Pflanzen der Kelten - Wolf-Dieter Storl - E-Book

Pflanzen der Kelten E-Book

Wolf-Dieter Storl

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Beschreibung

Die Kelten waren fast tausend Jahre lang die führende Kultur in weiten Teilen Europas. Zwar wurde das Druidentum zerstört, aber das einfache Volk hielt am altüberlieferten Wissen fest und gab es mündlich und praktisch weiter in Form von Bauernregeln, Märchen, Sagen, Jahreszeitenritualen und vor allem Kräuterwissen und Volksheilkunde. Der Autor führt uns zu einer Heilkunde, in der es nicht um Wirkstoffe geht, sondern um die Zauberkraft und Magie der Pflanzen. Er stellt die wichtigsten Heil- und Zauberpflanzen und die Bäume der Kelten in ihrem jahreszeitlichen und kulturellen Kontext, in der Heilkunde und in der Magie vor und beschreibt die Bedeutung des keltischen Jahreskreises und Baumkalenders. Über die acht keltischen Jahresfeste und ihre Rituale führt er uns durch den Jahreskreis und zeigt, wie wir uns auch heute wieder in die grossen Rhythmen der Natur einstimmen können. Mit zahlreichen praktischen Rezepten für altüberlieferte Heilmittel und Heilanwendungen.

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Pflanzen der Kelten

Wolf-Dieter Storl

Pflanzen der Kelten

Heilkunde

Pflanzenzauber

Baumkalender

AT Verlag

7. Auflage, 2014

© 2000

AT Verlag, Aarau, Schweiz

Umschlagabbildung: Martin Tiefenthaler, Maira Lanzendorf

Lithos: AT Verlag, Aarau

ISBN (ebook) 978-3-03800-130-0

www.at-verlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

DANKSAGUNG

Dank dem Kometen Hyakutake, der nach zwanzigtausend Jahren Umlaufzeit, aus ewigen Sternenregionen wiederkommend, im Frühjahr 1996 den Nachthimmel erleuchtete, sein Licht auf die Wurzelgründe warf und mir den mächtigen Mammutelefanten in Erinnerung rief, der mir einst im Schneegestöber gegenübergestanden war.

Dank an Arthur Hermes, der wie ein alter Druide im Einklang mit dem Wald lebte und mich mit seiner Naturweisheit aus dem Elfenbeinturm lockte. Dank an den Cheyenne-Medizinmann Tallbull, von dem ich lernte, dass der Mensch nicht nur über, sondern auch mit den Pflanzen reden kann. Dank an »Trash«, den Berserker Jeff Dahl aus Wyoming, der durch ein Zeitloch ins 20./21. Jahrhundert herabgestürzt ist und hier sein Pferd für eine Harley eintauschen musste: Von ihm lernte ich viel über die keltische Seele. Dank an Eugen Jung und János von Morzsinay, die mich überzeugten, dass es wert ist, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Dank schließlich dem inspirierten Verleger Urs Hunziker und Dank auch der Lektorin Monika Schmidhofer für ihre Sorgfalt, ebenso Adrian Pabst, Martin Tiefentaler, den Berserkern der »Akademie der Neuen Berserker« und den Kelten von Gug- gisberg. Dank allen, denen Dank gebührt.

INHALTSVERZEICHNIS

Auch wir waren einmal Indianer

Einführende Worte von Großvater Goethe

Die Quellen

Schrifttum der Antike

Archäologisches Material

Irische und andere britische Überlieferungen aus dem Mittelalter

Europäische Folklore: Brauchtum, Volksmedizin, Märchen, Bauernrätsel, Bauernregeln

Das morphogenetische Feld: Die Sprache des Landes, des Waldes, der Flüsse und Berge

Waldbauern und Steppenkrieger

Die Wandlung: Geburt der europäischen Bauernkultur

Keltische Landschaft

Materielle Kultur der Kelten

Gesellschaftliche Organisation

Tänze

Bauernregeln, Rätsel und Sprüche

Märchen, Sagen, Legenden

Germanen

Keltisches Erbe heute

Keltische Heilkunde

Die Waldweisen

Druidische Sammelrituale

Die richtige Zeit

Das Ritual

Opfergaben

Feuer und Wasser

Der Kessel der Heilung

Erbe des Heilkessels: Kräutertees und Bäder

Kräuterbäder

Der gute spell der Kräuter

Signaturen

Signaturen einheimischer Pflanzen

Ursprungsmythe der Meddygion Myddfai

Hirtenweisheit

Kräuterkunde als weibliches Wissen

Die ätherische Welt der Elfen

Übergänge und Zwischenräume

Die klaren Sinne

Rezepte der Myddfai-Heiler

Diod Anfarwoldeb

Physig Cryd Cymalau

Bedydd Ceridwen

Wasser der Großzügigkeit

Der keltische Jahreskreis und Baumkalender

Die keltische Geistesart

Das achtspeichige Rad

Allerheiligen, Halloween, Samain

Wintersonnenwende, Alban Arthuan

Lichtmess, Imbolc, L’fheill Brighde

Frühlingstagundnachtgleiche, Alban Eilir

Maifest, Walpurgis, Beltane, Lá Bealtaine (Feuer des Bel)

Mittsommer, Sommersonnenwende, Johanniszeit, Alban Hevin

Augustfeuer, Lugnasad, Lammas

Herbsttagundnachtgleiche, Alban Elved

Das Medizinrad der Europäer

Das Medizinrad des Sun Bear

Wahre und falsche keltische Baumkalender

Die Häuplingsbäume

Weißdorn, Hagedorn

Schlafdorn

Der Wanderstab

Botanik und Heilkraft des Weißdorns

Haselnuss

Kontakt mit Elementargeistern: Die Kräfte der Erde

Die Wünschelrute

Der Haselwurm

Kontakt mit den Toten: Kräfte der Fruchtbarkeit

Kontakt mit den Gottheiten: Kräfte der Weisheit

Rutenzauber und Heilkunde

Holunder

Baum des Todes

Baum des Lebens

Holunder im keltischen Jahreskreis

Des Bauern Apotheke

Botanik und verwandte Pflanzen

Attich

Hirschholunder

Weide, Felber

Hexenbaum

Zauberpfeifen

Tod und Trauer

Die kalte Medizin

Eiche

Thingbaum

Orakelbaum, Opferbaum

Die Mistel

Heldenbaum

Baum der göttlichen Sau

Heilige Schweine

Heilkunde

Jeder Baum eine Gottheit

Der Apfelbaum

Die Buche

Eberesche oder Vogelbeere

Die Eibe

Die Erle

Die Esche

Die Kiefer

Die Linde

Die Pappel

Schlehe oder Schwarzdorn

Stechpalme oder Hülsen

Die Blütenfrau

Schlüsselblume, Himmelsschlüssel, Primel, Maginte

Besenginster, Basom

Mädesüß, Geißbart, Spierblume

Kornrade, Rade, rote Kornblume

Brennnessel

Klee

Sauerklee, Kuckucksbrot, Hasenbrot

Kuckuck und Hase

Keridwens Kessel der Transformation

Efeu

Nieswurz, Christrose

Bärlapp

Bachbunge, Bachehrenpreis

Bilsenkraut

Eisenkraut

Ein kurzes Nachwort

Bibliografie

»Wie Merlin

Möcht’ ich durch die Wälder ziehn;

Was die Stürme wehen,

Was die Donner rollen,

Und die Blitze wollen,

Was die Bäume sprechen,

Wenn sie brechen,

möcht’ ich wie Merlin verstehen.«

NIKOLAUS LENAU, Wanderlieder

AUCH WIR WAREN EINMAL INDIANER

Die in ein sauberes, aber zu enges Dirndl geschnürte Wirtin der kleinen bayrischen Pension servierte Brötchen, Marmelade und Kaffee. Manitonquat, der Hüter der Überlieferungen des Stammes der Wam- panoag1, ein hagerer, hoch gewachsener Indianer mit langem schneeweißem Haar, saß mir am Frühstückstisch gegenüber. Wir waren beide zu dem Medizinradtreffen des »Bärenstammes« in den Schwangau eingeladen worden. Der alte Indianer blickte mich entgeistert an und schüttelte den Kopf.

»Das hält man doch nicht für möglich! Diese Weißen wissen nichts, aber auch gar nichts! Sie kennen weder die alte Großmutter, die tief unter der Erde die Geister der Tiere und Pflanzen hütet, noch die Kraft des heiligen Beifußes. Sie können sich kaum nach den vier Himmelsrichtungen orientieren; mit den Tieren und Geistern können sie nicht reden. Wie haben sie überhaupt überlebt?«

Nun, diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt, vor Jahren schon. So wie es meine Lehrer in der Highschool und im College dargestellt hatten, sind wir, wie aus dem Ei gepellt, praktisch schon als Zivilisierte auf der Bühne der Menschheitsgeschichte aufgetreten. Vor rund 10000 Jahren hatten »wir« irgendwo im Nahen Osten die Wildheit abgelegt, wurden sesshaft, errichteten die ersten Städte, bauten Bewässerungskanäle, erfanden die Schrift. Damals offenbarte sich uns auch der wahre monotheistische Gott und etablierte einen ethischen Sittenkodex. Triebe wurden gezügelt, sublimiert; die Triebenergie diente nun dem zivilisatorischen Fortschritt. Die griechischen »Väter« der Wissenschaften ragen als Lichtpersönlichkeiten heraus. Hippokrates erfand die vernünftige Heilkunde, die sich in der Antike weiterentwickelte, später von christlichen Mönchen als kostbares Gut gehütet wurde und nun in der Neuzeit wahre Triumphe feiert. Den Griechen und Römern verdanken wir das kritische, rationale Denken, das nach langem Kampf mit dem Aberglauben in der Aufklärung dann voll erblühte und uns die Früchte einer beispiellosen technologischen Revolution, einer objektiven Wissenschaft und einer zunehmend demokratischen Gesellschaftsordnung bescherte.

Die Wilden, die Primitiven, die Zurückgebliebenen, die in Aberglauben, Mythos und Irrationalität Verfangenen, das waren immer die anderen: Indianer, Neger, Zigeuner und die letzten Stammesgesellschaften im eigenen Land, mit denen sich Sozialwissenschaftler und unverbesserliche Romantiker beschäftigen und die es zu »entwickeln«, zu schulen, zu zivilisieren und zu akkulturieren galt.

