DEZEMBER IM NEBEL - Christian Dörge - E-Book

DEZEMBER IM NEBEL E-Book

Christian Dörge

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Beschreibung

Dezember 1965, im niederbayerischen Forstkirchen: Der 16jährige Gymnasiast Fritz Haberkorn, der als außergewöhnlich begabt gilt, verschwindet - spurlos, wie es scheint... Inspektor Niebergall verhört die Mitschüler, die Lehrer und die Familie des Jungen. Niemand scheint etwas zu wissen, auch nicht Isabell Haberkorn, Fritz' ältere Schwester. Da wird ohne Vorwarnung ein brutaler Mordanschlag auf Isabell verübt. Steht dieser Anschlag im Zusammenhang mit dem Verschwinden ihres Bruders? Welches dunkle Geheimnis umgibt die Familie Haberkorn? DEZEMBER IM NEBEL ist ein spannender Whodunit-Krimi von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien EIN FALL FÜR REMIGIUS JUNGBLUT, DIE UNHEIMLICHEN FÄLLE DES EDGAR WALLACE, FRIESLAND und der Frankenberg-Krimis um den Privatdetektiv Lafayette Bismarck.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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CHRISTIAN DÖRGE

 

 

DEZEMBER IM NEBEL

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Der Roman 

Der Autor 

DEZEMBER IM NEBEL 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Neunundzwanzigstes Kapitel 

Dreißigstes Kapitel 

Einunddreißigstes Kapitel 

Zweiunddreißigstes Kapitel 

Dreiunddreißigstes Kapitel 

Vierunddreißigstes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © 2022 by Christian Dörge/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Der Roman

 

 

Dezember 1965, im niederbayerischen Forstkirchen:

Der 16jährige Gymnasiast Fritz Haberkorn, der als außergewöhnlich begabt gilt, verschwindet - spurlos, wie es scheint...

Inspektor Niebergall verhört die Mitschüler, die Lehrer und die Familie des Jungen. Niemand scheint etwas zu wissen, auch nicht Isabell Haberkorn, Fritz' ältere Schwester.

Da wird ohne Vorwarnung ein brutaler Mordanschlag auf Isabell verübt. Steht dieser Anschlag im Zusammenhang mit dem Verschwinden ihres Bruders? Welches dunkle Geheimnis umgibt die Familie Haberkorn?

 

Dezember im Nebel ist ein spannender Whodunit-Krimi vonChristian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Ein Fall für Remigius Jungblut, Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Friesland und der Frankenberg-Krimis um den Privatdetektiv Lafayette Bismarck. 

Der Autor

 

Christian Dörge, Jahrgang 1969.

Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).  

Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung  

eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014). 

1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993). 

Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017). 

Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.  

2021 veröffentlicht Christian Dörge mehrere Kriminal-Romane und beginnt drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland. 

 

Künstler-Homepage: www.christiandoerge.de

DEZEMBER IM NEBEL

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

Fritz Haberkorn: ein Schüler. 

Isabell Haberkorn: seine Schwester. 

Andreas Niebergall: Inspektor bei der Polizei von Forstkirchen. 

Gregor Monteverdi: Hauptkommissar bei der Polizei von Forstkirchen. 

Walter Dornberger: Wachtmeister. 

Erwin Crombach: Wachtmeister. 

Günther Ritterling: Kunstlehrer und Isabells Verlobter. 

Korbinian Haberkorn: Vater von Fritz und Isabell. 

Margarete Haberkorn: Mutter von Frotz und Isabell. 

Max Finkenstädt: ein Mitschüler von Fritz. 

 

 

Dieser Roman spielt im Winter 1965/66 in der niederbayerischen Kleinstadt Forstkirchen.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Der blonde Junge ganz hinten im Klassenzimmer schrieb. Vor ihm auf dem Pult verbarg Virgils Aeneis teilweise das Blatt, über das er sich beugte. Den Rest der Seite tarnte er wie von ungefähr mit der linken Hand.

Es war ein Dezember-Nachmittag wie jeder andere; ein wenig kälter vielleicht und düsterer. Am Abend würde wieder Nebel aufkommen.

Gremper war an der Reihe. Mit seiner leiernden Stimme und der wörtlichen Übersetzung tötete er jede Poesie des klassischen Werkes. Beilstein unterbrach ihn nicht, er schien kaum zuzuhören. Beilsteins Erkältung hatte sich verschlimmert. Sein Gesicht wirkte verkniffen und hager. Von Zeit zu Zeit schüttelte ihn ein trockener Husten.

Automatisch blätterte der blonde Junge um, als er die zweiunddreißig anderen Seiten rascheln hörte. Dann schrieb er weiter.

...ein tolles Gefühl der Macht. Nur noch wenige Stunden. Was Mutter wohl tun wird? Sie kann mir gestohlen bleiben. Sie können mir alle gestohlen bleiben, diese blöden...

