierten Ton, spazierten durch Hof und Garten, wobei er praktische Ratschläge erteilte und wunderbare Geschichten erzählte. Die Kühe und die anderen Tiere schienen sich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Auch einen Kochkurs – »planetarisches Kochen« – veranstaltete er. Da wurden die Gemüse nach ihrer planetarischen Zugehörigkeit eingeteilt. Der alte Meister dachte kaum in Begriffen wie Vitamine, Aminosäuren oder molekulare Bestandteile, sondern er fragte sich: »Hab’ ich genügend Venus (frisches Grün) in der Diät? Mangelt es an Jupiter (reife Früchte)?« Einem blassen Fräulein verschrieb er eine Venus-Mars-Diät, einem Phlegmatiker eine Mars-Merkur-Diät. »Die eng gefasste schulwissenschaftliche Ernährungskunde verkriecht sich ins Mikroskop und ins Reagenzglas und schneidet den Menschen von seinen kosmischen Wurzeln ab«, kommentierte er.

Hilde, die Gärtnerfrau, hörte aufmerksam zu, und tatsächlich schmeckte ihre Kocherei danach viel besser; und die Verdauungsprobleme, die den Gärtnermeister Manfred plagten, hörten schlagartig auf.

Für die jüngeren Mitarbeiter – zu denen ich als Dreißigjähriger noch gehörte – hatte er auch Fesselndes über unsichtbare Dimensionen des Seins und über das Mysterium der Sexualität zu erzählen. Wir merkten, er sprach aus der eigenen Erfahrung und lebte, was er lehrte. Das war etwas anderes als die trockenen Unterweisungen aus der Sekundarliteratur anthroposophischer Schriften, mit denen wir uns sonst herumschlugen. Es war auch etwas anderes als die mir geläufigen akademischen Abhandlungen. Überhaupt begann ich, aufgrund dieser Begegnung zum ersten Mal die Grundsätze des eher engen wissenschaftlich-akademischen Weltbildes zu hinterfragen. Das erleichterte es mir später auch als Völkerkundler, mich in die Weltbilder nichtwestlicher Ethnien hineinzufühlen und diese, ohne unnötige Analyse und Interpretation, gelten zu lassen.

Alle, Jung und Alt, waren begeistert. Auch die »Dörfler«, die geistig Behinderten, die mit uns das Leben in der Gemeinschaft teilten, bekamen leuchtende Augen; sie liebten geradezu diesen »Monsieur Ermess«. Und als der kleinwüchsige Eric – der übrigens alle Partituren, die Mozarts Vater für den kleinen Amadeus geschrieben hatte, virtuos auf dem Klavier spielen konnte – wieder mal einen Wutanfall bekam und Teller und Tasse auf dem Boden zerschmetterte, schaute Hermes ihm in die Augen und fragte: »Weißt du, Eric, wo die Sonne ist?« Eric schaute erstaunt auf und beruhigte sich sofort. Es schien wie ein Wunder. (Die Sonne, die er meinte, war natürlich das innere Licht, der Christus in uns.) Einigen blassen, überarbeiteten Mitarbeitern riet er, sie sollten Brennnesseltee trinken, um die Feuerkraft des Mars aufzunehmen. Anderen empfahl er, Süßes zu essen, und wiederum anderen legte er nahe, Bitteres aufzunehmen, um den Ätherleib und den Astralleib, also Leib und Seele, besser zu verbinden.

Ton kneten, Puppen nähen, mit Wasserfarben malen

Im ersten seiner Workshops ließ er uns Ton kneten. Wir rollten Kugeln, drückten diese dann zu Würfeln, woraus wiederum Pyramiden geformt wurden. Schließlich wurden die Tonpyramiden eingestülpt und wieder zu Kugeln gerollt. Als wir diese aufschnitten, stellten wir fest, dass nun ein Hohlraum darin war.