Dass auch das eine Mythologie – unser eigener Mythos von Fortschritt und Vernunft – ist, wird allmählich vielen klar. Auch dämmert die Erkenntnis, dass Mythologien keine belanglosen, unverbindlichen, blassen, subjektiven Fantasien sind, sondern Träger schicksalsträchtiger Ideen, die das Werden ganzer Zeitepochen und Gesellschaften bestimmen. Jede kulturtragende Mythologie hat ihre ganz reellen Auswirkungen – auf die Menschen, auf die Natur, auf das Klima, auf alles, was »zeucht und fleucht« unter dem Himmel. Die Mythologie des Fortschritts, der totalen Rationalität, der Objektivität, der technologischen Machbarkeit hat ebenfalls ihre Konsequenzen. Zum Teil berauschende: Wir können Auto fahren, im Internet surfen, Herzen verpflanzen, Schafe klonen, Zähne plombieren, gegen Grippe impfen und so weiter. Zum Teil aber auch erschreckende: wieder mal eine Ölpest, Castor- Transporte, unaufhaltsames Artensterben, Ozonlöcher, kränkelnde Baumplantagen, die Wälder genannt werden, Verarmung und überbevölkerte Slums, elektrisch grell erhellte Nächte, das allgegenwärtige Rauschen, Summen und Brummen zahlloser Geräte und Automaten, Klimaveränderung durch das Verbrennen von Abermillionen Tonnen des schwarzen Bluts der Erde und all die virtuellen Realitäten, in denen sich so mancher verirrt. Ja, es hat einen Sinn, die Medizinleute und Schamanen jener Völker zu befragen, die seit Urgedenken harmonisch mit der sie umgebenden Natur zusammenlebten; es hat einen Sinn, zu den eigenen Wurzeln zurückzublicken, als das auch bei uns noch einigermaßen der Fall war.

Ich konnte Manitonquat beruhigen: »Die Weißen sind keine von irgendeinem Plastikstern hereingebeamten, außerirdischen Zombies. Auch sie lebten einst in Stammesgemeinschaften, eingebettet in ihrer natürlichen Mitwelt; auch sie konnten mit den Tieren und Geistern reden. Sie haben es nur vergessen oder es ist ihnen ausgetrieben worden. Frag doch mal Deine Zuhörer, ob sie Frau Holle kennen, denn so hieß die Großmutter einst bei uns!«

Als ich Manitonquat am Abend wieder sah, strahlte er. Ja, die Frau Holle kannten sie. Ja, es gibt Hoffnung. »Indianer könnt ihr Europäer nicht werden, denn die Schildkröteninsel, die ihr Amerika nennt, hat ihre eigene ›Medizin‹ (Kräfte) und diese hat uns geprägt. Wie Ameisen aus ihrem Bau sind unsere Vorfahren dort aus der Erde hervorgegangen. Aber ihr könnt euch hier wieder mit der Erdmutter verbinden und euch mit den geschundenen Bäumen, Kräutern, Steinen, mit den Tieren und den Ahnengeistern versöhnen, so dass ihr wieder Wurzeln bekommt und stark werdet.«

Ich war dem Indianer dankbar und erkannte, dass Frau Holle – die noch immer in unserem Unterbewusstsein lebt – ihre Kinder nicht im Stich lassen wird. Sie ruft uns zurück, zurück zu den heilenden Quellen, zu den Kräutern und Bäumen, die hier überall, einige Schritte vor unserer Haustür, im Wald, am Flussufer, im Park, auf den Wiesen wachsen. Sie ruft uns zu den lebenden Wurzeln. Auch wenn in diesem Weltenwinter alles erstarrt und erfroren zu sein scheint, leben diese Wurzeln noch immer und werden im bevorstehenden Weltenfrühling neu austreiben. Und bei dem Gedanken bewegen wir uns schon im keltischen Mythos, in dem die Zeit einem sich drehenden Rad gleicht, in dem die Vergangenheit zur Zukunft wird und ebenso die Zukunft zur Vergangenheit. Das keltische Wort für Rad ist dasselbe wie das für das Jahr (ELIADE 1980: 128). Es ist das vierspeichige Rad (= die vier Jahreszeiten) des himmlischen Herrschers der Gezeiten, Tanaris (irisch Dagda). Es ist zugleich das Spinnrad der dreifachen Göttin, die, unter den Wurzeln des Weltenbaumes, am Urquell sitzend, das Schicksal der Götter und Menschen hervorspinnt. Wer die Zukunft, das auf uns Zukommende, wer den Schicksalsgrund erkennen will, der schaue tief, ganz tief dorthin, wo im großen Kreis des Seins das Gewordene sich wieder in Werdendes verwandelt.

Motiv des Rades in den früheuropäischen, bronzezeitlichen Kulturen.

Motiv des heiligen Rades auf einer hallstattzeitlichen Schwertscheide.

Die Kelten waren fast tausend Jahre lang das führende Kulturvolk in Europa. Dieses Volk, aufgesplittert in fast hundert größere und kleinere Stämme, ist aus der Vermählung der Erdgöttin der früheuropäischen Bauern und des Himmelsgottes der aus den westasiatischen Steppen kommenden Hirten- und Reiternomaden entsprossen. Das Kernland der Kelten erstreckte sich zur Hallstattzeit, vor knapp 3000 Jahren, von Ungarn und Böhmen über den gesamten Alpenraum bis nach Ostfrankreich. In einer zweiten Blüte (ab 450 v. u. Z.), während der so genannten La-Tène-Zeit, stießen die Kelten bis nach Griechenland und Kleinasien vor – es sind die im Paulusbrief des Neuen Testaments erwähnten Galater. Im Westen dringen sie bis nach Spanien und um 200 v. u. Z. bis zu den Britischen Inseln vor. Mit dem Eroberungszug der Römer in Gallien erlosch allmählich ihr Stern. Der Sieg Julius Caesars und seiner gut ausgebildeten Berufssoldaten über die tollkühnen, aber undisziplinierten keltischen Krieger, die sich unter dem Gallierhäuptling Vercingetorix zu einem losen Kriegsbund zusammengeschlossen hatten, markiert das Ende einer Epoche. »Vercingetorix trug seine besten Waffen und hatte sein Pferd geschmückt (…) Er beschrieb einen Kreis um Caesar, sprang vom Pferd und warf seine Waffe auf den Boden« (CAESAR, De bello gallico, 27). Dieser rituelle Akt der Unterwerfung, wie ihn Plutarch beschreibt, symbolisiert zugleich das bevorstehende Ende naturverbundener Stammeskulturen in Europa. Nur in Britannien, vor allem in Wales und Irland, lebte die La-Tène-Kultur unter christlich-feudalem Vorzeichen noch bis ins Mittelalter fort.

Warum sollten die Kelten für uns interessant sein? Nicht nur haben sie die Grundzüge der europäischen Bauern- und Volkskultur geprägt, sie haben vor allem im lebendigen Einklang mit der hiesigen natürlichen Umwelt, mit dem Wald, gelebt. Sie erlebten die Natur nicht nur voller magischer, ätherischer Kräfte, sondern beseelt und mit Bewusstsein erfüllt. Bäume, Steine, Quellen, der Wind und alle Geschöpfe waren für sie ansprechbar. Diese Sichtweise, dieses Eingebettetsein in unserer unmittelbaren natürlichen Mitwelt, haben wir weitgehend verloren. Unsere Hellsichtigkeit ist erloschen. Unsere Verbundenheit, unser Geborgensein in einer vom ständigen Werden, Vergehen und von neuem Werden geprägten natürlichen Welt ist uns abhanden gekommen. In diesem Buch wollen wir versuchen, etwas von dem verlorenen Terrain wiederzuerlangen.

Einführende Worte von Großvater Goethe

Dass Pflanzen eine Geistseele haben, die sich der Vision des Schamanen offenbaren kann, das hat mich der Medizinmann Bill Tallbull gelehrt. Diese Geistseelen, die er Maiyun nannte, kommunizieren mit dem Menschen – ob er sich dessen bewusst ist oder nicht – auf telepathische Art und Weise. Sie können im Menschen Gefühle erwecken, ihm in den Träumen erscheinen oder ihm hohe Inspirationen zukommen lassen. So prägt die Vegetation einer Region die Menschen und ihre Kultur. Die Eingeborenen und die Pflanzen, die um sie herum wachsen, bilden eine Einheit. Auch die Kultur der Kelten und anderer indigener europäischer Völker wurde von der Flora der Länder, in denen diese Völker siedelten, geprägt.

Goethe, der ein großer Pflanzenkenner war, wusste davon. Einmal stellte der Dichter einen blühenden Lorbeer und eine japanische Pflanze auf den Tisch. Johann Peter Eckermann, der Freund und Sekretär Goethes, bemerkte, dass von den beiden Pflanzen unterschiedliche Stimmungen ausgingen. Er sagte, dass der Anblick des Lorbeers ihn heiter, leicht und milde mache, die japanische Pflanze ihn dagegen melancholisch stimme.

»Sie haben nicht unrecht«, sagte Goethe, »und daher kommt es denn auch, dass man der Pflanzenwelt eines Landes einen Einfluss auf die Gemütsart seiner Bewohner zugestanden hat. Und gewiss! Wer sein Leben lang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müsste ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken sich erginge. Nur muss man bedenken, dass die Menschen im Allgemeinen nicht so sensibler Natur sind als wir anderen und dass sie im Ganzen kräftig vor sich hinleben, ohne den äußeren Eindrücken so viele Gewalt einzuräumen. Aber so viel ist gewiss, dass außer dem Angeborenen der Rasse sowohl Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Charakter eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, dass die frühesten Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel und wo also die Gegend mit dem angeborenen Charakter der Menschen bereits in Harmonie stand« (ECKERMANN 1999: 333).

Die Kräuter, Büsche und Bäume selbst sind es, die mir am meisten über die Kelten erzählt haben. Die anderen Quellen seien im Folgenden kurz beschrieben.

Auf Odins Platz:

»Ich fragte ihn nach der alten Religion.