»Haberkorn! Haben Sie aufgepasst, Haberkorn?«

»Wie bitte?«

Hastig klappte der blonde Junge das Tagebuch zu und schob die Aeneis darüber.

»Ich habe Sie gefragt, Haberkorn, ob Sie mit Grempers Übersetzung dieser Zeilen einverstanden sind?«

»N... nein. Sie stimmt vorn und hinten nicht. Welche Zeile war es gleich wieder?«

Die Klasse brüllte vor Gelächter. Beilsteins Gesicht verdunkelte sich. Langsam schritt er zwischen den Bänken hindurch nach hinten.

»Auch der Unverschämtheit sind Grenzen gesetzt, die...«

Der Rest des Satzes ging in einem herzhaften Niesen unter.

Der Junge zog ein Taschentuch heraus und wischte mit gezierter Behutsamkeit über seinen Ärmel. Die Klasse kicherte unterdrückt.

Er war zu weit gegangen. Beilsteins Hand fuhr hoch, fegte die Aeneis zur Seite und ergriff das darunterliegende Buch.

»Was ist denn das?«, fragte er und hielt es hoch. »Aha! Ein Tagebuch!« Er senkte den Arm und begann, die Seiten durchzublättern. »Vielleicht gestattet uns unser junger Freund, dass wir an den Früchten seiner Arbeit...«

Der Junge war aufgesprungen. Seine Augen sprühten zornig.

»Das ist meine Privatsache! Dazu haben Sie kein Recht!«

Er musste das Buch wiederhaben. Da hatte er nun die Quittung – für sein kindisches Benehmen.

Doch der Lehrer hatte sich bereits abgewandt. Er hielt das Buch aufgeschlagen in der Hand, während seine Augen das Geschriebene überflogen.

Der Junge drängte sich hastig an ihm vorbei, drehte sich um und trat ihm in den Weg.

»Geben Sie es mir auf der Stelle zurück«, sagte er wütend.

Einen Augenblick standen sie so da, schweigend, einander voller Zorn musternd. Dann hustete Beilstein. Ein Zucken des Schmerzes verzerrte flüchtig sein Gesicht. Seine Schultern sanken herab, und er streckte mit einer müden Bewegung das Buch aus.

»Hier, behalten Sie Ihre kleinen Geheimnisse für sich, mein Junge.«

Ein Aufseufzen ging durch die Klasse.

Der blonde Junge setzte sich wieder und fuhr sich durch das Haar. Wie dumm und kindisch er sich aufgeführt hatte! Eitelkeit, nichts als Eitelkeit hatte ihn getrieben, der hässliche Wunsch, den alten Beilstein vor der Klasse zu blamieren.

Jetzt trug Maria Hotz ihren Teil zur Übersetzung der Aeneis bei. Bei ihr ging es flüssiger als bei Gremper, doch kaum einfühlsamer. Hinter ihr schob die kleine Arnswaldt ihren Rock einen Zentimeter höher über die Knie hinauf und warf einen verstohlenen Blick durch das Klassenzimmer, um festzustellen, ob Ernst Gleiberger sie beobachtete.

Fritz Haberkorns Blick schweifte voller Verachtung über die eifrig gesenkten Köpfe. Lauter Marionetten, die lernten, sich anzupassen, die auf die Lügen und den Schwindel, den man ihnen eintrichterte, hereinfielen. Sogar Peter Endemann, der sich hingebungsvoll in den Zähnen stocherte, runzelte angestrengt die Stirn – eine Verkörperung des schwarzen Schafes, das zur Tugend bekehrt war.

Ein Mädchen hob den Kopf. Ihr Blick kreuzte sich mit dem des Jungen. Sie lächelte. Er starrte sie unbewegt an, bis sie errötete und sich abwandte. Sein Gewissen regte sich. Ruth stellte für jene Grundsätze dar, die für ihn nicht mehr galten, jenes Leben, dem er den Rücken gewandt hatte. Und doch... und doch...

Die Glocke im Turm des Schulgebäudes läutete die Viertelstunde. Noch fünfzehn Minuten. Für Haberkorn die letzten fünfzehn Minuten seiner Schulzeit. Und keiner ahnt es, dachte er mit grimmiger Belustigung. Wenn sie es nun wüssten – würde es ihnen etwas ausmachen? Ruth vielleicht. Ihr täte es leid. Doch den anderen wäre es gleichgültig. Er gehörte nicht zu ihnen.

Beilstein hustete wieder.

»Es steht für jeden sein eigener Tag...«

»Oh, Gott!«, murmelte Beilstein und sagte dann laut: »Was soll damit gesagt werden, Meyer?«

»Ich weiß nicht.«

»Stat sua cique dies. Kann uns irgendjemand erklären, was das bedeuten soll?«

Haberkorn hatte die Stelle gefunden. »Jedem ist sein Tag bestimmt«, übersetzte er. »Das Lebensziel ist für alle unverrückbar und nah. Jedoch...«

»Danke, Haberkorn. Gut übersetzt. Fahren Sie fort, Meyer.« Doch dann richtete er seinen Blick auf Haberkorn und fügte hinzu: »Man sollte seine Gefühle stets zunächst einer Prüfung unterziehen.«

Wieder durchzuckte Fritz diese Regung des Schuldbewusstseins. Was war es – Reue? Er war früher Beilsteins Lieblingsschüler gewesen, sein Primus. Na und? Seit damals war viel geschehen.