»Ja«, dozierte er, »Verwandlung, Metamorphose ist das Lebensgesetz! So wirkt das Göttlich-Geistige in die Natur hinein! Wir haben uns beim Tonkneten selbst modelliert! Vom Rundlichen der Kindheit über das Kantige des Erwachsenen zum Spitzigen des Alters kommen wir wieder zur Urform der Kugel, die aber diesmal etwas verinnerlicht hat, die beim Wandlungsvorgang etwas Geist in sich hineingenommen hat. So nehmen wir, während unseres Lebens, das Kosmisch-Geistige in uns hinein.« Ganz verstand ich die angedeutete Symbolik nicht, aber es war etwas ganz anderes als das, was ich im Anthropologiestudium gelernt hatte.

Es folgten Schnitzkurse und Puppenkurse. Wie ein Zen-Meister betonte Hermes, dass man ganz bei der Sache sein muss, dass man sich seelisch mit der Arbeit verbinden muss, denn das, was wir erarbeiten, sind unsere »Geschöpfe«. In zukünftigen Erdeninkarnationen werden diese Puppen ihr Eigenleben führen. Wir sind auf diese Art und Weise Schöpfer und haben Verantwortung für das, was wir in die Welt setzen. Gute Gedanken und vor allem Freude sollten alle unsere Werke begleiten, damit sie gut geraten, damit wir keine Dämonen in die Welt setzen. Was wir tun, wird zu unserem Karma, mit dem wir leben werden müssen. So macht ein jeder sein Schicksal selbst!

Seite aus Arthur Hermes’ Notizbuch.

»Ja, aber«, fragte ein erschrockener Kursteilnehmer, »und wenn man unbedacht, ungewollt Schlechtes in die Welt gesetzt hat?«

»Das ist dann der Abfallhaufen, der Kompost, der den Rohstoff zu neuen Schöpfungen liefert. Das alte Verdorbene wird durch unser notwendiges Schaffen abgetragen und umgewandelt. Die Metamorphose ist das Geheimnis! Wir arbeiten an der Befreiung und Weiterentwicklung der Schöpfung … und dadurch an uns selbst.«

In den Malkursen ließ er reine Farben, etwa Gelb und Blau, auf nassem Blatt zusammenfließen, wodurch ein helles Grün aufleuchtete.

»So fließen Himmelslicht und Lufthülle zusammen – das Gelb der Sonne und das Blau des Äthers –, um die Erde mit einem grünen Kleid zu schmücken!«, erklärte er. Rein wissenschaftlich gesehen, ist das gar nicht so abwegig, dachte ich. Pflanzen bestehen zu 95 Prozent aus Wasser (H2O) und Luft (CO2) und werden von der Sonne energetisiert.

Die Figuren zeichnen oder skizzieren und dann ausmalen, durften wir nicht. Von den starren Linien des Stiftes oder der Feder sollten wir fernbleiben. Nicht bloß der Kopf – »verhärtet, sklerotisch, intellektualistisch« –, sondern auch die Seele sollte mitempfindend die Farben auf das Blatt bringen. Überhaupt lag es ihm daran, gnadenlos die festgefahrenen, fixierten Verhaltensgewohnheiten zu brechen und ins Fließen zu bringen: Wir sollten mal versuchen, Bücher verkehrt herum oder aus einem Spiegelbild zu lesen. Oder einmal mit den Füßen, anstatt mit den Händen zu schreiben, zu malen oder Ton zu kneten. Offen sollten wir werden, damit uns das göttliche Wunder, das uns überall, vor allem in der Natur umgibt, durchfließen kann. Staunen sollten wir lernen.