Nichts übrig geblieben, sagte er,

und ein Wind kam auf.«2

Die Quellen

Was wissen wir eigentlich über die Kelten, die so lange das gesellschaftliche und kulturelle Leben Europas gestalteten und prägten? Was können wir insbesondere über ihre Heilkunde und Pflanzenkenntnisse in Erfahrung bringen?

Schrifttum der Antike

Für die Schreibstubengelehrten fließen die Quellen bezüglich der Kelten und insbesondere ihrer Pflanzen- und Heilkunde recht spärlich. Diese Völker haben keine Schriften hinterlassen. Caesar berichtet, dass die Druiden, die Weisen der Kelten, zwar schreiben konnten und dass sie ihre alltägliche, geschäftliche Korrespondenz in griechischer Schrift verfassten. Was aber ihre Lehre betraf, weigerten sie sich, diese schriftlich festzulegen. Um die zwanzig Jahre verbrachten die Druidenanwärter in abgelegenen Waldschulen, wo sie – ähnlich den indischen Brahmanen – die Weisheiten und Erkenntnisse in Form von abertausend Versen auswendig, »mit ihrem Herzen« (by heart) lernten. Wissen, das nicht im Herzen getragen wird, sagten die Druiden, sei kein echtes Wissen.

Mitunter hört man, meist von überzeugten Keltomanen, den Einwand, dass die Kelten sehr wohl ihre eigene Geheimschrift, die Ogam-Schrift, hatten. Das gesamte druidische Wissen sei von geheimen Druidenorden in Schottland in dieser Schrift festgehalten worden und sei den Ordensmitgliedern – gegen genügende Bezahlung – zugänglich. Nun, in Wirklichkeit sind diese geheimen Orden erst im 18. oder 19. Jahrundert entstanden und haben wenig mit den alten Druiden zu tun. Die echten Ogam-Schriftzeichen bestehen aus waagrechten und senkrechten Strichen, die in die Kanten von Stein- oder Holzpfeilern geritzt oder geschnitzt wurden. Die Ogam-Zeichen entstanden in Irland im frühen Mittelalter und wurden – ähnlich den in Baumrinde geritzten Runen der Germanen – nicht zum Festhalten von Ideen, sondern magisch, als Schutzzauber, zur Beherrschung der Geister oder in Erinnerung an die Toten oder an große Taten verwendet. Eine irische Geschichte erzählt von einem Druiden, der Ogam-Zeichen in Eibenstäbe schnitzte, um eine entführte Königin wiederzufinden, die von den Andersweltlichen in ein Síd, ein Hühnengrab, entführt worden war (LE ROUX/GUYONVARC’H 1996: 184). Die Ogam-Schrift ist für unsere Zwecke nicht uninteressant, denn jedes der zwanzig Zeichen symbolisiert einen Baum. Jeder Buchstabe vermittelte im Bewusstsein des keltischen Betrachters die Macht oder die Energieschwingung des jeweiligen Baumes.

Julius Caesar: Bezwinger der Kelten.

Die magische Ogom-Schrift wurde in Steinpfeiler gekerbt.

Was wir an schriftlichen Quellen über die alten Kelten besitzen, stammt ausschließlich aus griechischen und römischen Berichten. Wie wir sehen werden, schrieb der römische Gelehrte Plinius der Ältere Aufschlussreiches über die Rituale, welche die Druiden beim Sammeln der Eichenmistel, des Bärlapps (Selago), des Samolus’ (Ehrenpreis?) und des Eisenkrauts vollzogen. Die ergiebigste antike Quelle bezüglich der Heilpflanzen stammt aus der Feder des aus dem gallischen Aquitanien gebürtigen Römers Marcellus Empiricus. In dem um 395 n. u. Z. geschriebenen Buch Liber de Medicamentis übernimmt Marcellus das meiste zwar aus den antiken Werken der Griechen und Römer, erwähnt aber dennoch nicht nur einige gallo-keltische Pflanzennamen, sondern auch die volksmedizinische Verwendung der Pflanzen in Aquitanien zu dieser Zeit (HÖFLER 1911: 4). Ansonsten werden auch bei Dioskurides, Plinius und Apuleius von Madaura einige gallo-keltische Pflanzennamen überliefert, die für uns aufschlussreich sind.

Archäologisches Material

Ausgrabungen in großen Teilen Europas ermöglichen weitere wertvolle Einsichten in die Welt der Kelten. Grabbeigaben wie Bierkessel, Trinkhörner, Prunkwagen, Knochen geopferter Tiere, Reste von Totenspeisen und Textilien, auch Pollenanalysen des Bodens helfen uns, das rätselhafte Volk der Kelten besser zu verstehen. Das Grab des »Fürsten von Hochdorf«, ein glücklicherweise ungeplündertes Grab aus der späten Hallstattzeit in der Nähe von Stuttgart, enthielt zum Beispiel Stoffreste aus Hanfbast und Lein. Der tote keltische Häuptling war auf Haselzweige, Kräuter und Blumen gebettet und trug einen konischen Birkenrindenhut3. Ein Weidenkörbchen und ein Haselrutenstab waren auch mit dabei (KÖRBER-GROHNE/KÜSTER 1985: 145).

Irische und andere britische Überlieferungen aus dem Mittelalter

Im 9. Jahrhundert, also mindestens ein halbes Jahrtausend nach der Bekehrung, begannen christliche Mönche in Irland die Geschichten der mündlichen Überlieferung aufzuschreiben. Die Aufzeichnungen sind selbstverständlich durch einen christlichen Filter gegangen und dementsprechend entstellt, dennoch enthalten sie Aufschlussreiches über keltisches Brauchtum und keltische Heilkunde (SHARKEY 1982: 17). Im größten Epos der Iren etwa, dem Táin Bó Cuailnge (Der Rinderraub von Cooley), erscheint der mächtige Sonnengott Lug, um den schwer verwundeten Helden zu heilen. Er schläfert den aus vielen Wunden blutenden Cúchulainn durch »Männersummen« (ferdord) ein, untersucht die Wunden, besingt sie und legt Heilkräuter darauf. Nach drei Tagen Tiefschlaf ist der Held wieder hergestellt (BOTHEROYD 1995: 202).

Als weitere Quelle kommt die kymrische – in walisischer Sprache verfasste – mittelalterliche Literatur, die Märchen und Sagen, die Heldenepen und Gedichte der großen Barden, in Betracht.

Europäische Folklore: Brauchtum, Volksmedizin, Volkskunde, Märchen, Bauernrätsel und Bauernregeln

Mit der Eroberung Galliens und anderer keltischer Länder durch das Imperium Romanum, dem Missionierungsdruck der römischen Kirche, auch durch den Einfall der slawischen Völker aus dem Osten und der Germanen aus dem Norden, etwa der Angelsachsen in Britannien, wurde die keltische Kultur gleichsam »enthauptet«. Das Drui- dentum, Träger der keltischen Hochkultur, und der Kriegeradel wurden praktisch ausgelöscht. Mit ihnen schwanden die keltischen Hochgötter, die großen Opferrituale und die druidische Hochmagie. Aber das einfache Volk, nun allmählich zum Christentum bekehrt und anderen Herren untertan, lebte weiterhin in strohgedeckten Einzelhöfen, aß weiterhin Brei und Mus, trank weiterhin Gerstenbier, glaubte weiter an die lokalen Geister, an all die Heinzelmännchen, Elfen, Wasser- und Waldgeister, und opferte diesen. Man säte, pflanzte, erntete, schlug Holz und versorgte das Vieh weiterhin im Einklang mit den Jahreszeiten. Man heilte mit denselben Kräutern und unter Zuhilfenahme ähnlicher Heilsprüche wie bisher. An die Stelle der heidnischen Gottheiten, die die verschiedenen Jahreszeiten beherrschten, traten einfach die passenden christlichen Heiligen, an die Stelle der Göttin Maria. Ebenso wie die christlichen Kirchen und Kapellen nun auf alten heidnischen Heiligtümern standen, wurden die christlichen Feiertage in den traditionellen Kalender mit eingebaut: Christi Geburt wurde auf die Wintersonnenwende festgelegt, Maria Lichtmess auf das Fest der Lichtgöttin Brigit, Ostern und Pfingsten auf die herkömmlichen heidnischen Frühlingsfeste, Johanni auf das Fest des Sonnengottes und so weiter. Das sakrale Jahr wurde also »keltifiziert« oder das keltische Jahr christianisiert. Anders gesagt, in der Kultur des kleinen Mannes – der little tradition, wie der Kulturanthropologe Robert Redfield diese im Gegensatz zur big tradition der Hochkultur definierte – ist praktisch die ungebrochene Kontinuität keltischer Bräuche gewährleistet (REDFIELD 1941). Und das nicht nur in Irland oder Wales, sondern auch anderswo in Mittel- und Westeuropa, insbesondere in den Rückzugsgebieten des Alpenraums. Vor allem auf diese noch immer nicht versiegte Quelle wollen wir uns in Bezug auf die Heil- und Zauberpflanzen in diesem Buch berufen. Ehe wir zur Sache gehen, wollen wir im folgenden ersten Kapitel einen kurzen Blick auf das kulturelle und historische Umfeld werfen, in welchem die keltische Heil- und Pflanzenkunde eingebettet war. Das sind wir einer ganzheitlichen Betrachtungsweise schuldig.

Maria tritt an die Stelle der keltischen Göttin.

Das »morphogenetische Feld«: Die Sprache des Landes, des Waldes, der Flüsse und Berge

Dass die Bäume, Kräuter, Steine und die Tiere, in deren Mitte wir leben, unsere besten Lehrer sind, das hatte mir Bill Tallbull, Medizinmann der Tsististas-Indianer, schon öfter erklärt (Storl 1997: 75). Man müsse sich aber auf die Natur einstimmen. Man müsse das ständige Geplapper der ach so klugen Gedanken in unserem Kopf zum Schweigen bringen und ganz still werden. Man müsse die Uhr ablegen, das Radio ausschalten, die gelehrten Bücher vergessen und in die Stille lauschen. Dann würden sie anfangen zu sprechen.