 

Als sich Fritz im Umkleidebereich niederbeugte, um seine Fahrradklammern festzumachen, versetzte ihm jemand einen Tritt ins Hinterteil. Wütend fuhr er hoch.

»In Zukunft...«, begann er und fuhr dann ruhiger fort: »Ach, du bist es.«

Verdammt, warum musste er ausgerechnet heute Abend Lenny in die Arme laufen?

»Genau! Ich bin’s. – Du, sag mal, hast du vielleicht eine Zigarette für mich?«

Haberkorn zog eine Packung aus seiner Tasche, nahm drei Zigaretten heraus und reichte sie dem anderen, der sie sogleich einsteckte. Dann nahm sich Haberkorn selbst eine und zündete sie an.

»Mensch, Fritz, hast du den Verstand verloren? Wenn die dich hier mit einer Zigarette erwischen...«

Haberkorn zuckte die Achseln.

»Schon gut. Los, gehen wir.« Er drückte die Zigarette aus und steckte sie hinters Ohr.

Sie überquerten den Parkplatz und gingen zum Abstellplatz für die Fahrräder. Der Nebel war inzwischen dichter geworden.

»Jetzt hätte ich auch nichts gegen einen Sargnagel einzuwenden«, bemerkte Lenny.

Sie steckten sich beide Zigaretten an.

Um sie herum hoben Jungen und Mädchen ihre Fahrräder vom Gestell, schalteten die Lampen ein und radelten davon. Hier und da sah man noch andere Zigaretten im Halbdunkel glühen.

»Kommst du heute Abend in den Regenbogen?«, fragte Lenny. Seine Stimme war leise, und die Worte kamen bedächtig. Das und seine körperliche Kraft und Größe hatten ihm den Spitznamen Lenny eingetragen. Irgendjemand hatte den Film nach John Steinbecks Von Mäusen und Menschen gesehen, und von jenem Tag an war Max Finkenstädt einfach Lenny gewesen.

Doch seine Bedächtigkeit täuschte. Hinter dem gutmütig bärenhaften Aussehen verbarg sich ein durchdringender und berechnender Verstand. Haberkorn hatte Angst vor Lenny.

»Weiß ich noch nicht«, erwiderte Haberkorn. »Vielleicht komme ich später.«

Lenny grinste. »Du meinst wohl, ich wüsste nicht, was du mittwochabends machst?«

Oh, Gott! Das war doch nicht möglich! Haberkorns Herz schlug bis zum Hals.

»Ja, ja«, fuhr die sanfte Stimme fort. »Ich bin dir nämlich letzten Mittwoch gefolgt.«

Er bluffte. Er musste bluffen. Haberkorn schwieg.

»Hübsches Mädchen, mein Lieber. Muss ich schon sagen.«

Fritz hätte am liebsten geheult vor Erleichterung. »Ja, nicht übel«, stimmte er leichthin zu. »Mal ’ne Abwechslung. Verrat’ aber Ute nichts.«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

Doch Lennys Augen waren noch immer forschend auf ihn gerichtet. Haberkorns Unbehagen kehrte zurück.

Fritz zog noch einmal an seiner Zigarette, ließ sie dann fallen und trat sie aus. »Los, machen wir uns auf die Socken.«

Vorsichtig hob er sein Fahrrad von dem Gestell und fuhr mit der Hand beinahe verliebt über den glänzenden Rahmen.

»Nicht von schlechten Eltern«, konstatierte Lenny, der ihn noch immer beobachtete.

»Hm.«

»Da hat dein alter Herr ganz schön tief in die Tasche greifen müssen, was?«

Haberkorn beugte sich über die Lampe. »Ja«, erwiderte er, ohne aufzublicken.

»Also dann – bis später«, sagte Lenny.

»Später?«

»Im Regenbogen.«

»Ach so, ja. Möglich. Mach's gut, Lenny.«

Er schob sein Fahrrad über den Parkplatz und blickte sich noch einmal um. Der Fahrradschuppen war im dichten Nebel nur undeutlich zu erkennen. Doch er konnte den schwachen, rotglühenden Punkt von Lennys Zigarette sehen. Der Bursche hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

Haberkorn stellte sich auf ein Pedal und rollte langsam zum Tor. Seine Begegnung mit Lenny hatte ihn ernüchtert. Zum ersten Mal stellte er sich die Frage, ob alles so ausgehen würde, wie er es sich vorgestellt hatte.

Eigentümlich, dass Lenny ihm so unsympathisch war. Alle anderen in der Clique hatten ihn gern. Sogar Ute.