Ganz stolz zeigten wir Gärtner dem Gast unseren zwei Hektar großen Garten, der das Dorf das ganze Jahr über mit frischem, giftfreiem biodynamischem Gemüse versorgte. Ja, der gefiel ihm, aber er sei zu »nackt«, wir würden zu eifrig hacken und jäten, ein paar wilde Begleitkräuter gehörten schon mit zu einem Garten. »Mutter Erde ist keusch, sie will immer ein grünes Kleid tragen.«

Planeten im Kochtopf

Seine Jahre waren Arthur Hermes nicht anzusehen. Wer sein Alter erfuhr, wunderte sich, wie es denn möglich sei, den Körper so kräftig zu halten und zugleich ein solch weitgespanntes Bewusstsein zu wahren. »Es ist die Meditation, die immer aus der Urquelle schöpft«, gab er zur Antwort, »und eine Ernährungsweise, die dem Geist Kraft zur Einkehr gibt!«

Hermes war Vegetarier und mied den Fusel. »Alkohol präserviert und mumifiziert ausgediente Gedanken. Er hemmt dasjenige, was ganz zart, ganz fein ätherisch vor dem Seelenauge erscheinen will!«

Sein Vegetarismus war aber nicht fanatisch engstirnig. Er hatte nichts einzuwenden, wenn er irgendwo auf Besuch war, und es wurden ihm Wurst oder Gulasch vorgesetzt. Ohne Kommentar aß er brav mit, denn er wollte seine Gastgeber nicht beleidigen oder überheblich erscheinen.

Gegen Milch und Käse – »unschuldige mondhafte Substanzen, voller frischer Lebenskräfte« – hatte er nichts einzuwenden, er hatte ja schließlich selbst einige Kühe im Stall. Und was das Fleischessen betrifft, da meinte Hermes, jedes Tier hat eine empfindsame Seele, und diese müsse man respektieren. Er könne schon verstehen, dass man gelegentlich die Kraft eines Ochsen braucht und dann Ochsenfleisch isst; man müsse es aber dem Tier wiedergutmachen. »Man muss sich im Klaren sein, dass man dem Tiergeist, der dieses Opfer bringt, etwas schuldig bleibt … karmisch gesprochen!« Auch dem Frühstücksei war er nicht abhold, denn »diese rennen ja nicht schreiend weg; das Seelische in ihnen ist noch nicht voll inkarniert.«

»Wir verspeisen den Kosmos!«, gab er den verblüfften Hausfrauen und Köchen zu bedenken und erklärte weiter, dass Pflanzen, auch die Nahrungspflanzen, in ihrem Aufbau größtenteils aus Wasser und Luft – vor allem Kohlendioxid, Sauerstoff und etwas Stickstoff – bestehen. Der mineralische Rest, der bei der Veraschung übrigbleibt, ist dagegen verschwindend gering. Nun wussten die alten Alchemisten sowie auch die Homöopathen, dass Wasser und Luft »sensible« Elemente sind. Sie sind empfänglich und einprägsam für Schwingungen und Strahlungen jeglicher Art. Die wässrigen Pflanzenorgane sind also bestens geeignet, vielfältige rhythmische und zyklische Impulse zu empfangen, die von der Sonne und vom Mond, etwa bei der Keimung und in den Wachstumsschüben, ausgehen. Sie empfangen aber auch Einflüsse von den Wandelsternen und Fixsternen. Die im Saft gelösten mineralischen Spurenelemente können, bildlich gesprochen, als »Köder« oder Resonanzverstärker bestimmter kosmischer Schwingungen gesehen werden.