Heutzutage sind die meisten von uns überzeugt, dass die Natur eigentlich gar nicht »sprechen« kann. Phänomene wie Pflanzenwachstum, Tierverhalten, Planetenbewegungen oder der Wandel des Wetters lassen sich wissenschaftlich erklären. Da braucht man keine animisti- sche Hypothese von »sprechenden Naturwesen«. Wenn man seine zentralgeheizte Wohnung am Wochenende einmal verlässt und sich einen »Trip« reinzieht, dann kann es durchaus vorkommen, dass Käfer, Erdmännlein, Elfen oder was auch immer einem erscheinen oder einem gar etwas zuraunen. Nur wissen wir, das ist subjektives Empfinden, das hat mit Hirnchemie, mit Neurotransmittern und Synapsen zu tun. Es ist halt ein »Trip«, eine Einbildung, ein Ausflug in Traum und Illusion; die Wirklichkeit holt einen wieder zurück!

Bill Tallbull hatte aber etwas anderes im Sinn, als er vom »Sprechen« der Natur sprach. Was er eigentlich meinte, das habe ich in den vielen Jahren, in denen ich auf diesem Berg im Allgäu lebe, immer besser verstanden. Oft dauert es Jahre, bis man die Sprache des Genius Loci, des Geistes eines Ortes, versteht. Man lebt sich ein in das morphogenetische Feld, in die formgebenden Energien und die unsichtbaren und dennoch wirksamen »Erinnerungen« an vergangene Zustände, die an dem Ort haften. So will ich mir erlauben, etwas von diesem Ort, diesem Berg, zu erzählen, der mir so viel über die Kelten, die so lange hier wohnten, erzählt hat.

Menschliche Nachbarn gibt es keine hier oben. Füchse, Dachse, Rehe, gelegentlich eine Wildsau, Hirsche und Gämsen sind die Nachbarn. Sie sind scheu und gehen dem Menschen lieber aus dem Weg. Der Hof war einst Teil eines Benediktinerklosters. Das Wohnhaus, von einem Appenzeller Pächter im Dreißigjährigen Krieg wieder aufgebaut, besteht aus dicken Holzbalken, auf einem Untergeschoss aus Bruchstein. Im Keller sprudelt eine Quelle. Oft haben die Benediktiner ihre Gebäude auf Quellen gebaut – Inspirationen aus den Tiefen der Erde, nicht nur mineralreiches H2O sprudelt da hervor.

Mit Barrieren aus Beton, Glas und Plastik schirmt sich der heutige Städter von den Belastungen und Einstrahlungen seiner Umwelt ab. Meistens ist dies auch angebracht. Hier aber strömen die Energien durch die Balken und durch die von Hand gefertigten Biberschwanzziegel, mit denen das spitze Dach gedeckt ist. Schläft man dazu noch auf Stroh, dann spürt man diese Energieströme noch mehr, sagen doch die Bauern hier: »Wer auf Stroh schläft, zu dem kommt der Teufel!« Oder sind es die Naturgeister? Man ist an einem Ort wie diesem den unsichtbaren Energien geradezu ausgesetzt. Die Jahreszeiten reißen einen mit in ihrer unerbittlichen Macht. Wie auf einem Riesenrad trägt es einen hinauf in die Höhe des Sommers und dann wieder hinab in die dunklen, kalten Tage des Winters. Jedes Jahr dasselbe und doch jedes Jahr anders, und das seit Tausenden von Jahren. Irgendwann im März kommen die Frösche über den alten Schnee gehüpft und feiern im Tümpel ihre Hochzeitsorgien; in den blühenden Salweiden summen die Bienen, bald blühen die Dotterblumen im Sumpf und das Scharbockskraut auf den Wiesen. Wie eine Göttin zieht der Vorfrühling übers Land und rüttelt es wach. Nun ist es an der Zeit, mit den frischen Kressen und Brennnesseln eine Blutreinigungskur zu machen und die Winterträgheit abzuschütteln.

Bald kehren die Zugvögel zurück; die Wiesen sind grün und stehen in voller Blüte, die Tage werden lichter und wärmer, Wald und Matten schmücken sich wie eine Braut. Hochzeitsstimmung. Nicht schwer, sich vorzustellen, dass nun die Pflanzengöttin den strahlenden Sonnenhelden minnt. Der Kuckuck ruft. Lieder von Reigen unter Linden kommen einem in den Sinn. Gelegentlich kommen Wanderer vorbei, ältere Leute im Ruhestand, Einheimische, trinken ein Bier für den Durst und plaudern: »Ja, mei, war das schön damals«, erzählen sie in ihrer für mich schwer verständlichen Westallgäuer Mundart. »In der Mainacht kam die Dorfkapelle hoch; die ganze Nacht hindurch haben wir hier oben getanzt!« Aber auch von schweren Zeiten wissen sie zu erzählen.

Nun ist kein Halten mehr. Die Arbeit in der Stube hört endgültig auf. Wehe, wenn mein Buch noch nicht fertig geschrieben ist! Nun ist es höchste Zeit, die Gartenbeete umzugraben, zu rechen und mit Kompost zu düngen, zu säen und zu pflanzen. Wenn man die günstige Stunde verpasst, dann fehlt es einem an Kartoffeln oder Gemüse im kommenden Winter.

Gegen Ende Mai bringen die Bauern aus dem Tal ihre »Tschumpe« (Jungvieh) herauf; auch Pferde machen hier Sommerurlaub, bis das Gras bis auf dem Rasen abgefressen ist. Erdbeerzeit, Himbeerzeit, Brombeer- und Holunderbeerenzeit – so heißen die eigentlichen Monatsnamen hier oben. Überhaupt erlebt man die Monate hier anders: Sie verändern sich mit dem Mond, von Neumond zum Vollmond und wieder zum Neumond. Nach diesen natürlichen Mondrhythmen leben die Pflanzen und Tiere und, obwohl wir es vergessen haben, auch unsere Seele. Der offizielle Kalender mit seinen Zahlen und abstrakten Namen ist nur für die »Welt« da unten, für Behörden, Schule, Termine. Wenn man es zulässt, dann ist jeder Vollmond Kraftzeit. In den milden sommerlichen Vollmondnächten liegt nichts näher, als ein Feuer unter freiem Himmel zu entfachen und die ganze Nacht aufzubleiben. Und manchmal tanzen einem die Waldgeister dabei durch den Körper.

In den Hundstagen im August leuchtet Sirius, der Hundsstern, am südöstlichen Himmel. Es ist heiß. Kräutersammelzeit. Badezeit.

Bald aber wird es kühler; bald ziehen Nebel aus den Schluchten herauf. »Die Hasenmutter kocht!«, sagen die kleinen Kinder. Die Rinder und Pferde ziehen wieder ins Tal. Holz für den Winter muss aus dem Wald geholt, gesägt und aufgeschichtet werden. Nun kommen die Jäger; die Hunde bellen die vorbeifahrenden Geländewagen an. Der Garten will abgeerntet werden. Der Wald schenkt Pfifferlinge, und wenn er es besonders gut meint, dicke Steinpilze.

Es wird grau, neblig, ungemütlich. Totenzeit. Nun bedarf es nicht viel, die Geister zu sehen oder der Schwermut zu verfallen. In diesen Tagen feierten einst die Kelten ihr Totenfest Samain. Es ist Zeit, Lichter anzuzünden. Bald kommt der Weihnachtsbaum ins Haus.

Nach der Wintersonnenwende sinken die Nebel ins Tal hinab. Kristalle bilden sich auf den Zweigen der Tannen und Buchen. Der Berg steht da wie eine Insel im Nebelmeer und schickt Grüße hinüber zu den anderen Gipfeln. Der Säntis, schneeweiß und majestätisch, ein heiliger Berg schon für die Neandertaler, rückt in der klaren Winterluft näher.

Im Jahresrad erlebten die Kelten einst das Wirken der Götter. Sie teilten das Jahr in natürliche Zeiträume ein. Jeder Zeitraum galt als das Reich einer Gottheit oder genauer eines Götterpaares. Die Feiertage, die Sonnenwenden, die Tagnachtgleichen und die dazwischen liegenden Vollmondfeste wurden als Übergänge von einem Götterreich zum anderen aufgefasst. Jeder dieser Zeiträume hat seine ganz bestimmten Eigenschaften und Qualitäten. Dies hat mich der Berg gelehrt. Auch die Götter in ihren jahreszeitlichen Offenbarungen hat er mir nahe gebracht, nicht als intellektuelle Abstraktion, so wie man von ihnen im Buch liest, sondern ganz wirklich, ganz sinnlich. Man fühlt die Wesenheiten bis ins Blut, bis in die Knochen, man kann sie im Garten, auf der Weide und im Wald spüren, hören, sehen, riechen. Das Heilige ist nicht etwas, was man nur von religiösen Funktionären oder Priestern als Katechismus oder Glaubensinhalte vermittelt erhält, sondern es ist ureigene Erfahrung. Diese Erfahrung machte es mir möglich, die Kelten zu verstehen.

Im Winter liegt der Schnee tief. Schon gegen Mitte Oktober deckt Frau Holle die grünen Matten und den dunklen Wald mit einer weißen, weichen Decke zu; erst gegen Ende April kommt die Erde wieder zum Vorschein. Auf der verschneiten winterlichen Niederalp, auf der sich der Hof befindet, ist kein Kraftfahrzeuglärm zu hören – außer gelegentlich ein Flugzeug. Kein Glockengeläut zerteilt die Stille. Das Holz für den Herd ist unter Dach, die Erdäpfel, Äpfel und Gemüse aus dem Garten sind im Keller.

In dieser Stille, besonders am späten Abend, wandert der Geist in die tiefen, unsichtbaren Bereiche und wird empfänglich für Eingebungen. Das Feuer im Herd zischt, spuckt und knattert. Jedes Holz – Buchenscheite, Fichte, Ulme, Esche – brennt anders, jedes hat seine eigene Wärme, seinen eigenen Duft und seine eigene Geschichte vom Sommer zu erzählen. Vor hundert Jahren war das hier noch ein Wirtshaus, Sennen und Bauern gingen ein und aus. Vom Jahre 1188 an bis zur Zeit Napoleons saßen Benediktinermönche, hagere Schwarzkutten, hier oben auf dem Berg und fristeten ein freudloses Leben nach dem Motto »Ora et labora« (Bete und arbeite). Ihre Frustationen, ihre Trunksucht – man spürt sie noch heute in den stillen Winternächten. Davor alemannische Ritter, die auf der Höhe eine Festung unterhielten, bis der Ritter Swigger von den eigenen Mannen erschlagen wurde und der Berg von den Schwarzkutten in Besitz genommen wurde. Vor den Rittern waren Römer da, und davor die Kelten …

Von den Kelten und ihren Pflanzen habe ich nicht viel gewusst, ehe ich mitsamt meiner Familie hierher zog. Aber über die Jahre hinweg hat mir der Berg dieses und jenes von ihnen zugeraunt. Hier war keltisches Kernland. Nahezu tausend Jahre waren sie hier. Irgendwie sind sie noch immer anwesend. Unten im Tal sind Keltenschanzen. Auf dem Gipfel des vorgelagerten »Heidenkapfs« brannten die jahreszeitlichen Notfeuer der keltischen Heiden. Ein großes hölzernes Kruzifix markiert nun den Kraftplatz, von dem man bis in die Bodenseesenke und auf die Voralberger und Glarner Alpen schauen kann.