Als er durch das Tor rollte, fuhren gerade die letzten Schulbusse ab. Die Fahrer hatten die Nebelbeleuchtung eingeschaltet und spähten aufmerksam durch die Windschutzscheiben. Jetzt war die Straße fast menschenleer. Ein paar Bummler schlenderten heimwärts. Auf dem Parkplatz brummten Motoren. Auch die Lehrer machten sich auf den Heimweg.

Unter der Laterne vor dem Schultor stand ein Mädchen und wartete. Haberkorn war fast an ihr vorbei, als er sie erkannte. Es war Isabell, seine Schwester. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er radelte weiter.

Nachdem er etwa fünfzig Meter zurückgelegt hatte, kehrte er um. Er musste mit Isabell sprechen. Er konnte nicht einfach ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwinden.

Doch er hatte es sich zu spät überlegt. Jetzt war ihm jemand zuvorgekommen. Ein Mann. Isabell schob ihren Arm unter den seinen und lächelte. Dann machte sich das Paar mit raschen Schritten auf den Weg und verschwand im Nebel.

Haberkorn fluchte. Wieder drehte er um und radelte blindlings die Straße entlang. An der Ecke zur Hirtenstraße musste er scharf ausweichen, um nicht das kleine Kind anzufahren, das plötzlich vor ihm auftauchte.

»Du blödes kleines Biest«, schrie er das verschreckte Kind an und bereute es im gleichen Augenblick.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Nach Niebergalls Schätzung musste sie etwa dreiundfünfzig sein. Drei- oder vierundzwanzig. Sehr dunkles, kurz geschnittenes Haar; hübscher Teint; gerade Nase und ein großer, voller Mund. Sie trug einen zitronengelben Regenmantel.

»Fräulein Haberkorn hätte Sie gern gesprochen, Herr Inspektor«, verkündete Wachtmeister Crombach. Dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Niebergall forderte sie auf, Platz zu nehmen, doch sie schien ihn nicht zu hören. Ganz unverhohlen ließ sie ihren Blick durch das Zimmer wandern, musterte die kahlen, gekalkten Wände, die dunkelbraunen Aktenschränke, die beiden Schreibtische mit den Telefonapparaten, den Tintenfässern und den unordentlichen Stapeln von Schriftstücken, die beiden Mäntel und Hüte, die an dem Ständer in der Ecke hingen.

»Sie teilen sich ein Büro mit Herrn Dornberger?«, fragte sie und blickte auf den braunen Mantel.

»Ja«, erwiderte er, bemüht, ausdruckslos zu sprechen.

Doch diese Beiläufigkeit war ihm nicht ganz gelungen. Der rasche, aufmerksame Blick, mit dem sie ihn streifte, verriet, dass ihr ein gewisser Unterton nicht entgangen war. Sie schien sich bewusst zu werden, dass eine Erklärung angebracht war.

»Seine Frau ist eine Freundin von mir... Und dann habe ich ihn natürlich gesprochen, als ich das letzte Mal hier war.«

»Sie waren schon einmal hier?«

»Ja«, versetzte sie in einem Ton, der alle weiteren Fragen von vornherein ausschloss.

Dann trat sie zu seinem Schreibtisch und setzte sich. »Ich bin wegen meines Bruders Fritz hier, Inspektor«, begann sie sachlich. »Er ist verschwunden.«

»Seit wann?«

»Seit er letzten Mittwochabend die Schule verließ.«

»Am Mittwoch? Aber das ist ja schon zwei Tage her!«

Das Mädchen errötete. »Meine Mutter – ich meine wir – naja, wir dachten, wir wüssten, wohin er gefahren ist...«

»Aber diese Annahme erwies sich als ein Irrtum?«

Sie nickte ruhig.

Niebergall starrte sie erstaunt an. Sie verhielt sich derart gelassen, als meldete sie den Verlust eines Fahrrads.

»Schön«, meinte er schließlich. »Beginnen wir am Anfang.«

Ihr Name Isabell Haberkorn und wohnte in der Frauenwaldstraße. Sie war Sportlehrerin am Paul-Sicklinger-Gymnasium.

Sie hatte eine ältere Schwester, die verheiratet war und in München lebte, und einen Bruder, eben jenen Fritz, sechzehn Jahre alt, der die sechste Klasse des Gymnasiums besuchte. Am Mittwoch war Fritz wie gewöhnlich zur Schule gegangen, und er war gesehen worden, als er um zehn nach vier Uhr sein Fahrrad aus dem Schulhof schob. Danach war er verschwunden.

»Am Mittwoch war es sehr neblig, nicht wahr?«, warf Niebergall ein.

Das Mädchen nickte.