Was Hermes da sagte, erinnerte stark an die offizielle Wissenschaft der Renaissance. Damals war man überzeugt, dass die Erdenmaterie von den Einflüssen des Himmels durchdrungen, geprägt und geformt wird. Da sind, erstens, die Urbilder oder Archetypen, die von den Fixsternen des zwölfgliedrigen Tierkreises ausgehen. Sie strahlen auf die Erde herab und gestalten die an sich formlose, chaotische Materie. Diese Ausstrahlungen werden ihrerseits beeinflusst, gestärkt oder gedämpft durch die Einflüsse der beweglichen Wandelsterne (Planeten). Diese sind dem Auge sichtbar als Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Saturn ist die Brücke oder der Übergang zum Fixsternhimmel. Der Einfluss der Planeten offenbart sich in den Farben, Formen, Aromen, Jahreszeiten, Krankheitssymptomen und allen anderen sinnlichen Eigenschaften, die wir auf der Erde erleben. Auf diese Weise kann man empirisch gut erkennen, welche Planeten sich in einer jeweiligen Pflanze, einer Blume oder einem Gemüse offenbaren.

Hermes war nicht jemand, der unkritisch Altüberliefertes übernahm, jedoch bestand für ihn kein Zweifel an den Beziehungen zwischen himmlischen Einstrahlungen und ihren irdischen Auswirkungen. In den Nahrungsmitteln und -pflanzen seien die kosmischen Einflüsse erkennbar im Geschmack, der Haltbarkeit und der »Güte« (Qualität).

Verführer der Jugend

Die jungen Leute waren natürlich am meisten von dem »alten Weisen« angetan. Er wich ihren vielen Fragen auch nicht aus. Bis spät in die Nacht, manchmal bis drei oder vier Uhr am Morgen, lauschten sie seinen plastischen Schilderungen von Bienen und Blumenkelchen, von Geist und Seele, von Mann und Frau. Jeder fühlte sich persönlich angesprochen. Dabei wurde viel Kaffee getrunken. »Gift« nannte er das koffeinhaltige Getränk und nahm es, augenzwinkernd, »schwarz wie die Seele und heiß wie die Hölle« zu sich – es fehlte nur noch »süß wie die Sünde«. Zwei, drei Stunden Schlaf schienen ihm zu genügen. Kurz vor Sonnenaufgang war er schon wieder wach, ging hinaus und grüßte die Sonne mit irgendwelchen eigenartigen Bewegungen1 und sang den Geistern ein Lied vor.

Arthur Hermes auf dem Michaelshof.

Mehrmals im folgenden Jahr besuchte der alte Zauberer unsere Dorfgemeinschaft. Immer brachte er uns ein Füllhorn voller Geschichten und guten Ratschlägen. Er nannte sich zwar Anthroposoph, aber er war mehr als das, er war eine Individualität, geprägt von langer Lebenserfahrung und Naturkenntnissen. »Die Götter wollen keine Klone, keine Roboter« sagte er, »sie wollen einmalige Persönlichkeiten! Sie schenken uns die Welt und fragen: ›Was meint ihr dazu?‹ Da kann man nicht nach Schablonen antworten.« Was die Lehre Rudolf Steiners betraf, betonte er, man solle sie nicht gleich ablehnen, sondern einfach mal zuhören und sehen, ob sie stimmig ist. Auch solle man sie nicht gleich glauben. Wie bei allem, was einem begegnet, müsse man fremde Gedanken erst einmal seelisch verdauen, denn »alles, was wir unverdaut aufnehmen, wird zu Gift!«

Mich berührte besonders seine Naturverbundenheit. Man sah es, wie er mit den Tieren, den Kühen, den lebenslustigen Schweinen und dem Pferd umging. Er verband sich seelisch mit ihnen, er stimmte sich auf sie ein, und sie verstanden es. Sie waren keine »Gegenstände«, deren Verhalten man observiert, sie waren für ihn tierische Brüder und Schwestern.