An einer Stelle, ganz in der Nähe des Heidenkapfs und direkt auf der kontinentalen Wasserscheide, stoßen drei Wege aufeinander. Die Wegscheide ist ein Quellgebiet; auf der einen Seite fließt das Wasser hinab in die Bodenseesenke und zur Nordsee, auf der anderen ins Donautal und dann zum Schwarzen Meer. Und gerade hier befindet sich ein weiteres altes Heiligtum. Hier stand lange eine Kapelle. Hierher pilgerte das Landvolk noch bis in die Achtzigerjahre, um Heilung gegen Hautkrankheiten aller Art – in der Mundart »Eissen« genannt – zu finden. Weggabelungen und Orte des Übergangs wie hier, mitten auf einer Wasserscheide, sind typische heilige Orte der Kelten. Nicht willkürlich wurden sie ausgewählt. Sensitive spüren da noch heute starke Energien und den Wünschelrutengängern schlagen die Ruten aus. Die drei alten Weißtannen, die sich hier angesiedelt haben, unterstreichen das Numi- nose des Orts. Das Göttliche offenbarte sich bei den Kelten oft in dreifacher Gestalt.

Die Kapelle ist dem Pestheiligen Rochus geweiht und wurde wahrscheinlich irgendwann im 15. Jahrhundert, als der schwarze Tod das Land heimsuchte, errichtet. Ein lebensgroßer barocker Heiland, ein arg geschundener und aus vielen Schürf- und Stichwunden blutender Schmerzensmann, dominiert den Altar der Kapelle – ein Nachklang blutiger Opferrituale keltischer und vorkeltischer Agrargesellschaften, die einen schaudern machen könnten.

Die Kapelle ist eine so genannte Besenkapelle. Der Gläubige, der für sich selbst oder jemanden in seiner Familie Heilung sucht, muss einen von einem Nachbarn geborgten Besen aus Birkenreisig mitbringen und als Opfergabe hinterlassen. Er muss reinen Herzens hierher kommen, am besten an einem gesegneten Tag, dann kann er den Ausschlag, die Geschwüre, Beulen oder Abschürfungen, auch Schmerzen des Beines und der Knie dem gemarterten Gottessohn überlassen. Man kann sie sozusagen abstreifen und auf ihn übertragen. So haben es schon seine keltisch-germanischen Vorfahren an Bäumen und Sträuchern – vor allem Fichten und Holunderbüschen –, die an ähnlichen Orten wuchsen, getan.

Der Birkenbesen ist ein alter heidnischer Ritualgegenstand. Die Birke symbolisierte auch bei den Kelten Reinigung und Neuanfang. Mit Birkenbesen wurden unreine Geister aus Heiligtümern gefegt. Schläge mit Birkenbesen vertrieben solche Geister auch aus dem Leib. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts lagen die Reisigbesen stapelweise in der Kapelle; die russischen Kriegsgefangenen, die in der Landwirtschaft halfen, brauchten damals keine Besen zum Auskehren des Stalls zu binden, und die Bäuerin hatte genügend Reisig für Herd und Backofen.

Mitte der Achtzigerjahre wurden mehrere abgelegene Wald- und Bergkapellen ausgeraubt und ihrer Statuen und Kunstschätze entledigt. Deshalb suchte man für diese Rochuskapelle einen sichereren Ort. 1987 wurde die Kapelle näher zum Hof versetzt. Seither hat die Kapelle an Bedeutung verloren. In keltischer Tradition ist es der Ort, der Genius Loci, der die heilende Kraft ausstrahlt, nicht das Gebäude und die Statuen, die darauf stehen. So auch in diesem Fall. Außerdem wurde die Kapelle falsch hingestellt, mit dem Altar nach Westen orientiert, wobei doch jeder weiß, dass die Heilkraft aus dem Osten kommt, aus der Richtung des Sonnenaufgangs. Nur selten noch bringt ein Einheimischer einen Besen; und der alte knorrige Holunder, der neben der Kapelle steht, geht allmählich ein. An die ursprüngliche Stelle der Kapelle hat der einheimische Förster inzwischen eine Linde gepflanzt, um den heiligen Ort erneut zu kennzeichnen.

Hinter der Gestalt des heiligen Rochus steht – wie bei so vielen populären Heiligen – wahrscheinlich eine alte keltische Gottheit. Rochus soll um 1295 in Montpellier, im ehemaligen gallischen Südfrankreich, geboren worden sein. Montpellier war der von den Galliern verehrte Heilkräuterberg Mons pessulanus. Der Legende nach sammelten hier einst die Druiden das Zauberkraut »Selago«; hier wuchsen die stärksten Pestkräuter, hier gründeten die Benediktiner eine berühmte medizinische Fakultät (HÖFLER 1911: 254). Die Ikone stellt Rochus mit Schlapphut und Wanderstab dar. Sein Mantel ist aufgeschlagen, auf seinem Schenkel ist eine Pestbeule zu sehen, die ein Hund leckt. Beim Anblick denkt man unwillkürlich an einen Druiden – oder an den germanischen Zaubergott Wotan. Als Rochus von der Pest angesteckt wurde, verzog er sich in den Wald; ein Engel erschien ihm und ein Hund versorgte ihn, leckte seine Wunden und brachte ihm Brot, bis er genesen war. Hunde waren bei den Kelten heilige Tiere; keine keltische Gottheit, die nicht einen Hund als Begleiter hatte (BOTHEROYD 1995: 167). In Frankreich glaubte man, dass tollwütige Hunde denjenigen nicht anfallen und beißen, der ein Bild des Rochus bei sich trägt.

Der Tag des heiligen Rochus ist der 16. August. Traditionell hat man an diesem Tag die Rochuskräuter, die Pestkräuter, gesammelt. Meistens sind es Kräuter, die in der keltischen Heilkunde und im Kult eine große Rolle spielten: Baldrian, Bibernelle, Blutwurz, Eberwurz, Einbeere, Meisterwurz, Sanikel, Wacholder. Bis auf den Wacholder wachsen alle diese Pflanzen wild auf diesem Berg.

Der Tag davor, der 15. August, ist Maria Himmelfahrt. Einst wurden sämtliche Kräuter, deren Heil- oder Zauberkräfte man über das Jahr hinweg im Haus oder im Stall benötigte, am Himmelfahrtstag der Gottesmutter in den Kirchen geweiht. Unten im Tal, im Dorf, lassen die Frauen noch immer einen »Kräuterwisch« in der Kirche weihen und wetteifern miteinander, wer den schönsten Strauß hat. Diese Mariakräuterweihe ist inzwischen jedoch eher dekadent geworden, ein leeres Ritual, denn heute geht man bei Bedarf in die Apotheke, zum Tierarzt oder zum Arzt, der die Anweisungen der Pharmaindustrie befolgt. Auch haben die Frauen vergessen, dass die Kräuter nicht mit einem Messer geschnitten, sondern nur mit der Hand gepflückt werden dürfen. Das Fest der Heilkräuter und ihrer Weihe ist älter als das Christentum, die Kelten kannten es schon. Es war Teil der Zeit des Augustfeuers, Teil der allgemeinen Erntezeit, die unter der Obhut des geschickten, heilkundigen Gottes Lugus (Lug) und der göttlichen Matrone stattfand.

Die Kirche, in der die Kräuter geweiht werden, ist uralt. Sie ist die erste christliche Kirche der Gegend, eine Missionskirche und zugleich eine der »Wanderkirchen«. Die Missionare, die vom Kloster St. Gallen ausgezogen waren, um die heidnischen Alemannen zu bekehren, wollten das Gotteshaus mitten im Tal errichten. Jede Nacht aber verschwanden das Baumaterial, das Holz, die Werkzeuge und sogar der Eckstein und wurden am Fuß des heiligen Berges, unterhalb des Heidenkapfs, wieder aufgefunden. Keine Schleifspuren, kein Fahrgleis waren zu sehen. Man wusste nicht, ob es Engel oder Wichteln waren oder ob gar der Teufel mit im Spiel war. Nachdem das drei Mal geschehen war, beließen es die Missionare und bauten die Kirche gerade da, am Anfang des Weges, der durch eine Waldschlucht – heute Kirchtobel genannt – direkt zum Berg hinaufführt.

Manchmal kommt mir der Berg wie ein schlafender siebenköpfiger Drache vor. Die Ausläufer, von den Einheimischen als Kapf bezeichnet, sind seine Köpfe. Quellen, die hier und da hervorsprudeln, und die Waldkapellen, die sich da und dort entlang des Grats befinden, könnten seine Leibes-Chakren sein. Vor einiger Zeit erfuhr ich vom Dorfschulmeister, dass hier tatsächlich ein Drache gehaust haben soll. Der heilige Magnus, der Apostel des Allgäus, soll durch den Urwald, gerade durch den Kirchtobel den Berg hinaufgestiegen sein, um den Drachen zu erlegen. Der Heilige trug ein großes Kreuz auf der Brust, einen Stab in der einen Hand und einen Pechkranz in der anderen. Als er das gefürchtete Untier antraf, schleuderte er ihm unter Anrufung Gottes den Pechkranz in den Rachen. Der Lindwurm schluckte und wand sich, bis er schließlich vor den Füßen des Heiligen zerbarst, worauf sich alles übrige Ungetier, die Schlangen, Bären, Wölfe und die anderen gottlosen Geschöpfe, aus dem Staube machten (HELBER 1990: U3).