»Haben Sie sich schon in den Krankenhäusern erkundigt?«

»Ich glaube nicht, dass er einen Unfall hatte.«

»Wieso nicht?«

»Nach der Schule kam er nach Hause, packte einen Koffer und machte sich aus dem Staub.«

»Sie sagten aber doch...«

»Es hat ihn niemand gesehen. Wir waren alle nicht da. Aber der Koffer ist verschwunden und ebenso der größte Teil seiner Kleidung.«

»Mit anderen Worte, er ist von zu Hause weggelaufen?«

»Ja.«

»Haben Sie eine Ahnung, aus welchem Grund?«

Sie antwortete nicht.

»Ein Junge«, fuhr Inspektor Niebergall nachdenklich fort, »läuft schließlich nicht einfach so von zu Hause weg, oder?«

»Herr Niebergall, Sie sind neu hier, nicht wahr?«

»In der Tat.«

»Sehen Sie, Fritz...« Sie zögerte. »Ich meine, Herr Dornberger weiß über Fritz Bescheid.«

»Wachtmeister Dornberger...? Ach, ich verstehe. Er ist wohl mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«

»Er steht unter Bewährung...« Und dann fügte sie ärgerlich hinzu: »Es kommt alles nur von der Clique, mit der er sich in Giordanos Café herumtreibt – Braunfels und Lenny Finkenstädt und Konsorten. Ein Mädchen ist auch noch mit im Spiel.«

»Die Namen, bitte.«

»Bitte? Oh! Die wissen bestimmt nicht, wohin er verschwunden ist.«

»Das spielt keine Rolle. Vielleicht möchten wir uns trotzdem mit den jungen Leuten unterhalten.«

Sie nannte ihm ein halbes Dutzend Namen.

»Und das Mädchen?«

»Ute. Ich weiß nur ihren Vornamen.«

Niebergall schrieb sich die Namen auf einen Notizblock. Dann blickte er auf. Das Mädchen betrachtete ihn mit belustigter Duldung.

»Fräulein Haberkorn«, sagte er scharf, »Sie wollen doch, dass wir Ihren Bruder finden, nicht wahr?«

»Eigentlich nicht. Ich bin froh, dass er den Mut aufbrachte, sich davonzumachen.«

»Warum sind Sie dann hergekommen?«

»Meine Mutter hat mich geschickt. Sie hat Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein.«

»Und Sie?«

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Lassen Sie mich aus dem Spiel«, entgegnete sie schließlich. »Ich bin nur gekommen, weil meine Mutter sich nicht wohl genug fühlte, um persönlich vorbeizuschauen. Aber ich will mit der Sache nichts zu tun haben.«

»Wohin ist er Ihrer Meinung nach gefahren?«, fragte Niebergall. »Sie sagten...«

»Nach München, zu meiner Schwester. Meine Mutter hat heute Morgen dort angerufen. Dort ist er aber nicht aufgetaucht.«

»Heute Morgen erst? Sie ließen sechsunddreißig Stunden verstreichen, ehe Sie...?«

Sie runzelte die Stirn.

»Meine Mutter und meine Schwester, Annette, kommen nicht gut miteinander aus. Mutter musste erst ihren Stolz hinunterschlucken, bevor sie anrief.«

Welch eine glückliche Familie, dachte Niebergall. Er spürte, dass das Verhältnis zwischen dieser jungen Frau und ihrer Mutter ebenfalls gespannt war.

»Welche Kleidung trug Fritz, und was nahm er mit? Wir brauchen eine lückenlose Aufstellung, dazu natürlich eine Fotografie. Können Sie...?«

»Meine Mutter wird Ihnen sagen, wie er angezogen war. Und ich... ich habe ein Foto mitgebracht.« Sie zog ihre Handschuhe aus, öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr einen Umschlag. Der Blick des Inspektors fiel auf ihren brillantbesetzten Verlobungsring.

Das Foto zeigte einen schlaksigen Jungen, der ebenso blond war wie seine Schwester dunkel. Das Gesicht war lang und schmal, mit großen, hellen Augen und einem empfindsamen Mund.

Isabell Haberkorn stellte sich neben den Inspektor. »Er ist ganz gut getroffen«, erklärte sie, »nur...«

»Ja?«

»Er ist in Wirklichkeit ein kräftiger und gesunder Junge. Auf dem Bild sieht er beinahe schwindsüchtig aus.«

»Die Familienähnlichkeit ist nicht allzu ausgeprägt«, bemerkte Inspektor Niebergall. »Man würde nie auf den Gedanken kommen, dass er Ihr Bruder ist.«

»Nein?«, versetzte sie und musterte ihn unbewegt.

 

Wachtmeister Crombach hob nicht einmal den Kopf, als die junge Frau aus dem Büro kam und die Schwingtür aufstieß. Er tippte einen Bericht. Doch Niebergall sah sehr wohl den gelben Einband eines Groschenromans, den der Wachtmeister unter die herumliegenden Papiere geschmuggelt hatte.

Niebergall schlenderte zum Schreibtisch. »Erzählen Sie mir was über die Familie Haberkorn, Crombach«, forderte er den Beamten auf.