Auch was die menschliche Gemeinschaft in der Siedlung betraf, schaute er tief. Unter den Mitarbeitern sollte jeder gleichberechtigt sein. Ein Conseil du Village (Dorfrat) traf sich jeden Donnerstagabend. Da konnte jeder seine Sicht der Dinge vortragen, und nach gründlicher Überlegung und Besprechung wurde ein einstimmiger Entschluss gefasst. Das klang gut, das klang nach Basisdemokratie. Aber in Wirklichkeit waren es fünf ältere Jungfern, ehemalige Auserwählte des Gründers der Kommune, die schließlich bestimmten, wie die Dinge zu laufen hatten. Ihnen zur Seite stand ein Christengemeinschaftspriester, dem es gelang, den Wünschen dieser Damen einen unanfechtbaren, nicht zu hinterfragenden, spirituellen Kontext zu geben. Zudem beherrschten diese fünf »Hausmütter« Meditationstechniken – mir wurde das erst später bewusst –, um den Willen der Mitarbeiter und der »Dörfler«, der mental Behinderten, zu beeinflussen und in die gewollte Bahn zu lenken. Arthur Hermes, bewandert in okkulten Dingen, durchschaute diese Angelegenheit sofort. »Man darf nicht in die Freiheit eines anderen Menschen auf diese Art und Weise eingreifen«, erklärte er.

Das Wirtschaftssystem der Kommune war ebenfalls ungewöhnlich. Wie in einem Kibbuz sollte jeder von seiner Zeit und Energie so viel geben, wie er konnte, und nur so viel nehmen, wie er brauchte. Da gab es eine »Hutschachtel«, in die das erwirtschaftete Geld kam, und wenn man etwas für den Eigenbedarf brauchte, dann durfte man es aus der Hutschachtel nehmen. Eine der älteren Damen verwaltete dieses Geld; zu ihr musste man gehen, wenn man etwas brauchte. Auch wenn es sie nichts anging, fragte sie immer, warum und für welchen Zweck man es verwenden wolle. Wir jungen Leute waren stolz darauf, wie wenig wir benötigten. Ich selbst nahm nie mehr als 30 Franken pro Monat. Aber da gab es einige Mitarbeiter, die langten tiefer in die Hutschachtel. Einer brauchte unbedingt ein Segelboot für den Genfer See und die Kassenwärterin kaufte sich ein flottes neues silbergraues Auto, trug die neuste Pariser Mode und trank heimlich teuren Wein – Letzteres erzählte mir einer der geistig Behinderten, den sie sich als persönlichen Diener hielt. Zur Rede gestellt, sagte sie: »Ja, so ist es! Jeder gibt, was er kann, und jeder nimmt, was er braucht. Einige Menschen brauchen eben mehr als andere!«

Hermes durchschaute diese und andere Falschheiten hinter der uneigennützigen, humanen Fassade der Führung der Gemeinschaft. Er hatte ein Gespür für die Falschheit, auch für die Kontrollsucht, hinter der immer die Angst steckt. Es gehörte zu seinem Charakter, dass er den meisten Autoritätsträgern misstraute. Das machte ihn für uns junge Leute sympathisch. Sein ganzes Leben war er ein Rebell gewesen. In der Hitlerzeit hatte ihn diese Einstellung fast das Leben gekostet.2

Besucher aus Aigues-Vertes. A. Hermes (Mitte links), Christine und Wolf-Dieter Storl (rechts).

Es dauerte nicht lange, da durfte Arthur Hermes das Dorfgemeinschaftsgelände nicht mehr betreten. Er wurde zur persona non grata. Die Dogmatiker, darunter der Christengemeinschaftspriester, meinten, er sei aufrührerisch, ja, jugendgefährdend, ein Rattenfänger. Man schien Angst vor dem charismatischen Alten zu haben.

Der Bann hielt die jungen Mitarbeiter, auch die Gärtner und Bauern, dennoch nicht ab, ihn heimlich weiterhin einzuladen. Sie sammelten etwas Geld, um ihn für seine Mühe und das Reisen zu bezahlen, denn sie vermuteten – zu Recht –, sein kleiner Hof warf kaum Gewinn ab; die magere Rente und eine Nebenrente, die ihm als Verfolgter des Nazi-Regimes zugutekam, reichte gerade zum Überleben.

Der archetypische Weihnachtsmann