Der heilige Magnus, im Volksmund St. Mang genannt, war Schüler und Gefährte der iro-schottischen Missionare Gallus und Columban – allesamt aus druidisch-königlichem, keltischem Geschlecht –, die das Bodenseegebiet missionierten und in Bregenz die Götzenbilder und Bierkessel der Heiden zerstörten (STORL 1992: 134). Viel Keltisches haftet an St. Mang. Überall haben keltische Heilige Drachen getötet oder, wie der heilige Patrick in Irland, Schlangen vertrieben. Abergläubische Bauern im Allgäu riefen St. Mang noch lange gegen Ungeziefer an, gegen Mäuse, Raupen und Engerlinge. Am Mangtag steckt man drei Haselruten mit dem eingeschittenen Buchstaben M in drei Ecken des Feldes, um Würmer zu vertreiben. Auch dieser Brauch hat eindeutig keltische Wurzeln. Der Stab des Missionars, der noch in Füssen aufbewahrt wird, wird in Prozessionen um die Felder getragen – auch das ein Überbleibsel keltisch-germanischen Feldzaubers (BÄCHTOLD- STÄUBLI V 1987: 1482).

Nicht alle wilden Kreaturen hat St. Mang vom Berg vertreiben können. Machmal treffen Wanderer, die sich ihres Weges nicht ganz sicher sind, auf ein altes Weib mit wirrem Haar und großen Zähnen. Man könnte sie leicht für eine Bergbäuerin halten, die da Holz oder Kräuter sammelt. Manchmal kommt sie auch als junge Frau daher, manchmal in Begleitung von Gemsen. Sie führt die Wanderer, die sich verlaufen haben, immer im Kreis herum, durch steile Tobel und dichte Fichten- und Buchenwälder, bis sie völlig verwirrt und entmutigt sind. Jedesmal, wenn die Bundeswehr hier oben ihre Manöver hält, verirren sich einige Soldaten. Es dauert mitunter ein bis zwei Tage, bis sie alle wieder eingesammelt sind. Sogar ich habe mich öfter verlaufen, bin nach Süden gelaufen, wo ich doch nach Norden wollte, doch die Frau selbst habe ich nicht gesehen.

Vielleicht ist sie eine Caillech, eine alte Bergmutter, wie man sie in Irland oder im schottischen Hochland oft findet; vielleicht aber ist sie der Drache, den St. Mang angeblich »tötete« und der sich, wie es bei den chtonischen Schlangen der Fall ist, einfach häutete und erneuerte. Dass sich die Wanderer hier so leicht verirren und plötzlich völlig orientierungslos sind, hat – so haben es mir Rädiästheten gesagt – mit wirren erdmagnetischen Strömungen zu tun. Die vielen Quellen und Wasseradern entlang des ganzen Grats der Wasserscheide lassen ja nicht nur das Wasser in entgegengesetzte Richtungen fließen, sondern ziehen ätherische Kräfteströmungen nach sich, so dass sich sensible oder labile Menschen – insbesondere an Vollmondtagen – auf dem Berg nicht mehr zurechtfinden, Visionen haben oder Halluzinationen erlei- den.4 Derartige dynamische geomantische Störungen und Erdenergien wurden von den Kelten, ebenso wie von den Chinesen, als Drachen imaginiert. Drachen sind Geschöpfe der primordialen Erdmutter, dem Chaos nahe, energiegeladen, aber auch voller Weisheit. Wie bei den Chinesen wurde bei den Kelten diesen Drachen große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Weisen der Kelten, die Druiden, konnten die Drachenlinien und Energiemuster (heute Feng Shui genannt) aufspüren. Vom Erzdruiden Merlin wird berichtet, wie er schon als Junge dem König Vortigern erklären konnte, warum die Grundmauern seiner Burg immer wieder wankten: Zwei Drachen seien es, ein weißer und ein roter, die unter der Burg miteinander kämpften. Die Drachen mit ihrer urge- waltigen Energie können gefährlich sein, sie können Menschen und Tiere töten. Vielleicht ist der Drache dieses Berges dafür verantwortlich, dass jeden Sommer – egal welche Vorkehrungen der Hirt unternimmt – mindestens ein Stück Vieh auf der Alpweide verendet. An Drachenorten haben schon die vorkeltischen Bauern ihre Riten – Initiationsriten, Riten der Großen Göttin – zelebriert, haben Menhire oder Steinkreise aufgestellt oder sind dort auf Visionssuche gegangen. Diese Orte wurden dann von den keltischen Indogermanen besetzt und als Heiligtümer weitergeführt.5

Drachen.

Engel, Heilige und Druiden als Beherrscher der Drachenenergie.

Eine der Aufgaben der Druiden war es, die Drachenenergien der Natur zu führen und zu zähmen. Dazu benutzten sie unter anderem Stäbe aus Haselruten. (Mehr darüber später, bei der Diskussion der Haselstaude, Seite 193ff.) Die vielen christlichen Heiligen, die wie St. Mang als Drachentöter in die Legende eingegangen sind, haben wahrscheinlich diese Aufgabe übernommen. In einem Seitental, am Nordende des Berges, wohnt ein bekannter »Volksheiler«, der mit Pendel und Kräutern Aids- und Krebspatienten behandelt. Manchmal behandelt er auch die Erde, indem er an bestimmten »Strahlungsstellen« Eisenstäbe in den Boden rammt – er nennt es »Erdakupunktierung« –, um die geomantischen Energieströme zu lenken. Seither, behauptet er, haben die verheerenden Hagelstürme, die jeden Sommer niederfuhren, aufgehört.

Es gäbe noch viel über den Berg zu erzählen: Da war der alte, verwitwete Bergbauer, der Fehnlihans, ein »Original«, der, bis er starb, leichtfüßig wie ein Hirsch über die Höhen und durch die Schluchten, weitab von den Wegen, wanderte. Immer wusste er, wo sich die Hirsche befinden, wusste, wo sich die Schwämme (Pilze) verstecken und wo die seltene Arnika wuchs. Am Hut trug er jeden Tag andere Federn, Blumen und Kräuter, etwa Bärlapp, wenn er mit Behörden oder anderen »Herren« zu tun hat. Bärlapp – das heilige Kraut Selago der Druiden – schützt vor bösen Gedanken und schlechten Wünschen. Der Herrgottswinkel in seinem Bergbauernhäuschen bestand aus riesigen Hirschgeweihen, dahinter ein Bild des heiligen Hubertus, wie er vor einem Hirsch kniet, zwischen dessen Geweih das Christuslicht wie eine Sonne hervorleuchtet. Der Hirsch galt bei den Kelten und der vorkeltischen Bevölkerung Europas als eine Erscheinung des Sonnengottes, der in die dunkle Tiefe hinabsteigt und dort als Cernunnos, als Herr der Tiere und des Wachstums, herrscht. Der Jäger Hubertus, der da vor dem Hirsch kniet, war einst selbst eine keltische Gottheit. Er stellt die Gottheit der Dunkelheit und des Winters dar, den die Inselkelten Samain nannten und der als Jäger im November, der Totenzeit, den Sonnenhirsch jagt. Auch wenn es ihm selbst nicht unbedingt bewusst war, bei diesem Bergbauern haben wir es mit kaum verhohlenem naturnahem keltischem Heidentum zu tun, das sich bis in die heutige Zeit erhalten hat.

Wir werden bei der Diskussion der Wegwarte noch mehr von dem Hirsch als Sonnengott erfahren. Aber nun ist es an der Zeit, uns ein Bild zu machen, wer die Kelten wirklich waren.

1  Die Wampanoag sind einer der Algonkin-Stämme Neuenglands (Rhode Island). Sie waren die Ersten, die mit den puritanischen Pilgervätern Kontakt hatten. Sie halfen den ersten Siedlern mit Nahrungsmitteln über den Winter und zeigten ihnen, wie man Mais anbaut. Die Siedler, die bald mehr Land wollten und in den Indianern »Kinder Satans« sahen, versuchten die Wampanoag mit allen Mitteln auszumerzen. Es gab Prämien für getötete Indianer und viele wurden in die Sklaverei verkauft. Einige wenige überlebten.

2  James Koller, Dezember 1987 in Uppsala, Schweden, zit. nach: »Raise the Stakes«, in: The Planet Drum Review, Nr. 16/1990 (Zeitschrift der bio-regionalen Bewegung der USA).

3  Das schlichte konische Birkenhütchen des ansonsten so prunkvoll ausgestatteten Fürsten von Hochdorf gibt den Archäologen ein Rätsel auf. Es entspricht der Kopfbedeckung des »Kriegers von Hirschlanden«, jener fast lebensgroßen steinernen Statue eines Kelten der Hallstattzeit, die bei Ditzingen-Hirschlanden in Baden-Württemberg am Fuße eines Grabhügels gefunden wurde (Botheroyd 1995: 32). Die Toten als Träger der Birkenhüte stehen vermutlich unter dem Schutz der Birkengöttin, Brigid, die auch die Göttin der Wiedergeburt ist. Die spitze Form der Hüte ähnelt jenen der britischen Zauberer, Hexen oder auch der Zwerge – alles Wesen, die mit der Anderswelt in Verbindung stehen. Eine alte schottische Ballade könnte bezüglich des Totenkultes der Kelten einen Hinweis geben. Das Lied erzählt von den verstorbenen Söhnen, die ihrer Mutter mit konischen Birkenhüten auf dem Kopf erscheinen. Die Hüte gelten als Zeichen, dass sie keine gemeinen Gespenster sind, sondern nach ihrem Besuch bald wieder in den Himmel zurückkehren werden (Müller-Ebeling/Rätsch/Storl 1998: 18).

4  Dass Menschen an solchen Drachenbergen, Kraftorten und anderen Orten mit geomagnetischen Störungen geheilt oder krank werden können oder paranormale Bewusstseinszustände erleben, wurde durch eine Gruppe von Wissenschaftlern, Rutengängern und Anthropologen durch das in England 1977 ins Leben gerufene Projekt des Dragon Project Trust eindeutig belegt (Devereux 1992: 35).