Crombach blickte auf. Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit rosigem Gesicht und schütterem Haar. Er wusste sein Verhalten stets auf den Dienstgrad jener Person abzustimmen, die mit ihm sprach, und er verfügte über die außergewöhnliche Gabe, aller Arbeit aus dem Weg zu gehen.

Keiner ließ sich von Crombach täuschen. Seine kleinen Tricks waren zu durchsichtig. Dennoch ließ ihm jeder Beamte der Polizeiinspektion Duldsamkeit widerfahren, und selbst Hauptkommissar Monteverdi, der gewöhnlich hohe Anforderungen an seine Beamten stellte, gestattete Crombach Freiheiten, die sich kein anderer herauszunehmen gewagt hätte.

Niebergall ließ das alles unbeeindruckt. Kriechertum und Faulheit widersprachen seiner Natur.

»Die Haberkorns?«, sagte Crombach. Hier befand er sich auf vertrautem Boden. Abgesehen von den Jahren, die er bei der Bundeswehr gewesen war, hatte er sein ganzes Leben in Forstkirchen zugebracht. Ein Riecher für Skandale und ein gutes Gedächtnis hatten ihn zum wandelnden Nachschlagewerk über die meisten Bewohner der kleinen Stadt werden lassen. Und dieses Wissen war sein einziger nennenswerter Beitrag zur Arbeit in der Polizeiinspektion.

»Die Haberkorns sind ungefähr vor fünfzehn Jahren nach Forstkirchen gezogen. Sie wohnen in der Frauenwaldstraße. Der Vater ist beim Arbeitsamt angestellt. Die Mutter...«

»Der Vater lebt noch?«, unterbrach Niebergall leicht überrascht. Fräulein Haberkorn hatte ihren Vater mit keiner Silbe erwähnt.

Crombach grinste. »Ja, Herr Inspektor – er ist quicklebendig, aber viel zu sagen hat er nicht. Sie hat nämlich die Hosen an.«

»Und die Kinder? Sie haben zwei Mädchen und einen Jungen, nicht wahr?«

»Ja. Die Älteste ist verheiratet und wohnt irgendwo in Oberbayern.«

»In München«, warf Niebergall ein.

»Soso, direkt in München, sieh an... Sie haben sicher recht, Herr Inspektor. Die andere, Isabell, die Sie heute aufgesucht hat, ist auch schon in festen Händen. Sie ist mit einem Lehrer des Gymnasiums verlobt. Und«, jetzt flüsterte er verschwörerisch, »sie hat tolle Beine, was?« Als Niebergall darauf nichts erwiderte, fuhr er hastig fort: »Und dann ist da noch der Junge.«

»Dieser Junge ist es, der mich interessiert.«

»Jawohl, Herr Inspektor Ein gescheiter Bursche, aber willensschwach. Leicht zu beeinflussen.«

»Er ist vorbestraft, nicht wahr?«

»Aber es war nur eine Kleinigkeit. Eine Prügelei bei einer Tanzveranstaltung. Sechs Monate Bewährung. Walter Dornberger bearbeitete den Fall. Er wird...«

»Der Junge ist verschwunden. Von zu Hause weggelaufen.«

»Na so was!« Crombachs Überraschung war zu dick aufgetragen, um echt zu sein. Zweifellos hatte Isabell Haberkorn ihm schon vorher ihr Herz ausgeschüttet.

Das Telefon klingelte. Crombach hob ab. »Polizeiinspektion Forstkirchen... Oh! Jawohl.« Seine Schultern strafften sich. »Gewiss... Gegen fünf Uhr...? Geht in Ordnung, Herr Hauptkommissar, ich werde es ausrichten.«

Einen Augenblick lang herrschte eine merkwürdige Stille.

»Es war Hauptkommissar Monteverdi«, verkündete der Wachtmeister dann überflüssigerweise.

»Er wird wohl in Passau aufgehalten?«

»Ja, Herr Inspektor. Ich soll Ihnen ausrichten, dass...«

Doch Niebergall hörte nicht zu. Die Schwingtür war aufgestoßen worden, und Wachtmeister Walter Dornberger, breitschultrig und groß, schritt auf das Büro zu.

»Walter!«

Dornberger blieb stehen und drehte sich um. »Herr Inspektor?«, erwiderte er förmlich.

Niebergall seufzte. Sechs Wochen war er jetzt hier in Forstkirchen, und es war ihm noch immer nicht gelungen, die Mauer aus respektvoller Abwehr niederzureißen.

Dornberger war ein kräftiger und hochgewachsener Mann, einsfünfundachtzig groß und nahezu zwei Zentner schwer, kein Gramm überflüssiges Fett; alles Muskeln. Er war Mitte dreißig, ungefähr drei Jahre älter als Niebergall, verheiratet, und hatte zwei kleine Kinder. Ein guter Beamter, intelligent und gewissenhaft. Die Qualifikationsberichte über ihn sprachen für sich selbst. Er war sowohl bei seinen Kollegen von der Kriminalpolizei als auch bei den uniformierten Beamten sehr beliebt. Nur Niebergall gegenüber legte er eisige Zurückhaltung an den Tag.