5  Einer der berühmtesten Erddrachen der Antike war Python, der Bewacher des Traumorakels der mächtigen Erdgöttin Gaia, am Mysterienort Delphi in Griechenland. Hier, über einem Erdspalt saß die Pythia, die Priesterin der Göttin, auf einem Dreifuß und verkündete »rasenden Mundes« in dunklen Worten den Willen der Götter. Die Mythe besagt, dass Apollo, der hyperboräische (keltische) Sonnengott, den Drachen tötete. Die Pythia musste dann in seinem Namen das Orakel sprechen. Die Kunde von diesem Ort des Sonnengottes lockte um 280 vor unserer Zeitrechnung die Kelten unter Führung des Kriegers Brennus nach Delphi. Dabei verwüsteten die Kelten weite Teile Griechenlands.

WALDBAUERN UND STEPPENKRIEGER

Gegen Ende der Bronzezeit, um anderthalbtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, drangen viehzüchtende Reiterkrieger auf der Suche nach Weidegründen aus den westasiatischen Steppen nach Westen vor. Sie stießen dabei auf eine archaische Kultur von Brandrodern und Wanderfeldbauern, die in gerodeten Lichtungen des schier endlosen europäischen Urwaldes mit ihren primitiven Hackpflügen Weizen, Gerste, Hirse und einige Leguminosen anbauten, Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder züchteten, sakrale Steine (Megalithen) aufstellten, ihre Toten in Hügelgräbern bestatteten und einer Fruchtbarkeit bringenden Erdgöttin opferten. Die wilden Eindringlinge waren dank ihrer Pferde beweglicher als diese Bauern, und sie hatten die besseren Waffen. So gelang es den Indoeuropäisch (früher »Indogermanisch«) sprechenden Scharen, überall die bronzezeitlichen und megalithischen Bauern zu überrumpeln und zu unterjochen: Dorische Krieger legten die minoisch-mykenische Kultur in Schutt und Asche; latinische Stämme besetzten Italien und machten den »Rinderberg« (Capitolinum in Rom) zu ihrem Kultzentrum, andere wiederum eroberten Kleinasien, und die Protokelten (Urnenfeld-Kulturen) nisteten sich in Böhmen und Mitteleuropa ein. Auch die rückständigen Megalithvölker Skandinaviens, die Urgermanen, bekommen das neue Zeitalter zu spüren.

Wie sesshafte Pflanzervölker und Hackbauernkulturen anderswo in der Welt waren auch die vorindoeuropäischen Kulturen eher mutterrechtlich organisiert. Das bebaute Land wurde von den matrilinearen Clans betreut und bearbeitet. Die Erde selbst galt als heilig, als identisch mit der Großen Göttin. Miteinander blutsverwandte Frauen – Schwestern, Basen, Mütter, Töchter – bestellten in gemeinsamer Arbeit die Gärten und Äcker. Die Männer – das lassen ethnologische Studien von Stämmen auf vergleichbarer Organisationsstufe vermuten – kümmerten sich hauptsächlich um Krieg, Jagd und den Verkehr mit den Geistern und Götter. Sie faulenzten in Männerhäusern und gaben sich psychedelischen Träumereien hin. Nach der Initiation verlassen die Männer das Dorf ihrer Mütter und Schwestern und ziehen in das Dorf ihrer Frau. Für die an den Erdboden gebundenen Gärtner- und Hack- bauernvölker ist das die einfachste und ökonomischste Art und Weise, ihr Leben zu organisieren.

Der Hirsch, das Attribut von St. Hubertus und St. Eustachius. (W. AUERS, Heiligen-Legende, 1980).

Frühkeltische Reiterkrieger, dargestellt auf einer Schwertscheide aus dem Hallstätter Gräberfeld.

Hirtenvölker wie die Urkelten und ihre indoeuropäischen Verwandten sind dagegen fast durchwegs vaterrechtlich organisiert. Die Erbfolge geht durch die männliche Linie, Frauen ziehen ins Lager ihrer Ehegatten. Das hat nichts mit einer fiesen phallokratischen Verschwörung zu tun, wie Bachofen, Marx oder einige verbissene Feministinnen glauben, sondern ist eine ökologische Anpassung an die Bedürfnisse der Tierherden: Neue Weidegründe müssen ausgekundschaftet, erobert oder auch verteidigt werden. Rinderdiebstahl muss gerächt werden. Eine bewegliche, kampffähige Männergruppe, zusammengeschweißt durch patrilineare Blutsbande, kann diesen Erfordernissen am besten entsprechen.6

Die indoeuropäischen Reiterkrieger waren, wie Krieger fast überall, arrogant und eitel. Als die »Edlen«, »Aristokraten« (skr. aria, ir. aire; die Iraner, die Iren) oder »Helden« bezeichneten sie sich selbst. Das Wort Kelte bedeutet nichts anderes als »Held« (von altkelt. *kel, »treiben, antreiben«; verwandt mit altind. kaláyati, »Hirt, der sich gegen menschliche und tierische Räuber bewähren muss«). Wie ihre Verwandten, die wilden Skythen der südwestasiatischen Steppe, tätowierten die keltischen Krieger noch lange ihre Körper mit magisch-mythologischen Motiven, trugen Gold- und Silberschmuck, ließen sich buschige Schnurrbärte7 wachsen und stärkten ihren hellen Haarschopf mit Gipslauge, bis die Haare hart und strähnig waren und wie Hahnenkämme oder stachelige Pferdemähnen emporragten. Sie hielten – wie wir auch in den irischen Heldensagen nachlesen können – prahlerische Streit- und Reizreden und stritten sich bei Festmählern um das Recht auf die »Heldenportion« des Wildschweinbratens. Wer aber lauthals angab, musste seinen Worten auch Taten folgen lassen. Manches Saufgelage nahm ein blutiges Ende.

In der Schlacht packte diese Krieger oft die göttliche Wut, die kämpferische Ekstase, so dass sie sich die Kleider vom Leibe rissen und sich in Todesverachtung splitternackt auf ihre Feinde stürzten. Wie die Skythen waren die Kelten ebenfalls Kopfjäger. Voller Entsetzen schildert der Grieche Diodor Siculus den barbarischen Brauch: »Köpfe der gefallenen Feinde hauen sie ab und binden sie ihren Pferden um den Hals; die blutige Rüstung geben sie ihren Dienern und lassen sie unter Jubelgeschrei und Siegesliedern zur Schau tragen. Zuhause nageln sie diese Ehrenzeichen an die Wand, gerade als hätten sie auf der Jagd ein Wild erlegt.« Köpfe von vornehmen Feinden wurden in Zedern- oder Wacholderöl eingelegt und bei Bedarf Gästen vorgezeigt. Auch wurden Schädel in Gold gefasst und als Trinkbecher benutzt.

Für die Pflanzervölker ist die Sonne oft – aber nicht unbedingt – eine Frau, ein mütterliches Wesen. Für die Hirtenvölker dagegen ist die Sonne ein Krieger, für die Indoeuropäer ein strahlender Held, der auf seinem von vier edlen, weißen Rossen gezogenen Kampfwagen den Himmelsraum siegreich durchmisst. Für den Indoeuropäer war das Pferd, dem er seine Siege und Eroberungen zu verdanken hatte, das heiligste aller Tiere. Das war auch bei den Urkelten der Fall. Krieger und Pferd verbindet ein inniges Verhältnis. Das Pferd führt den Reiter in neue Länder, zu frischen grünen Weiden und nach dem Tod auch hinüber in die jenseitige Welt. Pferdeschädel, ganze Skelette oder auch nur Teile davon sowie Pferdegeschirr und -wagen sind überall im Keltengebiet als Opfer und Grabbeigaben bezeugt (BOTHEROYD 1995: 270). In den heiligen Hainen der Kelten und Germanen weissagten Pferde durch ihr Wiehern und das Scharren ihrer Hufe. Die Schädel geopferter Pferde konnten – wie wir auch im Märchen der Gänsemagd erfahren – von unsichtbaren Dingen Kunde geben. Bekannt sind die aufwendigen Pferdeopfer indisch-arischer Könige (STORL 1988: 159). Beim Antritt seiner Herrschaft verkehrte der irische König sexuell mit einer weißen Stute. Das Tier symbolisierte die Göttin des Landes, von deren Gnade seine Herrschaft abhängig sein würde. Die Schimmelstute wurde anschließend geopfert, im großen Kessel des Häuptlings gekocht und als totemische Mahlzeit verzehrt. In beiden Fällen symbolisiert das sakrale Pferdeopfer den legitimen Herrschaftsanspruch der Könige oder Häuptlinge. (Papst Gregor III. musste im 8. Jahrhundert den Kelten ausdrücklich den Verzehr von Pferdefleisch verbieten.)

Kelten waren Kopfjäger: Schädelnische aus Südgallien.

Keltische Krieger, prahlend und um die »Heldenportion« streitend.

Die ersten Kelten in Europa trugen noch Schwerter und Rüstungen aus Bronze. Nachdem dann aber die Hethiter, ein indoeuropäisches Hirtenvolk am Schwarzen Meer, die Verhüttung des Eisenerzes entdeckt hatten, dauerte es nicht lange, bis sich auch die keltischen Stämme in Mitteleuropa mit Eisen wappneten. Über die Welt der bronzezeitlichen, matriarchal organisierten Nachbarn der Kelten brach ein neues, härteres Zeitalter, das Eisenzeitalter, herein. Die neuen Eisenwaffen (Langschwerter) und -werkzeuge trugen im 7./8. Jahrhundert v. u. Z. zur Vormachtstellung der Urkelten in Mitteleuropa bei. Es kommt in dieser Zeit zur ersten Blüte der keltischen Kultur in Mitteleuropa, der so genannten Hallstattzeit.8 Das Wort Eisen geht auf das keltische *isaron zurück (verwandt mit sanskr. isira, »hart, stark«. Die Isar ist der »Eisenfluss«).

Für die Kelten ist Eisen absolut heilig. Es vertreibt Feinde und feindlichen Zauber. Auf den Britischen Inseln wird gelegentlich noch immer zum Schutz gegen Feen eine Eisenschere über der Wiege eines Neugeborenen aufgehängt (BOTHEROYD 1995: 95); in den Türpfosten geschlagene Eisennägel vertreiben Widergänger (ruhelose Tote). Ein Hufeisen, über die Tür gehängt, fängt das Glück auf oder schüttet es herab. Eisen vertreibt auch die Pflanzengeister – Heilpflanzen wurden deswegen sine ferrum (ohne Eisenwerkzeuge) gesammelt.