Der Inspektor berichtete ihm von Isabell Haberkorns Besuch. »Ich habe vor, ihre Mutter aufzusuchen«, schloss er. »Wollen Sie mich begleiten?«

Dornberger warf einen Blick auf die Akte in seiner Hand. »Ich war eben im Archiv«, erklärte er, »und hab’ dieses Zeug für Herrn Monteverdi herausgesucht. Ich muss erst...«

»Er wird kaum vor fünf Uhr zurück sein.«

Dornberger zögerte. »Na schön«, sagte er dann, riss die Tür zum Büro auf, warf die Akte auf seinen Schreibtisch und nahm Hut und Mantel vom Ständer.

Niebergall gab bereits Wachtmeister Crombach die nötigen Anweisungen.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

»Was ist dieser Fritz Haberkorn für ein Mensch?«, fragte Niebergall, während er den Wagen gemächlich in Richtung Hauptstraße steuerte.

»Der Junge«, seufzte Dornberger, »braucht mal eine gehörige Tracht Prügel.«

»Was hat er eigentlich genau verbrochen?«

»Im Grunde liegt es nur an der Gesellschaft, mit der er sich herumtreibt. Charlie Braunfels und seine Bande. Spielsalons, Cafés und Discotheken. Und das ist ein Junge, der das Gymnasium besucht und von dem man sagt, er wäre der intelligenteste seines Jahrgangs.«

»Weshalb kam er denn vor das Jugendgericht?«

»Er brach in der Beat-Scheune einen Streit vom Zaun. Hat verdammtes Glück gehabt, dass er nicht ins Gefängnis wanderte. Wenn sein Schuldirektor nicht ein gutes Wort für ihn eingelegt hätte...« Dornbergers Stimme klang bitter.

»War er immer so?«, fragte Niebergall.

»Links, hier. Und dann wieder rechts, beim Stoppschild. – Nein, erst seit dem letzten Jahr.«

»Und wie kam es dazu?«

»Ach, irgendein Mitschüler sagte etwas zu ihm. Und er konnte es nicht verdauen.«

»Sagte... etwas?«

»Nun ja, er beleidigte ihn.« Die Worte wurden im Ton abwehrender Endgültigkeit hervorgebracht. »Dem Burschen könnte eine Abreibung wirklich nicht schaden.«

Sie fuhren einen langgezogenen Hügel hinauf, am Krankenhaus und der neuen katholischen Kirche vorbei. Dann ließen sie den Friedhof hinter sich und gelangten in hügeliges Gelände, wo sich das Neubaugebiet von Forstkirchen auszubreiten begann.

Die Frauenwaldstraße lag auf einer der höchsten Erhebungen. Von dort aus hatte man freien Blick über die Bäume des Friedhofs bis hinunter zum Fluss. Aus dieser Höhe sahen die Kräne der diversen Baustellen in der Stadt wie Miniaturmodelle aus einem Stahlbaukasten aus.

Vor der Hausnummer 18 hielt Niebergall den Wagen an. Es war ein Doppelhaus mit rotem Dach und weißen Mauern. Ein klappriger Opel stand in der kurzen Auffahrt. Der Rasen war so glatt und gepflegt wie auf einem Golfplatz.

Auf das Läuten der Klingel erscholl von drinnen das wütende Bellen eines Hundes. Dann hörte man eine Männerstimme, die auf den Hund einschimpfte, und gleich darauf wurde die Tür geöffnet.

Er war in Hemdsärmeln. Ein großer Mann mit strähnigem, grauen Haar und einem bleichen, aufgeschwemmten Gesicht. Mit der linken Hand hielt er einen Hund undefinierbarer Rasse am Halsband.

Wachtmeister Dornberger streckte die Hand aus. Der Hund schnüffelte daran, hörte auf zu knurren und ließ sich zu einem zaghaften Schwanzwedeln überzeugen. Sein Herr ließ ihn los, und er trottete zurück ins Haus.

»Ein braves Tier«, erklärte der Mann. »Nur Fremden gegenüber misstrauisch.«

Von diesem Mann hatte Isabell Haberkorn den leicht bayerischen Akzent geerbt.

»Kommen Sie herein«, sagte er, als Niebergall sich vorgestellt hatte. »Meine Frau erwartet Sie bereits.«

Er führte sie in das Wohnzimmer. Aus diesem Raum mit dem großen Fenster, das den Blick auf den Fluss freigab, hätte man sehr viel machen können, doch er wirkte überladen und vollgepfropft mit unnötigen Möbelstücken und überflüssigem Kleinkram – kleine Tische, Lampen, Nippes.

Frau Haberkorn saß in einem Lehnstuhl. Ihre Füße ruhten auf einer Fußbank.

»Ich kann leider nicht aufstehen. Ich habe ein schwaches Herz«, erklärte sie mit dem sanften Pathos des Hypochonders. »Aufregung schadet mir.« Ihre Stimme wurde schärfer, als sie sich an ihren Mann wandte. »Sieh doch, wie spät es schon ist, Korbinian. Geh jetzt und iss etwas.«

Wortlos verließ Herr Haberkorn das Zimmer.

»Ich verstehe gar nicht, wie er auch nur einen Bissen herunterbringen kann«, sagte sie in einem Tonfall, als fühlte sie sich persönlich verletzt, zu Niebergall. »Als wäre nichts geschehen.«

Die Ähnlichkeit zwischen Frau Haberkorn und ihrer Tochter war frappierend. Nur war die Mutter kleiner und zarter. Und durch ihr dunkles Haar zogen sich bereits einige graue Fäden. An den Mundwinkeln hatten sich zwei Falten der Unzufriedenheit eingegraben.

»Isabell hat Ihnen von der Sache mit Fritz erzählt, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ja, aber ich hätte die Geschichte gern noch einmal von Ihnen selbst gehört.«

Frau Haberkorn hatte am Mittwochnachmittag bei Freunden Canasta gespielt. Als sie gegen sechs Uhr nach Hause gekommen war, hatte sich Fritz nirgends blicken lassen. Doch sie hatte sich deshalb keine Sorgen gemacht. Fritz kam an ihrem Canasta-Tag häufig nur auf einen Sprung nach Hause, um sich eine Kleinigkeit zu essen zu holen. Meistens blieb er dann bis zum späten Abend aus.

»War sonst niemand zu Hause?«, erkundigte sich Niebergall.

»Nein. Isabell war mit ihrem Verlobten beim Essen, und Korbinian setzt sich mittwochs nach der Arbeit meistens noch eine Weile in den Großwirt, weil er weiß, dass ich nie vor sechs zurückkehre.«

Als Fritz jedoch um Mitternacht noch immer nicht erschienen war, wurde seine Mutter unruhig. Dann war ihrem Mann aufgefallen, dass die Falltür zum Speicher offenstand. Als sie hinaufstiegen, stellten sie fest, dass ein großer Koffer fehlte. Daraufhin hatten sie in Fritz' Zimmer nachgesehen und entdeckt, dass fast alle seine Kleider aus dem Schrank und aus der Kommode verschwunden waren.

»Fehlt sonst noch irgendetwas außer den Kleidern?«, wollte Niebergall wissen.

»Einige persönliche Dinge – sein Fotoapparat, ein oder zwei Bücher und seine Tagebücher.«

»Und er hat keine Nachricht hinterlassen?«

»Nicht ein Wort.«

»Frau Haberkorn, weshalb warteten Sie fast zwei Tage, ehe Sie Ihre Tochter anriefen?«

»Ich war sicher, dass er sich melden würde. Ich erwartete einen Anruf, wie das letzte Mal. Oder auch eine Karte. Er würde nie...«

»Wie das letzte Mal? Er ist also schon einmal weggelaufen?«

Sie gestand, dass Fritz etwa einen Monat zuvor, ohne ein Wort zu hinterlassen, eines Samstagmorgens verschwunden war. Am Abend hatte er von München aus angerufen. Am Montag war er dann zurückgekehrt.

»Hat er damals auch einen Koffer mit Kleidern mitgenommen?«

»Nein. Er packte nur seine Zahnbürste und seinen Schlafanzug ein.«

»Nun, diesmal sieht es nicht so aus, als hätte er nur einen Wochenendausflug vor, nicht wahr? Kam Ihnen nicht der Gedanke, dass er Sie für immer verlassen haben könnte?«                                       

»Nein«, antwortete sie wild. »Fritz würde nie etwas Derartiges tun.«

»Ihre Tochter ist da durchaus anderer Ansicht.«

Zwei rote Flecken des Ärgers glühten auf ihren Wangen. »Isabell...«, begann sie und bezähmte sich dann. »Hören Sie, Herr Inspektor, wir haben im letzten Jahr allerhand Scherereien gehabt. Herr Dornberger weiß darüber Bescheid.« Sie bedachte Wachtmeister Dornberger mit einem trüben Lächeln. »Fritz hat uns Schwierigkeiten gemacht, das will ich gar nicht leugnen. Doch er und ich, wir standen einander immer sehr nahe. Er würde mir so etwas niemals antun.«

»Sie meinen, er würde nicht von zu Hause weglaufen?«

»Nein.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Und wenn er es täte, dann würde er von sich hören lassen. Er weiß, was für Sorgen ich mir mache. Es ist ihm etwas zugestoßen, Inspektor. Ich fühle es.«

Niebergall fühlte eine instinktive Abneigung gegen Frau Haberkorn. Die besitzergreifende Art, in der sie von ihrem Sohn sprach, und die unverhüllte Verachtung für ihren Mann stießen ihn ab.

---ENDE DER LESEPROBE---