Epona-Relief aus Bregenz (Vorarlberg).

Die wandernden Schmiede und Knappen galten als Zauberer, als Magier, die es wagten die Eingeweide der Erde aufzureißen, die metallenen Embryonen aus dem Mutterschoß zu rauben und mit »Blitz und Donner« in der Schmiede zu bearbeiten. Sie mussten zaubern können, um die Wut der Erdmutter und der die Schätze hütenden Drachen abzuwenden. Auch mit den Gnomen und Kobolden im Gestein mussten sie zurecht kommen können. Es ist bemerkenswert, dass man sich noch immer überall im ehemals keltischen Europa die Heinzelmännchen in die Tracht der keltischen Knappen gekleidet, mit Kapuzen und Bauernkitteln, vorstellt.9

Auch der König galt bei den Kelten als mächtiger Magier, er war für das Gedeihen und die Fruchtbarkeit des Landes verantwortlich. Den wahren Thronanwärter – wie etwa den jungen Artus in der britischen Sage – erkannte man daran, dass er ähnlich dem Schmied als Einziger Eisen – das Eisenschwert – aus einem Stein herausziehen kann.

Keltische Langschwerter (La Tène/Schweiz).

Die urkeltische Gesellschaft war wie andere indoeuropäische Völker dreigeteilt, in den so genannten Lehr-, den Wehr- und den Nährstand. Die später als Druiden bezeichneten Opferpriester, Magier und Barden hüteten die heiligen Überlieferungen des Stammes und regelten das Verhältnis zu den Göttern, den Ahnen und dem Übersinnlichen. Der Kriegeradel trug die politischen Institutionen, stellte Könige und Richter. Das »Volk« (ir. bó-aire, »die Kuhbesitzer«), die Hirten und Bauern, die Handwerker und Händler, stellte den dritten Stand dar.

Für diese Indoeuropäer war Besitz von Vieh gleichbedeutend mit Reichtum. Rinderdiebstal war eines der größten Verbrechen, schwerwiegender noch als Totschlag und – wie auch aus den irischen Sagen hervorgeht – Anlass zu den meisten kriegerischen Auseinandersetzungen. Das Wort »Schatz« bedeutete ursprünglich Vieh. Das schlug sich auch in der Sprache nieder: Das englische Wort für Rinder, cattle, ist vom lateinischen capitale entlehnt, in der Bedeutung »Kopfzahl (capita) der Rinder« – ein Kapitalist ist also ein Rinderbesitzer. Das deutsche Wort »Vieh« ist im Englischen als fee (Gebühr, Bezahlung) vorhanden. Mit der Vergabe von Rindern ließen sich Friedensverträge besiegeln, die Götter günstig stimmen und als Wergeld sogar Mord und Totschlag sühnen (HUTTERER 1987: 81).

Die Wandlung: Geburt der europäischen Bauernkultur

Das mittlere und westliche Europa, in dem sich die indoeuropäischen Reiterkrieger niederließen, war größtenteils undurchdringlicher Urwald – Eichenwald, Buchenwald, sumpfiger Erlen- und Weidenbruch. Die dort ansässige Urbevölkerung, die Hackbauern und Megalithleute, bewohnten geschwendete (brandgerodete) Waldlichtungen. Sie lebten im Einklang mit dem Rhythmus des Waldes, eingebunden in den Wandel der Jahreszeiten. Diese grüne Welt, in der die große Göttin der Fruchtbarkeit, des Lebens und des Todes mit ihrem Gefährten, dem Begatter, dem Hirsch-, dem Eber- und dem Bärengott herrschte, war nicht wie das Grasland und die Steppe leicht zu erobern und zu besetzen. Der Wald und seine Götter ließen sich nicht unterjochen. Er »schluckte« die Eindringlinge, nahm sie und ihre Seelen allmählich in Besitz.

Schmiede, Magier der indoeuropäischen Kultur.

Heinzelmännchen tragen noch immer keltische Tracht.

Die Priester und spirituellen Führer der ehemaligen Steppenvölker besetzten die Kraftorte, die Megalithheiligtümer, die henges (wie etwa Stonehenge), die heiligen Quellen und Höhlen der Ureinwohner, aber die Kraft dieser Orte bemächtigte sich der neuen Herren und verwandelte sie in »Wald-Weisen«, in Druiden. Diese zogen sich dann selbst in die dichten Wälder zurück und schöpften aus der Weisheit des Waldes. Sie trugen Hirschleder, huldigten dem Hirschgott Cernunnos, dem Herrn der Tiere, und deuteten ihn als eine Erscheinung ihres Sonnengottes in seiner unterirdischen Gestalt.

Auch ist nicht anzunehmen, dass die kühnen Reiterkrieger die Ureinwohner restlos auslöschten oder vertrieben. Wie die Aryas in Indien oder die Dorer in Griechenland unterjochten sie die Ureinwohner, machten sie zu Mägden und Knechten, waren aber dennoch auf ihren Rat und ihr Wissen angewiesen. Wie viele Märchen und Sagen der indoeuropäischen Völker andeuten, erlagen sie dem Charme der Eingeborenenfrauen, vermählten sich und zeugten Kinder mit ihnen. Die Eingeborenenfrauen kannten die Geheimnisse des Waldes und dessen Jahreszeiten; sie wussten um die Brunnen mit heilendem Wasser, um die Wildpflanzen und Heilkräuter. Auch kannten sie noch die ortsgebundenen Naturgeister, die Drachen, Erdmännlein und Lichtelfen, und wussten, wie man sie ruft, wie man sie um Hilfe bittet, wie man sie freundlich stimmt. Sie blieben die geheimen Herrinnen das Landes.

Nicht nur vermählten sich zwei Kulturen, auch die Gottheiten der Steppenhirten verbanden sich mit denen des Waldes und des Feldes. In aufwendigem Ritual vermählte sich der keltische König bei Amtsantritt mit der Göttin des Landes.10 Er musste gesund und potent sein, sonst würde das Land unfruchtbar werden, sein Volk müsste ihn dann töten und die Territorialgöttin würde sich einen anderen nehmen (FRAZER 1991: 386). Die ehemaligen Steppenkrieger begannen auch immer öfter ihre Toten wie Saatkorn in den Schoß der Erdenmutter zu betten, anstatt sie im Lichtglanz und Rauch des Scheiterhaufens zu den Himmelsgöttern emporzuschicken. Die Verstorbenen wurden in Grabhügeln, den Síde, bestattet. Die Fürstengräber der Kelten wurden immer prunkvoller.

Auf diese Weise entstand allmählich im Laufe der frühen Eisenzeit – der Hallstattzeit zwischen 800 und 500 v. u. Z. – in Mitteleuropa und dann später im Balkan, in Frankreich, Nordspanien, Norditalien und Britannien jene Bauernkultur, die mehr oder weniger bis in die Neuzeit, bis zur industriellen Revolution, das Gesicht unserer Landschaft prägte. Erst von der Hallstattzeit an kann man von wirklichen Kelten sprechen. Erst durch die Synthese der matrifokalen Ureinwohner und der Indoeuropäer entsteht die ländliche europäische Volkskultur mit ihren unverkennbaren Zügen. Diese indigene keltische Bauernkultur wollen wir hier nun kurz skizzieren.

Keltische Landschaft

Typisch für die keltische Landschaft sind der Flickenteppich aus Wald, Wiese, Weide und Ackerland. Die Kelten lebten mit ihren patrilinearen Großfamilien auf Einzelhöfen oder in kleinen Weilern. Mit ihnen unter demselben Dach lebten die Haustiere – Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde, Schweine, Geflügel. Die Gebäude waren zumeist rechteckig, gelegentlich rund. Wie in den Alpenländern noch heute befand sich der Stall oft an der kühleren Nordseite, derweil die menschlichen Bewohner, durch eine geflochtene Wand davon abgetrennt, die freundlichere Südseite des Hauses bewohnten. Die Häuser waren meist mit Stroh gedeckte Fachwerkbauten auf einem Bruchsteinfundament. Die Wände bestanden aus Weidenflechtwerk, das mit Lehm verschmiert und dann mit Kalk weiß verputzt wurde. Die Arbeit des Zimmerns wurde durch keltische Erfindungen – Holzbögen, in die Sägeblätter eingespannt wurden, Holzschrauben, metallene Feilen, Hobel und so weiter – erleichtert. Die Feuerstelle war das Herz des Hauses. Der Rauchfang galt als Ein- und Ausgang der Geister. Im Hof befand sich, oft beim Brunnen, eine Linde oder eine Eiche, in welcher der Sippengeist wohnte.

Vieh: Inbegriff des Reichtums bei den indoeuropäischen Völkern.

Die Grabhügel (Side) und Steinmonumente der Jungsteinzeit, galten den Kelten als Wohnorte der Götter und Geister.

Neben den Einzelhöfen gab es, meist auf Anhöhen, befestigte Fliehoder Wehrburgen (oppida), die ihren Zweck während kriegerischer Unruhen erfüllten.

Die keltische Landwirtschaft bestand aus einer ausgewogenen Mischung von Viehzucht und Ackerbau. Sie war dermaßen effizient, dass die gallischen Kelten Getreide und Vieh in größerem Ausmaß nach Rom exportieren konnten und dabei reich wurden. Die Römer bezahlten die wertvollen Güter aber auch mit einer überteuerten Droge, nach der die Gallier süchtig wurden – dem Wein.11 Der landwirtschaftliche Reichtum Galliens und Britanniens übte eine große Anziehungskraft auf die Römer aus (JAMES 1996: 124). Julius Caesar konnte seine Schulden bezahlen und die zerrütteten Staatsfinanzen Roms sanieren, nachdem er Gallien erobert und ausgeplündert hatte.

Der bis ins 20. Jahrhundert benutzte Räderpflug und die mit Eisen beschlagene Pflugschar sind keltische Erfindungen.

Materielle Kultur der Kelten

Die landwirtschaftliche Überlegenheit der Kelten basierte auf einer Reihe von Erfindungen, wie dem Wende- und Räderpflug (kelt. Carruaca; franz. charrue) mit einer eisenbeschlagenen Pflugschar und der eisernen Egge